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MEGAFON/002: ... aus der Reitschule Bern, Nr. 336 - Oktober 2009


megafon - Nr. 336, Oktober 2009


INHALT

ENTREE
- Carte blanche für Efa Mühlethaler
- Editorial
- (R)entrée

SCHWERPUNKT: BASISDEMOKRATIE IN DER REITSCHULE
Wenn alle mitreden, redet niemand drein
Einleitung
Torheiten - Eine Hass-Liebeserklärung ans "Grosse Tor"
Eingang und Ausgrenzung
Befindlichkeitsumfrage
Dachstock gegen Schandfleck
Der Frauenraum-Kuchen
Rezept für 1 feministische Reitschule
Faule Kompromisse?
Aus dem Tojo
Und wir bauten uns ein Kino
Lose Gedanken einer Altgedienten
Basisdemokratie: Das Gerüst einer freien Gesellschaft?
Eine Utopie?
"Auch in der Reitschule gibt es informelle Hierarchien"
Infoladen
Alles anders, manches gleich: Reitschule neu gemischelt
Diskussionsanstoss
Entscheidungsfreiheit unter der Brücke
Basisdemokratische Gastronomie
Freies und selbstbestimmtes Lernen und Lehren
Denk:Mal - seit 2005
Alles begann mit einer ausrangierten Rotationsmaschine
Offset-, Digital- & Siebdruck

INNENLAND
Hat die Bewegung eine Position oder Strategie im antirassistischen Kampf?
Offener Brief von augenauf Bern

GELD ODER LEBEN
Preisexplosion und Massenrebellion
Globale Krise

KULTUR ET ALL
Buchtipp im Oktober
Eine Frau mit Seele oder zwei oder mehr Hintergedanken
Scheiben von Tomi Kujundzic
Comixtipps

SPECKSEITEN
- Scheiternder Karamel

STORY OF HELL

Raute

Carte blanche für Efa Mühlethaler

EDITORIAL

DIE FÜNFTE JAHRESZEIT

Liebe megafon-LeserInnen,

Das Oktober-Entree überlasse ich Kurt Tucholsky:

"Die schönste Zeit im Jahr, im Leben, im Jahr? Lassen Sie mich nachfühlen. Die fünfte. 'Es gibt keine fünfte.'

Es gibt eine fünfte. Hör zu: Wenn der Sommer vorbei ist und die Ernte in die Scheuern gebracht ist, wenn sich die Natur niederlegt, wie ein ganz altes Pferd, das sich im Stall hinlegt, so müde ist es - wenn der späte Nachsommer im Verklingen ist und der frühe Herbst noch nicht angefangen hat - : dann ist die fünfte Jahreszeit.

Nun ruht es. Die Natur hält den Atem an; an andern Tagen atmet sie unmerklich aus leise wogender Brust. Nun ist alles vorüber: geboren ist, gereift ist, gewachsen ist, gelaicht ist, geerntet ist - nun ist es vorüber. Nun sind da noch die Blätter und die Gräser und die Sträucher, aber im Augenblick dient das zu gar nichts; wenn überhaupt in der Natur ein Zweck verborgen ist: im Augenblick steht das Räderwerk still. Es ruht.

Mücken spielen im schwarz-goldenen Licht, im Licht sind wirklich schwarze Töne, tiefes Altgold liegt unter den Buchen, Pflaumenblau auf den Höhen... kein Blatt bewegt sich, es ist ganz still. Blank sind die Farben, der See liegt wie gemalt, es ist ganz still. Boot, das flußab gleitet, Aufgespartes wird dahingegeben - es ruht.

So vier, so acht Tage - und dann geht etwas vor. Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert - und doch alles. Es geht wie ein Knack durch die Luft - es ist etwas geschehen; so lange hat sich der Kubus noch gehalten, er hat geschwankt..., na..., na..., und nun ist er auf die andere Seite gefallen. Noch ist alles wie gestern: die Blätter, die Bäume, die Sträucher... aber nun ist alles anders. Das Licht ist hell, Spinnenfäden schwimmen durch die Luft, alles hat sich einen Ruck gegeben, dahin der Zauber, der Bann ist gebrochen - nun geht es in einen klaren Herbst. Wie viele hast du? Dies ist einer davon. Das Wunder hat vielleicht vier Tage gedauert oder fünf, und du hast gewünscht, es solle nie, nie aufhören. Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden - es ist nicht der Johannistrieb, es ist etwas andres. Es ist: optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes. Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne Zeit im Jahre. Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit."

- NAFU -

Raute

ENTREE

Une Entrée - als steige man in den Zug und setze sich in einen Wagon, um eine mehrstündige Reise anzutreten. Kurz nach der Abfahrt beginnt sich ein Mikrokosmos zu bilden, als würde physisch während der anstehenden Fahrt nichts weiter als die Welt des Zugwagons existieren.

Der Zug hält an verschiedenen Stationen. Mitfahrende setzen sich ins Abteil. Niemand ist gleich und doch vergleichen sich alle untereinander. Es bedenkt, es krankt, es wankt. Es schwenkt, es renkt, es denkt. Die einen sagen "grüezi" und die anderen sagen "grüessech", aber eigentlich meinen sie alle dasselbe.

Die Einen beobachten die Mitfahrenden über das sich im Dunkeln spiegelnde Zugfenster. Nicht direkt, aber trotzdem überblicken sie alles - völlig unbeachtet. Schaut man aber zu gut hin, ist auch die dickeste Zugscheibe kein Schutzschild mehr und man wird erwischt. Ist es jedoch hell vor dem Zugfenster, werden die Gesichter zu Silhouetten mit hellen Löchern. Die Spiegelung kann nicht mehr mithalten.

Andere sinnieren, inwiefern sich das Leben innerhalb oder ausserhalb des Zuges abspielt. Die Landschaft zieht am Wagen vorbei. Ausserhalb der Eisenbahn ist nichts zu beeinflussen. Eine abgefahrene Parallelwelt. Die Landschaft wechselt ständig die Farben, und Formen. Man kommt voran, obwohl man sitzen bleibt. Die einzelnen Haltestellen vermögen jedoch das äussere Leben für einen Moment anzuhalten. Der Mikrokosmos im Zugesinnern läuft jedoch weiter - ausser für die Raucherinnen und Raucher, die sich an die frische Luft sehnen. Zieht der Winter ein, bleibt auch den Nichtrauchenden der Raucherhusten nicht erspart - auch sie trifft die Erkältung, begleiten sie ihre rauchenden Mitmenschen an die Kälte.

Dritte schlafen.

Man stellt sich die Herkunftsorte oder Destinationen der Mitreisenden vor. Für die Einen verspürt man augenblicklich eine Sympathie, die Anderen stimmen einen merkwürdig, Dritte fallen gar nicht auf. Eine Menschenkategorisierung, die man doch gar nicht will, man ist ja schliesslich offen gegenüber allen... So kommen Sitznachbarn miteinander ins Gespräch. Oder aber spätestens beim Schlangestehen vor der Toilette werden knappe Worte ausgetauscht... man habe den guten Zeitpunkt um sich zu erleichtern wohl gerade verpasst - und kriegt dafür noch ein müdes Lächeln geschenkt.

Der Kontrolleur bringt neues Leben in die Wagonwelt - die Fahrkarten und Abonnemente werden gesucht. Taschen werden durchwühlt. Oder aber jemand packt seine Verpflegung uns und knistert mit dein Sandwichpapier, so dauert es nicht lange und die Lunchbags der Mitfahrenden kommen auch zum Vorschein.

Die Einen kassieren strenge Blicke, meldet sich das Handy etwas zu laut. Andere, in Gedanken versunken, verziehen die Gesichtszüge: ein plötzliches Auflachen, eine unerwartete Träne - hoffentlich hat es der Sitznachbar nicht bemerkt... Man stopft sich die iPod-Hörer in die Gehörgänge und hofft, die Dubstep-Beatz Londons retten den Unglücklichen aus dem Zugmikrokosmos.

Dritte machen sich Gedanken über den ghadafischen Auflösungsantrag der Schweiz bei der UNO. Die Eidgenossenschaft ausser Gefecht der Völkerrechtsverträge, ausgeliefert den Franzosen, den Italienern und den Deutschen. Ein Debakel der Sonderklasse, die Kakofonie der Schweizer Identität. Eine Tragödie der direkten Demokratie, der endgültige Abgrund des Bankgeheimnisses... dabei gilt die Schweiz als das krisenresistenteste Land der Welt... bleiben unser Rivella und unsere Ricola auf der Strecke?

Der Zug fährt im Zielbahnhof ein - die Reisenden sind bereits 5 Minuten vor der Ankunft bereit, die Rucksäcke und Taschen wurden energisch von den Ablagen gerissen. Charmante Hilfestellungen wechseln sich ab mit gereizten Blicken, da sich Rucksackbändel aus Versehen etwas zu weit über das Zugcouloir gewagt haben.

L'Entrée - ou bien la Rentrée? Willkommen im Land des megafons - wo Menschen noch Menschen sind.

- EVA HERRMANN -

Raute

Schwerpunkt Reitschule-Basisdemokratie

WENN ALLE MITREDEN, REDET NIEMAND DREIN

Eines der grossen Rätsel für Aussenstehende - wie zuweilen auch für InsiderInnen - ist das Funktionieren der Reitschule. Wie geht das, wenn Fünfhundert Menschen einen Betrieb leiten? Reden da alle gleichberechtigt mit oder gibts wöchentlich Schreiwettkämpfe, um Entscheidungen zu beeinflussen? Oder vermuten letzteres nur unsere Feinde, die nicht glauben wollen, was nicht sein darf. Dass ein Kulturzentrum nämlich autonom und selbstbestimmt und sowieso selbstverwaltet geführt werden kann.


Brüllaffen soll es in der Reitschule nicht wenige gegeben haben. Soviel steht jedenfalls in unseren Archiven. Nur, diese Gattung hat sich zum Glück in den 22 Jahren seit der Besetzung im Herbst 1987 nicht durchgesetzt. Viel mehr sind mittlerweilen pragmatische SchafferInnen als visionäre Theoretiker in der Reitschule anzutreffen - vielleicht dürfte mensch da ja sogar noch rasch von kulturellen, politischen, sozialen Utopien träumen und eine Art "leider" vor den Satz setzen... Oder eine Mini-Analyse dazwischen schieben, eine über die Feminisierung der Arbeitswelt, weils heute ja in der Reitschule zunehmend ums Hegen und Pflegen und nicht mehr vor allem um ein revolutionäres Projekt geht, und darum in allen Gruppen teilweise mehr Frauen (als Männer) mitarbeiten - aber das wäre wohl ein Schwerpunktthema für sich... (Die klassische Rollenteilung - Frauen in der Küche und im Büro, Männer in der Security und an der Technik funktioniert aber dennoch, keine Angst... Anmerk. der Red.).

Trotzdem: In der Reitschule gibt es viele lieb gewonnene, alt bewährte und auch immer wieder gern hinterfragte Dogmen und Tabus zu basisdemokratischem Funktionieren. Sie verhindern zuweilen spontane Reaktionen oder kreative Innovationen, weil basisdemokratische Strukturen - respektive sorgfältig gefällte Entscheide und die Konsenssuche - viel Zeit brauchen und tatsächlich eher "werterhaltend" denn revolutionär, das heisst "umwälzend", wirken. Immer öfters sind wir im Alltagsbetrieb sowieso weniger mit unseren überschäumenden Utopien und Visionen, sondern mit den Problemen der Restwelt a.k.a. Realität konfrontiert und sind zu mehr oder wenigen eiligen - die Entwicklung geht von kreativem zu repressivem - Handeln gezwungen. Gut dann, wenn wir unsere Werte und unsere Philosophie definiert haben, und gut auch, dass es HüterInnen dieser Werte gibt, sonst würden wir mit Sicherheit öfters einfach vom gesellschaftlich-politischen "Mainstream" und den "vollendeten Tatsachen" überrollt.

Wer es noch nicht weiss: Unsere Werte und Handlungsansätze stehen in einem "Manifest"[1] geschrieben, welches die ReitschülerInnen erstmals 1993 gemeinsam erarbeitet und später mehrmals überarbeitet haben. In diesem Reitschule-Schwerpunkt speziell: Yve Choquard hat die Inhalte des Manifests bildlich umgesetzt. Herzlichen Dank an dieser Stelle!


Wo ist das Problem?

Wenn alles seit 22 Jahren so gut tut und gut geht - warum dann soviel Kritik? Sind es nur ein paar PolitikerInnen, die nicht glauben wollen, was "nicht sein darf"? Dass es ganz ohne Chef oder Chefin oder Geschäftsleitung[2] geht.

Interne Kritik an unseren Strukturen gibts vor allem in Form von Klagen über zu viele lange, zeitfressende Sitzungen, über die Trägheit der Strukturen oder wenn zu (vermeintlichen - HA!) Detailfragen alle etwas brünzlen wollen.

Unsere Strukturen haben sich über die Zeit entwickelt und sind gewachsene Formen des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit. Nicht immer wird an Altem festgehalten: Ist der "Leidensdruck" zu gross, sind wir noch immer in der Lage gewesen, unsere Strukturen entsprechend anzupassen. So gilt seit einiger Zeit an den wöchentlichen Koordinationssitzungen der Reitschule-Gruppen die Regel, dass bei fehlendem Konsens die SitzungsteilnehmerInnen einen neuen Vorschlag ausarbeiten und diesen den Gruppen zur Neudiskussion unterbreiten. So verhindern wir, dass ein Geschäft Woche für Woche zurückgewiesen und nie eine Entscheidung getroffen wird. Auch treffen wir uns häufiger als früher zu mehrstündigen Vollversammlungen mit 20-50 TeilnehmerInnen, um möglichst rasch die Inputs und Ideen vieler ReitschülerInnen zu kennen und in die Entscheidungen einzubeziehen respektive um langwierige oder lähmende Entscheidfindungsprozesse zu vermeiden - zuletzt zum Beispiel in Bezug auf Abläufe und Kommunikation mit der Stadtverwaltung.

"In den letzten 22 Jahren haben hunderte Menschen aktiv an den Reitschule-Strukturen mitgearbeitet. Viele von ihnen haben dadurch gelernt, sich als eigenständige Individuen zu erkennen, welche die Möglichkeit haben, ihre Umgebung zu gestalten, selber aktiv zu werden und selber zu denken. Diese Grundsätze und diese Praxis machen den eigentlichen Wert des Projektes Reitschule aus. Eine Abkehr von den basisdemokratischen Strukturen ist nicht verhandelbar, weil es sich um das Fundament des Kultur- und Begegnungszentrums Reitschule handelt."[3]

Die Reitschule hat viel mehr Strukturen (Regeln und Gremien) als manchem lieb ist. Auch wenn dies "von aussen" nicht gesehen wird. So klebt die Kritik an der Organisation der Reitschule ("ein Zusammenleben ohne gegenseitige Abmachungen und klare Grenzen" attestiert uns etwa Motionär Martin Schneider im Februar 2009 und wünscht uns eine neue kompetente Geschäftsleitung an den Hals (so penetrant auf den Traktandenlisten diverser rechts bis grünliberaler Parteien wie die Kaugummis der nervigsten Gäste unter unseren Tischen: "Das Experiment, ein Kulturlokal basisdemokratisch und einigermassen autonom zu führen, wurde in Bern 20 Jahre lang toleriert und gefördert. Doch leider ist die Menschheit für so hochgesteckte Ziele (noch) nicht bereit, was im Klartext heisst, das Experiment ist gescheitert. Ein Zusammenleben ohne gegenseitige Abmachungen und klaren Grenzen ist, wie uns die Geschichte lehrt, zum Scheitern verurteilt."

Wenn die MotionärInnen und andere BürgerInnen sich noch nicht bereit fühlen für Basisdemokratie in ihrem Alltag, haben wir Verständnis dafür (ihre Kinder besuchen uns trotzdem...). Es ist aber ganz sicher kein Grund, nicht weiterhin so zu funktionieren. Im Übrigen arbeiten wir auch sehr hart an den Ansprüchen an uns selber, und (selbstbestimmte) Veränderungen finden wir gar nicht so schlimm.


GRUNDSÄTZE
Kein Rassismus
Kein SEXISMUS
Keine physischen, psychischen oder sexuellen Übergriffe
Keine Homophobie
Keine Ausbeutung & Unterdrückung
Keine Selbstbereicherung
Kein Konsumzwang
Wir versuchen Konflikte gewaltfrei zu lösen
Wir verhalten uns respektvoll miteinander & gegenüber der Infrastruktur

Reitschule-Fest

Pünktlich zum jährlichen Reitschule-Fest[4] wollten wir im megafon-Schwerpunkt wieder einmal hinter die Mauern der Burg gucken - und haben deshalb in den Gruppen und bei den ReitschülerInnen nach Einschätzungen und Erfahrungen in Bezug auf basisdemokratisches Funktionieren und Arbeiten gefragt.

Sind ReitschülerInnen schon bereit "für so hochgesteckte Ziele wie die Basisdemokratie?" Beurteilt selber.

Und ja: Besucht uns, das Reitschule-Fest steht vor dem Tor!

- ANS -


Randnotizen

[1] Siehe www.reitschule.ch / Download

[2] P.S. Die Reitschule funktioniert übrigens mit folgenden Gremien: Vollversammlung (VV) der aktiven ReitschülerInnen: Entscheidet über Grundsatzfragen oder Projekte. Kann Aufträge erteilen. Koordinationsgruppe (KG): Reitschulegruppen delegieren ein Mitglied an die sonntägliche Sitzung, entscheidet in Alltagsfragen, auch finanziellen. Kann der BG oder den RG Aufträge erteilen. Betriebsgruppe (BG): Pro Arbeitsgruppe ein Mitglied; ist für administrative Arbeiten der "Gesamtreitschule" zuständig.
Die Arbeits- oder Reitschulegruppen (RG): kleinste Reitschule-Einheiten. RG organisieren sich autonom, einige als Verein, andere als Genossenschaften, je nach Zweck. Neue Gruppen müssen an einer VV ihr Konzept genehmigen lassen.
Adhoc-Gruppen: Fürs Reitschule-Fest oder die nächste Abstimmungskampagne je nach Bedürfnis.
Wirtin, Buchhalter, Sicherheitsbeauftragter und Hofwart nehmen nach Bedarf an KG oder BG teil.

[3] Aus: Offener Brief an die Grüne Freie Liste vom 9.6.2009 (betr.: Motion "Reitschule schützen: Gewaltprobleme lösen" von Erich Mozsa.) Siehe www.reitschule.ch / Mediengruppe.

[4] 23/24. Oktober, für Details siehe Programm-Teil und
www.reitschule.ch.

Raute

Eingang und Ausgrenzung

TORHEITEN - EINE HASS-LIEBESERKLÄRUNG ANS "GROSSE TOR"

Um geschätzte 300 KG Eiche und ein bisschen Tannenholz geht es hier. Um das grosse Eingangstor der Reitschule. Eigentlich keine Zeile wert, diese überdimensionale Türe, die von weitem zu sehen ist, wenn mensch sich auf die Reitschule zubewegt. Sogar einen Zwilling hat sie, das Tor zur grossen Halle. Aber um diesen Zwilling soll es hier nicht gehen. Denn obwohl weitgehend typgleich, hat das Tor zur Reitschule ungleich mehr symbolischen Wert.


Das grosse Tor trennt Welten. Zwar steht es mitten im Geschehen, denn der Vorplatz ist ja auch Teil der Reitschule. Aber es trennt zwischen drinnen und draussen. Es bestimmt, ob die Reitschule "offen" ist oder "zu". Es trennt die BenutzerInnen der Reitschule in "privilegierte" und "nicht privilegierte", denn durch dieses Tor im geschlossenen Zustand kommt nur, wer einen der fast 500 Schlüssel sein Eigen nennt. Es trennt zwischen dem verwunschen wirkenden Hof und der freien Wildbahn da draussen - wenn die Reitschule "zu" ist.

Dieses trennende Element ist es auch, welches das Tor immer mal wieder zum Politikum innerhalb der Reitschule macht. Wer ist eigentlich willkommen hier? Wer ist nicht willkommen und wer ist dermassen nicht willkommen, dass er oder sie den Weg zum Tor hinaus nicht ganz freiwillig antreten muss?

Die Lösung zu dieser Frage der Zugangsberechtigung ist auf dem Tor selbst zu finden. Aufgemalt worden sind die Kernelemente des Reitschul-Manifests: "Kein Rassismus", "kein Sexismus", "keine Homophobie", "kein Deal" steht da geschrieben. Wer sich daran hält, darf rein. Wer sich nicht daran hält, der darf zwar auch rein - denn seit es die Torwache nicht mehr gibt, kontrolliert dies ja niemand - fliegt aber oft relativ schnell zum genau gleichen Loch wieder raus.

Es ist ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft, dass die Reitschule überhaupt ein verschliessbares Tor hat. So war das Tor längst nicht immer "zu". In grauen Urzeiten - so will es eine hartnäckige Sage - war das grosse Tor immer offen. Wie auch alle anderen Räume immer offen waren; zumindest so lange, bis auch die, die noch heute die hartnäckigsten HüterInnen der Sage sind, ebenso hartnäckig erfahren mussten, dass schon wieder der Verstärker der Musikanlage geklaut worden war.

Das Tor hat übrigens Ableger. Was das grosse Tor für die gesamte Reitschule, sind verschiedenste Türen für alle anderen Räume im ganzen Haus. Wieviele Türen es gibt und welche derzeit mit einem Schliesssystem gesichert sind, darüber streiten sich die Gelehrten. Aber jede dieser Türen trennt eine weitere kleine Einheit der Welt innerhalb der Reitschule ab und macht diese unzugänglich für den Grossteil der Reitschule-BenutzerInnen.


Tore auf Beinen

Nun kommt es vor, dass das grosse Tor offen ist. Zum Glück des Öfteren. Dann dringt die freie Wildbahn in den Hof und die gleichfalls geöffneten Räume. Dann wird gefeiert, getrunken, getanzt, ein Film oder Theater geschaut oder im Infoladen Bücher gelesen und diskutiert. Dann kommen alle die Menschen, die sich für Kultur oder Politik interessieren und auch diejenigen, denen das alles gelinde gesagt am Arsch vorbei geht.

Sie kommen, um Party zu machen - was ja nichts Verwerfliches ist.

Wo allerdings Party gemacht wird, gibts "Begleiterscheinungen". So werden hier Drogen gedealt (kein Deal, verdammt noch mal!), werden Gäste von organisierten Gangs beklaut (keine Selbstbereicherung, grrrrrr...), verirren sich irgendwelche rassistischen oder homophob-sexistischen Witzereisser in unsere Räume (kein Sexismus, Rassismus und keine Homophobie) oder besuchen uns Leute, die eine währschafte Schlägerei einer echten Auseinandersetzung zu wichtigen Themen vorziehen.

An diesem Punkt wachsen dem Tor weitere Ableger. Diesmal sind sie nicht aus Eiche und Tannenholz, sondern bewegen sich auf zwei Beinen.

[Kleiner Exkurs: Wenn sich ReitschülerInnen zwecks Entlastung der Nerven zwischendurch einen anderen Schuppen in dieser Stadt zu Gemüte führen - einmal so richtig an einem Ort feiern, wo mensch keine Verantwortung hat - dann machen sie sehr schnell Bekanntschaft mit meist sehr grossen, sehr kräftigen Herren, die an den Türen dieser besagten Schuppen stehen. Jeder mittelgrosse Nachtklub hat mittlerweile ein paar von diesen, teils sehr unsympathischen Typen engagiert. Und wenn der oder die geneigte Besucherin nicht ins Schema passt, dann fliegt er oder sie ziemlich schnell raus. "Nicht ins Schema passen" kann je nach Schuppen schon wildes Tanzen, ein Loch im Portemonaie oder ein nicht lupenreiner emmentaler Stammbaum sein.]

Zurück zur Reitschule: Wie im Exkurs beschrieben, werden je länger je mehr "unpassende" Leute aus verschiedensten Orten - wo was läuft - verbannt. Und wohin des Wegs? Klar, ab in die Reitschule! Die Reitschule ist ja schliesslich ein offenes Haus; so ist bekannt, so stehts zumindest (verklausuliert) im Manifest geschrieben.

So kommt es, dass teils eher schwierige Menschen in die Reitschule finden. Einzeln sind sie kein grosses Problem. Es geht auch bei uns um die Menge. Nicht zuletzt deshalb gibt es seit einigen Jahren bei grossen Anlässen auch in der Reitschule Securities. Die wandelnden Vertreter des grossen Tores. Aber auch Reitschule-AktivistInnen oder Gäste werfen Leute aus dem Tempel, die sich partout nicht an die Grundsätze halten wollen; auch sie sind Artverwandte des grossen Tores.

Natürlich versuchen die Reitschule-AktivistInnen fair zu sein. Wenn einer ein bisschen rumbrüllt, ist das noch lange kein Grund ihn raus zu werfen, wie das in anderen Schuppen der Fall wäre. Wird gegen die Grundsätze verstossen, ist erst mal eine verbale Konfrontation fällig. Erst wenn alles nicht mehr hilft, wird die Meinung auch handfester zum Ausdruck gebracht. Soviel zur Theorie.

In der Praxis führt ein solcher Rauswurf nicht selten zu Diskussionen, in der auch Meinungen zu hören sind wie, "ihr seid genau so repressivwie alle anderen in dieser Stadt". Klar! Denn die Reitschule kann sich nicht vollständig aus dem Wettrüsten um mehr "Sicherheit" heraushalten.


Symbolik

Das grosse Tor ist ein gutes Symbol für Ausgrenzung, welche auch die Reitschule betreibt. Es ist ein Schutzschild gegen aussen und eine physische Entlastung bei brenzligen Situationen für die Reitschule-AktivistInnen, weil es eben einfach geschlossen werden kann. Es ist die Barriere, welche so mancher SousLePont-Crew schon manchen ruhigen Feierabend gesichert hat.

Symbolik kommt auch ins Spiel, wenn das Tor in der Stadtpolitik Thema wird, wenn zum Beispiel PolitikerInnen fordern, das Tor - und damit die Reitschule - während Demonstrationen zu schliessen. Was das bringen soll, weiss allerdings nicht mal der Geier.

Manchmal sorgt das Tor auch für Erheiterung. Zum Beispiel wenn Kollege S. von unseren Freunden in blau sein Einsatzfahrzeug ins geschlossene Tor rammt, um dann wutentbrannt festzustellen, dass es doch ein bisschen stabiler ist, als die Stossstange seines Fahrzeugs.

Manchmal ist das Tor aber auch eine Eingrenzung. Etwa dann, wenn sich verspätet verabschiedende Gäste innen vor dem geschlossenen Tor wieder finden, den kleinen Drehknopf zum Öffnen der Tür aber nicht. Die ratlosen Gesichter sind jeweils zum Erbarmen.

Manchmal ist es aber auch nur einfach ein Tor, geschätzte 300 kg Eiche und ein bisschen Tannenholz. Nur eines ist sicher: Das Tor der Reitschule ist immer ein Sinnbild für die Unfähigkeit unserer Gesellschaft, ohne Schranken zu leben. Und von dieser Gesellschaft kann sich die Reitschule auch mit tausend Toren nicht abkoppeln.

- DER @RCHI-WAHR -

Raute

Dachstock gegen Schandfleck

BEFINDLICHKEITSUMFRAGE

Spezielles Ambiente, ein kunterbuntes Ream und die musikalische Horizonterweiterung wird vom Dachstock-Team geschätzt.


Seit Anbeginn wird das Dachstock-Programm durch ein breit abgestütztes Kollektiv gestaltet, welches sich mit Inhalten konfrontiert sieht, die über das Veranstalten von musikalischen Darbietungen auf einer Bühne weit hinausgehen.

Dabei haben sich sowohl die musikalischen Inhalte verändert wie die Probleme, die das Kollektiv nebenbei noch zu bewältigen hat. Keine Seltenheit, dass Leute am Eintritt, an der Bar, der Garderobe arbeiten, welche die Reitschule als erstes im Kinderwagen besucht hatten, dass neu dazugestossene Mitarbeitende wertvolle Hinweise darüber geben, mit welchen Tricks sie sich früher um das Bezahlen eines Eintrittspreises drückten. Es gibt die Generation, welche an ihre Jugendjahre als Besuchende anknüpft, indem sie heute in einem Kollektiv mitarbeitet.

Die megafon-Sondernummer haben wir zum Anlass genommen, eine kleine Befindlichkeits-Runde unter Mitarbeitenden zu veranstalten. Es ist keine grosse Überraschung, dass dabei herauskommt, dass für viele die Reitschule ein besonderer Ort ist, dessen Nicht-Existenz ein Grund zum Wegzug aus dieser Stadt wäre: Dass Konzerte, Theater, Kino, Restaurant, Bars, eine Bibliothek, Werkstätten etc. unter einem Dach Platz finden, wird als Besonderheit empfunden. "Ein spezielles Ambiente, von der wild zusammengewürfelten Truppe im Team, welche alle am gleichen Strang ziehen, zu den vielen unterschiedlichen Leuten, die als Gäste den Dachstock besuchen", trägt ebenso zur Motivation bei wie der Drang, "an einem Ort zu arbeiten, wo ich mich nicht verstellen muss, und das Mass meines Engagements selbst bestimmen kann." Hinzu kommt die "zumindest theoretische politische Grundhaltung", und natürlich "die einzigartigen Räumlichkeiten", mit ein Grund, warum der Dachstock "fett tönt", wobei er auch "den musikalischen Horizont erweitert".

Selbstverständlich gibt es auch die Kehrseite zum Enthusiasmus. Die basisdemokratischen Strukturen werden als "zu schleppend" empfunden, ein "Zusammenschluss aller veranstaltenden Kollektive" wird angeregt, deren Anliegen zu vertreten. Ansammlungen "bedrogter, besoffener Jugendlicher, die mühsam sind", "unfreundliche und ungeduldige Gäste, die nerven". Mitunter sind deren Erscheinungsformen aber auch ein Lächeln wert, zum Beispiel, wenn Bestellende plötzlich aus dem Blickfeld verschwinden, weil sie vor der Bar zu Boden gehen, und nach dem Wiederauftauchen dankbar den Vorschlag, "ein Wasser zu trinken" annehmen, oder selbstsicher einen "Mixed Longdrink" bestellen, auf die Frage, was für einen solchen sie denn wünschen, ratlos auf ein Bier zurückgreifen. Auf die Frage nach dem Ausweis mit: "Oh, Scheisse" reagieren und weggehen, es mit der Ausrede versuchen, sie hätten diesen an der Garderobe abgegeben. Ohne Ticket Einlass verlangen, da das Ticket "der Hund gefressen habe", sich bar schauspielerischer Fähigkeiten blind stellen, um ermässigten Eintritt zu ergattern. Dinge, die dazu führen, dass Mitarbeitende lernen, "in hektischen Situationen die Ruhe zu bewahren."

Schlusswort: "Bern ohne die Reitschule wäre ein Schandfleck!".

- ERWIN BLASER -

Mehr Dachstock: www.dachstock.ch

Raute

Rezept für 1 feministische Reitschule

DER FRAUENRAUM-KUCHEN

Du bist feministisch und dich plagt schon lange die Sehnsucht nach der Insel? Nach Austausch mit GleichgesinntInnen? Nach dem Raum, in dem vieles möglich ist und wenig schief gehen kann? Do it yourself - und back dir deinen Frauenraum! Misch mit und beiss ab. Wir zeigen dir, wie's geht.


Grundmasse

Zutaten
1 basisdemokratische Reitschule
1 (erkämpfter) Raum
1 Frauenkollektiv
mehrere (Infra)Strukturen für kulturelle und
gesellschaftspolitische Veranstaltungen

Zubereitung
Bevor du mit der Zubereitung des Teiges beginnst, solltest du die bereits vorhandenen Zutaten genauer betrachten. Der basisdemokratische Beigeschmack des Reitschulbetriebes lässt die Grundmasse zähflüssig erscheinen: Diskussionen hin und her und wieder zurück, Entscheidungen scheinen nicht in Sicht. Du wirst jedoch während dem Backen feststellen, dass genau diese Zähflüssigkeit dem Kuchen die benötigte Stabilität geben wird. "Wozu Stabilität? Alles, was wir brauchen ist ein Raum und der besteht ja", magst du dir nun vielleicht denken. Nun, der Raum war nicht schon immer da. Unsere Vorbäckerinnen haben lange gekämpft bis der Raum zum Raum wurde, den er heute ist: Ein Begegnungsort und eine Plattform für Frauen [unabhängig insbesondere ihrer ethischen und sozialen Herkunft, ihrer Sprache, ihres Alters, ihres sozialen Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer politischen und philosophischen Gesinnung, ihres Glaubens oder ihrer allfälligen Behinderung]. Heute müssen wir vielleicht nicht mehr kämpfen, aber eine Prise Bewusstsein um die Bedeutung des Raumes wird benötigt, damit der Teig während dem Aufgehen nicht in sich zusammenfällt. Gegensteuer hierfür sind Instrumente wie zum Beispiel die Frauenquote an Anlässen: Mindestens 50 Prozent der Auftretenden müssen Frauen sein; was wie eine Hürde erscheint, sichert jedoch einen Teil vom erkämpften Raum. Der Behälter dieses Bewusstseins ist das Frauenkollektiv, der Kern des Teiges. Er besteht je nach Saison aus ca. 2-10 Frauen. Momentan sind es ca. 10, was das gemeinsame Backen wesentlich erleichtert und die Chance erhöht, dass der Kuchen richtig, richtig gut wird.


GLASUR

Zutaten

wöchentliche Sitzungen
1 Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen
1-2 Jobs (+ rotierende Aufgaben)
3-5 Off-Gruppen
1 feministisches Netzwerk
vieleviele HelferInnen

Zubereitung
Vielleicht denkst du bereits beim Abmessen der Sitzungen, du würdest lieber ein paar Sitzungen weniger hinzugeben - wir müssen dich enttäuschen. Auch wenn es drin liegt, die eine oder andere zwischendurch wegzulassen, bedingen die basisdemokratischen Strukturen, dass Zeit und Geduld beigemischt werden. Ansonsten wird riskiert, dass die zähflüssige Grundmasse erstarrt oder sich einzelne Krümel verselbstständigen. Aber hierfür haben wir ja noch einige andere Zutaten bereit. Auch wenn vieles im Kollektiv entschieden wird, gibt es Bereiche Barverantwortung, Booking, PR, etc.), die aufgeteilt werden können und in der Verantwortung von Einzelnen liegen. Zusätzlich stehen mehr oder weniger regelmässig rotierende kleinere Aufgaben an (KG-Sitzungen, Hofputz, etc.). Damit die rund 70 Veranstaltungen pro Jahr nicht durchwegs von den Kollektivfrauen durchgeführt werden müssen, gibt es zum einen die sogenannten Off-Gruppen. Das sind Gruppen, die dem Kollektiv angegliedert sind und regelmässig im Frauenraum veranstalten. Zudem ist der Frauenraum mit verschiedenen Organisationen, die sich für Frauen-, Lesben- und Genderanliegen einsetzen, vernetzt und kann immer wieder auf Co-Produktionen zurückgreifen. Findet eine Veranstaltung dann statt, sind jeweils zahlreiche HelferInnen hinter der Bar, an der Kasse und der Garderobe.


Garnitur

So - jetzt wird veranstaltet! Damit der Kuchen aber nicht versalzen oder teigig wird, müssen die Grundmasse, wie auch die Glasur kontinuierlich weiterentwickelt werden.

Und last but not least soll der Kuchen nicht alleine gegessen werden. Denn ohne den Frauenraum-Kuchen würde nicht nur der Reitschule ein grosses Stück fehlen, sondern auch die Grundmasse des Kuchens verlöre ihre Würze.

Denn der Frauenraum-Kuchen schmeckt besser, wenn er dort gegessen wird, wo er hingehört: in die Reitschule.

Et voilà - en Guete wünscht euch euer

- FRAUENRAUM! -

Raute

Aus dem Tojo

FAULE KOMPROMISSE?

Ist es überhaupt möglich, die Bedürfnisse zweier Personen unter einen Hut zu bringen? Und wie ist es dann erst bei einem so vielseitigen Gebilde wie der Reitschule? Entstehen dabei nicht zwangsläufig faule Kompromisse?


Basisdemokratisch erzielte Entscheide sind nicht an und für sich besser oder richtiger. Sie können genauso "falsch" sein, oder ungeahnte Folgen haben wie durch andere Verfahren gefällte Entscheide. Die Grundidee der Basisdemokratie ist, einen Entscheid möglichst breit abzusichern und bei seiner Entstehung alle miteinzubeziehen. Auch wenn es nur beim Versuch bleibt. Nie können sich dabei jedoch alte im gleichen Mass beteiligen. Wer sich traut, vor anderen zu sprechen, gut argumentieren kann oder Anerkennung geniesst, wird es immer leichter haben, ein Plenum von seinen Ideen zu überzeugen. Meist liegt das ja nicht allen gleichermassen. Manche gehen vielleicht anders an ein Problem heran oder drücken sich nicht gerne vor (vielen) anderen Leuten aus. Diese werden bei einer basisdemokratischen Entscheidfindung benachteiligt.

Meist ist es schon zwischen den Gruppen äusserst schwierig, zu einem Konsens zu gelangen. Spielen auch noch Einzelinteressen mit hinein, wirds kompliziert. Gesamtreitschul-, Gruppen- und Einzelinteressen kumulieren sich zu einem wirren Knäuel, verbeissen sich auf unterschiedlichen Ebenen ineinander und lassen nur ungern wieder voneinander ab.

Ist es überhaupt wünschenswert, dass alle bei absolut jedem Entscheid mitsprechen müssen? Strukturelle Fragen oder Visionen, die die Gesamtreitschule betreffen, sollen unbedingt gemeinsam entschieden werden. Es ist wichtig, die Grundsätze ständig neu zu diskutieren, dabei gemeinsame Ziele zu definieren, verschiedene Meinungen zusammenzubringen und konstruktive Kompromisse zu entwickeln. Diese sollen in der Diskussion reifen und idealerweise zum Schluss von allem das Beste enthalten. Das ist ein aufwändiger Prozess, der sich lohnt. Jede Kleinigkeit im Grossen zu verhandeln, sprengt jedoch die vorhandenen Ressourcen. So können Detailfragen, die in grossen Gruppen diskutiert werden, manchmal einen Entscheid empfindlich hinauszögern. Sicher auch zum Guten, doch meist sind solche Vakuen äusserst lähmend fürs Tagesgeschäft. Auch müssen die Einzelnen viel Zeit und Aufwand investieren, um sich selbst und andere ausreichend zu informieren - um über ein Thema auch wirklich entscheiden zu können.

Darum wäre es wünschenswert, die Direktbetroffenen könnten öfters mögliche Lösungen autonom erarbeiten und allfällige heikle Punkte herausstreichen. Diese würden dann wieder in die Gruppe zurückgetragen und dort entschieden.

Auch wäre es sinnvoll, den Erfahrungen und Kompetenzen von Einzelpersonen einen höheren Stellenwert einzuräumen. Wenn man darauf vertrauen kann, dass alle sich ums Wohl aller bemühen, sollte dies ja eigentlich kein Problem darstellen. Die Gefahr, dass bei einem Einzelentscheid eine mögliche Folge oder ein Faktor nicht miteinbezogen wird, bleibt natürlich bestehen. Das kann andererseits aber auch bei einer breiteren Beteiligung nie völlig ausgeschlossen werden.

All dies setzt grosses Vertrauen voraus. Insbesondere darauf, dass es alle gut meinen und am selben Strick, in die ungefähr gleiche Richtung ziehen. Überdies stellt eine basisdemokratische Organisationsform unglaublich hohe Anforderungen an einen selber und alle anderen Beteiligten. Gleichzeitig ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn sein, loben und sanktionieren, sich selber kontrollieren und trotzdem motiviert bleiben, ist nicht immer einfach und kann leicht zu absurd-schizophrenen Situationen führen.

Basisdemokratie beinhaltet aber vor allem auch, sich zusammen zu setzen, miteinander zu diskutieren, Meinungen auszutauschen und den eigenen Horizont zu erweitern meist schöne und lustige Momente zu teilen. Unter anderem diese Struktur macht die Reitschule zu meinem bisher besten Arbeitsort. Dadurch, dass im Kollektiv eigenverantwortlich entschieden wird, was man wie machen will, hat man die Autonomie über Programmation, Einsatz, Zeitaufwand, Gehalt und Art der Umsetzung selbst zu bestimmen. Das motiviert enorm und reisst mit. Ein Riesenpool an interessierten Leuten, schon vorhandene Infrastruktur, Wissen und Können, auf das man jederzeit zugreifen kann oder könnte. Schon die Möglichkeit an etwas Spannendem mitzuwirken, etwas verändern zu können oder selber in die Hand zu nehmen und doch jederzeit Hilfe zu kriegen, gibt einem Triebkraft. Dann auch wirklich etwas Neues aufzubauen oder Altes zu verändern, gemeinsam mit anderen etwas zu bewirken, ist sehr befriedigend. Für mich ist die Reitschule nicht zuletzt deshalb ein Ort, der fasziniert. Ein Ort, an dem zwar Kompromisse geschlossen werden müssen, dafür alle wenigstens die Chance haben, diese mitzubestimmen und sie neben mehrheitsfähig auch noch möglichst gut werden zu lassen.

- FIONA -

Raute

Lose Gedanken einer Altgedienten

UND WIR BAUTEN UNS EIN KINO

Ich bin eine, die seit der Besetzung der Reitschule im Oktober 1987 dabei ist. Ich erinnere mich lebhaft an all die vielen Vollversammlungen, wo es neben politischen Debatten darum ging, sich in den eroberten Räumen einzurichten, um endlich einem neuen, eigenen Kulturverständnis Raum zu geben.


Endlich konnte die Kraft vermehrt in die Räume gesteckt werden und Dinge entstehen lassen, die noch heute Bestand haben.

Ich weiss noch genau, an einer dieser Vollversammlungen rief jemand: Wir bauen uns ein Kino! 1988 im März, anlässlich der Auswahlschau der Solothurner Filmtage eröffnete eine Gruppe von ca. 15 Leuten, die vorgängig alle zusammen aus einer der Remisen ein Kino mit Vorführkabine und Styropor-Leinwand gezimmert hatten, das Kino in der Reitschule. So ist denn die Kinogruppe wohl eine der ältesten Arbeitsgruppen in unserem Kulturzentrum. Und das nicht nur, weil sie von Anfang an dabei war, nein, auch was das Alter der Leute anbelangt, ist die Kinogruppe, mit einem Durchschnitt von ca. 38 Jahren für Reitschulverhältnisse in einem fast schon biblischen Alter. Das kommt daher, dass viele Menschen bei anderen Gruppen angefangen haben - zum Beispiel in der Frauengruppe oder im Megafon - um dann im Laufe der Zeit, weil sich Gruppen neu formierten oder auflösten, zu uns überzuwechseln. Und dann sind einfach viele von uns all die Zeit hindurch geblieben und haben alt den Stürmen getrotzt. Hunderte von Auseinandersetzungen zu Kulturpolitik, zu Basisdemokratie, Drogenpolitik und Vorplatz, haben unseren Horizont erweitert, flexibel und biegsam gemacht. Wir sind vertraut mit alten Reitschulgeschichten und -gewohnheiten. Unser Geschichtsverständnis und -gedächtnis ist ein weitzurückgreifendes und "weises" geworden, welches jungem ungestümem Denken vielleicht oft im Wege steht. Jedoch glauben wir, dass wir Alten doch auch viel zu konstruktivem Handeln beitragen und ein Wissen weiterzugeben haben, das gut fundiert ist.


Kreativ...

Trotz all dem Elan, den die Leute von der Kinogruppe in diesen zwei Jahrzehnten immer wieder aufgebracht haben, macht sich auch in unserer Gruppe ab und zu Kreativitätsmüdigkeit bemerkbar. Aber um politisch brisante Themen an ein Publikum, das sich mehr und mehr in eskapistische Vergnügungen zurückzieht, zu bringen, es dazu zu motivieren, sich kritischen Themen zu stellen, sich auf Filme einzulassen, die eine Welt mit all ihren Problemen und Widersprüchen zeigt, Filme, die den Dingen auf den Grund gehen wollen, die zu Handeln und Denken auffordern, dazu braucht es viel Feuer und Kreativität. Ich glaube, dass es gerade diese Möglichkeit ist, die politische Arbeit mit Kreativität zu verbinden, die viele junge Menschen motiviert, bei uns im Kino mit zu machen. Und das wissen wir zu schätzen, denn der wendige Geist der Jüngeren, diese Energie, gepaart mit der Liebe zum Film, reisst uns Ältere immer wieder ins schöpferische Chaos.


... und kompetent...

Wenn Ihr mich fragt, ob ich ein kompetenter Reitschulmensch bin, dann darf ich das sicherlich mit ja beantworten. Am Anfang vor 22 Jahren war zwar bereits viel Wissen über Filme, Filmgeschichte und Filmpolitik bei mir vorhanden, hatte ich doch in den 1980er Jahren am Institut für Journalistik in Fribourg die Gelegenheit, mir dieses Wissen anzueignen. Damals war Stephan Portmann, der Gründer der Solothurner Filmtage, für die Auseinandersetzung mit Film und dem damals noch recht neuen Medium Video zuständig. Es war eine intensive Zeit, und Film und Kino bekamen durch diesen wundervollen leidenschaftlichen Lehrer eine ganz andere, neue Dimension. Mein erworbenes Wissen und meine eigene Leidenschaft wollte ich dann in der ebenfalls sehr leidenschaftlichen Zeit der zweiten Besetzung der Reitschule unbedingt einbringen. Und da begann meine eigentliche, hautnahe, praktische Weiterbildung in Filmprogrammation, Öffentlichkeitsarbeit, Vernetzung, Kulturvermittlung. Ich bin in der Reitschule ein kompetenter Mensch geworden alle diese Jahre hindurch, nicht nur was meine Tätigkeiten im Kino, sondern auch was mein politischer Werdegang anbelangt.


... und immer noch Basisdemokratisch

Das Kino gäbe es nicht ohne die Reitschule als Ganzes und wenn die Reitschule aufhört, das zu sein, was sie jetzt gottseidank noch ist, nämlich ein basisdemokratisch organisiertes Gebilde mit Arbeitsgruppen, die sich als Kollektive verstehen, wird es meiner Meinung nach auch kein derart gewachsenes Kino mehr geben. Wir sind der Sache Reitschule mit all ihren Stärken, mit all ihren Problemen und allen Errungenschaften der letzten 22 Jahren verpflichtet. Auch wenn von aussen die Basisdemokratie in Frage gestellt, ja suffisant belächelt wird, bin ich froh, dass diese bei uns immer noch funktioniert! Ich, die ihr Geld in festen Anstellungsverhältnissen oder als freie Kulturschaffende verdient, kenne hierarchische Strukturen gut und weiss, wie sie einengen können. Darum ist mir diese Form der Auseinandersetzung, das Ringen um Konsens, trotz der Langwierigkeit, die solche Prozesse von allen abverlangt, sehr lieb geworden und ich bin aus vielen Diskussionen, sei es in unserem Kollektiv oder an Vollversammlungen, immer wieder gestärkt herausgekommen. Denn in dieser Art der Suche nach Lösungen wird dein ganzer Geist gebraucht, wird dein Denken immer wieder angeregt. So bleibt man wach und rege. Ich liebe das Gefühl, wenn im meinem Kopf Stimmen, Gedanken und Ideen von Menschen, die der Reitschule neu oder seit Jahren verpflichtet sind, herumbrausen und sich daraus dann ganz allmählich meine ganz eigene Wahrheit daraus entwickeln kann. Das ist vital und wesentlich. Und in all diesen Jahren habe ich auch gesehen, wie sich die Auseinandersetzung gewandelt hat, wie die Art und Weise der Diskussionen gereift ist, wie das Aufeinanderhören sich verfeinert hat und sich ein Respekt gebildet hat, der auch ohne grosse Anerkennungsworte spürbar ist, für diejenigen, die sich für das Projekt Reitschule einsetzen.

Für das Kino: - LILO -

Raute

Eine Utopie?

BASISDEMOKRATIE: DAS GERÜST EINER FREIEN GESELLSCHAFT?

Trotz 'Es' und 'Unterbewusstsein', trotz endemischen Neurosen und dem Vorherrschen eines niederen Intelligenzquotienten sind die meisten Menschen wahrscheinlich hinreichend normal und vernünftig, um mit der Lenkung ihrer eigenen Geschichte betraut werden zu können."[1]


Bevor darauf eingegangen wird, inwiefern Basisdemokratie das Gerüst einer freien Gesellschaft sein soll, erscheint es sinnvoll, kurz diese freie Gesellschaft zu skizzieren. Unter einer freien Gesellschaft stellt sich vermutlich jedeR etwas vollkommen anderes vor, weshalb folgende Schilderung nur eine persönliche Meinung sein kann, und keinesfalls einen, wie auch immer gearteten, Wahrheits- oder Allgemeingültigkeitsanspruch zu vertreten vermag.


Solidarität und Selbstbestimmung

In einer freien Gesellschaft nach meinen Vorstellungen gehören Staatlichkeit und Gouvernementalität der Vergangenheit an. Sie existieren ebensowenig, wie transnationale Unternehmen, Gipfeltreffen der Mächtigen dieser Welt oder Armeen. An ihrer Stelle haben sich unzählige lokale und/oder regionale Kommunen gebildet, die sich selbst konstituieren und grundsätzlich autonom agieren und entscheiden. NachbarInnen schliessen sich zu Quartierräten zusammen und entscheiden dort, wie sich das Zusammenleben abspielen soll. Betriebe werden von den ArbeiterInnen selbst geführt, alle haben die Möglichkeit, selbst über ihre Arbeitsverhältnisse bestimmen zu können. Niemand muss schauen, dass eine bestimmte Anzahl an Arbeitsstunden geleitet wird, damit am Ende des Monats genug Geld zum Überleben vorhanden ist, denn Geld gibt es auch nicht mehr. Alle arbeiten nach Bedarf, niemand mehr um irgendeine mehr oder weniger künstlich konstruierte Nachfrage zu befriedigen. Benötigt jemensch irgendetwas, erhält er dies kostenlos, da Solidarität nicht mehr ein theoretisches Konzept, sondern gelebte Realität ist.

In einer freien Gesellschaft ist die Selbstbestimmung über das eigene Leben eines der zentralen Elemente. Alle haben das Recht und die Möglichkeit mitbestimmen zu können, wenn es um Fragen geht, die ihr Leben direkt tangieren. KeineR kann über das Leben anderer Menschen bestimmen.

Aus diesen Ansprüchen geht logisch hervor, dass diese freie Gesellschaft basisdemokratisch organisiert sein muss. Denn nur das Subjekt einer basisdemokratischen Gesellschaft ist meines Erachtens genau dieser Zusammenschluss aller betroffenen Individuen, welche im konkreten Fall versuchen, möglichst dezentral die Art und Weise ihres Zusammenlebens gleichberechtigt zu regeln. Die Entscheidungskompetenz bei Problemen und Unklarheiten liegt dabei immer bei der Basis der Direktbetroffenen, niemals bei irgendwelchen Gremien oder Ausschüssen, die so über Andere bestimmen könnten. Es ist zwar jederzeit möglich, die Ausführung gewisser Aufgaben zu delegieren, nie jedoch die Kompetenz zur Entscheidung über Fragen oder Probleme. Um eine Diktatur der Majorität zu verhindern, sicherzustellen, dass Fragen und Probleme möglichst gründlich thematisiert werden und zu verhindern, dass einer Person Entscheide gegen ihren Willen aufgedrängt werden, ist meines Erachtens nicht nur Basisdemokratie, sondern konsensorientierte Basisdemokratie, die Form der Entscheidfindung, welche notwendig ist, um eine oben beschrieben freie Gesellschaft überhaupt erst zu ermöglichen. Oder wie es schon William Godwin und Pierre-Joseph Proudhon ausdrückten: "Wir sollen nie vergessen, dass jede Regierung ein Übel und die Entthronung unseres eigenen Urteils und Gewissens ist"[2], beziehungsweise es "keine berechtigte Vertretung des Volkes gibt"[3].


Gelebte Selbstverwaltung

Die Zeit, als Männer mit langen Bärten an grossen Kongressen tiefgreifende Worte sprachen, um so der jungen ProletarierInnenbewegung eine Stimme zu geben, ist jedoch schon lange vorbei. Damit einhergehend auch der Moment, als es vielleicht möglich gewesen wäre, mithilfe einer geeinten ArbeiterInnenbewegung und dem unbefristeten Generalstreik, den Kapitalismus in die Knie zu zwingen. Leider ist es den Herrschenden gelungen, in den folgenden Jahrzehnten, mithilfe ihrer Propaganda und gewissen Zugeständnissen, die unzufriedenen Massen der ArbeiterInnen soweit zu assimilieren, dass ein revolutionäres Bewusstsein nicht mehr, oder nur noch fragmentweise vorhanden ist. An den Mechanismen der Gesellschaft und der Form der Herrschaft hat sich jedoch nur wenig geändert: immer noch bestimmen einige Wenige, hauptsächlich westliche Männer, über das Schicksal des gesamten Planeten.

Mögen wir AnarchistInnen bisher auch jeden Kampf verloren haben, besiegt wurden wir nie. Die Utopie einer freien und gerechten Welt lebt bis heute weiter. Doch wie sich auch die gesellschaftlichen Umstände und das Gesicht des Kapitalismus in den letzten hundert Jahren gewandelt haben, so musste und hat sich auch die Form des Widerstandes gegen ebendiese Zustände verändert. Im Kampf für eine basisdemokratische Gesellschaft reicht es nicht, grossspurige Theorien und noch so einleuchtend klingende "Wahrheiten" oder gar die allein seeligmachende "Lösung" zu predigen. Basisdemokratie muss konkret erlebbar sein und sich jeden Tag aufs Neue aktiv beweisen. Eine Aktionsform, welche genau diese Aspekte der fühl-, seh- und lebbaren Basisdemokratie in den Vordergrund stellt, ist das Konzept der Selbstverwaltung. Menschen beginnen ihren Alltag in die eigenen Hände zu nehmen und sich nicht mehr darauf zu verlassen, dass irgendwelche Personen in irgendwelchen Parlamenten und Regierungen ihnen zeigen, wie sie ihr Leben zu führen haben. Stattdessen bauen aktive Personen eigene Projekte auf, in denen sie gleichbestimmt untereinander regeln, wie sie zusammen arbeiten und leben wollen. Da Geld noch nie eine Stärke antiautoritärer Bewegungen war, werden dazu meist leerstehende Gebäude in den Allgemeinbesitz zurückgeführt. Diese Projekte sollen und werden Präzedenzfälle sein, an denen die Realisierbarkeit der Basisdemokratie gemessen wird. Andererseits sollen sie auch anderen Menschen die Möglichkeit geben zu sehen, dass es alternative Entscheid- und Lebensformen gibt und der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte bedeutet.


Chefs und Vorgesetzte adieu!

Natürlich entspricht keines dieser Projekte vollkommen dem, was ich mir unter der Basis einer befreiten Gesellschaft vorstelle. Sie können es auch gar nicht, denn der Druck der herrschenden Verhältnisse, sowie Konkurrenzkampf und Egoismus, die sich bis weit hinein in dieser linken Bewegung gefestigt haben, sind Phänomene, welche bestenfalls mit der Zeit überwunden werden können. Allerdings nur, falls es gelingen sollte, genügend viele und vielfältige Projekte aufzubauen, um grössere Teile der Bevölkerung davon zu überzeugen, dass sie nicht auf Chefs und andere Menschen angewiesen sind, die über ihr Leben bestimmen.

- ILTIS -


Literatur

[1] Huxley, Aldous: Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt; Piper, München 1964; S. 37.
[2] Frank, Karlhans (Hrsg.): Anarcho-Sprüche; Eichborn Verlag; Frankfurt am Main 1982; S. 61
[2] Ebd. S. 26.

Raute

Infoladen

AUCH IN DER REITSCHULE GIBT ES INFORMELLE HIERARCHIEN

Dem Infoladen-Kollektiv ist es wohl in den bestehenden Reitschulstrukturen, trotz Inventarisieren und Archivieren...


megafon: Bist du ein kompetenter Mensch? In welchen Bereichen hast du dich in der Reitschule weiter gebildet?

Infoladen: Wir sind ExpertInnen in fast allen Bereichen und werden immer besser.

Welche Funktion hat deine Gruppe in der Reitschule?

Dank unserer Infrastruktur und unserer guten Vernetzung sind wir für viele Menschen Anlaufstelle für verschiedene Anliegen. Und klar... wir sind ein Infoladen und eine Volxbibliothek und versuchen, so gut es geht, alle Themengebiete, die interessieren könnten, unter Anderem mit Büchern, Zeitschriften, Infoveranstaltungen abzudecken.

Wie viel kreatives unstrukturiertes chaotisches Denken und Handeln ist in deiner Gruppe möglich?

Wenn ein chaotischer Infoladen von einem chaotischen Geist zeugt, wovon zeugt denn ein leerer Infoladen...?

Welcher Konsens wird nie gefunden werden?

Wie diese Frage zu beantworten sei und siehe unten.

Welche Baustellen deiner Gruppe verbrennen am meisten Energie?

Inventarisieren und archivieren sind so ewige Pendenzen, die wir bis Jetzt nicht erledigen konnten. Im Alltag ist es eher der Kampf mit dem Chaos.

Sind Frauen und Männer bei allen Themen, Diskussionen, Projekt gleich beteiligt und gleichberechtigt?

Wir denken nicht, dass Gleichberechtigung als gegeben betrachtet werden kann, sondern ein Prozess ist, an dem wir und andere Gruppen ständig arbeiten müssen, was wir in letzter Zeit versuchen intensiv zu tun. Ein grosser Schritt in diese Richtung ist es natürlich, überhaupt Frauen im Kollektiv zu haben, was lange leider nicht der Fall war.

Was würdest du an der Organisationsform ändern? Was würde sich dann an/in der Reitschule ändern?

Im Moment ist es uns sehr wohl mit den bestehenden Strukturen. Wenn dies einmal nicht der Fall sein sollte, sind wir zuversichtlich, dass genau diese Strukturen uns ermöglichen, sie den Bedürfnissen anzupassen.

Erscheint dir die Organisationsform der Gesamt-Reitschule logisch?

Ja.

Nimmt deine Gruppe oder nehmen (immer die gleichen) Einzelpersonen an der Organisation der Gesamt-Reitschule teil?

Wir bemühen uns darum, "Ämterakkumulation" zu vermeiden. Es ist aber schon so, dass hält nicht alle gleich viele zeitliche Ressourcen und Sitzleder haben.

Wer sind die wahren Chefs und Chefinnen der Reitschule? Gibt es vielleicht doch eine Geschäftsleitung?

Leider gibt es auch in unsern Strukturen informelle Hierarchien. Diese gründen beispielsweise auf "Dienstalter", Bekanntheitsgrad, Wissensvorsprung und Aktivitätsgrad. An Sitzungen, bei denen viele Personen beteiligt sind, benötigt es ausserdem viel Mut, sich zu exponieren und erfordert Sprachgewandtheit. Diese beiden Sachen haben leider nicht alle. Es muss Ziel basisdemokratischer Strukturen sein, diese informellen Hierarchien abzubauen. Wenigstens gibt es nicht auch noch formale Hierarchien.

Was ärgert dich in Bezug auf die Organisation deiner Gruppe, der Gesamt-Reitschule am meisten?

Wir finden im Moment keinen Konsens zu dieser Frage.

Wie kommt es, dass von aussen gesehen in der Reitschule "ein Zusammenleben ohne gegenseitige Abmachungen und klare Grenzen" stattfinden soll?

Das hängt einerseits damit zusammen, dass sich viele Leute nicht vorstellen können oder gezielt nicht vorstellen wollen, dass es ohne Chefin funktioniert; andererseits müssten wir mehr dafür tun, unsere Strukturen zu vermitteln.

Ist das also Basisdemokratie? Was ist Basisdemokratie?

"Ein Zusammenleben ohne gegenseitige Abmachungen und klare Grenzen" ist sicher keine Basisdemokratie. Eine Basisdemokratie ist kurz gesagt, dass alle Entscheidungen von den konkret Betroffenen selber und ohne Repräsentation getroffen werden. in diesem Sinn versuchen wir in der Reitschule Basisdemokratie zu leben. Ausführlicheres kann über Basisdemokratie im Infoladen nachgelesen und in den verschiedenen Gruppen in und um die Reitschule erfahren werden.

Wieso funktioniert die Reitschule - trotzdem?

Weil vielen von uns sehr viel an diesem Projekt liegt und sie bereit sind, dafür viel zu investieren.

- AUTONOME VOLXBIBLIOTHEK INFOLADEN -

Raute

Diskussionsanstösse

ALLES ANDERS, MANCHES GLEICH: REITSCHULE NEU GEMISCHELT

Welche Visionen gibt es für die "In die Jahre gekommene Reitschule", die sich zwar gewandelt, ihre Ideale aber nicht verworfen hat? Dieser Text stellt Fragen und gibt Antworten, die vielleicht wieder Fragen aufwerfen werden. Er soll als Diskussionsbasis dienen und hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit.


Ein soziales, politisches, kulturelles Begegnungszentrum, das in die Jahre gekommen und erwachsen geworden ist, muss sich neue Fragen stellen und ist anders herausgefordert als zehn oder zwanzig Jahre zuvor. Mit der Professionalisierung sollen die ursprünglichen Werte aber nicht auf die Seite geschoben werden, sondern es braucht neue Rezepte für eine neue Zeit.

Die Reitschule hat sich vieles auf die Fahne geschrieben und ihre Grundsätze im "Manifest" verankert, doch was ist davon im Alltag sichtbar und welches Potential hätte eine etwas andere Reitschule?


Kultur

In der Reitschule finden unzählige, kulturell sehr wertvolle Veranstaltungen statt. Das Kino und das Theater der Reitschule bieten ein vielfältiges und politisch interessantes Programm.

Der Dachstock veranstaltet mehr oder weniger abwechslungsreich. Das Sous le Pont vermischt Kultur und Küche. Im Frauenraum werden frauen- und genderspezifische Aspekte beim Veranstalten berücksichtigt. Soweit so gut, klingt ja alles ganz nett, doch welche kulturelle Ausstrahlung hat die Reitschule? Im Dachstock sind aufgrund der Professionalisierung nur noch Produktionen möglich, welche eine gewisse Rentabilität versprechen - somit wird das Angebot immer weniger niederschwellig und abwechslungsreich. Die Frauen-AG hat Mühe, die Kapazitäten des Frauenraums auszulasten, da ihr eigenes Quotensystem bezüglich weiblichen Artists sie so sehr behindert, dass dieser wunderschöne Raum viel zu oft leer steht. Das Sous le Pont stellt immer wieder den gemütlichen Beizenbetrieb ein, um Kultur zu veranstalten, die sonst nirgends in der Reitschule stattfinden kann. Weil: Für Konzerte, die zwischen 120-200 Leute anziehen, ist das Rössli zu klein, für den Dachstock nicht rentabel und für den Frauenraum nicht quotenkompatibel.

Was wäre, wenn man nun einfach einmal mit einem grossen Hammer die Gartenzäune einreissen und dort veranstalten würde, wo es von der Kapazität her Sinn macht, und nicht dort, wo das eigene Ego es haben möchte oder wo die Quoten es zulassen? Hätte die Reitschule dann eine Chance, als Reitschule ein Kulturprogramm zu präsentieren, welches sich (noch mehr) sehen lässt, und welches ausgeglichen, kulturell und finanziell in ein schlüssiges Gesamtkonzept passen täte.

Für einen solchen Schritt braucht es viele neue Ideen, um nicht mit den alten Idealen zu brechen und um gute Werte nicht zu vernachlässigen.


Politik

Wenn etwa der Frauenraum ohne Quotenregelung bezüglich weiblichen Artists funktionieren würde, müsste sich die Reitschule neue Gedanken machen, wie der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern in der Reitschule ausreichend Rechnung getragen werden kann. Die Ausstrahlung des Raums wäre eine ganz andere und würde nicht nur von den schon mehr oder weniger emanzipierten Menschen wahrgenommen.

Macht es sich die Reitschule 2009 nicht einfach zu einfach mit einem "Alibi"-Frauenraum? Wären kontroversere Auseinandersetzungen mit dem Thema nicht wünschenswert, und würden solche durch eine Umstrukturierung nicht möglicherweise besser erreicht, als durch einen "abgeschotteten" Frauenraum? Neue Konzepte müssten erprobt werden: Workshops mit und von Frauen für Frauen und/oder Männer, eine spezifische Frauenförderung in der ganzen Reitschule. Eine stärkere Auseinandersetzung mit zum Beispiel Rollenbildern und Homosexualität könnte wahrscheinlich auch erreicht werden.

Stell dir vor, Menschgast kommt an den Dachstockeingang, es dröhnt Techno aus den Boxen - und erst dann merkt er, dass hier schwullesbische Beats am tönen sind... Die Gäste müssten sich verstärkt mit den Inhalten der Reitschule auseinandersetzen, da es ihr Leben (wenigstens im Ausgang...) betrifft.

Wenn wir schon im Bereich Politik sind, frage ich gleich noch nach der politischen Ausstrahlung der Reitschule. Die Reitschule funktioniert etwas anders als andere Betriebe. Doch was bringt das, wenn niemand etwas davon merkt ausser dass es für uns besser stimmt. Ab und zu startet eine Demo vor der Reitschule oder endet auf dem Vorplatz. Die Reitschule bietet eine Infrastruktur für politische Bewegungen: Doch wem ist diese zugänglich und wer sollte wie viel davon profitieren? Ja, die Reitschule ist basisdemokratisch organisiert, doch was heisst Basisdemokratie.

Ich meine, die Reitschule hätte ein Potential, der Umwelt eine andere Welt aufzuzeichnen. Jede Woche kommen im Minimum 1000 Menschen zu uns, und diese BesucherInnen sind mehr oder weniger offen für unsere Ideen. Wir müssten nur Wege finden, wie wir vorleben oder vermitteln können, was wir denken und wollen.


Basisdemokratie

Die Reitschule ist "konsensdemokratisch" organisiert, dadurch sind Abläufe schwerfällig. Und doch ist die basisdemokratische Konsenssuche eine Variante, wie Hierarchien sich flachmöglichst entwickeln. Weshalb aber viele Leute, die sich in der Reitschule engagieren, doch nicht an den strukturellen Arbeiten teilnehmen, bliebt eine offene Frage.

Wenn über Basisdemokratie in der Reitschule diskutiert wird, gibt es grob zwei Haltungen: Für die einen ist die Basisdemokratie eine "heilige Kuh", an der es nichts zu ändern gibt, für die anderen ist die Basisdemokratie veraltet und sollte durch eine Betriebsführung mit flachen partizipativen Leitungsstrukturen ersetzt werden.

Die Reitschule (La Reitschule n'existe pas. Anmerk. der megafon-Redaktion) müsste das Experiment "Basisdemokratie mit unbedingtem Konsens" immer wieder neu hinterfragen und den Bedürfnissen der aktiven ReitschülerInnen anpassen. Denn aus einer "bedarfsorientierten Organisation" resultierte auch eine grössere Partizipation. Ja, auch die Reitschule hat Dogmen und Tabus, und es wäre auch hier gut, wenn diese zuweilen in Frage gestellt würden.


Sozial

Die Reitschule ist ein sozialer Brennpunkt. Dies ist eine logische Folge, wenn die Gesellschaft viele Menschen ausgrenzt und die Reitschule nicht - wie der Rest der Stadt - ausschliesslich auf Repression setzt.

Bedenklich ist auch der Umgang der Reitschule mit dem Faktum, ein sozialer Brennpunkt zu sein. Wir handeln etwa so: Erstens, das Problem gekonnt ignorieren; zweitens es herunterspielen, da es unangenehm wäre, etwas für eine Verbesserung zu tun oderweit man nicht im allgemein gesellschaftlichen Tenor mitsingen möchte. Drittens realisieren wir dann, dass es so nicht weiter geht und dass nun Taten folgen müssen. Zuerst irgendwie sozial und integrierend oder höchstens nett-repressiv, nicht so wie die Bösen da draussen in der Welt... Das bewährteste Mittel ist aber zum Schluss auch bei uns die Repression.

Meiner Meinung nach müssten wir neben den repressiven Mittel, die wir einsetzen, auch nachhaltige andere Wege und Mittel finden, um etwas rund um die Reitschule zu verändern. Es muss ja nicht gleich die Weltrevolution sein.

Die Reitschule hätte zum Beispiel das Potential, auch im Sozialbereich tätig zu werden und wäre dann vielleicht nicht mehr so stark auf Repression angewiesen wie bis jetzt. Statt uns über pöbelnde minderjährige Kids zu ärgern (und sie in die Jugendzentren zu ihren JugendarbeiterInnen zu verwünschen), könnten wir mit den Jugendlichen etwas machen, ihnen die Reitschule zeigen, sie ausbilden und sie zum Mitarbeiten einladen. Wir könnten Sanspapiers konkret unterstützen (siehe auch Text von augenauf Bern in dieser Nummer, Anmerk. der Redaktion), anstelle nur über die Dealer zu wettern. Wir könnten den Konsum von Partydrogen öffentlich diskutieren und die KonsumentInnen über deren Wirkungen informieren. Wir könnten sozial Schwächeren eine Aufgabe geben in der Reitschule, ohne dass die Reitschule oder der Mensch darunter leidet. Wir könnten in der Reitschule für wirkliche Entwicklungshilfe in einem Drittweltland sammeln.


Hei ho let's go!

Viele wirre Gedanken und Visionen sind jetzt auf dieser Doppelseite im megafon. Und was nun, hat der Schreiber sich einfach gefreut, auch einmal abgedruckt zu werden und das wars nun?!

Nein! Dies stimmt nur zur Hälfte - die Idee wäre, dass dieses Gedankenwirrwarr einen Beitrag zu einer visionären Diskussion über eine neue andere und doch irgendwie alte Reitschule abgibt.

So long so what.

- FRIEDENSREICH -
kisses the future

Raute

Basisdemokratische Gastronomie

ENTSCHEIDUNGSFREIHEIT UNTER DER BRÜCKE

"Also eigentlich sind wir ja die Verpflegung." - Zwei aus dem Sous le Pont und Rössli, Restaurant und Bar der Reitschule Bern, erzählen.


"Für die Bands schauen wir wegen dem Essen, verköstigen auch den Rest der Reitschule, wenns ums Essen geht, dann sind es schon wir. Und manchmal sind wir auch eine Künstlerkantine, oder? Wir sind ja auch die mit den meisten Öffnungszeiten, ein öffentlicher Treffpunkt in der Reitschule. Uns sieht man als erstes von aussen, wir sind die erste Kontaktstelle, man kann reinkommen, zahlt keinen Eintritt, es gibt gutes Essen, man kann sich umschauen. Also die Grundidee der Reitschule-Beiz ist ja, dass wir unter Tags offen haben. Wir haben von Dienstag bis Sonntag geöffnet. Montag ist Putz- und Sitzungstag. Es ist schon so, wir funktionieren sehr strukturiert, das muss es auch, damit wir auch wirklich jeden Tag öffnen können und dann sind das Essen und die Getränke da, da sind wir bereit. Es ist schon nicht mehr so chaotisch und frei, das ist schon so. Das Chaos ist dann mehr im Hintergrund. Aber bis jetzt haben wir es immer geschafft, egal was war, ob Tor-zu Aktion oder personelle Engpässe oder... Bis jetzt hats immer geklappt.


Konsens

Wir sind ein Kollektivbetrieb, und da es bei uns keine definitiven Festlegungen gibt, ist da noch viel Raum um Bestehendes zu hinterfragen. Aber das ist auch gut so. Es ist immer wieder erstaunlich, dass wir uns bei wichtigen Fragestellungen trotz den vielen verschiedenen Meinungen immer irgendwie einigen können. Es sind dann mehr die kleinen, auf den ersten Blick unwichtigeren Sachen, bei denen wir ins grosse Diskutieren kommen. Aber wir kommen ja auch alle aus verschiedenen Hintergründen. Das macht ja dann auch die Mischung aus. Wir versuchen stetig, unsere Strukturen zu optimieren, auf dem Papier ist das immer einfacher als im konkreten Alltag. Da gibt es so viele verschiedene Meinungen und Arbeitsweisen, alle gehen ein wenig anders mit der Selbstverantwortung um, da entsteht schon auch Reibung. Aber wir sehen Auseinandersetzungen und den Diskurs als Gewinn. Gleichstellung zwischen Frauen und Männern? Ja, das ist auch so eine Sache. Ist nicht immer so einfach. Aber das sind zwischenmenschliche Beziehungen wohl nie, oder?


Kritik und Wille

Wichtig ist bei uns auch, also das ist natürlich überall wichtig, dass man sich auch trauen muss, Bestehendes zu hinterfragen. Stillstand ist Rückschritt. Da ist die Reitschule kein Optimum, Kritik muss einfach sein. Also für mich ist es die einzige Perspektive, Kollektive, Selbstverwaltung. Weil man hier die Möglichkeit hat, mitzureden- und entscheiden. Wobei arg gut artikulierende RednerInnen auch mal mehr Recht haben können...

Die eigentliche Ausführung ist manchmal weniger pragmatisch als das Konzept auf dem Papier. Wir steigern uns hier drinnen gerne auch mal in Lappalien rein. Den Blick aufs Ganze wollen wir behalten; wir sind ja auch einem steten Wandel ausgesetzt. Der Umgang mit den offenen Strukturen muss erst gelernt werden, sie sind schon auch lähmbar, aber es hat ja auch keine wirklichen Konsequenzen, wenn man etwas blockiert. Man kann hier wirklich vieles dazulernen und wir haben eine so grosse Infrastruktur, es ist überall Engagement möglich - wenn man nur will. Also uns erscheint die Organisation der Reitschule logisch, man muss einfach daran glauben und auch daran mitarbeiten.

Eine Geschäftsleitung brauchen wir nicht, wir geben die Kompetenzen gegen Innen ab, nicht gegen Aussen, wir brauchen niemanden, auf den wir Entscheide abschieben können. Wir funktionieren auf den verschiedenen Ebenen, mit grosser Entscheidungsfreiheit. Nicht als Personen, sondern in unserer Funktion als ReitschülerInnen. Es geht hier nicht um omnipotente Einzelpersonen, sondern um ein Gesamtes. Wir beweisen seit 22 Jahren, dass es so funktioniert, wir haben manche Krise gemeistert.


Ärgernisse

Dass es manchmal am Differenzieren mangelt, das ärgert uns. Da kann manchmal Sachliches nicht von Persönlichem unterschieden werden. Der Wille und die Bereitschaft zu Kompromissen und Diskussionen sollten schon da sein, alles andere ist einfach respektlos und dekonstruktiv. Genauso nervt es, wenn einige grosse Ansprüche an andere haben, sich aber in der eigenen Sache nicht dreinreden lassen. Oder diese klischierten Ansichten von Anarchie und rechtsfreien Raum, die existieren. Wir arbeiten hier mit einen anarchistischen Ansatz, unsere Regeln sind im Konsens getroffen, man hat Abmachungen und klare Grenzen, man kann und soll mitreden.


22 Jahre

Das Wichtige ist, dass die Basis hier entscheidet, also sind wir basisdemokratisch. Ja, das würde ich schon sagen. Die Entscheidungskompetenz wird nicht abgegeben, wir haben Sitzungen stattdessen, dann können wir uns auf breit abgestützte Entscheidungfindungen beziehen. Und ja, die Reitschule funktioniert - trotz alledem. Wir sind eine realistische Alternative mit einem 22-jährigen Beweis. Jetzt sind wir wohl ein wenig abgeschweift, oder?

- NAFU -

Raute

Denk:mal - seit 2005

FREIES UND SELBSTBESTIMMTES LERNEN UND LEHREN

So absurd diese Aussage angesichts der immer stärker werdenden Zentralisierung des Bildungssystems auch klingen mag; es gibt Orte und Projekte, wo versucht wird, Basisdemokratie in der Bildung aktiv zu leben - etwa in der autonomen Schule Denk:mal in Bern.


Seit beinahe vier Jahren existiert dieses Projekt mit immer wechselnden Standorten in der Stadt Bern, seit Mai 2007 an der Stauffacherstrasse 82. Basisdemokratie im Bildungswesen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass alle Menschen selber entscheiden sollen, was sie gerne lernen würden und wie sie dies lernen möchten. Wenn sich eine Person für ein Thema interessiert, sucht sie sich selbstständig andere Menschen, die diese Thematik auch reizt. Auf der Homepage, sowie im regelmässig erscheinenden Programm der autonomen Schule denk:mal, aber auch über andere Kanäle, können und werden weitere mögliche Lehr- und Lernwillige gesucht. Diese klären danach autonom untereinander, wann und in welcher Form der Kurs stattfinden soll. Das BetreiberInnenkollektiv der autonomen Schule stellt bloss unentgeltlich Räume und Infrastruktur zur Verfügung und verwaltet diese. Sie haben keinen direkten Einfluss auf die Inhalte der Kurse, abgesehen natürlich von der Tatsache, dass stattfindende Veranstaltungen dem Konzept und den politischen und ethischen Ansprüchen des denk:mal's entsprechen müssen. Auf diese Weise wird freies und selbstbestimmtes Lernen und Lehren ermöglicht und gleichzeitig der bürokratische Aufwand so klein wie möglich gehalten.

Erziehungsdirektionen, Rektoren, Dekane, Schulkommissionen und ähnlich geartete Gremien oder Personen, diktieren von aussen den Lehrenden und Lernenden, was und wie die einen den anderen etwas beizubringen haben. Dieser äussere Druck widerspricht unserer Auffassung eines selbstbestimmten Lebens. Selbstbestimmung, Basisdemokratie und grösstmögliche Autonomie bedeuten nicht nur, dass mensch über seine Arbeits- und Wohnformen bestimmen kann, sondern auch, dass jede Person die Freiheit hat, selbstständig darüber entscheiden zu können, was sie wissen möchte und wie sie sich dieses Wissen anzueignen gedenkt.


Umzüge

Wie bereits erwähnt existiert das Projekt denk:mal seit bald vier Jahren. In dieser Zeit musste das denk:mal bereits einige Male umziehen, da das genutzte Gebäude abgerissen oder für andere Zwecke verwendet wurde (oder auch nicht). Nach unseren jetzigen Informationen droht uns diese Gefahr nun, nachdem wir zweieinhalb Jahre an unserem momentanen Standort an der Stauffacherstrasse bleiben konnten, erneut. Die Stadt möchte die Bauarbeiten an ihrem Entwicklungsschwerpunkt Wankdorf vorantreiben.

Ein weiteres Beispiel dass der Stadt in ihrer Entwicklung in erster Linie daran gelegen ist, grosse Bürokomplexe, riesige Konsumtempel oder Wohnungen für Gutverdienende zu schaffen. Kleine, lokale oder regionale Projekte, Menschen am Rande unserer wohlstandsverwahrlosten Gesellschaft, aber auch deren Lebensqualität, Selbstbestimmung und Eigeninitiative sind bestenfalls Ärgernisse in diesem Bestreben; wie dies auch beim Umbau des Bahnhofs, dem Umgang mit Wagenplätzen oder auch der (Nicht)-Überbauung Schönberg zu sehen ist.

Deshalb verkauft sie voraussichtlich noch dieses Jahr das Gebäude, in welchem das denk:mal zurzeit ist, an eineN BaurechtsnehmerIn. Sollte dieseR die Zwischennutzung nicht verlängern wollen, was zu befürchten ist, stehen wir Ende November einmal mehr auf der Strasse. Dies bedeutet zwar nicht zwangsläufig das Ende des Projektes, sicher jedoch, dass wieder eine längere Phase des Umziehens bevorsteht, bis wir wieder ein Haus gefunden haben, in dem wir eine Zeit bleiben können.


Geburtstagsfest

Somit wird das vierte Geburtstagsfest des Projektes am 17. Oktober 2009 eine der letzten Gelegenheiten sein, die autonome Schule denk:mal in ihrer Vielfalt an diesem Standort zu sehen. Wir freuen uns deswegen auch sehr über zahlreichen Besuch und hoffen, dass es uns gelingen wird, einen neuen Standort zu finden, auf dass es noch mindestens weitere vier Jahre ein basisdemokratisches Bildungsprojekt in Bern gibt.

- AUTONOME SCHULE DENK:MAL -

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WAS WIR TUN

Mit den drei Drucktechniken Offset-Druck, Siebdruck und Digitaldruck können wir fast alle Wünsche erfüllen. Mit dem Offsetdruck, die am längsten beherbergte Drucktechnik in der Reitschule, können wir alles Papier bis 300 g/m² und bis A3+ bedrucken, Unsere Offset-Druckmaschine ist vor allem für Aufträge mit höherer Stückzahl geeignet, Um auch Aufträge mit kleinerer Auflage entgegenzunehmen, haben wir vor kurzem eine Digitaldruckmaschine gekauft; mit ihrkönnen wir fast alle Papiere bis 300 g/m² im Format A3 bedrucken. Die Druckqualität der neuen Digi-Maschine wird den höchsten Ansprüchen gerecht und erlaubt uns, farbige Drucksachen in kleiner Auflage zu einem günstigen Preis anzubieten. Alles auf Papier Gedruckte können wir weiterverarbeiten, also schneiden, falten, rillen, perforieren und Broschüren/Zeitschriften mit maximal 48 Seiten herstellen.

Allen, die gerne grösser als A3 drucken oder anderes Material als Papier bedrucken möchten, empfehlen wir den Siebdruck. Hier sind dem zu bedruckenden Medium keine Grenzen gesetzt, zudem können eine grosse Anzahl von Spezialfarben eingesetzt werden. Hohe Auflagen können wir mit der aufwändigen manuellen Technik allerdings nicht anbieten. Seit letztem Jahr haben wir zudem ein Siebdruckkarussell in unsere Drucki aufgenommen. Damit können wir T-Shirts, Aufnäher; Kapuzis und andere Textilien mehrfarbig bedrucken. Ebenfalls bieten wir neuerdings die Herstellung von Ansteckbuttons (Durchmesser 25 mm) an.

Für Offerten oder andere Anfragen eignet sich das E-mail am Besten. Wir beraten euch gerne vor Ort, haben jedoch keine fixe Präsenzzeiten. Meistens ist jemand in der Druckerei anwesend, die sich gleich neben dem Tojo-Theater befindet und vom Innenhof zugänglich ist. Ein Anruf zuvor ist hilfreich, um sicher zu gehen, dass wir da sind und auch Zeit für euch haben.

Kontakt: druck@reitschule.ch, 031 306 69 65.

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Offset-, Digital- & Siebdruck

ALLES BEGANN MIT EINER AUSRANGIERTEN ROTATIONSMASCHINE

In den letzten 20 Jahren entstanden in der Druckerei Reitschule unzählige Plakate, Flyers, Broschüren, T-Shirts sowie einige Bücher und Kunstwerke. Zusammen mit der Holzwerkstatt steht die Druckerei somit für Handwerk in der Reitschule, das schon immer Teil des Kulturverständnisses unseres Kulturzentrums war.

Um die zurückeroberte Reithalle zu halten und die Vision einer solidarischen Gesellschaft in die weite Welt zu tragen, schleppten einige AktivistInnen vor über 20 Jahren eine erste Offset-Druckmaschine in die frisch besetzte Burg, damit die hauseigene Zeitung Megaphon auch im eigenen Haus produziert werden konnte.

Mit den Jahren kamen neue (Occasions-)Maschinen in die Druckerei und die Räume wurden erweitert. Vor zehn Jahren richteten wir die Siebdruckerei ein, die sich wie die Offset-Druckerei - langsam aber stetig entwickelte. Mit der Renovation der Reitschule wurde die Druckerei im Jahre 2002 erneut vergrössert, und dank dem Einbau einer Heizungs- und Lüftungsanlage konnten die Arbeitsbedingungen erheblich verbessert werden. Auch die Qualität der Druckerzeugnisse konnten wir dank neueren Maschinen und unserer langjährigen Erfahrung kontinuierlich steigern. Ganz neu beherbergen wir in unseren Mauern auch eine Digitaldruckmaschine, um das Angebot noch weiter auszubauen.


Das Team

Strukturell und personell gab es in den letzten 21 Jahren immer wieder Veränderungen und Wechsel, aber auch eine Kontinuität. Das Wissen der zuerst meist berufsunerfahrenen DruckerInnen konnte so immer weiter gegeben werden. Im Moment sind wir 5 Männer, die den Betrieb führen, sowie einige andere Frauen und Männer, die sporadisch die Infrastruktur für ihre eigenen Projekte nutzen. Anfang 2005 haben wir einen weiteren Schritt Richtung Professionalisierung unternommen und wir zwei Vereine gründeten (Offset Druckerei Reitschule und Siebdruckerei Reitschule), bei welchen wir angestellt und somit auch versichert sind.

Unser Anliegen und unsere Motivation ist, für eine vielfältige Kulturszene, für engagierte linke Politik und für soziale Einrichtungen und Projekte Druckaufträge auszuführen. Wir freuen uns deshalb auf Aufträge aller Art, behalten uns jedoch vor, Anfragen abzulehnen, deren Inhalt unseren Ideen zuwiderlaufen. Denn trotz allen Veränderungen und Entwicklungen in den letzten 21 Jahren ist der Grundgedanke der Druckerei in der Reitschule konstant geblieben: Selbstbestimmtes und kollektives Arbeiten für eine farbigere, ästhetischere und solidarischere Welt.

- DAS DRUCKI-KOLLEKTIV -

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LIEBER URS,

Wie es genau war, als ihr die Rotaprint nach jenem heissen Herbst 1987 zum ersten Mal zum Rattern gebracht habt, weiss ich nicht, denn ich kam ja vom Land und brauchte einige Zeit, um vom Elektrisiertsein überhaupt ins Staunen zu kommen, und wieder daraus heraus, und es gab ja unendlich viel zu staunen in dieser frisch eroberten Reithalle, die damals bei allen noch Reithalle hiess, aber eigentlich schon eine echte Schule war. Ich weiss, dass euch einer geholfen hat, ein Älterer, der das richtig konnte, also drucken gelernt hatte, ein richtiger Profi, und der hat euch auch diese Rotaprint gebracht, die schon bald das erste megafon ausspuckte, das damals noch Megaphon hiess und cm gefaltetes A4-Blatt war oder zwei oder drei, hinten und vorne bedruckt.

Du sahst zufrieden aus in deinem schwarzen farbverschmierten Schurz. Die Maschine und du. Spachtel, Imbusschlüssel und überlanger Schraubenzieher. Und manchmal eine gebrochene Schraube oder eine gesprungene Feder und ein Kampf mit der Wasserwalze. Du warst zufrieden, und sahst sogar ein bisschen heimlichstolz aus, als du dieser Maschine, die nichts hat für den Passer, doch ein Plakat mit drei, vier Farben abtrotzen konntest, Palästina. El Salvador. Das Kino in der Reitschule. Du konntest, glaub ich, Arabisch. Und den Vorwärts hattest du abonniert und im Osten warst du auch, Rumänien, du hattest dort Freunde. Du standest auf einer Seite, und ich hatte so eine Art unbeschreibliches Vertrauen zu dir.

Als du mir dann das Drucken beigebracht hast, ein paar Jahre später, war schon eine grössere Maschine da, eine alte Thompson Crown, Jahrgang 1965, und ich muss sagen, du bist etwas zu früh gegangen, in deine Käserei im Wallis, ich hatte es ja noch gar nicht so richtig gelernt.

Später bist du noch ein paar Mal vorbeigekommen. Nicht oft. Und wie mit Vorsicht. Es war, als ob du immer ein wenig fürchtetes, es könnte sich zu vieles verändert haben. Und du hast dann gesehen, ich war nicht mehr allein in der Drucki, zwei Frauen waren noch da und hatten es auch gelernt, und noch später, das ist schon bald fünfzehn Jahre her, waren wir sogar zu viert, wir hiessen jetzt Kollektiv Druckwelle, und der Vierte ist immer noch da und hat inzwischen eine richtige offizielle Druckerlehre gemacht.

Jetzt bist du wohl schon lange nicht mehr vorbeigekommen. Was heisst vorbeigekommen, ich bin auch schon lange nicht mehr bei der Drucki. Aber ich gehe immer noch gerne hin. Es duftet so.

Und obwohl jetzt neue Maschinen dastehen, und obwohl sie von eBay sind und nicht von einem abgefackten Keller heraufgeholt, würde es dir, so glaube ich, immer noch gefallen, weil sich das Wichtigste doch nicht verändert hat und weil die, die da sind, auch auf einer Seite stehen.

Lieber Urs, jetzt bist du tot. Wir verdanken dir viel.

- SANDRA -


In Gedenken an Urs Fuhrer, geb. 19.7.1950, der am 22. August 2009 nach einem Herzinfarkt und einer komplizierten Operation an der Aorta im Spital Lausanne gestorben ist.

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Augenauf Bern fragt

HAT DIE BEWEGUNG EINE POSITION ODER STRATEGIE IM ANTIRASSISTISCHEN KAMPF?

Offener Brief von augenauf Bern zur Frage: Wo stehen die ausserparlamentarischen linken Gruppierungen in Bern?


augenauf Bern hat am 30. August 2009 in der Reitschule zu einer offenen Diskussion zum "Bleiberecht für alle" aufgerufen. Das Treffen wäre gewissermassen als Vollversammlung gedacht gewesen, um Position und Strategie der Bewegung im antirassistischen Kampf gegen die schweizerische Asyl- und Ausländerpolitik zu hinterfragen und zu diskutieren. Der Versuch ist einmal mehr, wie so oft bei diesem Thema, kläglich an mangelndem Interesse gescheitert. Es mag sein, dass die Formulierungen im Aufruf zu wenig deutlich waren, und es mag auch sein, dass wir mehr Leute direkt hätten ansprechen sollen. Dennoch erachten wir das mangelnde Interesse der linken Szene an diesem Thema als symptomatisch, so dass wir es als nötig erachten unserer Frustration und Enttäuschung darüber in einem offenen Brief Ausdruck zu verleihen. Diesen offenen Brief habe ich im Auftrag von augenauf verfasst. Es ist zwar sicher sehr persönlich geworden, der Inhalt deckt sich aber mit der Meinung von augenauf Bern.

Die totalitäre Migrationspolitik des Schweizer Staates oder ganz allgemein des kapitalistischen Systems und die daraus resultierenden Folgen für die Betroffenen scheinen in der Linken kein Thema zu sein, ausser vielleicht für ein paar dumme "Gutmenschen", die sich mit so humanitärem Scheiss herumschlagen. Ich bin einerdieser "Gutmenschen" und das Ausbleiben jeglicher Reaktion auf unseren Aufruf hat mich sehr getroffen. Es kann nicht sein, dass mit Ausnahme einer Einzelperson, keine Gruppe, keine Aktivistin und kein Aktivist auf eine solche Einladung reagiert hat. Es kamen keine kritischen Anregungen, Reaktionen, Einschätzungen, weder An- noch Abmeldungen, es kam einfach gar nichts. Die Forderung nach einem "Bleiberecht für alle", die damit verbundenen politischen Konsequenzen, wie der Abschaffung der Grenzen und der Nationalstaaten, was auch alle Bereiche der sich in irgend einer Form repressiv agierenden Gremien einschliesst, ist doch im antikapitalistischen Kampf ein wichtiges Thema und sollte daher dringend diskutiert werden. Gehen die Forderungen zu wenig weit oder zu weit? Wie sind die Forderungen umsetzbar? Wie gross ist unsere Bereitschaft, für eine Veränderung der von uns kritisierten Ordnung einzustehen, inklusive der Konsequenzen, die solche Schritte auch für unseren Alltag bedeuten würden? Sind wir bereit zu teilen ob Wohnraum, Naturalien oder die Privatsphäre - aus unseren Einpersonenhaushaltungen zu kommen, uns an sozialen Strukturen und Bewegungen mit all ihren Widersprüchen zu beteiligen, dabei auf die Nase zu fallen, sich wieder aufzuraffen, um es nochmals hoffentlich besser zu machen und all die anstehenden Auseinandersetzungen miteinander zu führen? Bereit einen solidarischen Alltag zu leben, der erst eine gesellschaftliche Umwälzung möglich machen würde?

Es ist uns ein wichtiges Anliegen, dass der antirassistische Kampf gegen die Asyl- und Migrationspolitik wieder stärker als Teil eines weiter gefassten, antikapitalistischen Kampfes begriffen wird und sich im Bewusstsein der linken Szene verankert.

Die Linke ist in einer grösseren Zahl für dieses Thema einzig und allein durch die Widerstands- und Ausdrucksform "Demonstration" zu mobilisieren. Alle anderen Versuche, ob andere Aktionsformen oder Vollversammlungen, sind seit vielen Jahren völlig erfolglos geblieben. Wir "Gutmenschen" stehen dann immer alleine da und stellen fest, dass so keine Veränderung möglich ist und das ist äusserst frustrierend.

Sicher, wir arbeiten alle in unseren Gruppen an unseren Themen, und das ist auch gut und richtig so. Es ist dennoch unabdingbar, dass wir uns für gewisse Diskussionen zusammenfinden und diese Grundsätze klären. Es darf nicht sein, dass wir uns nicht auf einander beziehen können und dass kein Austausch unter den Gruppen stattfindet. Separation und das "Wissen um die einzige Wahrheit", war schon immer der Tod jeglicher sozialen Bewegung.

Eine Veränderung fängt als erstes in den Köpfen an, allerdings muss dann auch eine Transformation in den gesellschaftlichen und sozialen Alltag möglich sein. Hier setze ich meine Kritik an. Diese Transformation findet in meinen Augen nicht statt. Auf der einen Seite gibt es zu wenig Gemeinsames, es gibt zu wenig Soziales und es gibt zu wenig Auseinandersetzung. Auf der anderen Seite zu viel Trennung, "Grüpplidenken" und einen Altersgraben.

Am Schluss dieses Schreibens mit dem Wort "gemeinsam" zu kommen, mag vielleicht vermessen sein.

Ich hoffe dennoch, dass mein Anliegen gehört wird und Anstoss zu einer tieferen Auseinandersetzung mit diesen Überlegungen gibt. Ich bitte mit meinem offenen Brief alle linken Gruppierungen, sich Gedanken darüber zu machen, welchen Stellenwert sie der Thematik Flucht/Migration/Einwanderung im Rahmen eines breiteren politischen Kampfes beimessen und sich entsprechend zu positionieren.

- PAED FÜR AUGENAUF BERN -

Kontakt: bern@augenauf.ch

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Globale Krise

PREISEXPLOSION UND MASSENREBELLION

Ziemlich genau ein Jahr ist es her, als die Nachricht von weltweiten "Hungerrevolten" die Runde machte. Diese sozialen Auseinandersetzungen um die Preise von Gütern des täglichen Bedarfs waren jedoch keine planmässig organisierten Proteste, sie waren auch nicht Ausdruck einer plötzlichen Spontaneität der Massen, deren Bewusstsein sich plötzlich erleuchtet hatte. Doch wo liegt dann ihre Bedeutung?


Der Zusammenhang ist einfach: Er geht über den Geldbeutel und durch den Magen. Die Kurve mit den monatlichen Rohölpreisen verläuft sehr ähnlich wie die Häufigkeit dieser "Preiskämpfe". Der Ölpreis hat im März 2008 100 US Dollar überschritten, kletterte im Juni über 130 US Dollar. Am 15. September gingen Lehman Brothers pleite, die Börsenkurse stürzten ab, der Ölpreis fiel wieder unter 100 US Dollar mit dem Tiefpunkt im Dezember 2008, um dann wieder anzusteigen. Die Preise von Weizen und Reis verliefen ähnlich, die Peaks waren allerdings schon im März, beziehungsweise April 2008.

Natürlich könnte ich jetzt über die gierigen SpekulantInnen herziehen, die die Schuld am ganzen Malheur tragen, denn diese Preisexplosion gründete hauptsächlich auf Spekulation. Ich könnte aber auch darlegen, weshalb die Spekulantinnen gar nicht anders konnten. Schliesslich war 2007 die Immobilienblase geplatzt und in irgendetwas mussten sie ja investieren, also weshalb nicht in Rohstoffe und Nahrungsmittel?

Die Aufmerksamkeit soll hier vielmehr jenen Leuten gelten, die jeden Tag ihr Brötchen und Busbillet kaufen, bzw. ihren Motorroller tanken und ihre Stromrechnungen bezahlen müssen. Die KonsumentInnen von Gütern des täglichen Bedarfs konnten letzten Frühling und Sommer mit den Finanzmärkten locker mithalten: Im April wurden acht grosse Protestereignisse (mit mindestens 1000 Beteiligten) gezählt. Die Häufigkeit nahm im Mai und Juni weiter zu, das heisst es gab neun, beziehungsweise 17 Ereignisse. Im Juli waren es noch zehn, im August ging der Kampfzyklus dann zu Ende[1].

Diese Welle von Protesten mag völlig perspektivenlos erscheinen. "Eine solche Revolte ist vielleicht schön anzusehen, aber es entsteht überhaupt nichts dabei", denken sich einige wahrscheinlich. Es dünkt mich jedoch wichtig, zwei Aspekte herauszustreichen, um das revolutionäre Potenzial solcher Ereignisse zu verdeutlichen.

Erstens ist der Weltmarkt heute nicht mehr eine Tendenz sondern ein Faktum. Unabhängige Versorgungssicherheit von Nahrung und Energie, ob staatlich, gewerkschaftlich, auf Selbstversorgung basierend, etc., ist im globalisierten Kapitalismus ein Sonderfall, und wenn es solche Einrichtungen noch gibt, kommen diese genau in solchen Hochpreisphasen unter Druck (Indonesien und die Philippinen wollten zum Beispiel die Benzinpreissubventionen kürzen).

Es ist logisch, dass sich Klassenkämpfe deshalb ebenfalls auf globaler Ebene abspielen müssen, um überhaupt erst auf gleicher Augenhöhe zu sein. Diese Welle von "Preiskämpfen" hat bewiesen, dass genau dies tatsächlich möglich ist. Überall gab es Demonstrationen, Riots, Streiks, Blockaden: Von Mexiko bis Indonesien, von Südafrika bis Russland.

Zweitens breiteten sich diese Proteste wie bereits dargelegt, sehr rasch aus, teilweise innerhalb von Tagen. Eine solche Geschwindigkeit könnte eine "Mobilisierung" niemals hinkriegen. Es geht hier wohl auch vielmehr um "Nachahmung" denn um "Organisierung".

Die weltweite Ausbreitung, die Geschwindigkeit und Heftigkeit der Ereignisse hat die Herrschenden völlig überrumpelt. Mit dem Sturz der Regierung in Haiti wurde sehr real vorgemacht, welche Macht und welches Potenzial solche Massenrebellionen haben können.

- RHPL -


Randbemerkungen

[1] Bei den immer so um fünf liegenden Worten zwischen Oktober 08 und März 09 handelt es sich dann vermehrt um Proteste gegen höhere Steuern und Abgaben und die Inflation im Zuge der in einigen Ländern abstürzenden Wechselkurse.

Zum Weiterlesen: globalrevolt.wordpress.com / Michael T. Klare, Von Haiti bis Wladiwostok. Eine Weltkarte der Krise, in: Le Monde Diplomatique, 8. Mai 2009, www.mondediplomatique.de

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BUCHTIPP IM OKTOBER

Vandalismus im Fokus

Unter Vandalismus wird ein bestimmtes Phänomen verstanden. Es geht dabei um Normen verletzende Beschädigung oder um die Zerstörung von öffentlichem/privatem Eigentum.

Abgeleitet wird der Begriff Vandalismus vom Namen eines germanistischen "Volksstamm". Die Herkunft und Abstammung der Vandalen ist jedoch nicht restlos geklärt. Bekannt ist, dass in der Zeit des römischen Imperiums der europäische Raum wirtschaftlich und politisch stabiler wurde. Im Norden begannen viele Gruppierungen, sich stärker zu organisieren. Es bildeten sich neue Identitäten. Damit wurde die Position von Gruppen wie den Vandalen gefestigt. Die alte Organisation des "Stammes" zerfiel. Es gab vermehrt soziale Unterschiede und innere Konflikte. Die Menschen spezialisierten ihre Arbeit Es wurde Gewinn produziert. Die Vandalen brachen in dieser Umbruchszeit auf, um neue Gebiete zu finden. Einheiten zogen nach Süden, drangen ins römische Reich ein und gingen über Spanien nach Afrika weiter, wo sie sich zeitweise niederliessen. Später kehrten sie wieder nach Rom zurück, wo es erneut zu Kämpfen kam. Vor allem die Angriffe in Rom werden in der Literatur und Malerei als besonders gewalttätig dargestellt. Historisch ist jedoch umstritten, ob die Vandalen ein besonderes Gewaltpotential hatten. Gewöhnlich verliefen alle Schlachten und Kriege gewaltvoll. Viele Gruppierungen wie zum Beispiel die Hunnen oder die Goten waren unbarmherzige Krieger. So ist es unklar, warum die Vandalen ausgewählt wurden, um als Symbol für die Zerstörung zu stehen.

In der Geschichte werden Handlungen des Vandalismus bereits früh erwähnt. Der Begriff wurde aber für unterschiedliche Situationen gebraucht.

Ein Hauptstrang des Vandalismus ist die Zerstörung von Kulturgütern. Die Anschläge richten sich dabei auf Kunst, Architektur oder gegen intellektuelle Arbeit. Beispiele dafür sind der Bilder- oder der Büchersturm. Motive für Kulturvandalismus sind politische oder religiöse Beweggründe. Vandalismus wird dadurch zu einem bewussten Protestverhalten, das sich gegen die Symbole einer praktizierten Ordnung der Macht oder gegen die Herrschaft allgemein richtet.

Karl Marx beschrieb den Vandalismus der ArbeiterInnen der Pariser Commune als Vandalismus der verzweifelten Verteidigung. Ein Teilmoment im lang andauernden Riesenkampf zwischen einer neuen und aufstrebenden und einer alten und untergehenden Gesellschaft.

Vandalismus kann viele Motivationen und Formen haben. Heute äussert er sich in mehr oder weniger unorganisierten Akten wie herausgerissenen Zugstühlen, zerstörten Scheiben oder gezielten Aktionen wie Sprayereien an bestimmten Gebäuden. Geblieben ist ein Kernaspekt: der Protest.

Protest ist eine Kritik in Form einer spontanen Handlung. Vandalismus ist ein Mittel für Menschen, die in der kapitalen Welt keine Plattform erhalten, um sich frei und legal äussern zu können. Menschen beschädigen Gebäude und Gegenstände, weil sie keine Möglichkeit haben, die persönliche oder allgemeine unbefriedigende Lebenssituation zu ändern. Vandalismus wird somit zu einer Ausdrucksform der Unzufriedenheit von unterdrückten Gruppen. Ein Alltagsphänomen, weil der Alltag an sich für alle Schichten schwierig und einschränkend geworden ist - aber vor allem natürlich für die Schichten in benachteiligten Lebenslagen. Speziell ist bei dieser Gruppe, dass sie durch das Schulsystem systematisch von vielen Möglichkeiten der Ausbildung ausgeschlossen werden. Sie beherrschen oftmals formulierende Fähigkeiten, mündlich oder schriftlich - weniger gut. Die Fähigkeit zur Artikulation ist in dieser Gesellschaft aber eine Schlüsselqualifikationen. Die gesellschaftliche Kommunikation basiert mehrheitliche auf Schrift und Sprache. Wer Schrift und Sprache nicht beherrscht, bleibt stumm, marginal und in sich eingeschlossen. Und wird sich vielleicht anderer Formen der Kommunikation bedienen, um wahrgenommen zu werden und den Gefühlen Ausdruck zu verleihen: der Gewalt.

"Wirft man einen Stein, so ist das eine strafbare Handlung. Werden tausend Steine geworfen, ist das eine politische Aktion. Zündet man ein Auto an, ist das eine strafbare Handlung, werden hundert Autos angezündet, ist das eine politische Aktion." (Ulrike Meinhof)

Vandalismus kann der Vorhof zu einem linken politischen Ausdruck sein: Interessant ist der Vandalismus, wenn er pointiert und verständlich angewendet wird. Wichtig ist aber auch der Vandalismus, der auf Unverständnis stösst. Schwierig ist der Vandalismus, der ethnische Normen verletzt. In jeden Fall ist die Beschädigung von Sachgütern ein Zeichen für die Entfremdung des Menschen. Und mit der repressiven Reaktion auf die Zerstörung durch den Staat wird gezeigt, von welchen Kräften wir regiert werden.

Es gilt, den Begriff positiv umzuformulieren. Schon der Titel des Buchs von Maren Lorenz besagt, dass die anonyme Zerstörung heute alltäglich ist. Die VertreterInnen des Staates versuchen, die Spuren der modernen Vandalen möglichst schnell zu beseitigen. Denn wo eine zerbrochene Schreibe ist, werden bald zwei, drei, viele zerbrochen sein. Wo ein Graffiti ist, werden bald weitere gesprüht. Vandalismus ist neben der Artikulation auch ein Bedürfnis. Aber Beschädigung ist nicht eine verzweifelte Verteidigung wie Marx sie beschrieben hat. Anonyme Sachbeschädigung ist Angriff.

- SAT -


Maren Lorenz: Vandalismus als Alltagsphänomen.
ISBN 978-3-86854-204-2

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Zwei Sonnen, ach, in meiner Brust

EINE FRAU MIT SEELE ODER ZWEI ODER MEHR HINTERGEDANKEN

Natasha Khan ist unter dem Pseudonym "Bat for Lashes" der absolute Hype der Saison. Ihr zweites Album stösst eigentlich nur auf Lob und Begeisterungs-Stürme. Der Scheibenmann unternimmt einen Ohrenschein und Augenschmaus.


Bat for Lashes "Two Suns" (EMI)

Die 30-jährige halb Pakistanerin/Engländerin lebt abwechselnd im Brightoner Seebad und in Asien, sie ist viel rumgekommen auf der Welt. Zu ihren Fans zählen der Frauenheld Jarvis Cocker und Radiohead-Frontmann Thom Yorke, mit Scott Walker singt sie im Duett. Die Presse überschlägt sich mit Lobgesängen und vergleicht sie mit Kate Bush und Björk (was zumindest vom Kunstanspruch her stimmt). Ebenfalls in der Referenzliste stehen Cat Power, M.I.A. und Devendra Banhart.

Die Songs auf "Two Suns" wechseln zwischen verschiedenen Stilrichtungen und Welten, manchmal ganz schön abrupt. Da gibt es Electro-Dance-Schenkelklopfer, bemüht berührende Pianoballaden und indianisch-schamanische Ambientklänge. Zusammengehalten wird das Ganze durch die verträumt-gehauchte Stimme von Natasha Khan. Eine Stimme, die einen besänftigt, entspannt, und der man einfach nicht böse sein kann.

Ich meine, ich kann Trends, Hypes und Moden nichts abgewinnen. Glaubt mir, Freunde und Freundinnen, der Scheibenmann ist über solche Dinge erhaben. Über andere leider nicht:

Unsere Bat For Lashes ist eine Frau, und erst noch eine schöne. Tatsächlich ist sie einfach unglaublich betörend schön. Ich weiss nicht, ob schöne Frauen bessere Musik machen. Meine Hand würde ich dafür jedenfalls nicht ins Feuer legen. Meine Ohren nehmen beim Hören von "Two Suns" zunächst mal dieses esoterische, elektronisch verstärkte Hippieschema wahr. Bäh. Aber dann kommt diese Stimme und dann sah ich Bilder und Videos von dieser engelsgleich schönen Frau. Und ich war hin. Dass ich mit dieser Frau nie schlafen werde, bricht mir echt das Herz!

Was soll ich noch dazu sagen? Popmusik ist längst ein multimediales Business. Wir wissen alle, dass schöne Menschen besser ziehen und ihr Produkt besser verkaufen. Das somnabul-naive und elfenartige von Bat For Lashes ist kein neues Konzept und ich nehme das der Natasha Khan auch nicht ab (immerhin war sie auf der Artschool und als Multimedia-Designerin tätig, dazu betreibt sie noch ein eigenes kleines Plattenlabel, sehr umtriebig und geschäftstüchtig...).

Irgendwo besteht offensichtlich eine Nachfrage nach solchen Klängen und solchen Bildern. Und ich gebe zu, der Scheibenmann ist den Reizen ebenfalls erlegen. Es ist und bleibt dennoch Musik für Sensibelchen und für auf der Weltflucht sich Befindende. Musik halt für kleine Mädchen und ganz traurige Kerle.

- TOMI KUJUNDZIC -

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COMIXTIPPS IM OKTOBER

Königin der Insekten

Im Zentrum von Nate Powells düsterem Teenager-Drama "Swallow Me Whole" stehen Ruth und Perry. Das Geschwisterpaar sieht und hört Dinge, die andere nicht wahrnehmen. Ruth leidet an einer Zwangsneurose, ordnet ihre Insektensammlung ständig neu und sieht sich immer wieder von einem Schwarm fliegender Käfer verfolgt. Perry bekommt von einem Zwerg, der auf seinem Bleistift sitzt, den Befehl zu zeichnen. Die beiden wissen von der Krankheit des anderen und so entsteht eine emotionale Bindung zwischen den beiden und ein gegenseitiges Vertrauen. Sich in der wirklichen Welt eines heranwachsenden Teenagers durchzuschlagen und zu behaupten, bleibt jedoch auch mit Hilfe von Medikamenten eine kaum zu tragende Last. Während Perry wenigstens zum Teil seine schizophrenen Züge auf kreative Weise zu bändigen weiss, verliert Ruth immer mehr den Kontakt zur Realität und wird von ihrer dunklen Seite verschluckt.

Nate Powell, der hauptberuflich mit geisteskranken Menschen arbeitet, weiss das Leiden der beiden Jugendlichen sowohl zeichnerisch als auch erzähltechnisch gekonnt ins Bild zu setzen. Die Figuren sind skizzenhaft und gleichzeitig elegant aufs Blatt geworfen.

Die Szenerie scheint in ständiger Bewegung zu sein, hält aber gleichzeitig jedes Detail fest. An manchen Stellen beherrschen das Schwarz der Tusche und undefinierte Panels die Seiten, an anderen sind es das Weiss des Papiers und die symmetrischen Bildkästen. Ebenso wechselt die Perspektive von der surrealen, von Käfern und schwarzem Nebel beherrschten Welt der jungen Ruth, zu jener der verständnis- und hilflosen Eltern und Lehrer.

Powell ergreift für niemanden Partei. Die beiden Hauptfiguren stellt er nicht nur als Opfer sondern auch als Schöpfer ihrer halluzinatorischen Universen dar. Er präsentiert das Thema der Schizophrenie diskret und nimmt dazu keine Stellung. Sein Buch stellt vielmehr den mentalen Zustand der beiden Jugendlichen dar und wirft somit die Frage auf, wer wirklich krank ist. Damit ist Note Powell ein - obschon düsteres - höchst poetisches Buch gelungen.

Nate Powel: Swallow me Whole. Top-Shelf Productions, Marietta GA 2008


*


Existentieller Crash

Im Album "Nebraska" von 1982 singt Bruce Springsteen von Mördern, einsamen Menschen und der Öde des amerikanischen Hinterlands. Jeder Song erzählt eine kleine, tragische Lebensgeschichte. Springsteens Album diente dem Zeichner und Illustrator Tim Lane als Vorlage für seine Erstveröffentlichung "Abandoned Cars". Die darin enthaltenen Kurzgeschichten handeln von verzweifelten Menschen, welche nach dem missglückten Streben nach Glück die Hoffnung aufgegeben haben. Es sind traurige Individuen, die darum kämpfen, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Menschen, die auf der Suche nach dem American Way of Life wortwörtlich von der Strasse abgekommen sind. So könnte sich der Titel der Sammlung auf diesen Moment des Aufgebens beziehen, auf die Nachwirkungen eines "existentiellen Autounfalls", wie es der Autor beschreibt. Alle Figuren in "Abandoned Cars" stehen auf der Schattenseite des amerikanischen Traums, den sich Tim Lane auf der Innenseite des Buches als eine Art Coney-Island-Amerika ausmalt: schäbige Imbissbuden mit grellen Werbebannern, Zirkusattraktionen, Musik - kurze Augenblicke, die vom harten Alltag ablenken.

Amerikanische Autoren wie Raymond Carver, Denis Johnson oder der Musiker Tom Waits dienen Lane als Vorbild. Genauso Jack Kerouac, Ernest Hemingway oder John Steinbeck, auf deren Fährte sich ein Tramper in der Geschichte "Spirit" macht. Wie diese Autoren versucht Lane, die Mythen Amerikas zu erklären. So ist das Buch voll von Anspielungen auf die amerikanische Popkultur, mit der sich Lane seit Jahren auch als Illustrator auseinandersetzt. Dem auf Güterzügen reisenden Tramp erscheint der Geist von Elvis, die von vielen Folk- und Bluessängern vertonte Geschichte des Mörders Stagger Lee wird nacherzählt, die erste Seite des Buches zeigt einen jungen Marlon Brando, die letzte zeigt ihn kurz vor seinem Tod. Ebenso zitiert Lane aus der Comic-Literatur des vergangenen Jahrhunderts. Seine detailreichen, düsteren Tuschzeichnungen sind von Comic-Strips aus den 1940er und 50er Jahren und den EC-Horrorcomics beeinflusst, erinnern aber auch an Daniel Clowes und Charles Burnes. "Abandoned Cars" ist ein gelungenes Debüt, und das erste Buch in einer geplanten Trilogie über die Mythologie Amerikas.

Tim Lane: Abandoned Lars, Fantagraphics Books, Seattle 2008

- GIOVANNI PEDUTO -


Unsere neuen Comixtipps sind aus dem STRAPAZIN! Besten Dank die Redaktion und Rezensenten.!

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SCHEITERNDER KARAMEL

"Wenn mit Karamel Revolution gemacht worden wäre, wäre man jetzt auch zahnlos und zermalmte alles mit blossen Kiefern."

MISON, DER DEFÄTIST



Für ca. 50 Stück

120g Butter (zerlassen)
15 EL Zucker
3 Päckli Vanillezucker - beifügen und rühren bis der Zucker sich nach körnig-schaumigem Stadium aufgelöst hat.

6 EL Rahm
6 EL trüber Apfelsaft
1 EL Amaretto
wenig Zimt
schwarzer Pfeffer nach Belieben

beifügen, weiterrühren bis die Masse braun und zähflüssig wird, Backpapier auf Blech/Brett ausbreiten, einölen, Masse auf das Backpapier giessen, kurz warten und in Stücke schneiden.

Der Karamel kann auch in Stücke gebrochen werden. Man kann sich allerdings dabei schneiden. Überhaupt: heisser Zucker ist heiss. Und Kinder sollten dem heissen Zucker fernbleiben. Eigentlich auch Erwachsene. Es kann fürchterliche Verbrennungen geben. Man kann sich am Karamel verschlucken oder durch die Süsse in der Kehle einen derartigen Hustenanfall bekommen, dass man Galle spuckt. Aber im Grunde ist es ein guter Karamel, wenn man nicht scheitert.

Raute

STORY OF HELL - ca. hoch gestapeltste Folge

Präsentiert im Dunstkreis der krankenden Kassen

Als hätte, wer immer da oben das Wetter macht, Feierabend, und gönnte sich eine Tüte Narrenkraut, liegt die Burg wie das umgebende Land in dicken Dunst gehüllt. Die Mäuse haben Berge geboren, auf deren hohem Gipfel eitel Sonnenschein und klare Sicht das Bild beherrschen. Da unten in der Suppe hingegen, wo der Kopf die Füsse nicht sieht, eine Hand nicht weiss was die andere tut, muss nahe dran gehen, wer ein Ding erkennen will. Um die freie Sicht zumindest in den Innenräumen zu wahren, haben es sich die Menschen bereits auferlegt, in solchen, die einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sind, kein Narrenkraut und auch sonst keine getrockneten Kräuter mehr aus glühenden Tüten zu saugen, weil dabei alsbald der inhalierte Rauch als blauer Dunst in die Umgebung entlassen wird, so dass die Luft, wie draussen so auch drinnen, vernebelt wird. Manche, mit dem Ziel, bei Klarsicht benebelt zu sein, sind nun dazu übergegangen, entsprechende Kräuter in Teeform zu sich zu nehmen.

Um also unverfälscht wiederzugeben, was gerade ist, wie es sich. in einer Chronik gehört, müssen wir nun ganz nahe rangehen an das Ding, um dessen Betrachtung es hier geht. Das ist vielleicht der Vorteil von all dem Nebel. Die eingehende Auseinandersetzung mit allem Anstehenden, das Durchdringen der Oberfläche, welches vonnöten ist, um Klarheit zu erlangen. Die Nähe zum Baum, die den Wald vergessen lässt. Der Moment muss intensiv betrachtet werden, der Lauf der Dinge, die konstante Beschleunigung ausgeklammert, um ein Bild zu erlangen, das eine Beurteilung erlaubt. Nicht, dass da Urteile gefällt werden sollen wie Bäume, eher geht es darum, eine Feststellung mit Hand und Fuss zu machen, die Wirklichkeit wie sie ist festzuhalten. Die Wahrheit ist wie eine seltene Perle, und wenn du eine solche vor die Schweine wirfst, interessiert es die keinen Dreck. Das ist nicht wie bei den Mäusen, wenn du ihnen Käse auftischst. Die fressen bekanntlich jede Sorte davon, und werden dabei so satt, dass sie vergessen, dass es Katzen gibt. Einige kommen damit durch, so arglos durch die Welt zu gehen, andere haben weniger Glück, und ihre vollgefressene Trägheit macht sie dem Raubtier zur leichten Beute.

Diejenigen Mäuse nun also, die keiner Katze zum Opfer gefallen sind, obschon ihre Übersättigung zur Trägheit geführt hat, geben sich nun der Tätigkeit hin, Berge zu gebären, auf deren höchsten Kreten Klarheit herrscht. Um der Bevölkerung da unten in der Suppe zu vermitteln, was da oben längst schon klar erscheint, werden Brücken gebaut, über welche dereinst Esel schreiten werden. Diese Grautiere, welche sich bekanntlich für dumm verkaufen lassen, wobei ihnen trotzdem nachgesagt wird, dass sie sich dabei störrisch verhalten, machen sich dann eine Welt daraus, was ihnen von einer mit Käse gesättigten Schicht, der obenauf schwimmenden "Crème de la Crème" sozusagen, als Realität aufgetischt wird.

Gehen wir nun, von wegen Vollständigkeit, zum Speck über, mit dem sich die Mäuse auch fangen lassen, ist einmal kein Käse zur Hand. Auch hierbei handelt es sich um ein tierisches Produkt, sei es von wilden oder domestizierten Viechern, denn das Verspeisen der Fettablagerungen von Menschen ist in einer Gemeinschaft wie der unseren untersagt. In Klammern kann beigefügt werden, dass sogar dessen Verarbeitung zu Seife aus der Mode gekommen ist.

Kommen wir also, einmal mehr, zur Sache. Ding ist, in unserer Welt, dass da Fleisch am Knochen sein muss, welcher, blankgenagt, nur noch zur Rekonstruktion der Vergangenheit taugen würde. Fleisch und Muskeln braucht es, um neue Höhen zu erklimmen, das Gerüst, die Gegebenheiten zu verändern, das ist eine Tatsache. Und ein mit Schleim geöltes Getriebe. Es ist wahr, ohne die unappetitliche Flüssigkeit, welche zum Beispiel als Nebenprodukt der Atmung entsteht, und oft nach verbalen Äusserungen auf den Gehsteig entsorgt wird, geht nicht viel. Da können viele grosse Pläne angeschaut werden, auf alle trifft das zu.

Und so landen wir zuletzt auf der Ebene der menschlichen Existenz auf diesem Planeten, die sich im Allgemeinen durch Aussonderung von einverleibten Substanzen nach der Aufnahme durch den Körper nach der Aneignung als Absonderung in der Form von Exkrementen wieder findet: Scheisse, was nun?

Solcherart präsentiert sich die Realität dieser Tage: Berge von Exkrementen derjenigen da oben versperren die Sicht auf das Hier und Jetzt, und wir fühlen uns schlussendlich verpflichtet zu sagen, dass bei der Erstellung der aktuellen Folge der Story of Hell einmal mehr keine Tiere zu schaden gekommen sind. Und: Wille kann Berge versetzen.

Raute

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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2010