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MEGAFON/004: ... aus der Reitschule Bern, Nr. 338 - Dezember 2009


megafon - Nr. 338, Dezember 2009


INHALT

ENTREE
Carte blanche pour Efa
Editorial
Nur Auseinandersetzung bringt uns weiter

SCHWERPUNKT ARCHIVE
Einleitung
Der Weg zur Illustration dieser Megafonausgabe
Level 23: Archiv & Oral History Feat. Facebook-Generation
Reitschule-Geschichte(n)
Das Widerstandsarchiv in Zürich
Ein Archiv in Bewegung...
Archivtipps I: Bewegungsarchive
"Im Prinzip sind wir das Gedächtnis der Antifa"
Apabiz in Berlin
Den Anarchismus archivieren?
CIRA in Lausanne
"Datensammlungen sind Herrschaftsinstrumente"
Interview mit Archivar Heiner Busch
Aldous Huxley added you as friend on Facebook
Wachzentrum Facebook
Erhalt des nationalen Kulturerbes
Ballenberg
Archivtipps II: Ausflugsziele für Wintertage
Von Fernsehtürmen, Weihnachtsgeschenkpapier und dem
Atombombenschutz in der wunderbaren Welt der Archive
Lö Trösenbecks Selbstversuch: Anarchiv

INNENLAND
Alles liegt in weiter Ferne, alles liegt in unseren Händen
über Linke, die Klasse und Veränderung
Neue Aktionsformen gegen restriktive Migrationspolitik

POSTFACH
Sexarbeit* ist Arbeit. Punkt.
Nachtrag zum November-megafon

KULTUR ET ALL
Comix
Buchtipp im Dezember
Rückblick auf Queersicht
Interview mit Donat
Gefrorene Fragmente, halbwahre Erinnerungen
Die Archive des Scheibenmanns

SPECKSEITEN
- Hochgestapelt

STORY OF HELL

Raute

Carte blanche pour Efa

EDITORIAL

NUR AUSEINANDERSETZUNG BRINGT UNS WEITER

Liebe megafon-LeserInnen

Wieder ist ein Monat vorbei und was ihr nun noch fast druckfrisch in den Händen hält, ist die letzte megafon-Ausgabe in diesem Jahr. Und das Ende eines Jahres bringt es oft mit sich, dass man sich Gedanken macht zum nächsten Jahr, was man anders, neu, vielleicht - hoffentlich - besser machen möchte.

Im Bezug auf das megafon bringt das auch eine Prognose für unsere Jahresrechnung mit sich und führt uns vor Augen, dass es auch mit reiner Gratisarbeit schwierig ist, eine Zeitschrift zumindest kostendeckend zu produzieren. Ohne die kräftige Quersubventionierung der Reitschule würde es uns schon lange nicht mehr geben. Aber auch ohne euch, liebe AbonnentInnen, wäre unser Stand ein noch schwererer.

Und damit wir euch behalten können, und hoffentlich auch neue LeserInnen dazukommen (das megafon eignet sich übrigens bestens als Weihnachtsgeschenk, siehe Talon am Schluss des Hefts!), möchten wir euch auch etwas bieten.

Monat für Monat versuchen wir mit Schwerpunkten, verschiedenste Themen fundiert und aus kritischen Blickwinkeln zu beleuchten. Je nach dem gelingt uns das besser oder zuweilen auch weniger gut. Trotz viel Herzblut und Freude an der Arbeit im megafon sind die zeitlichen Ressourcen von uns allen begrenzt, gerade weil eben das Heft ein Produkt von Freiwilligenarbeit ist. Und so kommt es auch, dass wir Themen für einzelne von euch LeserInnen unterschiedlich gut und fundiert erarbeiten: Zum letzten Heft mit dem Themenschwerpunkt "Sexarbeit" haben wir eine ausführliche inhaltliche Kritik erhalten, welche ab Seite 28 zu lesen ist.

Auch wenn es eine Kritik ist: Wir bedanken uns und freuen uns über Rückmeldungen, seien sie voller Lob oder auch Kritik übend. Denn nur so können wir uns weiterentwickeln, und das wollen wir ja, vielleicht ist das gar unser guter Vorsatz fürs neue Jahr... In dem Sinne uns allen einen guten Rutsch!

- EUER MEGAFON -

Raute

Schwerpunkt Einleitung

ARCHIVIEREN ODER JAGEN. UND UNSERE GESCHICHTE SAMMELN

Bei den einen stapeln sich interessante Dossiers neben Zeitungsartikeln, die eines fernen Tages für einen Megafon-Schwerpunkt taugen könnten, neben Büchern und neben prall gefüllten, mehr oder wenig gut sortierten Lesezeichenordner... andere scheinen befreit von solchem "Ballast" und leben das Leben im heute... - oder im Internet. Archivieren oder nicht - und wofür. Sind (unsere) Archive Teil unserer Geschichtsschreibung?


Begeistert sagte ich zu, als der megafon-Redaktion vor ein paar Jahren eine fast komplette vieljährige NZZ-Folio-Sammlung angeboten wurde. Meine Freude wurde aber bereits an der nächsten Sitzung getrübt: Oh nein, heute schon und erst Recht in paar Jahren gebe es doch alles im Internet zu finden, und wo bitte, sollte all das neue Altpapier in unserem Büro gestapelt werden?! Neben diversen Kisten mit neuen und neueren Ausgaben gibt es in unserem Büro nämlich über 300 Archivboxen mit den gesammelten megafon-Ausgaben (siehe Umschlag), das alte megafon-Bilderarchiv fein säuberlich nach Themen geordnet wie "Frau", "International", "Widerstand"... und Schnipselvorlagen aus einer Zeit, als noch nicht jedes fehlende Bild im Internet gesucht werden konnte. Da stapeln sich Flugi- und Zeitungsausschnitt-Sammlungen ehemaliger Bewegter neben Sitzungsunterlagen und nicht zuletzt neben einem Teil des Medienauswertungsarchivs der ehemaligen Zeitungen "Hauptstadt" und "Tagwacht" - alles Papiere, die nicht mal die megafon-RedaktorInnen regelmässig zur Hand nehmen.

Ist das ein Archiv? Oder einfach ein knapp geordnetes Papierchaos und Futter für die Hausstaubmilben, welches in Zeiten des Internets längst entsorgt werden könnte? Und was ist mit dem Rest des Papiers, das sich auf Regalen und in Ordnern oder Kisten in der Reitschule stapelt?

Warum - Datensammlungen des Staates zwecks Überwachung einmal ausgenommen - sammeln Menschen überhaupt zeitgeschichtliche und historische Dokumente. Zu welchem Zweck, mit welchem Bedürfnis?


Archive von unten

"Bewegungsarchiv", "Widerstandsarchiv", schon die Begriffe lassen aufhorchen: Bewegung und Widerstand sind "Bewegung" und Archiv ist "Stillstand". Gibt es hier nicht einen unauflöslichen Widerspruch? Kann die Bewegung archiviert werden?

Nicht erst vor dem Hintergrund der Geschichte der 1968er und 1980er-Bewegungen wurden Archive gegründet, die den Anspruch haben, Geschichte nicht aus dem Blickwinkel der Sieger oder der Mächtigen zu sammeln und aufzubereiten, sondern eben aus dem Blickwinkel der autonomen und ausserparlamentarischen Linken. Die meisten der heute noch aktiven Bewegungs-, Infoladen- oder Widerstands-Archive haben anfänglich jedoch einen anderen Zweck verfolgt: Es wurden zwar schon immer Materialien (Broschüren, Zeitschriften, Zeitungsartikel, Flugblätter u.a.m., diese waren manchmal auch nur schwer erhältlich!) gesammelt, in erster Linie waren die Infoläden&Archive aber ein Ort des Austauschs, über das Geschriebene oder Gelesene, über Aktionen, andere Städte und Regionen, eigene und fremde Kämpfe - bekanntlich steckte die digitale Revolution noch ganz in ihren Anfängen und Informationsbeschaffung war mit "Laufarbeit" und Präsentsein am Ort des Austausches verbunden.

Wie die heutigen Bewegten ihre Geschichte archivieren werden? Tom vorn Büro gegen finstere Zeiten macht einen Vorschlag: Face-Book-Statusmeldungen archivieren, ein Oral History-Projekte starten und ein Online-Game kreieren. Das Reitschule-Game gäbs übrigens jetzt schon mit 23 Levels! Voila!

Archivierte Reflektionen und Hintergrundwissen taugen immer noch als Hilfsmittel für intelligente Kämpfe und Positionen, da bin ich sicher - nicht nur, weil ich eine Sammlerin bin... Wer sich ein Bild "unserer Geschichte" machen möchte, dem empfehlen wir wärmstens unsere "Ausflugstipps" zu Archiven im In- und Ausland sowie im Internet!

Schon oft hat uns interessiert, wohin überall das megafon zieht und wie es eigentlich bei unseren AbonnentInnen - und im Zusammenhang mit dem neuen Schwerpunkt in Infoläden, Archiven oder Bibliotheken gesammelt wird. Unsere Anfrage hat gar nicht wenig gefruchtet: Wir danken allen FotografInnen für ihre Unterstützung und die tollen Bilder, die nun - graphisch bearbeitet - den Schwerpunkt illustrieren. Und wir danken dafür, dass das megafon archiviert, und damit Teil unserer Geschichte und einer linken Gegenöffentlichkeit wird.

- ANS, EINE SAMMLERIN -

Raute

DER WEG ZUR ILLUSTRATION DIESER MEGAFONAUSGABE

"Hab heute rasch einige Schnappschüsse mit unserer alten schon sehr maroden Digikamera gemacht und dir eine Auswahl davon angehängt. Ist es das, was ihr euch ungefähr vorgestellt habt?" Aber ja doch, das ist es, was wir uns vorgestellt, und aber kaum zu erhalten gehofft haben, nämlich so viele nette Reaktionen auf unsere Bitte, uns Fotos von archivierten megafon-Ausgaben zu schicken.

Diese Antworten waren ebenso nett wie vielfältig und reichten von "Ja, wir sammeln das megafon seit Jahren und lesen es meist mit Genuss" bis "Oh oh, das wird jetzt wohl etwas peinlich: Wir haben das Megaphon und auch das Microphon immer fleissig gesammelt - bis zu diesem Sommer. Dann haben wir alles weggeschmissen, weil wir in unserer Hütte zu wenig Platz ... hatten".

Gezeigt haben uns die Bilder auch, dass Archive nicht immer grau und staubig, in einem düsteren, kalten Keller sich befinden und von einem alten, knorrigen Archivaren angelegt werden... nein! Sie sind auch bunt, zugänglich und von netten Leuten unterhalten!

Gelagert werden die megafon-Ausgaben "im Keller in dicken PVC-Kisten, die Jahresausgaben liegen bei uns im WC" oder "oben im infoladen, wo die neusten nummern zum ansehen aufliegen ... und in archivboxen mit den alten nummern (vollständig!) im archiv unten".

Andere archivieren nicht: "Wenn das neue Heft kommt, geht das alte ins Altpapier". Die Fotos zeigen das megafon aber auch "in Aktion", einige Einsender haben extra für uns typische Studium, Agitations- oder Recherchesituationen nachgestellt. Wir freuten uns sehr! Nochmals ganz herzlichen Dank euch allen!!!

Doch nicht nur SympathisantInnen und nichtstaatliche Archive sammeln das megafon: Bei der Deutschen Nationalbibliothek wurde unsere Anfrage prompt und sehr freundlich von der "Abteilung Öffentlichkeitsarbeit" bearbeitet, und wurden uns Bilder der abgeschlossenen - gebundenen - Jahrgänge sowie der laufendenden Ausgaben gesammelt in Kartonkistchen geschickt. Kein Bild gabs allerdings von der Schweizerischen Nationalbibliothek. Diese teilte uns zwar die Nummer mit, unter der das megafon verzeichnet ist, verlangten für ein Foto des Bestandes dann aber 200 bis 300 Franken - das war uns dann doch zu viel...

Die megafon-RedaktorInnen wissen jetzt, wo und wie das megafon wohnt, das fägt! Für euch LeserInnen hat Urslé von Mathilfe die Fotos graphisch bearbeitet, die Staubmilben wegretouchiert und luftige Illustrationen für das Schwerpunktthema erstellt.

Euch allen nochmals herzlichen Dank!

- LSC -

Raute

Reitschule-Geschichte(n)

LEVEL 23: ARCHIV & ORAL. HISTORY FEAT. FACEBOOK-GENERATION

Die Zeit vergeht. Auch in der Reitschule. AktivistInnen kommen und gehen. Zum Teil auch ihr Wissen, ihre Überlegungen, ihre Geschichten, ihre Erfahrungen. Im Folgenden ein Plädoyer für ein Oral History-Archiv. Und ein Reitschule-Online-Game.


Dank Facebook sind wir gut informiert - so erfahren wir zum Beispiel an einem spätoktoberlichen Samstagabend um 20:18 Uhr, wer vom Dachstock-Kollektiv an "heavy duty post-alcoholic horror headache!!" leidet und können uns entsprechend auf die allfällige Begegnung mit der betroffenen Person vorbereiten. Oder wir wissen aus erster Hand, wer wohl grippebedingt nicht oder trotzdem präsent und an welcher Party anzutreffen sein wird. Reitschule-AktivistInnen sind prominent auf Facebook vertreten. Die Welt jenseits der Sitzungsprotokolle und der Alltags-Routine. "Oral History", wie sie (heute) leibt und lebt.


Früher

Früher war alles anders. Da haben wir nicht dauernd vor dem Computer gehockt, sondern haben zum Beispiel nächtelang an Theken und Tischen diskutiert oder während spannungsgeladenen Phasen in der Cafeteria oder im Restaurant SousLePont (SLP) Nachtpräsenzen geschoben. Sei es, um Anfang der 1990er-Jahre ein nachdrückliches Gegengewicht zum damals von unerwünschten Desperados und KleindealerInnen besetzten Wohnhaus zu setzen; oder als wieder mal Stress war mit Dealern draussen (inklusive Fussschuss per Querschläger und der üblichen Drohung uns die Hütte anzuzünden).

Um mit anderen ReitschülerInnen und späteren Nachtpräsenzen zu kommunzieren, wurden Nachtpräsenzenbücher geführt - einige Exemplare sollten es ins Archiv geschafft haben. Highlights daraus wären - neben vielen merkwürdigen Zeichnungen - unter anderem der Versuch einer Wildwohnhausbewohnerin, die Türe des damaligen Sekretariats (heutiges Baubüro) mit einer Lautenden Motorsäge zu öffnen - zwecks Wiederinbetriebnahme der zugedrehten Wasserzufuhr sie scheiterte an einer mutigen Eisenstange und die Wasserzufuhr wär eh woanders gewesen). Oder die mässig lustige Begegnung mit ostdeutschen Aggropunks, die wegen unnötiger Solidarität mit einem "gekidnappten" chaotischen Berner Grubenpunk die verschlossene und damals noch gegen innen aufgehende SLP-Türe mit einem Abfallkontainer aufzubrechen versuchten. Oder die bekifften Kommentare, als 1990 bis in die frühen Morgenstunden Volkszählungsbögen lustvoll boykottverschönert wurden. Oder die Geschichte über die zwei Burgdorfer Desperados, die sich nach dem eben erst wegen einem Tötungsdelikt verhafteten Waffendealer durchfragten...

Neben diesen eher raren schriftlichen Quellen (ausser vielleicht noch ein paar Kisten voller megafon-Hefte, wo doch auch die eine oder andere Reitschule-Begegenheit festgehalten ist...; Anmerk. der Redaktion) über die Reitschule-Geschehnisse gibts natürlich auch noch die vielen AG-, KG- und VV-Protokolle, die unzähligen Flugis für die KonsumentInnen (Kauft keine Drogen vor der Reitschule, etc.) sowie die Konzepte für die vielen immer wiederkehrenden Reitschule-Probleme. Stunden-, tage-, wochen- gar monatelang haben sich Dutzende von Leuten daran schwerdenkend die Zähne ausgebissen und sind auf (k)einen grünen Zweig gekommen oder mit diesem abgestürzt. Oder die unzähligen Visionen wie die WG unterhalb des Grosse Halte-Dachs, der multifunktionale Wein- und Bowling-Keller oder die Rolltreppe an die Aare. Sind diese traditionell überlieferten oder schwarz-auf-weiss festgehaltenen Überlegungen und Erfahrungen auf ewig unrettbar vergessen und/oder im unglaublich unaufgeräumten Archiv verschollen? Leidet die Reitschule an kollektiver Amnesie?


Verlorenes Wissen

"Alte" - sofern sie überhaupt noch präsent sind - haben es manchmal schwer in der Reitschule: ihr historisch gewachsenes Wissen, ihre Erfahrungen, ihre Geschichten und Überlegungen sind bei den "Jungen" (früher die jüngeren Geschwister, dann die SchülerInnen der reitschülerischen Lehrpatent-Inhaberinnen, mittlerweilen die Kinder der ErstaktivistInnen) selten gefragt und wenn mensch mal von "früher" erzählt, ist er/sie schnell des "Gnade-der-frühen-Geburt"-Nostalgismus verdächtig. Erst mit der Zeit, so nach zirka zwei Jahren merken die Spätgeborenen, dass die Zeit vergeht und dass auch sie bereits Teil der Geschichte, Teil von "früher" geworden sind... Und all die, die weggegangen sind, nehmen ihr Reitschule-Gedächtnis meist mit - unrettbar verloren für die im Reitschule-Alltag versumpften Nachfolge - Generationen.

Wenn mensch sich vorstellt, dass alle Geschichten, Erlebnisse, Erfahrungen und Ereignisse in der Reitschule der letzten 22 Jahre in Tagebuchform online à la Facebook gespeichert und laufend ergänzt worden wären, was für ein unglaublich spannendes Universum würde sich uns da erschliessen. Oral History aus verschiedenen Perspektiven zu verschiedenen Zeitpunkten. An der leider - ähnlich wie bei Facebook - auch die Schnüffelstaat-ExtremistInnen ihre helle Freude hätten... Trotzdem ein verlockender Gedanke für alle Historien-Fans und sonstige Menschen, die aus der Vergangenheit lernen oder darin forschen möchten.


Virtuelle Kultur und Begegnung

Gar sensationell wäre ein Reitschule-Online-Game, wo sich jedermensch als beliebiger ReitschülerIn-Charakter einloggen und sich durch Zeit und Raum in der von Tagebuch- und Archividaten gespiesenen virtuellen Reitschule bewegen könnte. Nach einem kurzen AJZ-Intermezzo 1981/82, der darauffolgenden Räumung, etlichen Häuserbesetzungen, Sauvagen und den Zaffaraya-Demos (Level 0), könnte mensch sich ab Level 1 (Herbst 1987) in der frühen Reitschule schlüssellos bewegen und erst ab ca. Level 10 (Herbst 1996) käme mensch definitiv nur noch mit den richtigen Schlüsseln in die vielen Reitschule-Räume. Wahlweise könnte mensch sich als Polit@, KulturschaffendeR und/oder SozialengagierteR einer Arbeitsgruppe und/oder Fraktion anschliessen, die Reitschule-Geschichte real nachleben oder beispielsweise ausprobieren, wie es denn herausgekommen wäre, wenn sich anfangs der 1990er-Jahre die Seki-Nein-Danke-Fraktion durchgesetzt hätte. Oder der Frauenraum immer noch Ausstatlungsraum wäre, die Volxbibliothek immer noch im heutigen Seki-Sitzungsraum/Megafon, das Megafon im Tojo-/Frauenraum-Seki und der Frauenraum immer noch im heutigen Infoladen und das Baubüro Sitzungs- und Lagerraum wären: Oder noch immer nur Kollekte für Dachstock-Konzerte verlangt würde. Oder der Dachstock-Eingang immer noch die schmale Wendeltreppe (zwischen SLP/Infoladen) wäre. Als es im Dachstock noch links die Alkbar und rechts die Tee-/Kaffee-Bar mit Sofas (Teestübli) gab...

Ein virtuelles Experiment mit dem Experiment Reitschule. Auch MigrantIn, KonsumentIn, Eltern, DealerIn, TaschendiebIn, MinigangsterIn oder Zivi wären mögliche Charakteren ... eine Chance vielleicht, mal die Reitschule aus einer anderen Perspektive zu sehen. Wer als 18-JährigeR beginnt, wird mit jedem Level älter, verbessert seine Skills (Proti schreiben, Sitzungen leiten, kochen, bauen, Konzerte und Demos organisieren, etc.) und verändert sich (Aussehen, sexuelle Orientierung, Selbstbewusstsein, Ernährung, Krankheit, etc.). Und so weiter und so fort.


Welcome to Level 23

Herbst 2009. "Not yet uploaded" meldet das Online-Portal fleissigen GamerInnen, die gerade Level 23 erreicht haben. Das Update lässt auf sich warten. Tja, was nun, wie die Gamesucht ausleben? Ein Ansatz wäre wohl, darüber nachzudenken, wie all das Wissen, die Erfahrungen, Überlegungen, Geschichten, Erlebnisse der ReitschülerInnen "gespeichert" werden könnten. Sei es, indem ein Archiv-Aufräum&-Führungs-Konzept erstellt wird (es gäbe glaubs sogar schon welche) oder indem ein Reitschule-Oral-History-Projekt gestartet wird. Denn ReitschülerInnen kommunizieren ja nicht nur schriftlich, sondern hauptsächlich mündlich. Und lebendig erzählt ist oftmals vieles spannender als anonymisiert und in Stichworten verpackt in einem öden Protokoll. Wär doch der ideale Teilzeitjob für StudentInnen, Zivildienstleistende und andere noch) nicht Karriereinteressierte...

Ob da was draus wird? Werden wir sehen, wenn endlich das verdammte Level 23 upgeloadet ist...

- BGFZ/TOM -

Raute

OFFENER DANK EINES SATELLITEN

Wie soll ich es ihm sagen? Vorgestern haben wir gemeinsam darüber gespöttelt, wieviel Mal er schon mit mir die Bananenschachteln rauf und runter tragen musste. "Für nix!" meinte er, und ich liess ihn, denn seit Längerem warte ich auf die Gelegenheit, ihn zu fragen, ob er mir wieder helfen würde. Diesen Sommer ist ein Grossteil meines Archivs vom Emmental, wo ich wohnte, dorthin zurück gewandert, wo es schon vor vier Jahren stand, in Luzern. Und von Luzern müsste es eben wieder ins Bernische, wo es in meiner Nähe wäre, also benutzbar, denn was soll einer mit einem Archiv tun, das 100 Kilometer von ihm entfernt ist, in Bananenschachteln auf einem Hochboden einer ehemaligen Heubühne?

Wobei: Als ich dort wohnte, gebrauchte ich das Archiv noch. Es stand in einem Extra-Raum, war aufgeräumt, die Akten und Dossiers immer griffbereit. Im Emmental blieb es zwei Jahre lang in einer Holzhütte, unbenutzt. Viele lachen mich aus, wenn ich erzähle, dass ich tatsächlich noch immer ein Papierarchiv besitze. Doch google und wikipedia zitieren kann jedeR. Deren Wahrheitsgehalt wird durch häufigeres Anklicken und Abschreiben nicht grösser. Freie JournalistInnen zeichnen sich zudem vor allem darin aus, dass sie Zugriff zu Fakten und Personen haben, die nicht allgemein zugänglich sind. Ein Papierarchiv muss dafür immer fleissig gefüttert, wieder aufgeräumt, gepflegt werden.

"In den letzten vier Jahren habe ich trotz weiterem Sammeln fünf Bananenschachteln eingespart," antworte ich verspätet meinem potenziellem Schleppesel. Gewisse Themen, für die ich jahrelang gesammelt habe, fallen ab und an ins Altpapier - nämlich dann, wenn ich merke, dass ich sie jahrelang auch nicht konsultiert habe. Letzte Opfer: Atom, Klimaschutz, einige Zeitschriften.

Das megafon werde ich wie das NZZ folio und le monde diplomatique noch lange behalten. Die monatlichen Schwerpunkte liste ich auf ein Blatt Papier auf, das ich bei Bedarf immer wieder konsultiere. Ein Papierarchiv schafft Verbindungen, die auf Datenbanken nicht zu haben sind. Das megafon setzt Themen, die in der Öffentlichkeit schwer zu finden sind. Vielen Dank, und macht weiter so!

- HEILAND FLADENBROT -

Raute

Ein Archiv in Bewegung...

DAS WIDERSTANDSARCHIV IN ZÜRICH

"Warum ein Infoladen? Die gängigen bürgerlichen Medien sind in den Händen grosser Konzerne, welche die Stimmen und Meinungen, der Herrschenden und MachthaberInnen verbreiten. Die Sichtweisen der Ausgebeuteten, die Kämpfe der Unterdrückten, die Meinungen der Ausgegrenzten finden darin keinen Platz oder wenn, dann werden sie verdreht, verfälscht und auf den Kopf gestellt." (Flyer Infoladen Kasama, Zürich 1992)


Die ausserparlamentarischen Strukturen in Zürich hatten sich langsam von der Niederschlagung der 1980er-Bewegung und der Räumung des AJZ erholt, als "einige Leute aus der radikalen Linken" 1986 ihre "Heftlis, Zeitungsausschnitte und Bücher" zusammenlegten und das internationale Widerstandsarchiv gründeten. Auf den Schreibtischen hatten sich zwar bereits die ersten PC-Kisten und vereinzelte Mac-Würfel eingenistet, doch die digitale Revolution steckte noch ganz in ihren Anfängen. Kein Laptop mit wireless-Standleitung ermöglichte den bequemen Zugriff auf Online-Zeitungen oder Informationsplattformen wie Indymedia, kein Google leitete durch den weltweiten Datensalat. Denn das WWW sollte erst am 6. August 1991 zur allgemeinen Benutzung freigegeben werden.

Im Äther kämpften seit Ende der 1970er-Jahre verschiedene Piratensender gegen das staatliche Meinungsmonopol[1] und ab 1984 sorgte das alternative Lokalradio LoRa ganz legal für Gegenöffentlichkeit. Ansonsten lief der Informationsaustausch über direkte Kontakte oder auf dem Papier. Ausführliche Flugblätter, Diskussionspapiere und Kommuniqués kursierten und Basiskollektive gaben eine Flut von kleinen, mit Schreibmaschine, Schere und Klebstift angefertigten Zeitschriften heraus. Vom Megaphon in Bern, bis hin zur Interim aus Berlin, jede grössere Stadt bekam in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre ein eigenes Organ. Daneben existierte eine ganze Reihe von themenspezifischen Blättern, etwa aus der Frauen-, Soli- oder AntiAKW-Bewegung.[2] Infoläden und neue Bewegungsarchive, die sich Anfang oder Mitte der 1980er-Jahre neben den Institutionen der Arbeiterbewegung, des Anarchismus oder der 68er-Linken gebildet hatten, sorgten für die Distribution.[3] Viele dieser Strukturen gibt es noch heute und mit den Materialien, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben, sind sie zum Gedächtnis der autonomen und ausserparlamentarischen Linken geworden, was häufig nicht unbedingt die Absicht gewesen war.


Teil der Bewegung

Alleine schon anhand der zahlreichen Orte, an denen eine Struktur wie das Widerstandsarchiv Zürich untergebracht war, lässt sich eine Geschichte der politischen Auseinandersetzungen der letzten 25 Jahre erzählen. Erkämpfte und wieder verloren gegangene Räume, unterschiedliche Gruppen und Zusammenhänge, veränderte politische Schwerpunkte oder Dringlichkeiten spiegeln sich darin.

Zunächst hatte sich das Widerstandsarchiv im Dachstock des Kanzleizentrums eingerichtet, mitten im alten ArbeiterInnen- und MigrantInnenquartier Kreis 4. Der gesamte Stadtteil, wie auch das alte Schulhaus, in dem 1984 unter städtischer Aufsicht ein Quartierzentrum den Versuchsbetrieb aufgenommen hatte, waren zu einem Brennpunkt der Nach-80er-Bewegung geworden. Unzählige Gruppen hatten sich das gesamte Areal angeeignet und im Konflikt mit der offiziellen Politik ihre Vorstellungen von Selbstorganisierung umgesetzt, vom Sofakino Xenix in der Baracke, über den Samstags-Flohmarkt auf dem Kiesplatz, die Konzerte und Discos in der Turnhalle, bis hin zu Café, Volksbibliothek, Frauenstock, Sitzungsräumen und Beratungsstellen im Hauptgebäude.

Erklärtes Ziel des Widerstandsarchivs war es, Informationen zu den militanten Gruppen und autonomen Bewegungen in Europa zu sammeln, aber auch solche über die Entwicklungen und Kämpfe in den drei Kontinenten. Dabei ging es weniger um eine historische Dokumentation, als um internationalen Austausch und den Anspruch, sich selbst Wissen anzueignen, "Gegeninformation" zur Verfügung zu stellen und so aktiv in die aktuellen politischen Auseinandersetzungen einzugreifen. Die Leute gingen nach Nicaragua in die Arbeitsbrigaden oder unterstützten die Befreiungskämpfe in Palästina und Kurdistan. Recherchiert und angeprangert wurde die Beteiligung von Schweizer Firmen an düsteren Geschäften und bei der Aufstandsbekämpfung in der ganzen Welt. Auch die Knastkämpfe und Prozesse der Inhaftierten aus RAF oder BR verfolgte man, so wie viele mit den Aktionen von RZ und Roter Zora Sympathisierten. Im Antifa-Archiv fanden sich Infos zur Neuformierung der rechtsradikalen Szene, FrauenLesben setzten sich etwa mit Pornographie auseinander oder mit Reproduktionstechnologien und die antipatriarchale Hodenbadengruppe mit männlicher Sexualität und alternativen Verhütungsmethoden.


Weitere Strukturen

Im April 1988 - es ging auf die Hochzeit der Besetzerbewegung in Zürich zu - eröffnete ebenfalls im Kanzlei der Infoladen für Häuserk(r)ampf. Er sammelte Materialien über Immobilienspekulanten, Baufirmen und deren Verbindung ins Milieu, über leerstehende Liegenschaften und Bauvorhaben und wollte damit Hintergrundinfos für Flugis und Broschüren an die Hand geben, ein Ort sein für Erfahrungsaustausch und die Planung von neuen Besetzungen und Aktionen. Mit der Broschüre "Zonen"[4] mischte man sich in die Stadtentwicklungskritik ein und versuchte, den Gesamtkontext in den Blick zu bekommen. Parallel dazu hatten sich die verschiedenen Besetzergruppen im "Netz" zusammengeschlossen, um gemeinsam über die einzelnen Häuser hinaus zu handeln.

Aus dem Widerstandsarchiv heraus entwickelte sich das Widerstandsinfo, zwischen 1988 und 1995 41 Nummern erschienen. Waren die ersten Ausgaben eher kopierte Flugblattsammlung, so mauserte sich das WI zu einer regelrechten Zeitschrift mit redaktionellen Beiträgen und Themenschwerpunkten, auch wenn es bis zuletzt anonym und im Untergrund produziert wurde, da häufig BekennerInnenschreiben veröffentlicht wurden. Als weitere Ergänzung entstand 1990 schliesslich der Infoladen Kasama im Ladengeschoss der besetzten Häuser an der Bäckerstrasse, die zu einem Zentrum der Wohnungsnotbewegung 1989/90 geworden waren. Aktuelle Zeitschriften und Flugis konnten dort gemütlich bei einem Café gelesen werden, während am Abend Veranstaltungen, Treffen und Sitzungen stattfanden.


Von Ort zu Ort

Doch im Juli 1992 wurde die Bäckerstrasse auf Vorrat geräumt und im September 1990 ging die erste, ein Jahr später auch die zweite Abstimmung über eine Weiterführung des Kanzleibetriebs verloren. Angeführt von der Nationalen Aktion und der SVP, welche das Zentrum als "rechtsfreien Raum" und Hort linksradikaler Agitation brandmarkten, hatten die bürgerlichen Parteien die Gelegenheit genutzt, um dem neuen linksgrünen Stadtrat einen Denkzettel zu verpassen.

Nach der Schliessung des Kanzleis wurde der grösste Teil des Archivs im Keller der Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung eingestellt, wo der Kommunist und Buchhändler Theo Pinkus sein gesammeltes Material der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte. Der Infoladen zog mit mobiler Infrastruktur von Demo zu Veranstaltung, bevor im November 1992 ein erstes Ladenlokal an der Anwandstrasse angemietet werden konnte. Inzwischen war ein Träger-Innenverein gegründet worden, der "die Loslösung von städtischer Räumungswillkür" und eine feste eigene Infrastruktur ermöglichen sollte. Im Mai 1993 ging es weiter an die Klingenstrasse im Kreis 5, wo zu diesem Zeitpunkt rundherum noch eine ganze Reihe von Besetzungen bestand, darunter bis Ende November gleich schräg gegenüber als grösste die Wohlgroth. In jedem zweiten Keller betrieb eine WG oder eine Hausgenossenschaft eine illegale Bar.

Spätestens mit der Aktion "Paukenschlag", das heisst mit der Zerschlagung der offenen Drogenszene auf dem Letten im Februar 1995, zeigte sich aber, dass die Verschränkung einer repressiveren Drogenpolitik mit einer immer rassistischeren Asyl- und Migrationspolitik und einer forcierten Stadtentwicklung zum dominanten Faktor der städtischen Politik geworden war. Das von Rechts geschürte Feindbild des illegalen, kriminellen und drogendealenden Asylanten zeigte bis weit in linksbürgerliche Kreise Wirkung, nachdem die Gassenszene in die angrenzenden Quartiere getrieben worden war. Ständige Polizeipräsenz, vergitterte Hinterhöfe, Blaulicht gegen FixerInnen und rassistische Kontrollen auf der Strasse waren allgegenwärtig.[5] Die "Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht" wurden vom linksgrünen Stadtrat aktiv mitvorangetrieben, denn Zürich sollte seinen schlechten Ruf los und wieder attraktiv für gute SteuerzahlerInnen werden.

Die "Aufwertung" des Kreis 5 begann: Während die leerstehenden Fabrikareale im hinteren Teil von Zwischennutzungen geräumt, geschleift und mit schicken Büro- und Wohnbauten vollgestopft wurden, renovierte man bei den Altbauten im vorderen Teil was das Zeug hielt. Die Liberalisierung des "Beizengesetzes" von 1998 führt zudem zu einer Professionalisierung der Untergrundkulturszene und zu einer explosionsartigen Verbreitung kommerzieller Bars.

Schon mit dem ersten Refugium im besetzten Neumarkt-Theater im April 1989 und dann mit dem zweiten, vor allem für tamilische Flüchtlinge im Herbst 1994, zeigte sich, dass die Antira-Politik mehr und mehr zu einer Domäne der ausserparlamentarischen Linken geworden war, während der liberale Mainstream der laufenden Verschärfung der Asylgesetzgebung tatenlos zusah. Dies wiederspiegelte sich auch im Archiv, wo unzählige Aktionen, etwa die Sonntagsspaziergänge gegen das provisorische Polizeigefängnis oder den Ausschaffungsknast in Kloten, dokumentiert sind, genauso wie Antifa-Mobilisierungen, der Legendäre Auflauf gegen die Blocherdemo im September 1995 oder die Abendspaziergänge Ende 1990er gegen die zunehmende Faschopräsenz im Niederdorf.


Vom Bewegungs- zum Historischen Archiv?

Der weltweite Siegeszug des Neoliberalismus nach 1989, die Durchsetzung einer neuen Weltordnung mit den Kriegen am Golf und auf dem Balkan, führten dazu, dass sich die Leute nicht nur im Infoladen verstärkt wieder mit Ökonomie und den grossen internationalen Zusammenhängen beschäftigten. Zuerst in kleinen Gruppen, bald in breiten Bündnissen wurde ab 1998 gegen die Treffen der WTO in Genf oder das WEF in Davos mobilisiert. Mit Erstaunen studierte man die alten Broschüren und Debatten der Mobilisierungen gegen IWF und Weltbank aus den 1980er-Jahren, die im Archiv zum Vorschein kamen.

Durch die im Infoladen periodisch ausgeschiedenen Zeitschriften, Plakate, Flugblätter und Broschüren, war das Widerstandsarchiv stark gewachsen. Teilweise neu geordnet, befand es sich jedoch noch immer kaum zugänglich im Keller der Studienbibliothek. Als der Infoladen im Dezember 2003 aus dem herausgeputzten und befriedeten Quartier in ein Hinterhofhaus im Kreis 4 umzog, bot sich die Gelegenheit, im Untergeschoss zumindest den grössten Teil des Archivs wieder öffentlich aufzustellen. Neu dazu stiessen zudem die Materialien des ehemaligen Infoladens Häuserkampf, der zuletzt im Kultursquat EGO City untergebracht war. In ihm hatten sich mittlerweile Dokumente von Besetzungen und Quartierkämpfen aus 20 Jahren angehäuft.

Über Dublettentausch mit anderen Bewegungsarchiven in Frankfurt, Bremen oder Berlin konnten die Lücken in den Beständen an über 400 vor allem deutschsprachigen Zeitschriften ab Ende der 1960er-Jahre geschlossen werden. Alleine damit ist das Widerstandsarchiv zu einem einzigartigen historischen Fundus geworden. Genutzt wurde dieser unter anderem für die Widerstandschronologien zur Veranstaltungsreihe "Zwischenberichte" in der Roten Fabrik 1997[6] für die Plakatbücher, mit denen ein Kollektiv aus Berlin Bewegungsgeschichte zu vermitteln versuchte[7] sowie für eine engagierte Dissertation[8] und gegenwärtig für einen mehrteiligen Dokumentarfilm über die Besetzerbewegung in Zürich.

Während der Sitzungsraum mitten im Archiv offensichtlich einem Bedürfnis entspricht und auch das Erdgeschoss für Veranstaltungen oder das Flüchtlingscafé eifrig benutzt wird, verweilen kaum Leute über einem der rund 80 abonnierten Heftchen im Infoladen, sei es wegen dem zunehmenden Lohnarbeitsstress, anderer Formen der Infobeschaffung und des Austauschs von Erfahrungen, vor allem auch über das Internet, oder wegen einer momentanen politischen Eiszeit. Was aber bedeutet dies für ein solches Archiv? Wie können eigene Archive auf die Dauer gehalten werden - nur schon von den Platzbedingungen und den finanziellen Möglichkeiten her? Irgendwann werden auch konservatorische Probleme auftauchen. Und nicht zuletzt stellt sich auch die Frage: Wofür? Für eine Geschichtsschreibung von unten, für eine über die neuen sozialen Bewegungen[9] oder als Ressource für aktuelle und kommende Bewegungen? Darauf kann es nur eine kollektive Antwort geben...

- WIDERSTANDSARCHIV ZÜRICH -

www.kasama.ch


Randbemerkungen

[1] Vgl. Interview mit dem Radio "Schwarze Katz" in: Was Sie schon immer über Freie Radios wissen wollten, aber nie zu fragen wagten! Münster 1981.

[2] Einen Überblick über die schnell wechselnden Zeitschriftenprojekte vermittelt das periodisch in Buchform herausgegebene Verzeichnis der Alternativmedien. Letzte Ausgabe: Verzeichnis der Alternativmedien 2006/2007. Hg. Bernd Hüttner. Neu-Ulm 2006. Viele Zeitschriften sind auch in der Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus beschrieben (http://projekte.free.de/dada/).

[3] Reader der "anderen" Archive. Berlin 1990; Bernd Hüttner: Archive von unten. Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände. Neu-Ulm 2003.

[4] Zonen. Broschüre Infoladen für Häuserkampf. September 1988.

[5] Daniel Stern: Langzeitschäden im Kreis 5. In: Die Beute. Heft 4/1994. S. 26-38.

[6] militante linke politik in der schweiz von 1970 bis 1997. eine unvollständige chronologie. Broschüre Mai 1997; Widerstand gegen Rassismen und Faschismen. hyäne-spezial Mai 1997.

[7] hoch die kampf dem. 20 Jahre Plakate autonomer Bewegungen. Hamburg/Berlin/Göttingen 1999; vorwärts bis zum nieder mit. 30 Jahre Plakate unkontrollierter Bewegungen. Berlin 2001.

[8] Thomas Stahel: Wo-Wo-Wonige! Stadt- und Wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968. Zürich 2006.

[9] Vorwärts und viel vergessen. Beiträge zur Geschichte und Geschichtsschreibung neuer sozialer Bewegungen. Hg.: Bernd Hüttner, Gottfried Oy, Norbert Schepers. Neu-Ulm 2005.

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ARCHIVTIPPS I: BEWEGUNGSARCHIV

Papiertiger in Berlin-Kreuzberg
Das wohl grösste themenübergreifende Archiv der autonomen Bewegung im deutschsprachigen Raum wurde 1984 gegründet. Es wird von einem UnterstützerInnenverein getragen und nach wie vor selbstorganisiert von einem kleinen Kollektiv betrieben. Neben einer umfangreichen, gut sortierten Bibliothek finden sich Zeitschriften, Flugblätter, Diskussionspapiere, Themendossiers und Plakate der radikalen Linken seit den 1970er Jahren. Ähnliche Archive existieren auch in anderen Städten, etwa im Infoladen Exzess in Frankfurt, in der Roten Flora in Hamburg oder im Alhambra in Oldenburg. Sehr umfangreich ist auch das Archiv der sozialen Bewegungen in Bremen und nicht zu vergessen dasjenige in Wien.
→ http://www.archiv-papiertiger.de


Das Widerstandsarchiv Zürich
Ist das Zürcher Pendant zu diesen Strukturen und grundsätzlich während der Öffnungszeiten des Infoladens an der Militärstrasse 87a öffentlich zugänglich. Spezifischere Anfragen bitte zuerst an info@kasama.ch. Auch in anderen Infoläden findet sich hierzulande viel Material, etwa in der Reitschule Bern, im KuZeB in Bremgarten, im Rabia in Winterthur oder im Espace Autogéré in Lausanne.
→ http://www.kasama.ch


Das Istoreco in Reggio Emilia
Das 1965 gegründete Institut für die Geschichte der Resistenza in der Provinz Emilia Romagna ist zwar nur eines von 61 solchen Dokumentationszentren in Italien. Es kommt aber aus einer dezidiert linken Geschichte und ist besonders aktiv. Neben Beständen zur Geschichte der Partisanenbewegung und den Archiven linker Parteien und Gewerkschaften aus der Region umfasst es auch die Materialien von faschistischen Organisationen, welche von den Partisanen sichergestellt werden konnten. Die BetreiberInnen verstehen das Archiv als Auftrag, gegen Geschichtsrevisionismus und den Rechtsruck im Italien unter Berlusconi vorzugehen. Antirassistische Jugendarbeit, historische Workshops an Schulen, Weiterbildung für LehrerInnen, Treffen mit ehemaligen Partisanen oder die alljährlich organisierten Mondiali Antirazzisti sind nur einige Beispiele für Initiativen aus diesem Umfeld heraus.
→ http://www.istoreco.re.it/


apabiz in Berlin
Das antifaschistisches Pressearchiv und Bildungszentrum apabiz begnügt sich nicht damit, ein Dokumentationszentrum gegen Neofaschismus zu sein und Initiativen gegen Rassismus und Antisemitismus zu fördern, sondern gibt auch Materialien für Schulen, die Zeitschrift monitor, Bücher und Broschüren heraus und organisiert Vorträge und Diskussionsreihen.
→ http://www.apabiz.de


Die Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Zürich
Ähnlich wie der befreundete Verleger Feltrinelli in Mailand machten auch Theo und Amalia Pinkus ihre Privatbibliothek als Stiftung öffentlich zugänglich. Der grösste Teil des Archivs und die rund 50.000 Bücher zur Arbeiterbewegung, zu politischer Theorie und Internationalismus befinden sich seit 2001 in der Zentralbibliothek Zürich, wo noch bis zum 18. Dezember eine Ausstellung über den "Buchhändler, Kommunist und Querdenker" aus Zürich läuft. Der Zeitschriftenbestand ist am ursprünglichen Ort an der Quellenstr. 25 verblieben und kann dort eingesehen werden.
→ http://www.studienbibliothek.ch


Das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam
Das 1935 gegründete IISG ist das wohl bedeutendste "linke" Archiv Europas. Neben einer umfangreichen Bibliothek und riesigen Zeitschriftenbeständen besteht es aus Hunderten von Sammlungen und Nachlässen, die aus unterschiedlichsten Gründen den Weg nach Amsterdam gefunden haben oder dort in Sicherheit gebracht werden mussten. Aufbewahrt werden etwa die schriftliche Nachlässe von Karl Marx und Friedrich Engels, Materialien von Bakunin und anderen AnarchistInnen, Unterlagen von linken Organisationen aus Lateinamerika oder der Türkei, aber auch aus der Neuen Linken in der BRD.
→ http://www.iisg.nl/


Archive auf dem Netz
Ausgehend von einer Initiative des Infoladens Leipzig hat sich dataspace zu einer Datenbank-Plattform für die verschiedensten Archive und Infoläden entwickelt
→ http://ildb.nadir.org/index.php


Unter anderem ausführliche Beschreibungen von Tausenden von anarchistischen und anderen linksradikalen Zeitschriftenprojekten aus den letzten 40 Jahren mitsamt Bestandeshinweisen finden sich in online in der Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus DadA
→ http://projekte.free.de/dada/).


Das Nachschlagewerk zu den Bewegungsarchiven
Einen Überblick über die Bewegungsarchive im deutschsprachigen Raum gibt Bernd Hüttner: Archive von unten. Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände. Neu-Ulm 2003.

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Apabiz in Berlin

"IM PRINZIP SIND WIR DAS GEDÄCHTNIS DER ANTIFA"

Michael Weiss arbeitet seit Ende der 1990er-Jahre beim Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (Apabiz). An Vorträgen war er mehrfach in Bern und Umgebung zu hören. Er erzählt über die Archivarbeit, deren Nutzen und die heutigen Herausforderungen.


megafon: apabiz ist ein Archiv - was archiviert ihr?

Michael Weiss: Wir archivieren alles, was im weitesten Sinn mit den Themen Antifa und Antifaschismus zu tun hat, linke Medien - ausführliche Artikel oder Fachzeitschriften - und Standardliteratur. Wir archivieren aber auch rechte Primärliteratur, also Erzeugnisse, die direkt aus der Nazi-Szene kommen. Neben ihren Büchern und Fanzines spiegeln wir die Internetseiten und besorgen uns die Videos und CDs. Und schliesslich dokumentieren wir auch Aufmärsche, beobachten Gerichtsverhandlungen. Wenn ich "wir" sage, dann meine ich nicht nur die im apabiz Beschäftigten, sondern die vielen Menschen, die das in ihren Regionen tun. Bei uns bündelt sich Material und das Wissen.

Wie viele Quadratmeter Material habt ihr?

Wir haben mal ausgerechnet, dass die Aktenordner alle aneinander gestellt einige hundert Meter messen würden. Im deutschsprachigen Raum sind wir, was Neo-Fa-Literatur angeht, sicherlich das grösste Archiv.

Wie gelangt ihr zu diesem Material?

Das Material kommt aus völlig unterschiedlichen Quellen. Und so genau möchte ich das nicht erzählen. Klar ist nur: Wir achten darauf, dass wir möglichst wenig und am Besten gar nichts für Naziszeug bezahlen. Weiter tauschen wir uns mit vielen Initiativen in nah und fern aus und schicken uns gegenseitig Material. Wir haben auch schon Sammlungen von Aussteigern bekommen. Normale Bücher und Antifa-Literatur beziehen wir von den Verlagen.

Auf der apabiz-Internetseite steht, ihr sammelt auch Kleber, Plakate, Flugblätter und Fotos der extremen Rechten. Seid ihr quasi ihre ChronistInnen?

Eh, ... (lacht) ... es hört sich zwar doof an, aber in gewissem Sinne stimmt es. Wir sammeln aber auch die Plakate von Gegendemos. Im Prinzip sind wir so etwas wie das Gedächtnis der Antifa, zumindest seit den 1980er-Jahren.

Rechte Primärliteratur ist faszinierend, gerade für rechte Jugendliche. Kommen die auch in euer Archiv?

Nein, die kommen nicht. Zudem gucken wir sehr genau, wem wir was in die Hand drücken. Es gibt halt Material, das geben wir nur weiter, wenn die Leute uns einen wissenschaftlichen Beleg vorlegen ... Oder wenn es uns bekannte Leute von antifaschistischen Initiativen oder JournalistInnen sind, die ernsthaft über ein Thema schreiben wollen. Die anderen Interessierten haben nur Zugang zu unserer öffentlichen Bibliothek mit ein paar hundert Büchern und Broschüren. Die Nazi-Primärliteratur muss man bei uns beantragen, und wir entscheiden, ob die Person sie kriegt.

Wie hat sich eure Arbeit mit den Entwicklungen im Internet verändert?

Sie hat sich kaum verändert, bloss etwas verlagert, in den 1990er-Jahren hatten wir noch Dutzende von Nazi-Fanzines, heute sind davon weniger als ein Drittel übrig geblieben. Es wird viel mehr übers Internet publiziert. Letztlich spielt es jedoch keine Rolle, ob du eine Internetseite spiegelst oder ein Fanzine in den Aktenordner ablegst. Es sind altes Dokumente, egal auf welchem Träger sie vorhanden sind.

Was nützt uns das apabiz-Archiv und eure Arbeit?

Ich denke, dass das Archiv ein wesentliches Standbein von Antifa-Arbeit ist. Bei uns kann man gezielt über die Aktivitäten von einzelnen Gruppen der extremen Rechte recherchieren. Über dieses Material ist es möglich, die neonazistische Szene mit ihren Strategien, ihren Diskussionen und Entwicklungen zu verstehen. Diese Analysen und Einschätzungen bilden die Grundlage, auf welcherwirksame Gegenstrategien entwickelt werden können. Ohne Material wäre das nicht möglich.

Schafft ihr damit Grundlagen für eine funktionierende Präventions- und Kampagnenarbeit?

Ja, weil es als eine Art Frühwarnsystem funktioniert und weil es Informationen liefert, die staatliche Institutionen verschweigen. Sei es das Thema Rechtsrock in den 1990er-Jahren, aktuell die Entwicklung der sogenannten "Autonomen Nationalisten" oder ein anderer Trend - antifaschistische Initiativen erkennen Entwicklungen als erstes und können diese als erste qualifiziert deuten. Oft dauert es ein, zwei Jahre bis die Behörden nachziehen. Und es ist doch klar: Je eher du etwas erkennst und je besser du etwas verstehst, umso schneller und zielgerichteter kannst du dagegen vorgehen. Je besser wir es schaffen, unser Wissen zu bündeln, umso genauer sind die Informationen, die in die Arbeit vor Ort zurückfliessen.

Wer nutzt das Archiv?

Das sind sehr unterschiedliche Leute, und es hat sich in den Jahren verändert. Bis Ende der 1990er-Jahre waren es vorwiegend linke Gruppen, die sich im Archiv informierten und auf dieser Basis eigene Broschüren und Publikationen erstellt haben. Heute nutzen weniger radikale Linke unser Archiv. Dafür kommen mehr JournalistInnen sowie Personen von zivilgesellschaftlichen Initiativen und aus der Wissenschaft, teilweise auch aus dem Ausland.

Da es euch schon seit den 1980er-Jahren gibt: Könnt ihr Veränderungen in der rechten Szene feststellen?

Ja, natürlich. Wir könnten eine Chronik schreiben über die Veränderungen der extremen Rechte in den Letzten 20 Jahren, inklusive Tabellen und Kurven.

Machst du uns ein Beispiel?

Zum Beispiel ist heute die Zahl der Neonazi-Aufmärsche wesentlich höher. Vor zwanzig Jahren hattest du nur ab und zu einen Aufmarsch. Vor zehn Jahren gabs alle paar Monate grössere Aufmärsche. Jetzt ist mindestens einmal pro Wochenende etwas los, einmal mit sechzig und einmal mit hundert Leuten. Auch die Art der Aufmärsche hat sich verändert. Da stellen wir signifikante Unterschiede fest. Ebenso, was die Zusammensetzungen der Teilnehmenden an Aufmärschen betrifft oder die Entwicklung von neuen Gruppen, die sich "autonome Nationalisten" nennen. Die neuen Tendenzen lassen sich bebildern und an Hand von Zahlen festmachen.

Fliessen diese Erkenntnisse dann in euere Bildungsprojekte ein?

Ja, in die Bildungsprojekte und vor altem auch in Kampagnen. Wenn du eine Kampagne führen willst gegen ein neonazistisches Ladengeschäft oder gegen den Proberaum einer bestimmten Band, muss du erst mal wissen, was das für eine Band ist, wo sie schon gespielt hat, was für Texte sie haben, ... Wir können diese Informationen Liefern oder diese Anfragen an Fachleute in anderen Städten weiterleiten.

Wo liegen die Grenzen der Archivarbeit?

Ach, die Grenzen dieser Arbeit sind erreicht, wenn du feststellst, dass das Wissen nicht mehr umgesetzt wird. Über bestimmte Regionen haben wir manches Material in der Schublade, aber es gibt keine Leute mehr, die sich dafür interessieren. Es fehlt vielfach das antifaschistische Personal. Ein weiteres Problem stellt sich in Zusammenhang mit antifaschistischen Kampagnen, die auf dem Prinzip des "Outing" aufgebaut sind. Eine Antifa-Gruppe macht über Presseartikel oder Flugblätter in der Öffentlichkeit bekannt, dass in dieser Gaststätte beispielsweise NPD-Stammtische stattfinden. Wir beobachten mit Sorge, dass das manchmal keineN mehr stört. In gewissen Regionen hat in der zuvor kritischen Öffentlichkeit eine Gewöhnung eingesetzt. Bei Sachen, die vor fünf Jahren noch ein Skandal gewesen wären, heisst es heute: "Ach, schon wieder ein Neonazikonzert, ist doch nicht so schlimm, solange die nichts machen." Was nützt dir das ganze Wissen, wenn es niemanden mehr stört? Wenn es keine Konsequenzen für die Person oder die Gruppe mehr hat? Was hilft es uns, wenn wir der NPD zum tausendsten Mal anhand von Dokumenten nachweisen, dass sie rassistisch sind - sie werden gewählt, eben gerade weil sie rassistisch sind! Genau da hat die Informations- und Archivarbeit ihre Grenzen. Da muss Aufklärungsarbeit an den Schulen einsetzen, Demokratieschulung ab frühstem Kindesalter greifen... Und das können wir nicht auch noch leisten.

Das tönt nach einer unerfreulichen Entwicklung für die Zukunft. Wo wünschst du dir, dass das apabiz und die antifaschistische Arbeit in zehn Jahren stehen?

Ja, ... eigentlich müsste ich mir wünschen, dass wir in zehn Jahren unseren Laden gar nicht mehr brauchen und wir uns um wichtigere Sachen in der Welt kümmern könnten als um Nazi-Dummköpfe. Realistisch gesehen wird das nicht eintreffen, selbst wenn es in Deutschland einen spürbaren Rücklauf geben würde. Mit dem jetzigen Regierungswechsel werden die Programme gegen Rechts runtergefahren. Ich befürchte, man wird uns in den nächsten Jahren noch mehr brauchen, als das heute schon der Fall ist. Für uns wünsche ich mir, dass wir so gut aufgestellt sind, um für die kommende schwierige Zeit einigermassen gerüstet zu sein. Dass wir unsere Arbeit auf professionellem Niveau so weitermachen können und auch die Mehrarbeit, die bestimmt kommen wird, leisten können. Wenn wir das hinkriegen, wäre eine ganze Menge erreicht.

Dafür wünsche ich euch viel Erfolg! Wenn man in Berlin ist, kann man euch besuchen?

Natürlich! Wir haben jeden Donnerstag vom Nachmittag bis am Abend geöffnet. Wer ausserhalb dieser Zeiten kommen will, muss sich vorher telefonisch oder per Mail mit uns verabreden.

Vielen Dank, Michael, für das Gespräch!

Bitte schön!

- REL -

www.apabiz.de

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CIRA in Lausanne

DEN ANARCHISMUS ARCHIVIEREN?

Das Internationale Zentrum für anarchistische Recherchen CIRA in Lausanne sammelt seit mehr als 50 Jahren allerlei Flugblätter, Zeitschriften und Plakate der anarchistischen Szene. Es ermuntert die Leserschaft, zwischen den Zeilen zu lesen und die Spuren der AutorInnen zu entdecken.


Glauben wir den Sprachwissenschaften, so sind Archive uralte Erfindungen aus Griechenland wie verstaubt das klingt! Ein Wörterbuch spricht gar von "Sammlungen ausgedienter Dokumente". CIRA führt ein anarchistisches Archiv - hat also der Anarchismus als solcher ausgedient? Eine antike Utopie, deren Überbleibsel wir liebevoll aufbewahren? Das Lexikon geht noch weiter und spricht von "Konservierung" und vom "heimatschützerischen Wert" eines Archivs ... Misstöne in den Ohren von allen, die Autoritäten jeglicher Art ablehnen!

Und doch liegt das Wörterbuch nicht gänzlich falsch: Eine Aufgabe von CIRA besteht tatsächlich darin, Dokumente aufzubewahren. Bestimmte Dokumente, welche oft behelfsmässig innerhalb der Bewegung produziert wurden, mit knappen finanziellen Mitteln und für gezielte Propaganda oder den Informationsaustausch. Diesen Broschüren, Flugblätter, Plakate und Zeitungen ist ein gewisser selbst zerstörerischer Charakter gemeinsam. Das Papier vergilbt und zerfetzt, die Heftklammern rosten, die Tinte verblasst. Wir bemühen uns, diesen Vorgang hinauszuzögern und die Lebensdauer der Dokumente zu verlängern. Seit der Gründung im Jahre 1957 in Genf sammelt CIRA Dokumente von anarchistischem Interesse und beschützt sie vor den vielfältigen Gefahren, welche täglich auf sie lauern.

Dennoch gibt es im CIRA keinerlei Überreste zu bestaunen, weder den Schnurrbart von Johan Most noch die Brille von Makhno. Und nur wenige pilgern zu uns, um sich vor einer unserer Büsten zu verneigen. Wir kennen keinen "Kult des Aases", wie Albert Libertad ihn nannte. Das Archiv von CIRA verewigt primär die Spuren der anarchistischen Bewegung mit ihren Grabenkämpfen, Annäherungsversuchen und Debatten - mithin auch die Spuren des Lebens. Wir wollen Interessierten ermöglichen, eine Bewegung zu erfahren und zu begreifen, welche in Vergessenheit geraten und über welche in den Geschichtsbüchern nur Schlechtes zu lesen ist.

Während heute Hunderte von Texten im Internet publiziert werden, halten wir überzeugt an unserem Archiv in Papierform fest. Denn in unserem Originalmaterial finden sich unmittelbare Spuren der AutorInnen: in den Text gekritzelte handschriftliche Vermerke, Widmungen,... Aber auch andere Erkenntnisse lassen sich aus den ursprünglichen Druckerzeugnissen lesen: Eine auf schlechtes Papier gedruckt Zeitung, ein Wechsel im Format oder in der Typografie können Anzeichen sein für ein Abdrängen einer Gruppierung in den Untergrund, für eine Rezession. Solche Veränderungen lassen Rückschlüsse auf die konkreten Umstände zu, unter welchen das Dokument produziert wurde. Wir begegnen der Digitalisierung mit Zurückhaltung, da wir diese viel sagenden Begleitumstände wiedergeben wollen. Denn so können wir unserer Leserschaft ermöglichen, die Leben derjenigen abzutasten, welche die Dokumente geschaffen haben.

Diese Leben liegen nicht zwingend in weiter Vergangenheit zurück. Im CIRA gibt es auch aktuelle Wochen- oder Monatszeitschriften wie "Grasswurzelrevolution", "Direkte Aktion", "Le monde libertaire", "Umanità Nova", "Freedom",... Weiter findet man beispielsweise die Flugblätter der griechischen Proteste vom Dezember 2008. Unsere KollegInnen haben sie uns mitgebracht, als wir uns an der letzten Versammlung der anarchistischen Archive und Bibliotheken getroffen haben. Und wer sich für die jüngsten Durchbrüche der US-amerikanischen Anarcho-GewerkschafterInnen "Wobblies" - insbesondere für die Velo-Karawane in Boston oder die Kampagne zu den Angestellten von Starbucks - interessiert, wird im CIRA fündig. In unserem Archiv kann man sich sowohl in zeitlicher wie in geografischer Hinsicht verführen Lassen, den eigenen Erfahrungshorizont erweitern und neue Kontakte mit anderen Gruppierungen und Personen knüpfen. Seit über fünfzig Jahren ermuntert CIRA seine LeserInnen, zwischen den Zeilen zu lesen und sich so ein Bild der Menschen zu machen.

- CIRA -

www.cira.ch


Geschichte:
Pietro Ferrua, "Appunti per una cronistoria del Centro Internazionale di Ricerche sull'Anarchismo" in Rivista storica dell'anarchismo (2000), S. 99-108. Marianne Enckell, "Le Centre International de Recherches sur l'Anarchisme" in Alda de Giorgi, Charles Heimberg et Charles Magnin (Hrsg.), Archives, histoire et identité du mouvement ouvrier, Genève, Collège du travail, 2006.

Weiterführende Literatur
Marianne Enckell, "L'école et la barricade" in Réfractions: recherches et expressions anarchistes, 1997, unter:
http://refractions.plusloin.org/spip.php?article255.

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Interview mit Archivar Heiner Busch

"DATENSAMMLUNGEN SIND HERRSCHAFTSINSTRUMENTE"

Trotz des Fichenskandals Ende der 1980er-Jahre werden heute wacker Daten gesammelt. Datenbanken mit immer persönlicherem Inhalt und besserer internationaler Vernetzung haben Hochkonjunktur.


megafon: Ist der "Schnüffelstaat"-Vorwurf ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg oder eine reale Angelegenheit?

Heiner Busch: Kurz zur Erinnerung - der Ende November 1989 veröffentlichte Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission über das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement machte das Ausmass der politischen Überwachung im Kalten Krieg deutlich. Betroffen waren praktisch alle, die in der Linken und in den sozialen Bewegungen kreuchten und fleuchten. Die Bundespolizei, der heutige Dienst für Analyse und Prävention (DAP), hatte zu diesem Zeitpunkt 900.000 Personen und Organisationen registriert - auf Eichen, das heisst auf Karteikarten, die auf den Inhalt der sehr viel umfangreicheren Dossiers verwiesen. Die Schweiz war in dem Sinne kein Sonderfall, sie war allerdings das einzige Land Westeuropas, in dem diese Überwachung zu einem grossen Skandal gemacht und wo die Einsicht in Fichen und Dossiers mit Mühe erstritten werden konnte. Die Leute erhielten damals auf Antrag Kopien ihrer Eichen und Dossiers, in denen allerdings vieles abgedeckt war.

Die politische Überwachung hat mit dem Ende des Kalten Kriegs nicht aufgehört, sie findet aber heute in neuen Bahnen statt. Nachdem wir die Abstimmung über die ersatzlose Abschaffung der politischen Polizei 1998 verloren hatten, trat das Staatsschutzgesetz, das Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der Inneren Sicherheit, in Kraft. Das hat der Überwachung einen rechtlichen Heiligenschein verliehen. Die gummigen Begrifflichkeiten wie "gewalttätiger Extremismus" können nicht verdecken, dass nach wie vor missliebige politische Aktivitäten überwacht werden. Zum anderen hat nach dem Skandal eine Technisierung der Überwachung stattgefunden. An die Stelle der Karteikarten sind elektronische Fichen im Computersystem ISIS getreten. Und natürlich haben die Staatsschützer Zugang zu diversen anderen Datenbanken, insbesondere dem ZEMIS, dem Datensystem des Bundesamts für Migration.

Wie schätzt du die Entwicklung der letzten Jahre ein?

Seitdem das ISIS 1994 ans Netz gegangen ist, gab es eine kontinuierliche Zunahme der erfassten Personen. Heute sind über 110.000 Leute dort gespeichert - Tendenz zunehmend. Die Zahl derjenigen, die in dieser Zeit irgendwann einmal durch die staatsschützerische Mühle gegangen sind, dürfte erheblich höher sein, weil zwischenzeitlich ja auch wieder Daten gelöst wurden. Dass nur wenige Betroffene SchweizerInnen sind, kann dabei nicht beruhigen. Das war schon während des Kalten Kriegs so. MigrantInnen gehörten schon immer zu den vermeintlich gefährlichen Leuten. Das Staatsschutzgesetz ist bereits einmal verschärft worden anlässlich der Euro 08 - und es soll noch einmal verschärft werden: Der Bundesrat will dem DAP erlauben, ausserhalb von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren Telefone abzuhören, Wanzen zu setzen und heimlich in private Computer einzudringen. Die ersten Entwürfe dazu sind zwar gescheitert, das Vorhaben ist aber nicht vom Tisch.

Wie stehst du zu den europäischen Datenbanken (SIS, EURO-DAC)? Worin siehst du die Problematik?

Schon heute sind Millionen von Personen in zentralen Datenbanken der EU gespeichert, ohne dass gegen sie ein Straftatverdacht existiert. Das gilt auch für das Schengener Informationssystem 515, das offiziell als Fahndungsdatenbank verkauft wird. Rund neunzig der Personendaten beziehen sich hier auf MigrantInnen, denen die Einreise in die EU verweigert wird. Eurodac enthält die Fingerabdruckdaten von Asylsuchenden. Im Aufbau begriffen ist ferner das Visa-Informationssystem VIS. Beim SIS haben die Staatsschutzdienste bereits jetzt Zugang, beim VIS ist diese Zugriffsmöglichkeit beschlossen und bei Eurodac wird das demnächst geschehen. Hinzu kommen die völlig intransparenten Datensysteme des EU-Polizeiamtes Europol in Den Haag. Ende 2004 hat die EU zudem den "Grundsatz der Verfügbarkeit" verkündet. Danach sollen die Polizeien der Mitgliedstaaten sich gegenseitig - möglichst automatisierten - Zugriff zu ihren jeweiligen nationalen Datenbeständen gewähren. Bei diesem freien Binnenmarkt für Polizeidaten wird die Kontrolle praktisch unmöglich.

Was meinst du zur Einführung von biometrischen Daten oder zum elektronischen Reisepass?

Noch Anfang des Jahrzehnts war die Biometrie eine Technik, die den Zugang zum Beispiel zum Allerheiligsten von Banken oder Versicherungen auf einen möglichst kleinen Personenkreis begrenzen sollte. Heute soll damit der Zugang zu einem ganzen Kontinent geregelt werden. Die biometrischen Pässe sind da nur ein Bestandteil. Hier hat die Schweiz übrigens die Vorgaben der EU bei weitem übertroffen. Das Ausweisgesetz sieht auch biometrische Identitätskarten und eine Datenbank für Fingerabdrücke und Fotos vor. Wesentlich dramatischer finde ich das VIS, das im Endausbau die biometrischen Daten von etwa 20 Millionen Personen enthalten wird, die in den jeweils zurückliegenden fünf Jahren irgendwann einmal ein Visum für einen Schengen-Staat beantragt haben.

Du hast einmal gesagt: "[...] im Grund genommen ist das Ausländergesetz ein spezielles Polizeigesetz" - wie meinst du das?

An den speziellen Datensystemen über MigrantInnen oder Asylsuchende lässt sich das sehr gut demonstrieren. Das ZEMIS des Bundesamtes für Migration ist typischerweise mit dem RIPOL, dem Fahndungssystem des Bundesamts für Polizei verkoppelt. Dass die Polizei zu den Daten der Ausländerverwaltungen Zugriff hat, scheint heute vollkommen normal - nicht nur in der Schweiz, sondern auch in der EU. Diese Behörden können sich noch so schöne Namen geben, jede und jeder weiss jedoch, dass es hier um die alte und hässliche Fremdenpolizei geht.

Frage: Es scheint so, als ob immer heiklere Personendaten gespeichert würden - siehst du das auch so?

Das Problem ist nicht so sehr der Inhalt der Daten. Auf den alten Fichen waren ja keineswegs ungefährliche Informationen erfasst, sondern eben die politischen Meinungen und Aktivitäten von Leuten. Aber im Unterschied zu damals sind die elektronischen Daten von heute mobiler. Sie können ohne Schwierigkeiten verknüpft werden und stehen prinzipiell überall zur Verfügung und nicht nur dort, wo das Register steht. Sie können mit anderen Datenbeständen abgeglichen, ins Ausland weitergegeben werden etc.

Sind bald alle irgendwo fichiert?

Natürlich sind alle irgendwo fichiert. Denken wir nur an die Einwohnerkontrollen. Wir alle halten es für völlig normal, jeden Wohnungswechsel dem Staat mitzuteilen. Egal welche staatliche Leistung wir heute wollen, sie müssen immer einen Datenstriptease machen. Und wenn wir beim Sozialamt falsche oder unvollständige Angaben machen, gelten wir schnell als "SozialbetrügerInnen". Daten sind Herrschaftsinstrumente - und zwar nicht erst dann, wenn die Polizei auf den Plan tritt.

Frage: "Stopp dem Schnüffelstaat" wird von vielen politischen Richtungen gefordert. Worin siehst du die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in dieser Forderung?

Die Forderung wird leider nicht von besonders vielen politischen Richtungen vertreten - jedenfalls nicht konsequent. Die SVP hat sich zwar nachträglich dem Referendum gegen die biometrischen Ausweise angeschlossen. Aber ich glaube kaum, dass sie gegen solche Ausweise für AusländerInnen oder gegen die schweizerische Beteiligung am VIS ist. Die elende Kriminalitätsdebatte, die seit Mitte der 1990er Jahre nicht abreisst, hat die Reihen derer, die für einen konsequenten Datenschutz sind, reichlich ausgedünnt. Wer ständig irgendwo Missbrauch - Asylmissbrauch, Sozialmissbrauch, Missbrauch von politischen Freiheiten, etc. - wittert, ist schnell dazu bereit, die Fremdenpolizeien mehr Daten sammeln zu lassen, Sozialdetektive zu beauftragen oder eben dem Staatsschutz mehr Befugnisse zu geben.

Frage: Du arbeitest selber in einem Archiv: Was für Daten sammelt ihr, sind diese Bestände für alle zugänglich?

Eigentlich sind es zwei Archive, die zusammengewachsen sind. Das Archiv von grundrechte.ch, in dem Informationen zum Staatsschutz, zur Polizei und zu Datenschutzfragen gesammelt werden, und das von Solidarité sans frontières, in dem es um Asyl- und Migrationsthemen geht. Leider sind die Themen nicht voneinander zu trennen. Wir werten regelmässig Zeitungen aus, wir sammeln die entsprechenden parlamentarischen und politischen Dokumente usw. Die Bestände sind grundsätzlich zugänglich, wir bitten aber um Voranmeldung, damit wir die Leute einführen können (mail an sekretariat@sosf.ch).

Frage: Wem können die Materialien dienen?

Sie nutzen einerseits uns selbst für unsere politische Arbeit, sie sind sozusagen das Gedächtnis unserer Organisationen. Zum andern können sie auch Medienschaffenden oder SchülerInnen und StudentInnen nutzen, die sich mit unseren Themen auseinandersetzen.

- HBS -

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"RECLAIM YOUR DATA"

Am 1. Oktober 2009 startete die Kampagne "Nimm dir dein Recht im Europa der Polizei, hol dir deine Daten zurück!" Mehr als 40 Gruppen aus elf europäischen Ländern rufen dazu auf, das Recht auf Auskunft wahrzunehmen und bei den Polizeibehörden anzufragen, welche Daten zur eigenen Person gespeichert sind. Hintergrund des Aufrufs ist das so genannte Stockholmer Programm, der neue Fünf-Jahresplan für die Innen- und Rechtspolitik der EU, der am EU-Gipfeltreffen am 11. und 12. Dezember 2009 förmlich verabschiedet werden soll.

Bereits heute sind Millionen von Menschen in zentralen Datenbanken der EU gespeichert. Allein das Schengener Informationssystem (SIS) enthält rund eine Million Personendatensätze, von denen rund 90 Prozent Nicht-EU-Staatsangehörige betreffen, die an der Einreise in denn europäischen Wohlstandsraum gehindert oder daraus abgeschoben werden sollen. Wie die Fussballeuropameisterschaft 2008 oder der Nato-Gipfel in Strasbourg im April 2009 bewiesen, betrifft der grenzüberschreitende Datenaustausch aber auch BürgerInnen der EU- und der assoziierten Schengen-Staaten. Ein- oder Ausreisesperren und andere polizeiliche Zwangsmassnahmen zeigen, dass Informationen nicht harmlos sind. Die Standards des Datenschutzes bewegen sich dagegen auf minimalem Niveau. Das Stockholmer Programm sieht den weiteren Ausbau dieses freien Binnenmarktes für Polizeidaten vor.

Mit den Kampagnen wollen die beteiligten Gruppen zum einen kritische Öffentlichkeitsarbeit leisten. Zum anderen sollen Einsichten in die Praktiken des grenzüberschreitenden Informationsaustausches gewonnen werden. Nicht zuletzt gilt es, Betroffene bei der Wahrnehmung ihrer Rechte auf Berichtigung oder Löschung unzulässig gespeicherter Daten zu unterstützen und Rechtsbeistand zu vermitteln. Zentrales Instrument der Kampagne ist ein "Auskunftsersuchengenerator", der nach Online-Eingabe der benötigten Angaben, automatisch ein versandfertiges Anschreiben generiert, das nur noch per Post an die jeweils verantwortlichen Polizeibehörde geschickt werden muss. Für die Schweiz existiert diese automatisierte Variante allerdings vorerst nur in Bezug auf das SIS. Der Aufruf sowie ein link zum Auskunftsgenerator finden sich auf der Sosf-homepage, die Website der Kampagne unter http://euro-data.noblogs.org/

Raute

Machtzentrum Facebook

ALDOUS HUXLEY ADDED YOU AS FRIEND ON FACEBOOK

Was vor rund vier Jahren als Spiel unter Studierenden begonnen hatte, ist heute zu einem gewaltigen Informationsballungszentrum herangewachsen. Die persönlichen Daten, über welche Facebook heute verfügt, sind begehrt und werden vielfältig verwendet.


Imam Khomeini international Airport. Nachdem Aschkan in Teheran gelandet war, um seine Heimat zu besuchen, nahmen die Zollbeamten seinen Pass - und behielten ihn. Sie nannten ihm eine Adresse, an der er sich in der Angelegenheit melden sollte.

Aschkan hatte, von Schweden aus, das politische Geschehen im Iran weiter kritisch verfolgt. Als Resultat daraus hatte er an einer Demonstration vor der iranischen Botschaft in Stockholm teilgenommen. Jetzt, zurück in Teheran, wurden ihm Fotos dieser Demonstration vorgelegt. Die Beamten drängten ihn, die Namen der Personen zu nennen, deren Gesichter rot umkreist waren.

Woher - verdammt - kannte die iranische Polizei die Gesichter seiner Freunde in Schweden?

Im 28. Oktober 2004 sass Mark Zuckerberg angetrunken in seinem Schlafzimmer an der Harvard University und begann aus Spass eine Webseite zu programmieren, auf der seine Mitstudenten anhand von Fotos gegenseitig ihr Aussehen bewerten konnten. Er nannte sein Projekt "Facemash". Dazu inspiriert hatte ihn das an der Universität herumgereichte "Facebook", ein Büchlein, in dem StudentInnen mit Foto und Namen vorgestellt werden. Kurz darauf entwickelte er eine Online-Version dieses Büchleins. Das kam in Harvard so gut an, dass Zuckerberg seine Webseite bald auch den Studierenden anderer Universitäten zugänglich machte. Und dann der ganzen Welt.

Heute wird Zuckerberg von der Kapitalistenbibel "Forbes" als jüngster lebender Milliardär geführt und sein Facebook, entstanden im Studentenheim, hat über 300.000.000 aktive BenutzerInnen. Dreihundert Millionen Menschen, die Informationen über sich zusammentragen und ihren FreundInnen online zugänglich machen. Zum normalen Steckbrief gehören Angaben zu Beruf, Interessen, religiöse und politische Gesinnung, Beziehungsstatus. JedeR BenutzerIn hat durchschnittlich 130 erklärte FreundInnen. Das reale Beziehungsnetz wird online abgebildet und mit gegenseitig auf die Pinnwand geschriebenen Botschaften gepflegt und kommentiert. Rund um die Uhr fliegen Privatnachrichten, die für viele das E-Mail als Kommunikationsmittel abgelöst haben, kreuz und quer über den Globus. Dazu kommen ca. 40 Millionen Fotos, die täglich hochgeladen werden, häufig mit den Namen der darauf gezeigten Personen versehen. All diese Daten sind auf 30.000 Servern gespeichert, die im Silicon Valley und im zweiten Data-Center in Ashburn, Viginia stehen (Stand Oktober 2009).

In den Datenschutzbestimmungen, die von den Benutzenden bei den Anmeldung akzeptiert wurden, steht zu lesen: "Wir können Informationen über dich, welche wir aus anderen Quellen sammeln, zusätzlich zu denen in deinem Profil verwenden." Diese Informationen können "unter anderem aus Zeitungen und Internetquellen wie Blogs, Instant Messaging-Diensten" stammen.

Wie bitte? - Wozu?

Um Geld zu verdienen, lautet eine naheliegende Antwort. Facebook arbeitet daran, die Personalisierung der Werbung, sogenanntes Targeting, zu perfektionieren. Umso mehr über einen Benutzer bekannt ist, umso gezielter kann er mit Werbeanzeigen versorgt werden, die ihn ansprechen. So sieht im Optimalfall eine Amerikanerin, die Michael Jackson unter "favourite music" angibt, Werbung für dessen neuste Greatest Hits Scheibe in US-Edition, während auf der anderen Seite der Welt eine Schweizerin per Privatnachricht einen Ausflug in den Europa Park plant und folgerichtig Busfahrten von Zürich nach Rust angeboten bekommt.

Der erste, der das Potential von Facebook erkannt und Geld investiert hat, war der geborene Frankfurter Peter Thiel, einst Philosophiestudent, dann Mitarbeiter der Credit Suisse und heute einer der gefeiertsten Hedge-Fond Manager der Welt. Thiel ist mehr als ein Geschäftsmann, er ist Visionär. Unter anderem investiert er in die Entwicklung künstlicher Intelligenz und spendete 3.5 Millionen Dollar an eine Forschungsstiftung von Aubrey de Grey, dessen Ziel es ist, in 25 bis 30 Jahren genug über den menschlichen Alterungsprozesses zu wissen, um diesen aufhalten zu können. Thiel ist mit 7 Prozent der grösste Anteilseigner bei Facebook neben Gründer Zuckerberg 30 Prozent). Der Riese Microsoft hat im Vergleich dazu mit seinen 1.6 Prozent, die er im Oktober 2007 für 240 Millionen Dollar erworben hat, wenig mitzureden.

Ein weiterer früher Investor war eine Firma namens Greylock Venture Kapital. Zu deren Vorstand gehört Howard Cox, der gleichzeitig auch in der Geschäftsführung von In-Q-Tel sitzt. In-Q-Tel wiederum ist eine Investmentfirma, die von der CIA gegründet wurde. Ihr Auftrag ist, die Central Intelligence Agency auf dem neusten Stand der Technik zu halten, in dem sie in hight-tech Unternehmen investiert und deren Wissen abschöpft (so wird angeblich als Resultat dieser Bemühungen der Algorithmus, den Amazon für seine Büchersuche entwickelt hat, vom CIA eingesetzt, um aus grossen Datenmengen relevante Informationen herauszufiltern).

Auch Facebook ist ein Projekt der CIA und wurde erschaffen, um die BürgerInnen auszuspionieren, folgern VerschwörungstheoretikerInnen. Ein weiteres Indiz entdecken sie darin, dass Zuckerberg Übernahmeangebote in Milliardenhöhe, unter anderem von Yahoo und Google, konsequent ablehnt. "Mich interessiert vor allem Wachstum", hat er in einem Interview mit dem deutschen Magazin GQ erklärt.

Der Datenschutzbeauftragte der Schweiz, der über den Verdacht, ein Verschwörungstheoretiker zu sein, weitgehend erhaben ist, schreibt über Facebook und vergleichbare Dienste: "Inzwischen ist klar, dass sehr viele Akteure - vom Arbeitgeber bis zu den Geheimdiensten - diese immer üppiger sprudelnde Informationsquelle für ihre Zwecke nutzen." Als Gegenmassnahme empfiehlt er, Pseudonyme zu verwenden und auf die Angabe von Adressen oder Telefonnummern zu verzichten.

Auch Shin Bet, der israelischen Inlandsgeheimdienst, warnt die Bevölkerung davor, persönliche Daten im Internet preiszugeben. Nach ihrer Erklärung durchkämmen islamistische Terrororganisationen Facebook nach verwertbaren Informationen, unter anderem bei der Vorbereitung von Entführungen.

Zurück nach Europa: Aktuellen Berichten zufolge haben schwedische Hacker, die unter dem Namen "Control your info" operieren, in den letzten Tagen hunderte von Facebook-Gruppen übernommen und deren Profilfoto gegen ihr Logo eingetauscht. Sie machen zudem in einem Text darauf aufmerksam, dass es immer Wege gibt, an Daten zu kommen und diese zu manipulieren, sobald sie auf einem vernetzten Computer liegen.

Es ist unklar, wie und in welchem Umfang Facebook freiwillig Informationen an Wirtschaft und Behörden weitergibt. Nach eigenen Erklärungen geschieht dies ausschliesslich anonymisiert, also ohne, dass auf Einzelpersonen geschlossen werden könnte.

Wer verhindern will, dass Informationen über ihn oder sie von Regierungen und Wirtschaft ausgewertet werden - ob anonymisiert oder nicht - bleibt dieser schönen neuen Welt also besser fern oder verzichtet immerhin auf persönliche Angaben.

Der taktische Rückzug ist schwieriger: Zwar bietet Facebook heute die Möglichkeit, das eigene Benutzerprofil zu löschen, nicht aber ohne Hinweis in den Datenschutzbestimmungen, dass gewisse Informationen "unter Umständen" weiterhin aufbewahrt werden können.

Mark Zuckerberg zählt mich leider nicht zu seinen Freunden. Wenn ich seinen Namen auf Facebook eingebe, sehe ich also nur sein Profilfoto und eine Liste mit den Namen und Gesichtern seiner 896 Bekanntschaften. Ich glaube zu wissen, was für ein Zitat ich in Zuckerbergs Profil unter "favourite quotations" finden würde: "Knowledge is power".

- HARRY V. -

Raute

Ballenberg

ERHALT DES NATIONALEN KULTURERBES

Im Ballenberg bei Brienz werden mit zweihundertjährigen Gegenständen die alten Zeiten nachgestellt. Ein Zivildienstler erzählt über seine archivarische Tätigkeit und schrecklich nostalgische BesucherInnen.


Irgendwann, früher, es ist schon einen ganze Weile her, als Kind, ich habe noch einige wage Erinnerungen daran, war ich einmal auf dem Ballenberg. Ich kann mich irgendwie noch an Häuser mit steilen Treppen, an Käsekessel, an Schafe und Schweine und an im Rauch aufgehängte Würste erinnern. Vor etwa einem Jahr, bei der Planung meines diesjährigen Zivildiensteinsatzes, sind diese fernen Erinnerungen in mir plötzlich aus unerklärlichen Gründen wieder wach geworden. So ist es gekommen: Ich leiste in diesem Jahr nach Pflichtenheft 20499 der Eidgenössischen Verordnung über den Zivildienst einen dreimonatigen Einsatz im Freilicht Museum Ballenberg in der Abteilung Wissenschaft, das heisst ich bin am Inventarisieren. Jeden Tag sitze ich vor dem Computer und erfasse Gegenstände, welche der Stiftung geschenkt, verkauft oder hinterlassen worden sind. Jeden Tag befasse ich mich mit Tassen, Tellern, Treicheln oder Glocken, Pflügen, Fliegengläsern sowie Eggen, Sicheln und Sensen. Ich untersuche die zahlreichen Varianten von Milchschöpfern oder Biscuitdosen bis hin zu Röstischüsseln. Ja, seit Tagen in sitze ich in einem kleinen Büro am Ende einer übervollen Lagerhalle, damit beschäftigt, Objekte in die Sammlung der Stiftung aufzunehmen. Gegenstand für Gegenstand. Ich putze sie, natürlich fachgerecht mit einem Mikrofaserlumpen, gebe alle mir zur Verfügung stehenden Informationen sachgemäss ins File Maker Inventarisierungsprogramm ein, ordne sie wissenschaftlich, wie es sich nach dem Klassifikationssytem für Sachgüter kulturhistorischer Museen Walter Trachslers gehört, in Sachgruppen ein. Ich fotografiere sie in einer Frontalperspektive, ich gebe ihnen eine Inventarnummer und stelle sie schlussendlich an einen für den Gegenstand vorgesehenen Standort im Lager.

Der Ballenberg ist ein Ausflugsziel für Schweizerinnen und Schweizer, die sich vor Augen führen wollen, wie unsere Vorfahren vor hundert oder zweihundert oder gar dreihundert Jahren gelebt haben. "Auf dem Ballenberg ist die Schweiz so, wie sie einmal war", jedenfalls heisst es im Prospekt. Über hundert Häuser wurden aus allen Landesteilen her auf einen Hügel oberhalb von Brienz platziert und authentisch eingerichtet. Tonnenweise Material aus vergangener Zeit wird in Lagerhallen, Estrichen, Depots aufbewahrt. Unser Kulturgut, das Erbe unserer Vorfahren - moderner ausgedrückt unser Cultural Heritage - wird hier eingemottet und erhalten. Ausgestellt. Konserviert. Der Ballenberg... 300.000 Leute haben ihn - wie neulich dem "Blick am Abend" zu entnehmen war - im 2009 besucht: Familien, RentnerInnen, Schulklassen, Firmenausflügler. Ein Ort für kulturell Interessierte, für Lehrkräfte, für NostalgikerInnen, für Patrioten, für SammlerInnen und Sachguterhaltungsinteressierte. Es ist für alle etwas da. Schaut, Kinder, so haben die Leute früher gewohnt. So haben sie gewaschen, und da, auf solchen Betten, haben sie geschlafen. Ach, war das Leben schön ohne Computer und Handy, ohne Werbung und den ganzen Luxus, als man noch einfach aber bewusst lebte und mit wenig zufrieden war. Findet man nicht in der bäuerlichen Tradition, im schlichten und einfachen ländlichen Leben unsere wahren Schweizer Werte, unsere nationale Identität? Wilhelm Tell und Helvetia haben einst so wie auf dem Ballenberg gelebt! Vom Flugplatz, ganz in der Nähe starten auch etwa sechsmal täglich die F/A 18, und es hat einen Cervelatbrätliplatz.

Der Erhalt von Sachgütern ist eine der ersten Prioritäten der Stiftung Ballenberg. Sicherung, Erhaltung und Vermittlung von typischen Gebäuden und deren Ausstattung mit authentischen Einrichtungen, Möbeln, Gerätschaften und Werkzeugen. Wie man so schön sagt: Erhalt unsres nationalen Erbes. It's Heritage! Heritage... welch modisch klingendes Wort. Mittlerweile wird doch fast jede Kuhweide zum Worldheritage deklariert. Im Ballenberg sind wir Erben von alten Stein- und Holzhäusern, von Pfannen und Trichtern, von Langenthal-Trachtentellern, von Heurechen, Maggi-Blechdosen, Blutendherz-Mariae-Lithografien und vielem, vielem mehr. Alles schön nummeriert und Sachgruppen zugeordnet.

- DIMU -

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ARCHIVTIPPS II: AUSFLUGSZIELE FÜR WINTERTAGE

Schweizerisches Sozialarchiv in Zürich
Den sozialen Wandel dokumentieren! Fokussiert seit der Gründung im Jahr 1906 auf die so genannten sozialen Fragen, die sozialen Bewegungen und den gesellschaftlichen Wandel. Dokumentiert Themen wie Arbeiterbewegung, Sozialismus, Kommunismus und Sozialpolitik. Umfangreiche Sammlung insbesondere auch an Flugblättern, Plakaten und Bilddokumenten. Beliebter Lesesaal, welcher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrfach Treffpunkt für politische Flüchtlinge aus verschiednen Teilen Europas war.

Adresse: Stadelhoferstrasse 12, 8001 Zürich.
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 10.00 bis 19.30 Uhr, Samstag 11.00 bis 16.00 Uhr, Führungen nach Vereinbarung.
→ http://www.sozialarchiv.ch


Gosteli-Archiv in Worblaufen bei Bern
Das Frauenarchiv schlechthin! Im Archiv zur Geschichte der Schweizerischen Frauenbewegung gibt es die Quellen der Frauengeschichte zu sehen. In einer umfangreichen Bibliothek mit grossem Broschürenbestand werden hier seit 25 Jahren gezielt die Materialien von Frauenorganisationen, Frauenverbänden und einzelnen Frauen aus der Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur und Gesellschaft aufgewahrt. Neben der Forschung steht das Archiv ausdrücklich auch allen interessierten Organisationen und Einzelpersonen offen. Herzlicher und persönlicher Empfang.

Adresse: Altikofenstrasse 186, 3048 Worblaufen.
Öffnungszeiten und Führungen nach Vereinbarung.
→ http:/Jwww.gosteli-foundation.ch/


Archiv für Zeitgeschichte in Zürich
Wider das Vergessen! Fördert die Erforschung der schweizerischen Zeitgeschichte im europäischen und globalen Kontext und führt besondere Dokumentationsstellen für Jüdische Zeitgeschichte und Holocaust, für Wirtschafts- und Aussenwirtschaftsgeschichte sowie für die Epoche des Kalten Kriegs. Die Bestände reichen vom Ersten Weltkrieg bis heute. Thematische Schwerpunkte des Archivs bilden zudem Sicherheitspolitik, Flüchtlingspolitik, Emigration und Rechtsextremismus. An öffentlichen Kolloquien und Vorträgen vermitteln ZeitzeugInnen oral history.

Adresse: Hirschengraben 62 in 8092 Zürich.
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag von 9.00 bis 17.00 Uhr.
→ http://www.afz.ethz.ch


CIRA in Lausanne
Auch Anarchismus will archiviert sein! Das Centre International de Recherches sur l'Anarchisme (CIRA) sammelt seit 1957 Dokumente über die anarchistische Bewegung, ihre Geschichte und Ideen, dies in allen Sprachen und aus der weiten Welt. Neben Büchern und Zeitschriften gibt es hier Flugblätter, Plakate, Fotos und Ton- und Bildaufnahmen zu sehen und Neuigkeiten aus der internationalen anarchistischen Bewegung zu erfahren. Bibliothekskatalog und Teile des Archivbestandes sind auf der Internetseite von CIRA abrufbar. CIRA lebt von Freiwilligenarbeit.

Adresse: Avenue de Beaumont 24, 1012 Lausanne.
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag von 16.00 bis 19.00 Uhr oder nach Vereinbarung (auch samstags).
→ http://www.cira.ch/


Nationalbibliothek in Bern
Das 58 Kilometer lange Kulturerbe der Schweiz! Was vor gut hundert Jahren noch in einer Vierzimmerwohnung in Bern Platz fand, füllt heute riesige Tiefmagazine. Die Nationalbibliothek hat zum Auftrag, das schriftliche Kulturerbe der Schweiz seit der Gründung des Bundesstaates 1848 zu sammeln und zu erhalten. In der Helvetica-Sammlung wird archiviert, was "zum besseren Verständnis der Schweiz und der Schweizer Bevölkerung" beiträgt, wozu neben Büchern und Zeitungen auch geographische Karten, Musiknoten, Manuskripte, Ansichtskarten, elektronische Publikationen und auch das megafon gehören.

Adresse: Hallwylstrasse 15, 3006 Bern.
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag von 9.00 bis 18.00 Uhr, mittwochs bis 20.00 Uhr, Samstag von 9.00 bis 14.00 Uhr
→ http://www.nb.admin.ch/

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Lö Trösenbecks Selbstversuch: Anarchiv

VON FERNSEHTÜRMEN, WEIHNACHTSGESCHENKPAPIER UND DEM ATOMBOMBENSCHUTZ IN DER WUNDERBAREN WELT DER ARCHIVE

Wer fragt sich nicht oft, wie schütze ich mich vor der Atombombe, vor Pornografie oder vor dem Kommunismus? Wer wäre nicht überglücklich, Antworten auf diese existentiellen Fragen mit ein paar wenigen Mausklicks zu finden? Genau zu diesem Überglück verhelfen, möchte an dieser Stelle Professor Lö Trösenbeck.


Die archaischste alter Überlebensstrategien ist das Sammeln und Jagen. JägerInnen und Sammler sind die Gründerväter und Urmütter aller Archive. Lö Trösenbeck wollte schon von Kindsbein an zu dieser Sippe gehören und beschloss an einem sonnigen schulfreien Mittwochnachmittag irgendwann Mitte der 1980er-Jahre, eine Schlüsselanhängersammlung zu beginnen. In der damals von ihm selber herausgebrachten Familienzeitung rief er sämtliche Onkel und Tanten zur Jagd auf. Die Folge, noch heute, ein Vierteljahrhundert später, erhält Lö Trösenbeck von seinen Tanten und Onkeln Schlüsselanhänger aus den schönsten Feriendestinationen der Welt. Bemerkenswert ist, Schlüsselanhänger, so schön sie auch sein können, entfachten schon wenige Wochen nach dem Sammelaufruf kein emotionales Feuer mehr im Herzendes Trösenbeck. Er wechselte fortan ungefähr einmal pro Jahr seine Jagdleidenschaft. Erst kam das Sammeln der "Jahreshitparade DRS 3" auf Kassette, dicht gefolgt von Kassetten mit Aufzeichnungen der Sendung "Sounds" des gleichen Senders, danach Alben der Gruppe Fink Floyd, später Alben der Gruppe Dead Kennedys, noch später Alben des James Last Orchestra, bis hin zur aktuellen Leidenschaft, dem Sammeln von Fernsehtürmen dieser Welt.

Fernsehtürme dieser Welt sind oft Ausdruck des lokalen Grössenwahns. Meistens werden sie mit irgend einer absurden Superlative angepriesen. Der Fernsehturm von Auckland, Neuseeland, zum Beispiel wird als der grösste Fernsehturm der südpazifischen Region verkauft. Die Aussichtsplattform ist mit einem Glasboden ausgestattet und führt zu einem herrlichen Unbehagen. Gerade deshalb ist die Reise ans andere Ende der Welt sehr lohnenswert, nicht aber wenn man Fernsehtürme sucht. Lö Trösenbecks Suche nach vergleichbaren Türmen führte zum Schluss, es gab nur einen einzigen Fernsehturm im südpazifischen Raum, nämlich den Turm von Auckland. Ein anderes Beispiel: Auf dem Platz vor dem Fernsehturm von Kuala Lumpur sind Fernsehtürme aus der ganzen Welt zum Vergleich eingemeisselt. Auffallend dabei, keiner der Fernsehtürme der Welt ist höher als der malaysische Turm. Die weitaus höheren Fernsehtürme von Moskau oder von Toronto werden verschwiegen, dafür ist der Fernsehturm von Basel eingraviert: 250 Meter hoch.

Das Problem beim Sammeln von Fernsehtürmen ist die Grösse. Sogar der mickerige Basler Fernsehturm passt nicht so leicht ins Trösenbeck'sche Anarchiv der Sammelwut. Gesammelt werden können nur Fotos und Eindrücke im Gedächtnis, was wiederum punkto Entsorgung sehr praktisch ist, falls das Sammelfeuer eines Tages erlöschen sollte. So ist die Entsorgungsfrage beim Tilgen einer Schlüsselanhängersammlung besonders problematisch: ein umweltbewusster Mensch wie Herr Trösenbeck muss die Schlüsselanhänger jeweils in Dutzende von Teilen zerlegen, damit er sie beim Entsorgungshof korrekt entsorgen kann. Zum Beispiel der Peepshow-Schlüsselanhänger aus der Tischbombe der Silvesterferien in Adelboden anno 1985 besteht aus Plastik (Peepshow-Fernsehkasten kommt in den regulären Kehricht), Papier (die Miniaturbilder von leichtbekleideten Damen gehören aufs Altpapier) und Metall (die Anhängevorrichtung selbst gehört aufs Altmetall, wobei sich dann noch die Frage steht, ob sie aus Alu oder Blech ist).

Gibt es Platz und haben die Sammlungen einen gewissen ideellen oder materiellen Wert, sollte der Gründung eines Archivs nichts im Wege stehen. Über Platz in einem riesigen Dachboden verfügte Trösenbecks Grossmutter. Sie sammelte Weihnachtsbaumschmuck, Weihnachtskarten, Bändel von Weihnachtsgeschenken und natürlich Weihnachtsgeschenkverpackungen. Nicht sehr weihnachtlich war die Stimmung, als Trösenbeck den Auftrag erhielt, die Sammlung seiner Grossmutter nach deren Ableben aufzulösen. Er erhielt zwar im Gegenzug das Wohnrecht im Hause der Grossmutter und hatte auch ein bisschen Hoffnung, im Weihnachtsarchiv eine Goldvreneli-Sammlung zu entdecken, aber am Schluss blieb nur Staub. Halt! Er schaffte es immerhin, das Leben der verstorbenen Grossmutter ein wenig zu verlängern. Eine befreundete Illustratorin fabrizierte regelmässig Collagen aus Papierschnipseln für eine Schweizer Modezeitschrift. Sie freute sich riesig über die Weihnachtsgeschenkverpackungssammlung. Noch Jahre danach entdeckte Lö Trösenbeck, wenn er in den Wartesälen der Welt zuweilen im Blatt "Schöne Anna" blätterte, Erinnerungsstücke an die frohen Weihnachtstunden seiner Kindheit.

Für Sammler und JägerInnen, welche weder über einen geräumigen Dachstock noch über eine Ecke im Layout einer Modezeitschrift verfügen, welche Gesammeltes und Gejagtes nicht zerlegen und entsorgen, sondern die ganze Welt mit ihren Archiven erfreuen wollen, gibt es das weltweite Web. Rick Prelinger ist so ein Jäger und Sammler, der eine merkwürdige Filmsammlung angelegt hat. Es handelt ich hierbei um so genannte "ephemeral films", kurzlebige Filme. Dank Mister Prelinger sind diese meist amerikanischen Auftragsdokumentar-, Erziehungs-, Werbe- und Amateurfilme auf einmal sehr langlebig geworden. Etwa 2000 dieser Filme werden auf der wunderbaren Internet-Archiv-Seite www.archive.org zum Download angeboten. Da diese audio-visuellen Trouvaillen entweder der "Public Domain"- oder der "Creative Commons"-Lizenz unterstellt sind, dürfen sie von der ganzen Welt gebraucht und missbraucht werden, ohne dass dabei Urheberrechte verletzt werden. Lö Trösenbeck verbringt seit der Entdeckung dieser Archive kaum mehr Zeit bei seinen Fernsehtürmen, sondern entdeckt auf einmal das, was einst von den Fernsehtürmen in die Welt gesendet wurde. Dort hat er auch Antworten auf die anfangs gestellten Fragen gefunden: Vor der Atombombe schützt man sich, indem man sich duckt und bedeckt ("duck & cover"), wobei es von grossem Vorteil ist, eine Pic-Nic-Decke in Griffnähe zu haben (http://www.archive.org/details/DucklandC1951). Gegen Kommunismus hilft das Streben nach spirituellem Wachstum (http://www.archive.org/details/Responsi1955). Pornografie beugt man vor, indem man die Zeitschriftenauswahl der lokalen Coiffeursalons regelmässig kontrolliert und bei Verdacht auf Pornografie sofort die Polizei alarmiert (http://www.archive.org/details/Perversi1965 und http://www.archive.org/details/Perversi1965_2).

Lö Trösenbeck empfiehlt, letztgenannte Empfehlung nur zu befolgen, wenn die Pornografie nicht aus Schnipseln von Weihnachtspapier hergestellt wurde. Ob Fernsehtürme pornografisch sind, soll hier nicht weiter erläutert werden. Hauptsache, das Feuer der Sammellust brennt und die Welt wird um ein A(na)rchiv reicher.

- LÖ TRÖSENBECK -

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INNENLAND

Über Linke, die Klasse und Veränderung

ALLES LIEGT IN WEITER FERNE, ALLES LIEGT IN UNSEREN HÄNDEN

Die Schweiz im Jahr 2009, was liegt da eigentlich noch drin, nur noch böse Abrechnungen oder doch noch etwas anderes, irgendwie, irgendwo, nicht die alten Parolen, sondern wirkliche Veränderung?...


"Es gibt ein Problem. Bitte verlasst alle rasch, aber ruhig den Raum!" Etwa so Lautete die Durchsage an jenem Samstagabend. Es war der 4. August 2007, das 2. Antifafestival in der Reitschule in Bern, "Oi Polloi" verbreiteten gute Laune. Und dann kam eben dieser Brandanschlag, der glücklicherweise vereitelt werden konnte. "Die Flamme schoss etwa 4-5 Meter in die Höhe und der sich dabei gebildete Feuerball hatte ca. einen Durchmesser von 9 Metern": das wurde erst einige Tage später bekannt, und es machte den Zustand des Schocks nicht kleiner.

Die kollektive Reaktion nach dem Anschlag zeigte aufs deutlichste die Depression, in der sich die radikale Linke befindet. Fassungslos und ohnmächtig standen wir auf dem Vorplatz der Reitschule. Es war zum Heulen, es war zum Kotzen. Jemand hatte versucht, an einem linken Fest Leute umzubringen. Ein Terroranschlag. Auf uns. Zum Glück konnte der Rucksack mit den Brandsätzen aus der Halle gebracht werden, bevor er zündete. Wir standen so da auf dem Vorplatz und wussten nicht was tun, wir waren nicht aufgebracht oder zornig, einmütig und entschlossen unser Leben, unsere Gemeinschaften und unsere Räume gegen alle Aggressionen zu verteidigen. Nein, wir waren zerstritten, jede reagierte für sich, wir fühlten uns schwach und zerbrechlich. Als hätte jemand Kübel mit Scheisse über unseren Köpfen ausgeleert. So standen wir da und taten: effektiv nichts! Nach und nach hielten es die Leute nicht mehr aus und gingen nach Hause. Am Wochenende darauf gab es dann diese Demo, die jedoch nur "Irgendetwas-muss-man-ja-tun"-Charakter hatte.


Orientierungslos

Ich beschuldige niemanden. Es ist eben so gelaufen. Ganz allgemein ist die radikale Linke orientierungslos und ohne Verstellung darüber, was zu tun ist. Seit die Antiglobalisierungsbewegung 2004 in Landquart niedergemacht worden ist, gab es in der Schweiz nie mehr eine grössere Protestbewegung. Bis heute laufen zwar immer wieder vielversprechende Kampagnen und Einzelproteste. Aber das reicht nicht! Seit fünf Jahren dümpelt es vor sich hin, ständig hat man das Gefühl: "Jetzt ist dann gleich ganz fertig damit." Da hat auch die Wirtschaftskrise nichts geändert. "Es gab ein Fenster von etwa drei Monaten, da wäre es günstig gewesen", meinte einmal jemand bezüglich Wirtschaftskrise und politischer Intervention. Und? Erstens liegt dieses "window of opportunity" auch schon wieder ein Jahr zurück und zweitens hat die Krise in der Schweiz bezüglich kollektivem Widerstand bislang sowieso zu nichts Nennenswertem geführt.

Nennenswert heisst hier: Kollektive, öffentliche Kämpfe, die sich verbreitern und verbinden, die etwas entstehen lassen, eine neue Gemeinschaft, die sich formt, um die Gesellschaft zu formen. Etwas, das zumindest den Hauch dessen enthalten würde, was in Honduras im Kampf gegen den Militärputsch zum Vorschein gekommen ist. Wirkliche Kämpfe, Vehemenz, Einfallsreichtum und viel Solidarität. So etwas könnte die verkrustete Scheisse aus Trillerpfeifen-Lärm und Bratwurstfett vielleicht aufbrechen. Nennenswert, etwas Richtiges, etwas Hoffnungsvolles, Tränen, Wutausbrüche, der Verzweiflung Luft verschaffen, der Hoffnung Ausdruck geben, weinen, schreien, das Gegenüber wirklich wahrnehmen, mit ihm zusammen aufbrechen, um die Dinge zu formen, Mut schöpfen, Mut gegen Hindernisse anzutreten und sich die Arme fallen, wenn sie überwunden sind, sich trösten, wenn es scheitert. Und nicht mehr so wie jetzt! Nicht mehr jeder für sich allein, nicht mehr sich damit abfinden, nicht mehr Angst haben, nicht mehr sich durchschlängeln, nicht mehr wegschauen, nicht mehr sich schämen, nicht mehr altes hinunterschlucken, nicht mehr allein sein. Nie mehr! Nie mehr allein!

Doch wer soll das sein, wer ist dieses "Neue", das es wert ist, genannt zu werden? Irgendwer? Ein loser Haufen, alleine verbunden durch einen politischen Willen? Oder doch die Arbeiterklasse? Und wer ist das überhaupt: die Arbeiterklasse? Die Ungläubigen, die es zu bekehren gilt? "Steht auf! Kämpft!" Oder was? Weshalb sollten sie, die ArbeiterInnen? Sind wir in einem schlechten Film, wo die Sünderin zur Einsicht kommt? Hat "Einsicht" je die Welt verändert? Solange alles bequem erscheint, solange das, was unabänderlich erscheint, solange die innere Struktur der Klassenbeziehungen sich gleich bleibt, bleibt sich auch die Trägheit der "Leute" gleich. Sie wollen nicht hören, sie wollen das Geplapper und Geschreibsel sämtlicher Politgrüppli nicht hören!


Der kleine Junge

Sie wollen nicht hören, sie bleiben allein. Warten. Niemand kommt, niemand hört zu. Der kleine Junge weint sich in den Schlaf. Niemand kommt, um ihn zu trösten. Vielleicht für immer, vielleicht aber eines Nachts sind Stimmen zu hören. Draussen. Stimmen, die locken, süss und geborgen. Und der kleine Junge reibt sich die Augen, steht auf, geht zum Fenster und sieht andere kleine Jungen und Mädchen, die lachen, singen und tanzen und durch die Strassen ziehen, und er hebt seinen Blick und sieht sie wie er an den Fenstern stehen, kleine Mädchen und Jungen. Und er winkt ihnen zu, und sie winken zurück. Und alle winken und lachen.


Die glücklichen Inseln

­... Hoffnungen und Wünsche, hoffen auf Veränderung. Doch was soll man tun ? Die Mehrzahl der radikalen Linken glaubt, es genau zu wissen und meint, die vermeintliche Einsicht und Erkenntnis lauthals herausposaunen zu müssen. Je schärfer die Zurückweisung der Verhältnisse, umso wahrhaftiger ist die Kritik und umso grösser ist die Ablehnung durch eben diejenigen, die man zu überzeugen versucht. Fundamentalkritik an der Gesellschaft erscheint vielen als Angriff auf ihre individuellen psychologischen Überlebenstechniken. Der Aufspaltung zusammengehörender Lebensbereiche in äusserlich entgegengesetze Subsysteme setzen viele Menschen ihre eigene Aufspaltung des Lebens entgegen, trennen für sie Positives von Negativem. Der Verminderung der Kontroll- und Erkenntnismöglichkeiten der Umwelt setzen viele im Alltag eine individuelle Aneignung von Fähigkeiten und Wissen entgegen, um für sich ein gewisses Niveau an Geltung, Selbstvertrauen, Sinnhaftigkeit und selbstgeschaffener Identität zu erreichen. Der wöchentliche Spaziergang, der Konzertbesuch am Samstag, die Witze der ArbeitskollegInnen, das Herumhängen mit der Clique, Musik machen, das Bearbeiten eines Gartens, Kaffeehausgespräche,... Glücksmomente erfüllen ihren Charakter nur, wenn sie von belastenden Zeitabschnitten und Orten getrennt werden. Die Glücksmomente sind den Menschen kostbar, oft sind sie das einzige, was sie haben. Fundamentalkritik an den gegenwärtigen Verhältnissen muss aus dieser Warte unbedingt zurückgewiesen werden. Alles in Frage zu stellen, würde auch heissen, eben dieses kleine Glück in Frage zu stellen. "Wer sagt, dass es eine 'bessere Welt' wirklich geben kann? Und was ist, wenn dann alles, was jetzt noch gut ist, auf der Strecke bleibt, wenn es nach hinten losgeht?"

In der elektronischen Gesellschaft muss der Mensch fast zwangsläufig zu einem "Sucher" werden. Seine Utopie ist die "glückliche Insel", die Oase in der Wüste, eine Nische, in der man geborgen ist und seinen Frieden hat. Deshalb muss die Sucherin immer für sie Gutes von Schlechtem trennen, um nicht in das Nichts, in ohnmächtige Leere abzustürzen. Die Angst vor dem Kummer für den es keinen Trost gibt. Wir sind alle ein bisschen so. "Mir geht es gut", heisst, "meine Nische ist sicher und gibt mir Geborgenheit und deshalb bin ich irgendwie glücklich."

Diesen Seelenmechanismus anzugreifen, nützt nichts. Denn er hält die Menschen am Leben, er hat seine volle Berechtigung. Dass das kleine Glück nach dem grossen schreit, wissen die meisten bereits von selbst. Wenn die Oase ein Paradies sein soll, so kann auch die ganze Welt eines sein. Die Vorstellung einer besseren Existenz tendiert dazu, örtliche und zeitliche Begrenzungen aufzusprengen und sich zu einer universellen Utopie eines "besseren Weltganzen" zu transformieren. Umgekehrt verhält es sich auf politisch-reeller Ebene: das Elend der Welt flutet immer wieder zurück, auch im bestgehüteten Oasen-Paradies. Die faktische Mangelhaftigkeit des Daseins tendiert dazu, alles und jeden immer wieder einzuholen. Am Ende ist es wie gehabt: Die Sucherin muss zur Rebellin werden, um ihr Vorhaben zu einem dauerhaften Ende zu bringen. Nur die komplette Umwälzung und Neuformung der menschlichen Zivilisation kann die urmenschlichen Wünsche nach einer glücklichen Existenz einlösen.

Aber wie kommt es zu diesem Übergang? Wer vollbringt ihn? Was heisst das für uns hier und jetzt? Sich mit der Beantwortung dieser Fragen als überfordert zu erklären, bringt eigentlich nichts. Schliesslich stellen sie sich ja doch immer wieder. Der Wunsch, "es sollte sich ändern, ich möchte, dass es anders ist", und die Antwort, "es ist unmöglich", hat nur die Wiederholung desselben Wunsches zur Folge, der nur erfüllt werden kann, wenn es eben anders wird.


Neuzusammensetzung, Untersuchung, Nischen

Ich sehe drei Handlungsmöglichkeiten, die Sinn ergeben. Die erste ist, die oben aufgeworfenen Wünsche und Fragen zu unterdrücken. Die zweite besteht darin zu warten und die Aufmerksamkeit anderen Weltgegenden zuzuwenden, wo sich politisch mehr tut. Die dritte erfordert ein Umdenken bezüglich der bisherigen politischen Aktivitäten und die Anerkennung, dass nennenswerter Widerstand nur dann möglich wird, wenn sich Segmente der real existierenden Arbeiterklasse sich politisch neu zusammensetzen, um ihre Interessen als Unterklasse effektiv durchsetzen zu können. Die Arbeiterklasse, wie sie sich die meisten Linken vorstellen, gibt es nicht. Sie ist technisch, sozial, geschlechtsspezifisch und kulturell aufgespalten, das heisst sie existiert politisch gar nicht. Nur eine Neuzusammensetzung innerhalb der Arbeiterklasse kann dies ändern. Nur neue Gemeinschaften können neue Kämpfe hervorbringen. Nur RebellInnen können die Welt verändern.

Die Entstehung neuer solidarischer Gemeinschaften kann erstmal nur untersucht werden, je mehr wir darüber wissen, umso besser, auch wenn wir "nur" herausfinden, auf welche Weise die Klasse gespalten ist. Während wir untersuchen, Fragen stellen, Beobachtungen vornehmen, Informationen zusammentragen, treten wir in einen Austausch mit "den Leuten", wir nehmen etwas von ihnen an, anerkennen sie dadurch, bekommen einen Bezug zu ihnen. Wir müssen lernen, Fragen zu stellen und erst viel später danach Antworten formulieren. Die Intervention ist nachrangig, schon allein weil wir ohne Untersuchung und Analyse keine Anhaltspunkte haben und zwangsläufig ziellos handeln.

Wir sagen, "wir müssen revolutionär sein", doch guter Wille allein hilft nicht, wir sind wie alle anderen, wir verändern uns nur zusammen mit den anderen, wir sind selbst die anderen, es gibt keine Revolutionäre, es gibt nur Menschen. Und so müssen wir wie alle zu uns selbst schauen. Wir müssen unsere Nischen pflegen und schützen, nicht weil es Revolutionsnischen sind, sondern weil wir den Kopf hochhalten müssen, wir müssen uns und unsere Nischen pflegen und schützen vor Verletzungen, vor dem Abgleiten bewahren, und manchmal müssen wir auch neue Nischen suchen. Doch vor allem müssen unsere Nischen warm und gemütlich sein, denn draussen ist es kalt.

- RPHL -

Raute

NEUE AKTIONSFORMEN GEGEN RESTRIKTIVE MIGRATIONSPOLITIK

Dritte Landsgemeinde der MigrantInnen und Flüchtlinge am 13. Dezember 2009 im Mappamondo, Länggassstrasse 44, Bern.

Nach den erfolgreichen Landsgemeinden in den Jahren 2005 und 2007 lädt Solidarité sans frontières ein zur dritten Landsgemeinde der MigrantInnen und Flüchtlinge. Im Mittelpunkt soll dabei die Suche nach neuen Aktionsformen stehen. In den normalen politischen Auseinandersetzung mussten wir leider in den vergangenen Jahren immer wieder Niederlagen einstecken. Deshalb wollen wir uns inspirieren lassen von kreativen Formen des Widerstands, mit Beispielen aus der Schweiz, aber auch aus anderen Ländern. Unser Ziel ist es, neue Formen des Protests zu finden, damit wir auch Leute mit Vorurteilen zum Nach- und vielleicht sogar zum Umdenken anregen können.

Ein Blick auf die Geschichte der Widerstandsbewegungen im Asyl- und Migrationsbereich in der Schweiz zeigt, dass es unterschiedliche Aktionsformen gab. Einige haben sich als effektiv erwiesen: Unabhängige Kämpfe, im richtigen Moment und während einer beschränkten Zeitdauer. Andere Formen, so zum Beispiel Abstimmungskampagnen, erwiesen sich als weniger effektiv.

In der dritten Landsgemeinde stellen wir die Frage, welche Aktionsformen wir wählen müssen, um uns Gehör zu verschaffen. Mit neuen Aktionsformen wollen wir einen Freiraum des Widerstands schaffen und wirksam werden.

Jetzt ein Zeichen! Aktionen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung

Es ist dringend nötig, dass wir darüber nachdenken, welche neuen und anderen Möglichkeiten wir haben, um gemeinsam zu einer wirklichen Kraft des Widerstands zu werden. Wir wollen in der politischen Arbeit Kreativität entwickeln und aktiv werden und nicht nur reagieren mit Opposition auf die Verschärfungspolitik der aktuellen politischen Mehrheiten.

Darum möchten wir in der Landgemeinde bereits durchgeführte Aktionen und die damit verbundenen Erfahrungen zeigen und gemeinsam Aktionsformen in Workshops erarbeiten. In einer Wanderausstellung, dem Infomarkt, beschreiben verschiedene Organisationen ihre Tätigkeitsbereiche und Aktionsformen.

Mit der Ausschreibung Jetzt ein Zeichen! suchen wir nach kreativen Aktionsformen von Einzelpersonen und Gruppen. Ideen zu Aktionen und Material von bereits durchgeführten Aktionen können vorab an Solidarité sans frontières geschickt werden. An der Landsgemeinde können die Teilnehmenden ihre Ideen dann als Rede, Film, Tonband etc. präsentieren.

- Anmeldungen und weitere Informationen zur Ausschreibung Jetzt ein Zeichen! und zur dritten Landsgemeinde der MigrantInnen und Flüchtlinge unter www.ohneuns.ch.


Das megafon hat eine zulange Produktionszeit für Tagesaktualitäten, darum in dieser Nummer, zu diesem Thema nur ein Link:
http://www.unsereuni.ch/categorv/bern

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POSTFACH

Nachtrag zum November-Megafon

SEXARBEIT* IST ARBEIT. PUNKT.

Benjamin Abt-Schiemann lebt und arbeitet in Bern und Genf, ist Prostituierter und Vizepräsident von prokore.ch, dem schweizerischen Netzwerk für die Rechte der SexarbeiterInnen. Sein Nachtrag zum Schwerpunkt "Sexarbeit" (megafon November 2009):


Sexarbeit ist Arbeit. Wer das nicht so sieht, dem/der mangelt meist an Informationen über einen doch recht komplexen Bereich des sozialen Lebens, der als Tabu gilt. Glücklich übers Schwepunktthema der letzten megafon-Ausgabe, empfand ich aber nach der Lektüre das Bedürfnis, hier auch noch meinen Beitrag nach zu liefern, um den LeserInnen ein paar wichtige Anhaltspunkte zur politischen, feministischen, menschenrechtlichen, ja philosophischen Auseinandersetzung nicht vorzuenthalten, und um ihnen somit eine Positionierung zu ermöglichen in der von Not geplagten Frage: Solidarisch oder nicht solidarisch?

Sexarbeit ist Arbeit. Dies ist die Bedingung jeglicher Solidarisierung mit Prostituierten aller Geschlechter und mit ihren Kundinnen und Kunden. Solidarisierung tut grosse Not, da überall auf der Welt die Arbeitsbedingungen aufgrund von Gesetzen und Reglementen seit Ewigkeiten von Unmenschlichkeit geprägt sind, auch in der Schweiz. Dieser historisch recht stabile Zustand droht fortzudauern, wenn nicht im Sinne der Menschenrechte gezielt gegen Verstösse angekämpft wird. Seit 1998 fordert das Internationale Arbeitsamt der Vereinten Nationen die arbeitsrechtliche Anerkennung der Sexarbeit - ein kleiner, aber ausserordentlich wichtiger Schritt. Jedoch hat sich in den letzten elf Jahren kaum eine Nation wirklich ins Zeug gelegt, um dieser Forderung nachzukommen. Der Staat sollte eigentlich grosses Interesse an der Entkriminalisierung des Sexgewerbes haben, könnte er doch soviel mehr Steuern einnehmen und verbrauchte dabei soviel weniger Steuergelder für Polizei-Einsätze. Doch wer hat schon ein Interesse daran, Menschenrechte bedingungslos auch auf sexarbeitende Menschen anzuwenden, wenn alle Umstehenden von diesem Unrecht profitieren? Die Europäische Union jedenfalls nicht. Noch weniger die USA, Russland oder China. Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz übrigens auch nicht.

Deshalb ist die Solidarisierung mit den SexarbeiterInnen und ihren KundInnen so dringend! Aufgrund fehlender Rechte fehlt es den Sexarbeitenden auch an Selbst-Organisation, an gewerkschaftlicher Strukturierung sowie an einer kampfbereiten Lobby, die ihre Anliegen gegenüber Behörden, Institutionen, Volksvertretungen und Handelskammern menschenrechtlich und arbeitsrechtlich - also gewerkschaftlich - verträte.

Sexarbeit ist Arbeit. Dies nicht anzuerkennen, führt zu groben Verletzungen der Menschenrechte. Wer Sexarbeit nicht als Arbeit anerkennt, tut dies aus rein moralischen Gründen. Sowohl fundamentalistisch-religiöse wie old-school-feministische und nicht selten sozialdemokratische Unwissende und BesserwisserInnen argumentieren immer wieder in protektionistisch unübertrefflicher Feigheit und Verklemmtheit, bald maternalistisch, bald paternalistisch. Irgendwelche Vorkommnisse werden zu heuchlerischen Unwahrheiten vermischt. Es werden zudem Gender-Klischees aufrecht erhalten, nach denen Prostituierte zu 100 Prozent Frauen und ihre ausschliesslich perversen und gewaltbereiten Freier zu 100 Prozent Männer wären. "Ach so...", befinden seit ein paar Jahren Nationen wie Norwegen und Schweden, "wir machen einfach die Freier zu Tätern und die Prostituierten zu Opfern. Diese haben zu schweigen. Opfer haben keine Stimme, man braucht sie nicht wirklich ernst zu nehmen, und schliesslich gibt es ja SozialarbeiterInnen, die ihnen zuhören, falls sie doch das Bedürfnis haben, über ihre Probleme zu sprechen. Die Täter sperren wir einfach weg, und dann haben wir alle Probleme gelöst." Seit der Einführung der KundInnen-Kriminalisierung vor zehn Jahren in Schweden, der das Bezahlen für eine sexuelle Dienstleistung zum strafrechtlichen Offizialdelikt erhob, beobachten NGOs, darunter Amnesty for Women, menschenverachtende Arbeitsbedingungen für Sexarbeitende, die mehr denn je ins Verborgene gedrängt werden, ohne jedoch per se kriminalisiert zu werden, da Sexarbeit in Schweden legal ist. Die Sozialistin Segolène Royal drohte im Falle ihrer Wahl zur französischen Präsidentin, das schwedische Modell der KundInnen-Kriminalisierung durchzusetzen. Zugegebenerweise ist Sarkozys hinterlistige Politik der versteckten SexarbeiterInnen-Kriminalisierung, welche er seit 2003 praktiziert, nicht schlechter platziert in der Hitparade der Menschenrechtsverletzungen.

Sexarbeit ist Arbeit. In allen Zweigen der Wirtschaft gibt es Ausbeutung und Gewalt. Gehen wir gemeinsam dagegen vor! Nehmen wir doch nur einmal als europäisches Beispiel: die oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen in südspanischen Orangenplantagen, worüber auch in Massenmedien in den vergangenen Jahren öfters berichtet wurde. Niemand käme auf die Idee, deswegen den Handel mit Orangen einzuschränken oder gar zu verbieten. Zugegeben, der Vergleich mit Sexarbeit ist schwierig, da es sich um eine Dienstleistung handelt. Aber deutlich wird trotz der starken Vereinfachung, dass Europa - damit meine ich den gesamten Kontinent - gewissermassen Fair-Trade-Strukturen im Sexgewerbe braucht, damit gemeinsam und strukturell gegen Ausbeutung und Gewalt vorgegangen werden kann. Sexarbeitende brauchen Rechte, um sich wehren zu können. Zwangsarbeit muss in allen Wirtschaftszweigen aufgedeckt und bekämpft werden. Es muss aber darum gehen, den Zwang abzuschaffen, nicht die Arbeit. Sogar KapitatismuskritikerInnen würden Zwang abschaffen wollen, nicht die Arbeit. Denn auch nach der - utopistischen - Abschaffung des Kapitalismus wird es weiterhin Arbeit geben, es wird weiterhin Arbeitsteilung geben. Und es wird weiterhin Sexarbeitende geben, Menschen, die sich darauf spezialisieren, ihren KundInnen ein sexuelles Erlebnis nach ihren Vorstellungen zu bieten. Zu dieser Kundschaft gehören nicht selten alte Menschen sowie geistig oder körperlich behinderte. Viele Sexarbeitende sehen es als ihre berufliche Aufgabe, auch gerade alten, behinderten, kranken, korpulenten und/oder besonders verklemmten Menschen das Gefühl des Begehrtwerdens zu vermitteln - ein wichtiges Gefühl im Sexualleben vieler lieber Menschen, die für die kurze Dauer einer Kundschaft vergessen dürfen, dass sie dafür bezahlen. EinE SexarbeiterIn hat meist viele Rollen. Für ihre KundInnen ist es manchmal eine Ersatzbeziehung, manchmal die oder der beste FreundIn, manchmal die Psychologin oder der nie dagewesene Sohn - oder einfach die zum Weinen gefundene Schulter.

Sexarbeit ist Arbeit. Wer das nicht so sieht, billigt Menschenrechtsverletzungen und fördert das Huren-Stigma aller Frauen. Gail Pheterson, Soziologin und Mitkämpferin seit den 1970ern an der Seite von Margo St-James, die im letzten megafon erwähnt wurde, hat sich dieser zentralen feministischen Frage der Stigmatisierung gewidmet in ihrem Buch "Huren-Stigma; Wie man aus Frauen Huren macht" (Verlag Galgenberg, Hamburg 1990). Im Bereich der Belletristik sind gewiss auch die "Erinnerungen einer Negerhure" (Piper Verlag) der Genferin Grisélidis Réal (1929-2005) für eine feministische oder queere Debatte anregend.


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DIE DREI KATEGORIEN DER UNEINIGEN EUROPÄISCHEN PROSTITUTIONS-POLITIK

Gewiss könnte man mehr Kategorien aufstellen. Für diesen Überblick hier will ich mich aber auf drei beschränken.

Sexarbeit ernährt alleine in der Schweiz Zigtausende ArbeiterInnen und nicht selten deren Angehörige. Seit den 1940er-Jahren ist Prostitution in diesem Land legal für Frauen, seit 1992 auch für Männer. Dennoch ist damit Prostitution nicht gänzlich entkriminalisiert. Die Schweiz gehört wie Österreich zur Kategorie der sog. reglementaristischen Länder, wo hält eben Regeln aufgestellt werden, um die als Übel empfundene Prostitution für die breiten Massen der Stimmberechtigten erträglich zu gestalten. Einen wesentlichen Schritt weiter gehen wenige Länder wie Holland oder Deutschland. Sexarbeit geniesst dort seit wenigen Jahren einen gewissen Berufsstatus und entsprechende Rechte. Diese Länder gehören zur Kategorie der totalen Entkriminalisierung. Sexarbeit soll rechtliche Anerkennung weitestgehend analog zu anderen Berufen finden. Allerdings gibt es noch zu viele Unklarheiten, so dass die Arbeitsbedingungen derzeit nicht befriedigend sind.

Diesem Trend entgegen setzt sich die grosse Mehrheit der prohibitionistischen Länder. Mit dem Ziel der Abschaffung der Prostitution - also dem sog. Abolitionismus - wird den Sexarbeitenden und ihren KundInnen das Leben zur Hölle gemacht durch gezieltes strafrechtliches Vorgehen im Bereich der Arbeitsbedingungen. Ohne die Prostitution selber grundsätzlich als illegal zu erklären, werden in diesen Ländern diverse Rahmenbedingungen kriminalisiert. In Frankreich und Italien werden die Prostituierten verfolgt, in Schweden und Norwegen die KundInnen. In beiden Fällen werden die SexarbeiterInnen in die absolute Verborgenheit gedrängt, wo sie Übergriffen umso mehr ausgesetzt sind.

Zu einer leicht anderen Kategorisierung gelangt eine soziologische Studie der Uni Genf mit dem Titel: ("Der Sexmarkt in der Schweiz; Kenntnisstand, Best Practices und Empfehlungen" (2009) von Géraldine Bugnon und Milena Chimienti:

Reglementarismus, Abolitionismus oder Prohibitionismus? Diese Begriffe bezeichnen drei politische und ideologische Hauptströmungen betreffend die Prostitution und ihre Regulierung. Der Reglementarismus entsteht im 18. Jahrhundert und widerspiegelt ein liberales Staatsverständnis, das dem Staat eine regulierende Rolle zuschreibt. In Anbetracht der gesundheitlichen und sittlichen Gefährdung ist es Aufgabe des Staates, die Ausübung der Prostitution zu überwachen und zu kontrollieren, indem er gleichzeitig eine tolerante Position gegenüber diesem Phänomen der freien Wirtschaft einnimmt. Die Prostitution wird folglich im 18. und 19. Jahrhundert aus dem Blickfeld der Bevölkerung in geschlossene Häuser verbannt und einer gesundheitspolitischen und rechtlichen Sonderbehandlung unterworfen [...]. Ab dem 19. Jahrhundert widersetzt sich die so genannte abolitionistische Bewegung dem reglementaristischen Regime und macht den stigmatisierenden Status geltend, in welchen die Prostituierten durch dieses System gezwängt werden. Die Prostitution wird als Symbol für die Unterdrückung der Frauen wahrgenommen und mit einer Form der Sklaverei gleichgesetzt, die vom Staat weder toleriert noch institutionalisiert werden darf. Ein Teil der Abolitionisten strebt einzig und allein die Aufgabe des reglementaristischen Systems an und tritt für die Freiheit der Prostituierten ein, während eine radikalere Strömung evangelischer Prägung sogar so weit geht, die Ausrottung der Prostitution zu fordern. Diese als Prohibitionismus bezeichnete Sichtweise wird hier zwar mit einer radikalen Form des Abolitionismus gleichgesetzt, sie lässt sich aber auch als eine dritte Regulationsform betrachten. Heute bilden sich die Positionen weiterhin im Spannungsfeld dieser beiden ideologischen Hauptpole (Reglementarismus gegen Abolitionismus). Dies gilt insbesondere für die feministische Bewegung, die in eine radikale und eine libertäre Strömung gespalten ist: Während sich die erste für die Abschaffung der Prostitution einsetzt, betrachtet die zweite die Prostitutionstätigkeit als eine Arbeit wie jede andere, die den darin tätigen Frauen eine potenzielle Autonomie verschafft.

- BENJAMIN ABT-SCHIEMANN -


Empfehlenswerte Lektüre im Internet:

Schweiz: prokore.ch Schweizerisches - Netzwerk von Organisationen, Projekten und Einzelpersonen, welche die Interessen der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter vertreten

Schweiz: sexwork-info.net - Ein grosser Pool von Informationen betreffend Sexarbeit und allem Drumherum, der ganz professionell von der Uni Genf (Soziologie) im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit erarbeitet wurde.

Deutschsprachig: sexworker.at - Viele Infos, gute Texte in deutscher. Sprache, mit Forum für SexarbeiterInnen, Tipps, Veranstaltungen, Diskussionen.

Europaweit: sexworkeurope.org - Das ist die europäische Vernetzung der SexarbeiterInnen-Bewegung. Viele gute Texte, Verunstaltungen usw.

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KULTUR ET ALL

COMIX

Rutu Modan
Jamilti and other stories
Verlag drawn and quarterly
2008

Rutu Modan, bekannt durch ihr mehrfach ausgezeichnetes Comic "Exit Wounds", sammelt in ihrem neuesten Buch "Jamilti and other stories" ihre früh entstandenen Kurzgeschichten. Sie beschreiben den israelischen Alltag der unerwartete Wendungen in sich birgt und deren Protagonisten seltsame Charakterzüge durchblicken lassen.

So gibt es da eine alleinerziehende Mutter, die nach ihrem Selbstmordversuch als Wunderheilerin zu arbeiten beginnt, oder die Geschichte eines jungen Musikers, der beim Versuch, erfolgreich zu werden auf seinen grössten Fan stösst. Jamilti, die titelgebende Geschichte beschreibt den Tag eines Paares in den Hochzeitsvorbereitungen, der durch ein Attentat durcheinander gebracht wird. Modan versteht es, ihren Akteuren ein zerrissenes Inneres zu geben, was symphatisch und bedrückend zugleich die LeserInnen fesselt. Mit ihrem im weitesten Sinne an Tim und Struppi erinnernden Zeichnungsstil lässt sie die Figuren hart und trotzdem lebendig erscheinen.

Modan lässt sich in ihrer Arbeit von alten Familienfotos inspirieren. Sie vergleicht die Betrachtung eines Fotos mit dem Comiczeichnen. Man sieht oder zeichnet nur einen kleinen Einblick, der Vergangenheit und Zukunft der Abgebildeten im Ungewissen lässt. Jamilti and other stories ist ein faszinierendes Buch, das auf keiner Seite an Spannung verliert und die LeserInnen mit mulmigem Gefühl zurücklässt.

- MFG -

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BUCHTIPP IM DEZEMBER

Rechter Rand und linke Strategie Autonome Nationalisten

"Die Strasse ist nun einmal das Charakteristikum der modernen Politik. Wer die Strasse erobern kann, kann auch die Masse erobern, wer die Masse erobert, der erobert damit den Staat."

Wer diese Zeilen liest, weiss dass mit dem Inhalt etwas nicht stimmen kann. Dies obwohl mit der im linken Spektrum ueblichen Retorik gesprochen und entsprechende Begriffe verwendet werden. Der Autor dieser Zeilen ist Joseph Goebbels.

Goebbels bezog sich auf den Autoren Georg Sorel. Benito Mussolini schrieb seine Abschlussarbeit über Sorel und seine Theorie der Eliten und Klassenkämpfen.

In der Zeit der zweiten Internationalen 1889-1914 wurde die Klassenkampfstrategie der revolutionären Eliten in den syndikalistischen Zusammenhängen in Frankreich verwendet. Nach Sorel ist eine Massenbewegung die Antriebskraft für geschichtliche Prozesse. An ihrer Spitze befindet sich eine kleine Gruppe, die Entwicklungen vorantreibt und damit die Masse mit sich reisst. Diese Elite ist Träger des sog. objektiven Geist. Und der mit dem Kampf erreichte Fortschritt beinhaltet u.a. den technischen Fortschritt und eine moralischen Weiterentwicklung. Sorel beschrieb die revolutionäre Gewalt und den Elan der Eliten, Mit Hilfe dieser Kräfte kann es der Bewegung gelingen die Dekadenz der bürgerlichen Welt zu überwinden.

Jahrzehnte später bezogen sich Faschisten aus Italien und Nationalsozialisten aus Deutschland auf die vorher erwähnten Schriften.

In Deutschland war in den letzten Jahren ein neues Phänomen auf der Strasse zu sehen: der schwarze Block der Autonomen Nationalisten. Die AN bediente sich der Sprache dieser Auftrittsform, um ihre militante politische Kraft zu demonstrieren und die Ablehnung jeglicher Kompromisse zu betonen. Mit dem Anschluss des "schwarzen Blocks" in die nationale Bewegung entstand ein Generationenkonflikt in der extremen Rechten.

Jürgen Peters und Christoph Schulze versuchten in ihrem schmalen Bändchen mit dem Titel "Autonome Nationalisten" zusammen mit anderen Fachpersonen ein Bild dieser neuen Gruppe innerhalb des rechten Spektrums zu entwerfen.

Der Autonome Nationalismus bezeichnet eine Agitationsform. Das heisst, die AN hat keine eigentlich neue Weltanschauung, sondern schliesst sich der Ideologie der extremen Rechten an. Die Vertreter der Gruppe definieren den Begriff Autonomie als ein Strukturprinzip, das Selbstentfaltung und ein selbstbestimmtes Leben beinhaltet.

Ziel dieser Autonomen ist ein sog. freier Nationalismus. Diesen streben sie mit Hilfe der Handlungs- und Auftrittsformen der linken Autonomen an. Dies ohne natürlich den Inhalt der Linken übernommen zu haben.

Mit dieser neuen politischen Agitationsform stehen die AN im Konflikt mit den restlichen extremen Rechten in Deutschland. Als experimentelle Jugendkultur grenzen sie sich einerseits vom bürgerlich anmutenden Auftritt der Gruppierungen und Parteien wie die NPD ab. Andererseits haben sie nicht die Selbststigmatisierung der sog. Naziskins mit ihrem Outfit und vertreten nicht deren Arbeiterethos. Im Gegenteil dazu, kommen die Mitglieder der AN aus unterschiedlichen Schichten, hören oftmals nicht mehr "Rechtsrock" sondern rechter HC, wohnen Urban und nicht auf dem Land.

Oftmals leben die Aktivisten der AN in Wohngemeinschaften, studieren oder beziehen Arbeitslosengeld und versuchen allgemein möglichst von den Strukturen des aktuellen Systems nicht erfasst zu werden. Ihr grösstenteils unauffälliges Auftreten ist ihnen dabei sehr hilfreich.

Zwischen den Tun und Handeln der Autonomen Nationalisten und ihrem Anspruch gibt es Differenzen. Sie haben kein in sich geschlossenes Konzept und verhalten sich neben einigen Grundpfeilern wie Antisemitismus, Fremdenhass und Antikapitalismus eher experimentell und provokativ. Dies zeigt das Beispiel einer rechten Demonstration, an der die AN mit roten Fahnen ausgerüstet aufmarschiert sind. Bevor es zu einer Entfernung der Gruppe aus dem Demozug kam, erklärte sich die AN. Auf der roten Fahne fehlten zwei Bildelemente: das Hackenkreuz und der weisse Kreis als Hintergrund.

Die AN hat systematische Arbeitsweise entwickelt. Sie benutzt dabei professionell das Internet, spürt politischen Gegnern nach, sammelt Information und wendet Gewalt an Sachgegenständen und Menschen an. Ihre Aktionen sind oftmals gut durchstrukturiert. Die grosse Schwäche der AN ist ihre kleine Mitgliederzahl und ihre etwas isolierte Stellung in der rechten Bewegung.

Die Autonomen Nationalisten sind ein postmoderne Version der extremen Rechten. Sie leben in einem Widerspruch: Sie beziehen sich einerseits Ideologisch auf den Nationalsozialismus. Andererseits leben sie diese Ideologie in den Formen der modernen Popkultur und der radikalen Linken aus. Die AN bedient sich teilweise der politischen Praxis der Linken, weil sie sie als attraktiv empfindet. Doch ist dabei nicht das ganze Handlungsrepetoire eingeschlossen. Nur die revolutionären Formen die entschlossen, gewaltbereit und als männlich wahrgenommen werden, nimmt der AN als Optionen auf.

Es stellt sich am Schluss die Frage, wie sinnvoll linke Aktionsformen sind, die auch von extremen Rechten wirkungsvoll angewendet und rechte Botschaften transportieren können. Gibt es nicht eine parallele Verbindung zu Sorel, der von Mussolini und Goebbels gelesen wurde und für eine die Massen anführende, gewaltbereite Elite im Klassenkampf plädiert hatte.

Die klare Antwort bedeutet NEIN! Denn erinnern wir uns an den deutschen Ursprung des schwarzen Blockes etwa in den 1980er Jahren im Umfeld Hafenstrasse. Als eine Gruppierung von Vielen - einer grossen Masse, die sich den Raum aktiv nimmt, damit die bürgerlichen, kapitalerhaltenen Rechte und Strukturen ausser Kraft setzt und mit dem Widerstand gegen die Staatsgewalt in Form der polizeilichen Repression ein Primat der Praxis schafft. Die Umsetzung des schwarzen Blockes der AN verblasst im Vergleich dazu zur reinen Aesthetik, ohne jedoch den eigentlichen Sinn des schwarzen Blockes übernommen zu haben. Das heisst Gebiete zu erschaffen, in denen ein positiver Ausnahmezustand ohne Unterdrückung umgesetzt werden kann.

- SAT -

Jürgen Peters & Christoph Schulze (Hg.):
Autonome Nationalisten. Die Modernisierung neofaschistischer Jugendkultur.
unrast transparent rechter rand ISBN 978-3-89771-101-3

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Interview mit Donat

RÜCKBLICK AUF QUEERSICHT

Zum 13ten Mal fand in Bern das lesbisch-schwule Filmfestival "Queersicht" statt. Eine neue Generationen ist angetreten und ein engagiertes Team hat sich an die Programmation und die Gestaltung der Rahmenprogramms gemacht.


megafon: An der "Queersicht" arbeiten alle gratis. Was ist deine Motivation?

Spass an der Arbeit mit dem Team, Interesse am Film und der ganzen queeren Thematik.

"Queersicht", so nennt ihr euch, im Programm fand ich aber keine Filme zum Thema "queer". Wie kommt das?

Wir können uns nicht primär nach dem ideologischen Inhalt richten, sondern lassen uns von den Filmen leiten, die wir visionieren. Diese Filme suchen wir gemeinsam zusammen. Im Unterschied zu den Kurzfilmen: Die werden bei uns eingegeben und wir wählen an die zwanzig aus, damit wir drei Kurzfilmblöcke zusammen stellen können. Dieses Jahr war es schwierig: aus den uns zugesandten Filmen ein qualitativ gutes und reichhaltiges Programm zusammen zu stellen.

Das Dokumentarfilm-Programm fand ich im Vergleich zu den Filmen sehr stark und vielfältig von der Thematik her. Stiessen diese Filme auf ein grosses Interesse?

Ja, "Bi the way" zum Thema Bisexualität war beide Male ausverkauft und lockte mehr als ein Nischenpublikum an. Ich selber, fand das Thema spannend, weil es die Szene herausfordert, sich über ihre meist neugefundene Identität in Frage stellt.

"Das grosse Tabu" über Schwule im Fussball lockte ein Querbeet-Publikum an, "City of Boarders" über Homosexuelle in Palästina und Israel ebenfalls. Einfühlsam zeigt dieser Dokfilm eine Region mit regenbogenfarbigem Leben, wie sie sonst hinter den Mauern der verfahrenen Politik verborgen bleibt. Diesen Film zu zeigen, brauchte einen extra-Effort, da die Filmrechte für das Budget von Queersicht sehr teuer waren. Da mir viel an Dokumentarfilmen liegt, war es mir/uns wichtig, sie im Programm aufzunehmen.

Für die Longue und die Party wurde von euch der Progr dem Frauenraum vorgezogen. Diese Räumen bieten ja nicht dieselbe Schönheit. Viele vermissten die Longue im Frauenraum. Was war euer Entschluss, im Progr zu veranstalten?

Der Progr bot uns die Gelegenheit mehr ins Zentrum zu rücken und besser wahrgenommen zu werden. Zudem bietet er einen niederschwelligeren Zugang als die Reitschule. Es entstand auch eine Zusammenarbeit mit Shnit, dem Kurzfilmfestival. Wir stellten am Shnit einen Queerblock zusammen, was gute Werbung für uns bedeutete. Die Zusammenarbeit mit Bee Flat erbrachte uns einen weiteren Zugang zu einem grösserem Publikum - werbetechnisch sehr interessant für uns. Die Räume der Reitschule sind wirklich wärmer, doch uns war es eben wichtig auch ausserhalb vom Frauenraum ein queeres Publikum zu bewegen. Und ja, die weniger gemütliche Longue war schon ein Thema, viele haben uns darauf hinwiesen. Wir haben es dieses Jahr aber geschafft eine etwas schönere Atmosphäre herzustellen.

Im Programmheft steht auf der dritten Seite der Willkommenstext von euch. Darin stellt ihr fest, das es immer noch blinde Flecken gibt und fragt unter anderem, wo die Szene heute steht oder ob sie gar tot ist. Ihr seid zum Glück quietschlebendig. Das freut, aber was mich irritierte war der Satz am Schluss: "God save the queers". Lasst doch Gott aus dem Spiel!

Hihi, der vordergründige Widerspruch dieses Satzes gefällt mir gut. Ich liebe Sätze wie diesen und der Positivismus der da mitschwingt.

Was ist an Gott positiv?

Nicht Gott, sondern die Queers werden in diesem Satz positiv dargestellt. Es zeigt einen der blinden Flecken der Gesellschaft.

Aha, so quasi kauft mehr rosa Brillen und schaut genauer hin. In dem Sinne "watch the queers".

[...]

An dieser Stelle haben wir das Interview abgebrochen, weil wir ins Philosophische abdrifteten... Wie auch immer Saver Sex und Freude am Leben tut allen gut.

- UVM -

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Die Archive des Scheibenmanns

SCHNEE VON GESTERN, HALBWAHRE ERINNERUNGEN

Der Scheibenmann öffnet seine Plattenkisten für euch und versucht eine kurze Bestandesaufnahme. Da hat sich einiges angesammelt. Was ihr nicht wisst, der Scheibenmann war auf Entzug und ist jetzt rehabilitiert: Hier ist ein wiedergeborener Mensch, der auf die Ruinen und Schattenlandschaften seiner Vergangenheit blickt. Manches wird euch bekannt vorkommen.

Oh je, die gute Jugendzeit. Erinnert sich noch jemand an The Cult und ihr Album "Love" (anno 1985). Zu solcher Musik haben wir damals geschwoft, auf dem Friedhof gekifft und Bruder Wolf und Schwester Mond angeheult. Zu dieser Musik hatte ich auch meinen ersten Sex (heute frage ich mich, wie man sich dazu überhaupt bewegen kann). Oh Babsi, mir tut es heute wirklich leid. Einfach alles. Was soll ich sagen? Ich wusste damals nicht, wo ich liegen sollte.

Aus demselben Zeitalter stammt Sisters Of Mercy's "First and Last and Always". Andrew Eldritch und seine Schwestern waren Wegbereiter des Gruftierock. Allein dafür gehörten sie gesteinigt. Denn diese Scheisse hat zu oberpeinlichen Bands wie HIM geführt. Und heute bekommen kleine Mädchen nasse Höschen bei dieser Musik. Aber egal. Ich war zu der Zeit wohl selber ein kleines Mädchen. Jedenfalls kriege ich beim Hören von "Marian" und anderen Songs hier immer noch eine Gänsehaut. Ich sollte mich also schämen, gelle.

My Bloody Valentine's "Ecstasy and Wine" (so 1988/89) war dann schon ein anderes Kaliber. Tausendfach geschichtete Gitarren, Sampling als Instrument in der Rockmusik, der bekackteste Gesang für das bekackteste Publikum, das ich je im Berner ISC gesehen habe. Vorne an der Bühne tummelten sich eine handvoll pogotanzende Punks, die restlichen Reihen verfielen in eine Art Todesstarre ob des ohrenbetäubenden Lärms. Zugegeben, das ganze Konzert, die Soundanlage und die Platte waren unhörbar - aber alles zusammen ein Riesenspass.

Unhörbar finden bis heute viele Miles Davis "Bitches Brew" (1969). Also mir lief diese Scheibe im Verlaufe meiner Karriere immer wieder über den Weg. Und ich bin ein grosser Fan geworden von Miles, aber leider niemals von "Bitches Brew". Aber vielleicht bin ich dieser Platte nur böse, weil ich darüber mal nächtelang mit einer Frau diskutiert habe, die mich trotzdem nicht wollte.

Der Böse Bube Eugen waren so Mitte bis Ende der 80er Jahre endlich einmal eine schweizer Band mit guten deutschen Liedern. "Nimmerland" war lustig, lyrisch, ohne Akzent in der Aussprache und tollem, schwungvollen Punk-Rock. Ihre Konzerte sind immer eine tolle Party gewesen, da floss reichlich Alkohol und gäbigerweise erinnerte man sich hinterher nicht mehr an den Seich, den man angestellt hatte.

Gerade halte ich Psychic TV's "Live en Suisse" (1987) in den Händen. Was hab ich eigentlich daran für Erinnerungen? Leider keine. Macht aber nix. Ich fand Genesis P-Orridge schon immer cool, doch ich bin mir sicher, der erinnert sich auch nicht mehr.

Mitte der 90er Jahre kam der Durchbruch für Drum'n'Bass. Goldie und sein Metalheadz-Label waren von der Geburtsstunde weg dabei. Sein Album "Timeless" setzte Massstäbe. Für mich öffnete sich damals eine neue Welt. Nach längerer Flaute kam endlich wieder radikale und subversive Musik auf den Markt, die zudem enormen Erfolg hatte - also nicht ignorierbar war.

Radikalen Polit-Punk machten anno 1985 die Dead Kennedys auf ihrer Scheibe "Frankenchrist". Mein Gott, wie oft habe ich damals diese Songs gehört. Heute erinnere ich mich vor allem an Natursekt und das endlose Verlangen nach Grenzüberschreitungen. Doch gerade dafür bin ich Jello Biafra auf ewig dankbar.

Snoop Doggy Dogg's Debutalbum "Doggystyle" erschien 1993 und öffnete meine Ohren für Hip-Hop. Jedenfalls begann ich den nach diesem funky-groovenden Monster anders zu hören. Zu diesem Zeitpunkt erholte ich mich auf einer griechischen Insel mit zwei tollen Mädchen zum ersten Malvon meiner Heroinsucht. Vielleicht hat auch nur das so nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen.

Mein Onkel Walter, der hat mich in die hohe Kunst der Countrymusik eingeführt. Da war ich vielleicht 12 oder 13 Jahre alt. Ich fand dies zunächst eine Spiesserscheisse, aber mein Onkel schaffte es, mir diese Musik, ihren Hintergrund, ihre Geschichte, die Texte so spannend zu erklären, dass ich sie zu lieben begann. "I just dropped in to see what Condition my Condition was in" von Kenny Rogers wurde zwar schon von Creedence Clearwater Revival gecovert, aber erst Nick Cave, die Coen Brüder und Züri West machten den alten Barden wieder so richtig salonfähig. Seine schmalzigen Countrypop-Klassiker wie "Lucille" oder "She's ready for someone to love her" bleiben für immer in meinem Ohr und tief eingeschlossen in meinem Herzen. Trotzdem brauche ich die alten Kassetten von meinem Onkel nicht mehr (ich meine, wer hört schon noch Kassetten? Ich hab nicht mal einen Kassettenrecorder).

Man muss sich von Altem trennen können. Die Vergangenheit ist vergangen, hält Schnee von gestern, Ich sage das weder bitter noch reumütig. Jede der erwähnten Scheiben begleitete mich durch eine Phase meines Lebens. Trotzdem entsorge ich sie hiermit auf dem Müll. Das Leben beginnt jeden Tag neu. Danke vielmals.

- TOMI KUJUNDZIC -

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SPECKSEITEN

Hochgestapelt

GESTAPELTE MANGO-SELIGKEIT

1 Ei
1,5 dl Milch
1 Päckli Vanillezucker
Kurkuma und Ingwer nach Belieben - verrühren

80g Mehl - nach und nach beigeben und rühren bis ein dicklicher Teig entsteht, 15 Min. kühlstellen

1 Mango - rüsten und würfeln
2 EL Zucker - in Pfanne bei mittlerer Hitze karamellisieren lassen
2 EL Rhum
1 EL Wasser
Saft von ½ Zitrone - ablöschen, rühren bis sich Karamell aufgelöst hat, 2 Min bei kleiner Hitze köcheln,
Mango beigeben, weitere 3 Min. köcheln, auskühlen lassen

Butter - in Bratpfanne erhitzen und aus dem Teig dünne Crèpes backen, auskühlen lassen

2 dl Rahm
1 EL Rhum
1 Päckli Vanillezucker - verrühren, anschlagen
1 Päckli Rahmhalter - unter Schlagen beigeben, weiterschlagen bis die Masse steif und fest ist

4-5 Souffléförmchen oder zylindrische Tassen etc. - aus den Crèpes Kreise in der Innen-Grösse der Förmchen ausschneiden
oder ausstechen (man braucht 4 kleine Crèpes pro Dessert, rechne!)

Nun jeweils (pro Förmli denk!) ein Crèpli ins Förmli, dann mit Rahm beschmieren, wieder ein Crèpli drauf, andrücken, jetzt etwas Mango verteilen, wieder ein Crèpli, undrücken, nun Rahm und wieder ein Crèpli, schön andrücken, ja, die Teils dann für ca. 2h in des Kühlschrank.

Vor dem Servieren die Förmlis stürzen (und wenns nicht stürzen will mit Messer, Fingern, Hammer nachhelfen!), mit der übriggebliebenen Mango dekorativ anrichten (? - Mach ne Sauerei, das wirkt kunstvoll.., vielleicht noch n bissel Schokoraspel oder Pistazienhaspel oder: ausm Crèpesabfall Herzchen ausstechen!).


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REIS-KÜRBIS-SCHICHTUNG

300g Wildreis - knapp gar kochen, abkühlen lassen
500g Kürbis - rüsten, in dünne Scheiben hobeln

3 Eier
150 g Rahmquark
1 dl Rahm
100 g Kräuterfrischkäse
1 TL Salz
schwarzer Pfeffer, Muskatnuss - alles in einer Schüssel gut verrühren

1 Bund Petersilie - waschen, hacken, beigeben. Reis beigeben und vermengen

60 g geriebener Sbrinz - Cake-Form (30cm) ausbuttern und mit Backpapier auslegen, eine Schicht Reismasse auf dem Boden verteilen, dann etwas Sbrinz u. Pfeffer darüberstreuen, nun eine Schicht Kürbis, wieder Sbrinz, jetzt Reis - Sbrinz - Kürbis - Sbrinz - Reis, und mit einer Schicht Kürbis abschliessen.

2 EL Olivenöl - über die Masse verteilen und bei 220°C in der unteren Ofenhälfte 50 bis 60 Min. backen 5-10 Min. vor dem Servieren aus dem Ofen nehmen, dass aus Cakeform lösen und in Scheiben schneiden.

Das schmeckt vielem: Wurst, Lamm, Kindern... am besten noch n Gemüse und ev. ne Sosse dazuservieren. Mahlzeit!


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STAPELBRÜSSELER MIT APRIKOSENLEIM

30 g getr. Aprikosen (sauer) - in wenig Wasser aufkochen, vom Herd nehmen, 5 Min. stehen lassen, abschütten, trocknen, klein schneiden

7cl Olivenöl
2 EL heller Aceto balsamico
2 TL flüssiger, milder Honig
1 TL Senf - Zusammen mit des Aprikosen mit dem Pürierstab oder Cutter ca. 2 Min. pürieren, mit Salz und Pfeffer abschmecken

4 Brüsseler - waschen, wüste Blätter entfernen, Stumpf grosszügig wegschneiden

1-2 Orangen - mit einem scharfen Messer filetieren (na?: schneid mit nem scharfen Messer der Orange die Haut samt Häutchen bis aufs Fleisch weck, dann schneid jeweils den Trennhäutchen entlang rein, drehst das Messer, voilà!, ?, etc.)

nun jeweils eine ca. 2 cm dicke Scheibe Brüsseler schneiden, vorsichtig auf einen Teller drapieren, etwas Aprikosenleim drüber, nächste Scheibe schneiden und aufschichten, Aprikosenleim, wieder eine Scheibe, bin der Salat quasi wieder ganz ist! (Es besteht Einsturzgefahr!! Vorsicht!)

übriggebliebene Teile (Stumpf...) des Chicorées hacken; damit und mit Orangenfilets dekorieren, servieren.

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STORY OF HELL - CA. DOPPELT GENÄHTESTE FOLGE
DIESE FOLGE WIRD IHNEN PRÄSENTIERT VOM SÄUMENDEN SCHNEIDER

Ein Zeitfenster hat sich aufgetan, mit Blick auf eine weisse Wand, auf die ideale Projektionsfläche für ein Spiel mit Licht und Schatten. Immer mehr damit beschäftigt, den Menschen eine Welt aus vierundzwanzig Bildern pro Sekunde vorzumachen, entweicht der Chronist so oft durch das Fenster nach da draussen, dass er kaum mehr in der Burg anzutreffen ist, was die Arbeit an der Burgchronik, als verantwortungsvolle Aufgabe betrachtet, nicht erleichtert. Einmal mehr ist nur durch die Einnahme einer Zeitkapsel mit einem Kondensat, die vertiefte Sichtung der Aufzeichnungen des Burgsensoriums im Schnelldurchlauf, die mündliche Überlieferung ein neuer Eintrag zustande gekommen, die mit weissen, und auch schwarzen Flecken durchzogene Geschichte fortzuführen.

Aus Versehen ist beim Schnelldurchlauf des aufgezeichneten Materials, wo das Interesse solches verlangt bis zur Zeitlupe gebremst, der Startpunkt tief in der Vergangenheit gesetzt worden. Statt der letzten zwei Monate rattern zwanzig Jahre durch die Wiedergabe, welche unter dem Einfluss einer Zeitkapsel zur Betrachtung stehen. Wiederholungen prägen den Eindruck, Zeitschlaufen werden durchquert, wechselndes Personal stellt die gleichen Geschichten dar wobei jede einzelne Darstellung einmalig ist. Aufgabe der Chronik, verantwortungsvoll wahrgenommen, ist unter anderem, die Ausschnitte der Wahrnehmungen der einzelnen Darstellenden zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, einen Überblick zu verschaffen, Tendenzen festzustellen, oftmals gar beim geneigten Publikum Entscheidungen zu ermöglichen: Wie weiter?

Es ist hier und jetzt festzuhalten, dass die vorliegende Chronik in mancher Hinsicht solch ernsthaften Ansprüchen nicht genügen kann und will. Es handelt sich hierbei um einen toten Papagei, der obendrein auf einer Stange festgenagelt ist, damit er nicht herunterfällt, vom erzürnten Käufer auf den Ladentisch geknallt wird, weil er ihm als lebender Vogel verkauft wurde. Obendrein war dem armen Tier der Schnabel zugebunden. Bildet euch eure eigene Meinung ein. Einfach die Übersicht bewahren dabei. Das Komplexe liegt ja darin, auch andere Standpunkte einzubeziehen, bei der Meinungsbildung, und dazu ist, öfter als nicht, einiges an Vorstellungskraft von Nöten.

Wie haben wir uns zum Beispiel vorzustellen, wes Geistes Kind der Idee zur Geburt verhelfen könnte, die Burg an die Meistbietenden zu verkaufen? Als stünde alles in dieser Welt zum Verkauf? Als würden sich nicht alle und jede auf die oder die andere Art verkaufen? Als würde der selbst bestimmte Anspruch zum Beispiel der Burg, nicht käuflich zu sein als Grundsatz, nicht alle möglichen Märkte anziehen? Als wäre nicht alles für die Füchse und die Hasen dieser Welt, die einander gute Nacht sagen? Als würde die Welt nicht von Schafen im Wolfspelz regiert? Als würden nicht die listigen Schildkröten schneller am Ziel sein als die wendigen Hasen? Als wären wir nicht sowieso am liebsten im Beutel eines Kängurus und würden durch die Steppe getragen, wie die geneigte Leserschaft mittels Schwarz in Form von Buchstaben auf der weissen Projektionsfläche der eigenen Vorstellung durch die vorliegende Chronik der Hölle der Burg verfrachtet wird.

An dieser Stelle kommt jeweils der Einwand, dass da zu wenig Konkretes verhandelt wird in der vorliegenden Chronik, dass das aktuelle Tagesgeschehen zu kurz komme. Nichts von der anstehenden Einrichtung einer Brauerei, nichts von der fortgesetzten Selbstausbeutung der Belegschaft zugunsten des allgemeinen Wohls, nichts zur kulturellen Ausrichtung tief und tiefer in den Untergrund, mehr und mehr durchsetzt vom Glitzern an der Oberfläche, kein Wort zu den Scherereien mit den Hütern der öffentlichen Ordnung in den heiklen Zonen, nichts von den Freuden und Leiden im freiwilligen Einsatz wider den globalen, grassierenden Wahnsinn im Kleinen, verkleinert und verfeinert, auf den Punkt gebracht.

In der nächsten Folge: Kann noch werden.

Raute

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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2010