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MARXISTISCHE BLÄTTER/614: "Djihad - Made in Germany" und die Konstruktion des Anderen


Marxistische Blätter Heft 2-16

"Djihad - Made in Germany" und die Konstruktion des Anderen

Von Salvador Oberhaus


Ob es um die Kölner Silvesternacht geht, um die Flüchtlingsfrage, um Integrationsprobleme oder um Terrorgefahr durch "Islamisten", immer wird in der politischen Diskussion und der medialen Berichterstattung Alterität konstruiert, d. h. die Matrix von Vorstellungen von uns und den Anderen, die nur allzu oft an weitverbreitete, tief in der europäischen Geschichte wurzelnde anti-islamische, anti-arabische, rassistische Ressentiments anschließt. Dieses binäre Denken privilegiert fast immer eine Seite, so dass "der Andere" als das Negative des Ersten erscheint. Die Konstruktion einer "Achse des Bösen" (US-Präsident Bush 2004) im derzeitigen weltpolitischen Diskurs, der die "Allianz der Willigen" gegenübersteht, ist ebenfalls als Alteritätskonstruktion erkennbar.

Alterität und europäische Identität

Die bis heute wirksame postulierte Andersartigkeit von Okzident und Orient geht auf zunächst religiös argumentierende, später auf kulturalistisch geprägte essentialistische Alteritätsdiskurse zurück, die bereits seit dem Zeitalter der Renaissance vor dem Hintergrund der als Bedrohung Europas wahrgenommenen Expansionskraft des Osmanischen Reiches - zu denken ist hier besonders an die Eroberung von Byzanz 1453 und die Belagerung Wiens 1529 - etabliert wurden. Muslime wurden als das Böse und Bedrohliche schlechthin stilisiert, als das fundamental Andere zum guten Christen. Die Wahrnehmung des Islams ist in der Folgezeit Wandlungen unterworfen, welche die Alterität zwischen Europa und dem imaginierten Orient verstärkt. Das Gefühl der Bedrohung durch das Osmanische Reich wich seit dem 17. Jahrhundert der Überzeugung in die zivilisatorische Überlegenheit Europas.

Im 19. Jahrhundert rückte das Osmanische Reich in den Fokus imperialistischer Begehrlichkeiten der europäischen Großmächte. Mit dem allmählichen Abstieg des Osmanischen Reiches auf den Status einer Halbkolonie Englands, Frankreichs, Russlands und zumindest partiell auch des Deutschen Reiches, verschlechterte sich Wahrnehmung des Islams noch, wurde dem Orient ein ewiges, nicht wandelbares Wesen zugeschrieben, das diesen diametral von Europa scheidet. Zudem wurde das Bild vom Orient und dessen Bewohnern zunehmend biologisiert. Dem sozialdarwinistisch geprägten Zeitgeist entsprechend, galten Araber als rückständig, degeneriert, fanatisch, leicht verführbar und zur Selbstbestimmung unfähig.

Es liegt auf der Hand, dass auch der sich organisierende politische Islam, der Panislamismus nur vor dem Hintergrund dieser Folie wahrgenommen werden konnte. Der politisch heterogene Panislamismus kann als eine nationale und demokratische antikolonialistische Protestbewegung im Islam mit gesamtgesellschaftlichen Reformanspruch beschrieben werden, die sich im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die imperialistische Durchdringung entwickelte und besonders in Asien und Afrika Verbreitung fand. Sein Ziel war die politische Einheit des Islam und die Befreiung muslimisch geprägter Länder von europäischer Fremdherrschaft. Eine konkrete gesellschaftliche Utopie des Panislam ist trotz aller Theoriebildung besonders in Kairo, dem intellektuellen Zentrum der Bewegung, nicht überliefert. Ebenso mangelte es an den strukturellen und personellen Voraussetzungen für eine realpolitische Umsetzung panislamischer Postulate. Insofern ging für die europäischen Hegemonialmächte in der Region weniger vom organisierten Panislam eine reale Gefahr aus, als vielmehr vom bisweilen zu Hysterie neigenden politischen Diskurs, der hierüber geführt und dessen Popularisierung, die Bedrohungsszenarien für die koloniale Ordnung imaginieren ließ.

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges zeitigte die elitäre und ressentimentgeladene Wahrnehmung des Islams realpolitisch fatale Folgen.

Djihad - Made in Germany!

Am 14. November 1914 erklärte der türkische Sultan-Kalif Mehmed Reschad V. den Gegnern der Mittelmächte den Heiligen Krieg. Die der Proklamation in Konstantinopel beiwohnende Menge wurde Zeuge einer denkwürdigen Inszenierung; erklärte doch gerade die selbsternannte höchste religiöse Instanz im Islam einen Dschihad für den deutschen Kaiser, den preußischen Protestanten. Es war der zeremonielle Beginn des "Djihad - made in Germany", ein Ausdruck, den der niederländische Islamwissenschaftler Christiaan Snouck Hurgronje wenig später popularisierte,(1) eines vom Deutschen Reich initiierten Heiligen Krieges, der auf die deutschen Bedürfnisse maßgeschneidert wurde. Es war zugleich der Anfang vom Ende der deutschen Revolutionierungsstrategie im Orient.

Für die Entscheidungsträger im Auswärtigen Amt und am Hohenzollernhof war die auf den ersten Blick Befremden auslösende Entscheidung zum Dschihad Anfang August 1914 plausibel und rational.(2) Das 1898 in Damaskus gegebene Versprechen Wilhelms II., dass der Kaiser allzeit der Freund der 300 Millionen Muslime sei, vor dessen Kulisse sich die deutsch-türkische Freundschaft öffentlichkeitswirksam inszenieren ließ, hatte weiterhin Gültigkeit. Hiermit ließen sich zudem vermeintlich schlüssig kolonialismuskritische Postulate verbinden, die eine Befreiung der islamischen Welt vom "Joch" europäischer Unterdrückung propagierten. Zum anderen bestärkte eine jahrhundertealte Tradition von Vorurteilen über "den" Islam die Protagonisten in ihrer Überzeugung, dass ein für den Gegner schwer zu unterdrückender "furor islamiticus" mit einfachen Mitteln zu entfachen und zu steuern sei.

Der Heilige Krieg als zentraler Bestandteil der globale Ansprüche erhebenden deutschen Revolutionierungspolitik im Ersten Weltkrieg(3) war sowohl Propagandakampagne als auch militärische Strategie. Propaganda galt den Entscheidungsträgern in Regierung und Militär als "Wunderwaffe". Allerdings legten die Zeitgenossen ihrem Handeln eine sehr pragmatische Definition von Propaganda zugrunde. Demnach wurde Propaganda als die Gesamtheit aller Mittel und Methoden der Beeinflussung und Manipulation von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung verstanden. In diesem Kontext kann der Dschihad als ein "Krieg um die Köpfe" interpretiert werden.

Der deutsch-türkische Dschihad wird üblicherweise als Geheimdienstkrieg analysiert, dessen Vorbereitung sich bis in die Hochphase des deutschen Imperialismus in der Ära Kaiser Wilhelm II. seit den Neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lasse.(4) Mithin wird gar eine Kontinuität deutscher Revolutionierungsabsichten im islamischen Raum vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus unterstellt, als deren Urheber der Kölner Bankierssohn und Archäologe Freiherr Max von Oppenheim (1860-1946), "known to us all as 'the Kaisers Spy'"(5) dargestellt wird, dessen tatsächliche Bedeutung für die deutschen Orientpolitik im Folgenden zu ergründen sein wird.

Max von Oppenheim und die deutsche Orientpolitik

Die deutsche Orientpolitik im Ersten Weltkrieg erfreut sich in Deutschland in den letzten Jahren großer wissenschaftlicher und medialer Aufmerksamkeit. Die Geschichtswissenschaft und die mediale Geschichtsindustrie richten ihren Blick besonders auf die politische Bedeutung des vielfältig interessierten Autodidakten, Forschungsreisenden, Archäologen, Beduinenforschers, Kunstsammlers und nicht zuletzt politischen Beobachters der islamischen Welt Max von Oppenheim. Oppenheims Interesse für die antikolonialen panislamischen Ideen und Bewegungen, die außergewöhnliche Konstruktion seiner freien Mitarbeiterschaft als politischer Berichterstatter am deutschen Generalkonsulat in Kairo (1896-1909), seine zum Teil engen gesellschaftlichen Kontakte zum einheimischen politischen Establishment in Ägypten und den arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs (auch zu Vertretern des politischen Islams) sowie die Übernahme arabischer Lebensgewohnheiten, machten ihn in den Augen politischer Gegner, besonders der um Aufrechterhaltung von kolonialer Ordnung und Sicherheit besorgten Briten, verdächtig, ein Spion des Kaisers zu sein, der die britische Herrschaft zu destabilisieren beabsichtige.

Diese lange Zeit forschungsleitende Behauptung hält einer kritischen Überprüfung nicht stand, denn es finden sich weder Belege für eine Spionagetätigkeit noch für den wiederholt unterstellten herausragenden Einfluss Max von Oppenheims auf die Orientpolitik Kaiser Wilhelms II. und des Auswärtigen Amtes vor dem Ersten Weltkrieg. Die Deutung Oppenheims als angeblichem Vordenker der deutschen Dschihad-Strategie geht zurück auf dessen am 5. Juli 1898 vorgelegten Bericht "Die panislamische Bewegung". In dieser Schrift, die unter dem Eindruck wirkungsvoller, als Dschihad deklarierter oder so wahrgenommener, antikolonialer Aufstandsbewegungen in Afrika entstand - hier ist besonders der "Mahdi-Aufstand" im Sudan zu nennen -, erörterte Oppenheim der politischen Führung in Berlin Perspektiven eines etwaigen deutschen Bündnisses mit dem osmanischen Sultan als religiöses Oberhaupt und Führungsfigur der als solcher analysierten panislamischen Bewegung.

Max von Oppenheim, so muss gleichwohl konstatiert werden, übte keinen gestaltenden Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger in Berlin aus, trotz wiederholter Berichterstattung an das Auswärtige Amt über die panislamischen Bewegungen und deren so identifizierte Anschlussfähigkeit an eine deutsche, gegen England gerichtete, Orientpolitik. Anders lässt sich die Feststellung, dass die Berichte von der politischen Führung, namentlich vom Reichskanzler und Kaiser nicht gelesen wurden, schwerlich interpretieren. Schließlich finden sich in den Akten des Auswärtigen Amtes keine Hinweise darauf, dass diesbezügliche Anregungen Oppenheims von der politischen Führung jemals aufgegriffen worden wären. Weder Oppenheims Nähe zu panislamischen Positionen noch sein persönliches Netzwerk in Ägypten und der arabischen Welt waren vor Kriegsausbruch in Berlin realpolitisch relevant. Auf der anderen Seite war Oppenheim für einen elitären Kreis von Rezipienten in Gesellschaft und Politik des Deutschen Reiches ein relevanter, aber auch nicht überzubewertender Diskursträger und Multiplikator ebenso elitärer politischer und gesellschaftlicher Debatten in Kairo.

Erst aus der Not heraus entschloss sich Berlin am Vorabend des Ersten Weltkrieges zu einer globalen Destabilisierungsstrategie gegen England, Russland und Frankreich; zu einem Dschihad zur Revolutionierung der islamischen Länder in Afrika und Asien. Hauptausschlaggebend für diesen Entschluss waren die Unwägbarkeiten eines im Verlauf der Juli-Krise immer wahrscheinlicher werdenden Zwei-Fronten-Krieges und das Ausbleiben der bis zuletzt erhofften Neutralität Englands. Der sich bald abzeichnende Übergang zum Abnutzungs- und Stellungskrieg im Westen ließ eine rasche Initiierung der Aufstandsbewegungen umso dringlicher scheinen. Im Bündnis mit der Türkei sollte der Islam zum "wilden Aufstande entflammt" werden, wie sich Wilhelm II. am 30. Juli 1914 ausdrückte. Millionen Gläubige würden dem Aufruf des osmanischen Sultan-Kalifen zum Dschihad für den deutschen Kaiser folgen, so die Erwartung der militärischen und politischen Leitung in Berlin. Vor allem England sollte durch die Revolutionierung Ägyptens und Indiens nachhaltig geschwächt und zum Ausscheiden aus dem Krieg gezwungen werden.

Revolution als Propagandaprogramm

Die Revolutionierungspolitik war ausschließlich an den unmittelbaren Erfordernissen der deutschen Kriegsführung ausgerichtet. Konkrete mittel- oder langfristige politische Strategien verfolgte das kaiserliche Deutschland während des Krieges in den Ländern des Orients nicht. Auch im Hinblick auf die Türkei, die seit den 1890er Jahren im Fokus deutscher imperialistischer Begehrlichkeiten stand wurden keine Kriegsziele definiert, die ein deutsches Herrschaftsverhältnis über das Reich begründet hätten.

Nach dem Abschluss des deutsch-türkischen Bündnisvertrages am 2. August 1914 drängte die militärische Führung das Auswärtige Amt, umgehend ein politisches Konzept zur Revolutionierung der islamischen Welt auszuarbeiten. Hieraus resultierte eine eiligst improvisierte, aber deshalb nicht weniger ambitionierte Propagandastrategie. Über eine ganze Reihe von Unternehmungen konnte Friedrich von Prittwitz, Legationsrat im Auswärtigen Amt,(6) die politische und militärische Führung Mitte August unterrichten.(7)

In den hektischen Tagen des Kriegsausbruchs begannen sich berufen fühlende Orientkenner aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur mit der Selbstorganisation der für die Revolutionierung notwendigen administrativen, politischen und programmatischen Propagandastrukturen auf privater und amtlicher Ebene. Max von Oppenheim, der Anfang August ins Auswärtige Amt zurückkehrte, war einer von ihnen. Oppenheim gelangte in dieser Phase zu politischem Einfluss und war in den ersten Monaten des Kriegs an maßgeblicher Stelle mitverantwortlich für die Operationalisierung der deutschen Propaganda für den Orient. Vor allem waren jetzt sein Rat und sein persönliches Netzwerk gefragt. Der im diplomatischen Dienst erfahrene Orientspezialist wurde mit der Organisation des Revolutionierungsunternehmens zunächst gegen Ägypten beauftragt. Oppenheims Bedeutung für die Orientpolitik des Auswärtigen Amtes erwuchs aus seiner vielfach überschätzten, aber keineswegs bedeutungslosen "Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde", einem methodischen Wegweiser zur Insurrektion, der zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung im November 1914 ohne Alternative war und in erster Linie den Verantwortlichen in der Wilhelmstraße und besonders in der Nachrichtenstelle für den Orient zur Orientierung diente.

Oppenheims Leistung bestand darin, im ersten Teil des umfassenden Memorandums die häufig konfusen und zusammenhanglosen Ideenpapiere, die im Auswärtigen Amt eingingen, und bereits angelaufene Aktionen in einen systematisch wirkenden Zusammenhang gebracht zu haben. Im zweiten Teil, der anders als der programmatische Part auf Oppenheims eigene Vorstellungen zurückgeht, entwickelt er mit der Nachrichtenstelle für den Orient und einem von dort zu koordinierenden weit verzweigten Filialnetz von Propagandastellen eine Organisationsstruktur für die Revolutionierungspolitik.

Diese in der Theorie niedrigschwellig organisierten Propagandanetzwerke sollten der Kommunikation zwischen den deutschen Initiatoren und den ausführenden "Emissären", um den Begriff der Quellen zu verwenden, in der islamischen Welt dienen sowie Propaganda in die Zielgebiete tragen und durch Terrorakte die Revolutionierung herbeiführen. In der Praxis scheiterten sämtliche Versuche, ein solches Netzwerk zum Beispiel im syrisch-ägyptischen Grenzgebiet zu etablieren an mangelnden strukturellen, personellen und politischen Voraussetzungen.

Die Nachrichtenstelle für den Orient war eine Propagandastelle für den Dschihad, eine praxisorientierte propagandastrategische Denkfabrik patriotisch gesinnter Akademiker, ein interventionistischer wissenschaftlicher Beirat des Auswärtigen Amtes zur Revolutionierung der islamischen Welt. In erster Linie nahm die Nachrichtenstelle die Funktion eines pressepolitischen und publizistischen Lenkungsinstruments wahr und trat darüber hinaus als Informationsdienst in Erscheinung, der vornehmlich frei zugängliche Nachrichten zu sammeln hatte, um diese systematisch auswerten und propagandistisch aufbereiten zu können.

Die Nachrichtenstelle für den Orient war für Propagandamaßnahmen aller Art im In- und Ausland verantwortlich. Ihr oblag die inhaltliche Gestaltung, die Herstellung und der Vertrieb der Materialien, wobei besonders der Vertrieb ins feindliche Ausland erheblich Probleme bereitete. Des Weiteren beteiligte sich die Behörde, namentlich Max von Oppenheim, besonders in den ersten Monaten des Krieges konsultierend an den Vorbereitungen der Expeditionen und Missionen in verschiedene Regionen der arabisch-islamischen Welt.

Für viele Verantwortliche ließ offensichtlich schon die bloße Existenz von Oppenheims Leitfaden, der auf oberflächlichen Analysen hegemonialer, also elitärer theoretischer Diskurse über den politischen Islam basierte, das von dem Glauben an deutsche Omnipotenz gekennzeichnete Revolutionierungsprojekt beherrschbar erscheinen, das sich als ein Orientkrieg der Illusionen erweisen sollte. Das Memorandum diente in dieser Hinsicht offensichtlich ausschließlich der Selbstvergewisserung in die eigenen Fähigkeiten. Ein darüber hinaus weisender Einfluss der Denkschrift ist nicht nachweisbar, wie die Rezeptionsgeschichte des Dokumentes oder treffender formuliert die Geschichte der Nicht-Rezeption verdeutlicht. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der bereits erwähnte Nachweis, dass das in der Forschung vieldiskutierte Memorandum weder von den leitenden Beamten im Auswärtigen Amt noch vom Reichskanzler gelesen wurde. Das Papier wurde im Auswärtigen Amt alsbald zu den Akten gelegt, was erklärt, warum die Denkschrift im Dienstgebrauch kaum zur Kenntnis genommen wurde.

Dass Max von Oppenheim kein deutscher "Abu Djihad"(8) war und auch nur sehr eingeschränkt zum "prophet of global jihad"(9) taugt und von einer "most singlehanded responsibility"(10) für das Revolutionierungsprogramm nicht die Rede sein kann, erhellt des Weiteren die Tatsache, dass die Agenda nicht von Oppenheim gesetzt wurde. Diese war ihm bei seiner Rückkehr ins Auswärtige Amt faktisch vorgegeben worden. Freilich korrespondierten die noch zu systematisierenden Pläne mit seinen lang gehegten Überzeugungen und er durfte sich endlich bestätigt fühlen, aber in die Entscheidungsfindung zum so apostrophierten Heiligen Krieg war er nicht involviert. Diese Entscheidung wurde von Wilhelm II. und dem Großen Generalstab getroffen. Ferner dokumentiert sein Revolutionierungsplan, dass er über keine große (militär-)strategische Kompetenz verfügte. Sonst wäre im programmatischen Teil der Denkschrift gewiss Substantielleres zu finden gewesen als ein dezidiertes, aber sich im Allgemeinen erschöpfendes Plädoyer für eine umfassende Propaganda auf der Basis einer eklektischen Zusammenstellung von überwiegend vorgefundenen und wenig durchdachten Aktionsvorschlägen.

Das Scheitern der Revolutionierungspolitik für den Orient

Dass die Revolutionierung der islamischen Welt schließlich scheiterte und der Heilige Krieg im Wesentlichen Episode blieb, ist auf einen ganzen Ursachenkomplex zurückzuführen, der hier nur beispielhaft entflochten werden kann.

Wie konnte es sein, dass sich international renommierte Orientalisten als Mitarbeiter der Nachrichtenstelle für den Orient für eine bis ins groteske getriebene Feindbildarbeit und Dschihad-Propaganda hergaben, die sich diametral zu wissenschaftlichen Grundsätzen verhielt? Die Antwort wird wahrscheinlich lauten, dass auch die Mitarbeiter der Nachrichtenstelle aufrichtig davon überzeugt waren, dass das Deutsche Reich einen ihm aufgezwungenen Verteidigungskrieg führte und dass differenzierte wissenschaftliche Expertise hinter patriotische Pflichterfüllung im Dienst am Vaterland zurücktrat. Außerdem waren die Mitarbeiter der Nachrichtenstelle für den Orient im kulturellen Wissensbestand hinsichtlich "des" Orients befangen. Die damaligen Orientwissenschaften weisen durchaus paternalistische Tendenzen in den Analysen ihrer Untersuchungsgegenstände auf, die schnell in kulturalistische, sozialdarwinistische und antiaufklärerische Positionen übergehen konnten, die im Krieg, zumal im Propagandabetrieb, umso offensichtlicher zum Vorschein kamen.

Bei aller romantisierenden Begeisterung im Bildungsbürgertum für die orientalischen Hochkulturen der Antike hatten solche Ressentiments gegen "den" Orient - schon der Begriff ist eine europäische Abgrenzungskonstruktion - eine lange Tradition.(11) Die Völker "des" zeitgenössischen Orients galten als rückständig, degeneriert und zur politischen Selbstverwaltung unfähig. Die Darstellung des Islams wurde dabei vielfach homogenisiert und Muslime galten vielen Autoren als strenggläubige und gewaltbereite Fanatiker und potentielle Djihadisten. Entsprechend gestalteten sich die Propagandainhalte und Methoden, ebenso wie der Umgang des Auswärtigen Amtes mit den arabischen Interessenvertretern und dem türkischen Bündnispartner. In diesem Zusammenhang ist ein gravierender Mangel an Kritikfähigkeit seitens der Propagandaverantwortlichen zu konstatieren. Eigene Unzulänglichkeiten und Fehleinschätzungen wurden nicht korrigiert. Daher fehlte ein alternatives politisches Konzept zur Revolutionierung.

Nachdem der "Djihad - made in Germany" im Sommer 1916 endgültig als militärische und Propaganda-Strategie gescheitert war, fiel die deutsche Orientpolitik in eine tiefe, nicht mehr zu überwindende Sinnkrise, die auf Irrungen und Wirrungen hegemonialen Wissens über den Orient zurückgeführt werden können. Mit anderen Worten: Die Matrix, in der man operierte, stimmte nicht. Man ließ sich von politischen Fehleinschätzungen, orientalistischen Ressentiments und Illusionen leiten, die in den aktuellen vorgeblich "islamkritischen" Debatten in der deutschen Öffentlichkeit fröhliche Urstände feiern. Woraus zu lernen wäre.


Salvador Oberhaus, Dr., Wuppertal, Historiker, Referent für Kommunalpolitische Bildung bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Autor von "Zum wilden Aufstande entflammen". Die deutsche Propagandastrategie für den Orient im Ersten Weltkrieg, VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007.


Anmerkungen

(1) Christiaan Snouck Hurgronje, Deutschland und der Heilige Krieg, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik (1915), S. 1026-1042.

(2) unumstritten war die Entscheidung allerdings nicht. Vgl. hierzu Salvador Oberhaus, "Zum wilden Aufstande entflammen". Die deutsche Propagandastrategie für den Orient im Ersten Weltkrieg am Beispiel Ägypten, Saarbrücken 2007, S. 113 sowie insgesamt zum Thema dieses Beitrages, passim.

(3) Zu den weltweiten deutschen Insurrektionsabsichten siehe ebenda, S. 104 u. 121.

(4) Für diese These siehe unter anderem: Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914-1918, Düsseldorf 2000 (Nachdruck der Sonderausgabe von 1967); Peter Hopkirk, Östlich von Konstantinopel. Kaiser Wilhelms Heiliger Krieg um die Macht im Orient, Wien/München 1996; Donald McKale, "The Kaiser's Spy". Max von Oppenheim and the Anglo-German Rivalry before and during the First World War, in: European History Quarterly 27 (1997), S. 199-219; Ders., War by Revolution. Germany and Great Britain in the Middle East in the Era of World War I, Kent/Ohio 1998; Ders., Curt Prüfer. German Diplomat from the Kaiser to Hitler, Kent/Ohio 1987; Lionel Gossman, The Passion of Max von Oppenheim: Archaeology and Intrigue in the Middle East from Wilhelm II to Hitler, Cambridge 2013; Wolfgang Schwanitz, Djihad "Made in Germany". Der Streit um den Heiligen Krieg 1914-1915, in: Sozial. Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 2 (2003), S. 7-34; Sean McMeekin, The Berlin-Baghdad Express. The Ottoman Empire and Germany's Bid for World Power 1898-1918, London 2011.

(5) So erinnerte sich der spätere Militärgouverneur von Jerusalem, Roland Storrs, der vor und während des Krieges u.a. als Orient-Referent im britischen Generalkonsulat und Mitarbeiter im Arabischen Büro ebendort tätig war, an Max von Oppenheim. Ronald Storrs, Orientations, London 1937, S. 41.

(6) Egmont Zechlin, Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25 (1961), S. 342-367, hier: S. 363f.

(7) Die bekanntesten deutschen Unternehmungen im Überblick: Die Expedition Oskar Ritter von Niedermayers und Werner Otto von Hentigs nach Afghanistan, die Expedition und der Guerilla-Krieg von Fritz Klein in Persien, die beabsichtigte Revolutionierung Ägyptens in Kollaboration mit den im Schweizer Exil lebenden Repräsentanten der ägyptischen Nationalpartei und Abbas Hilmi II., die Mission von Otto Mannesmann in den Maghreb zwecks Agitation unter den Senussi und die Mission Leo Frobenius' in den Sudan.

(8) Wolfgang Schwanitz, Djihad "Made in Germany", S. 18.

(9) McMeekin, The Berlin-Baghdad-Express, S. 90.

(10) Tilmann Lüdke, Jihad made in Germany: Ottoman and German Propaganda and Intelligence Operations in the First World War, Münster 2005, S. 68.

(11) Weiterhin aktuell und anregend Edward W. Said, Orientalismus, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2014 (deutsche Übersetzung der englischen Erstauflage von 1978).

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-16, 54. Jahrgang, S. 42-50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2016

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