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MEGAFON/005: ... aus der Reitschule Bern, Nr. 339 - Januar 2010


megafon - Nr. 339, Januar 2010



INHALT

ENTREE
Carte blanche pour mfg
Editorial
Men don't protect you anymore
Entree

SCHWERPUNKT NORIENT
Global Ghettotech - Die Programmmusik des 21. Jahrhunderts
Schwerpunkt Einleitung
Döner Kebab oder Merguez Frites? - 1001 Nacht im Norient
Lö Trösenbecks Selbstversuch: Norient
Sleepwalking through the Mekong
Donnerstag 14.1, 20h. Kino Reitschule
Beijing Bubbles - I just want to sing, drink and fuck
Do 14. 1, 21.30h. Kino Reitschule
Nimm Platz und hör Radio Dreda zu...
Fr 15.1, 20h. Kino Reitschule
Slingshot Hip Hop
Fr 15.1, 21.30h. Kino Reitschule
"I'm ugly but trendy"
Sa 16.1, 20H. Kino Reitschule
RiP! A Remix Manifesto
Sa 16.1, 21.30h. Kino Reitschule
Globaler Hip Hop
Interkulturelles Missverstehen
Musikethnologische Höhenflüge in einer postkolonialen Welt
Musikethnologie Schweiz: Ein Plädoyer
Illusionen aus Lärm und aus Stille
Sein Zuhause komponieren
Ich fahr' Toyota, was fährst du?
Swahili Rap in Tansania

INNENLAND
Wir bleiben - vorerst
Nachrichten der Familie Schoch Teil 3
Was wir fordern und warum
Aulabesetzung an der Uni Bern
Gegen das Vergessen!
Besuch im Gosteli Archiv in Worblaufen
Aktion Freiraum ruft zur Kulturoffensive auf
Die Revolution der Städte

KULTUR ET ALL
Amalia Rodrigues - Königin des Fado
Nur was weh tut, klingt gut
Buchtipp im Januar 2010
Comix

Raute

Carte blanche pour mfg

EDITORIAL

SI•CHER•HEIT DIE; - , -EN

1.. nur Sg; der Zustand, in dem es keine Gefahr für jemanden/etwas gibt ↔ Gefährdung, Unsicherheit < die soziale, öffentliche, wirtschaftliche, politische, persönliche Sicherheit; die innere Sicherheit eines Staates; in Sicherheit sein; jemandem Sicherheit bieten; jemanden/sich/etwas in Sicherheit bringen; jemanden! sich/etwas in Sicherheit glauben, wähnen; jemandem ein Gefühl der Sicherheit vermitteln >

In der Kälte eingepackt im Dunkel stehend, stehen sie rum, sie, die Besucherinnen und Besucher und die, die ihnen was verkaufen wollen und in grosser Anzahl die RaucherInnen, die, wie's sich gehört, draussen rauchen. Uns liegt an der Sicherheit. Deshalb stehen Menschen wieder vor dem Tor rum, um Dealer (Dealerinnen bisher noch nicht gesichtet worden) darauf hinzuweisen, dass sie bitte woanders hinsehen. Wir möchten, dass sich unsere BesucherInnen wohl fühlen. Als Kind spielte ich mit meinem kleinen Bruder Playmobil. Auch er hatte eine Burg mit einem grossen Tor. Die "Töggelis" waren eingeteilt in gut und böse. Nicht, dass es hier gut und böse gibt, aber gewisse Situationen belasten den Betreib. Vor dem Tor wird hier nicht Play Mobil gespielt, sondern Wellness ohne Heilness. Mit Sicherheit wollen die vielen hier in der Burg arbeitenden AG's euch ein vielfältiges Programm bieten, dass ihr, wie immer in der Mitte des megafons, als Plakat vorfindet und ab Seite 34 mit detaillierten Totos und Fotos. Im Übrigen möchten wir uns bei entschuldigen. Soll nicht wieder vorkommen, soviel ist sicher. Sicher ist auch, dass die Aufrufe zu neuen MitarbeiterInnen in der Redaktion was gebracht hat. Natalia, Leena und Raeli dürfen wir mit Freude als unsere Neuen begrüssen und auch ihnen ein Dank für ihren Entscheid ein Teil von uns zu sein.

- UVM -

Raute

DON'T PROTECT YOU ANYMORE

Ende der 1970er Jahre klebt Jenny Holzer nächtens Plakate mit ihren "truisms" - kurze Aussagen und Aphorismen - an New Yorker Fassaden. Die Sätze haben unter einander keinen inhaltlichen Zusammenhang, sind aus verschiedenen Positionen formuliert, Wahrheiten für ganz verschiedene Menschen. Auf einem Plakat sind 40 bis 60 solcher Statements auf gelistet - alphabetisch geordnet. Als erstes: "abuse of power comes as no surprise". Andere Beispiele: "an elite is inevitable" oder "children are the cruelest of all", gefolgt von "children are the hope of the future".

Später ändern sich ihre Texte, in "inflammatory essays" zum Beispiel sind es längere pamphlethafte Textstücke, inspiriert von Hitler, Mao, Lenin, Trotzky, Emma Goldman und anderen, noch später setzt sie Texte von Schriftstellerinnen wie Elfriede Jelinek und Wislawa Szymborska ein, aber auch freigegebene Dokumente der US-Armee, wie beispielsweise Verhörprotokolle.

Und es ändern sich die verwendeten Medien. Sind die "inflammatory essays" noch Plakatwerke, folgen später Arbeiten auf Bronzetafeln, wie sie am Eingang von Arztpraxen oder Villen verwendet werden, und Texte, die sie in Granitsitzbänke eingraviert. Und wohl am bekanntesten ihre Projektionen auf Hausfassaden und die Verwendung von LED-Leuchtschriften, wie sie für Werbung oder als Informationsanzeigen verwendet werden.

Was bei allen Veränderungen bleibt, ist einerseits die zentrale Rolle von Text in vielen ihrer Arbeiten, und andererseits die Umnutzung der Medien, die sie zur Vermittlung der Texte verwendet. Sind schon die "truisms" auf Plakaten nicht, was die Leserin oder der Leser erwartet, nämlich zuordenbare, kohärente Texte mit einer eindeutigen Verfasserin, nimmt für mich diese Spannung zwischen dem erwarteten bekannten und dem tatsächlichen Inhalt sowie die Mehrschichtigkeit bei später verwendeten Medien noch zu. Die LED-Installationen in der aktuellen Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen sind nicht nur zweckentfremdete Werbespruchbänder, über die Sätze aus ihren "truisms" laufen, bis mir Aphorismen zum Hals raus hängen, oder schwer ertragbare Verhörprotokolle der US-Armee, sondern zugleich schön arrangierte Lichtinstallationen.

1993 realisiert sie als Reaktion auf den Bosnienkrieg die Serie "Lustmord". Zu dieser Serie über die Vergewaltigung und die Ermordung von Frauen gehören auf einem Tisch angeordnete Menschenknochen mit umgehängten Spruchbändern sowie Fotos von auf Menschenhaut geschriebenen Statements - aus Sicht von Tätern, Opfern und Übriggebliebenen. Eine Bilderserie dazu wird im Magazin der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht. Aufs Titelblatt lässt sie mit dem Blut von bosnischen Frauen den Satz drucken: "Da wo Frauen sterben, bin ich hellwach".

Galerien sind nicht ihre einzigen Ausstellungsräume, viele ihrer Arbeiten sind für ganz andere Plätze in der Öffentlichkeit konzipiert und meist auch auf den jeweiligen Raum zugeschnitten, beziehungsweise diesen aufbrechend. So erlebe ich auch in der Ausstellung in der Fondation Beyeler neben den LED-Installationen am spannendsten, was formal auf den musealen Rahmen zugeschnitten ist: ihre Arbeiten auf Leinwand, gemäldehafte Siebdrucke von freigegebenen US-Armee-Dokumenten, wie zum Beispiel Bilder von Angriffsplänen auf den Irak, oder - auch visuell sehr stark - mit schwarzen Balken zensurierte Handabdrücke Inhaftierter.

Andere, ältere Arbeiten wirken hier weniger eindrücklich und sind vor allem dokumentarisch interessant, wie beispielsweise ihre Granitbänke. Die Knochen aus der "Lustmord"-Serie allerdings gehen mir auch in diesem Rahmen nahe. Erst recht durch den neuen Kontext der Armee-Dokumente, die teilweise im selben Raum hängen.

- JANN KRÄTTLI -

Ausstellung Jenny Holzer in der Fondation Beyeler in Riehen BS noch bis am 24.1.2010 www.beyeler.com

* Jenny Holzer "Survival Series"

Raute

Schwerpunkt Einleitung

GLOBAL GHETTOTECH - DIE PROGRAMMMUSIK DES 21. JAHRHUNDERTS

Die MusikerInnen der Welt lassen sich nicht mehr ins kulturell-ökonomische Korsett der Weltmusik-Industrie zwängen. Sie vertonen ihre Sicht auf die Welt frei nach eigenem Geschmack und Gusto. Die Filme und die Clubnacht des 1. Norient Musikfilm Festivals bieten Einblicke in das neue Genre.

"Die Ameisen haben Megaphone", schreibt Chris Anderson in seinem Buch "The Long Tail". Die Möglichkeiten zur Produktion von Musik und zur Selbstdarstellung im Netz wachsen ständig. Mit zu den Gewinnern zählen auch MusikerInnen und Soundkünstler von den vermeintlichen Rändern der Welt: von Peking bis Tijuana, von Istanbul bis Johannesburg. Technisch sind sie auf dem neuesten Stand. Sie besitzen den neuesten Laptop mitsamt verschiedener Programme zum Aufnehmen, Editieren, Manipulieren, Konvertieren, Reparieren, Analysieren und Live-Mixen von Audio-Files. Sie tauschen diese Programme untereinander aus oder saugen sie als Raubkopien, Freeware oder Opensource-Programme aus dem World Wide Web. Dank diesen technischen Möglichkeiten machen sie heute weltweit auf sich aufmerksam. Avantgardistische Kombinationen, urbane Sounds am Puls der Zeit und kulturelle Trends entstehen somit längst nicht mehr bloss in der wirtschaftlich privilegierten Welt.

Musik aus Afrika, Asien und Lateinamerika ist plötzlich hip und schick. Sie spielt nicht mehr nur an interkulturellen Solidaritätsfesten, sondern längst auch in den Szeneclubs, in zeitgenössischen Kunstausstellungen oder auch in Kultfilmen. "Post World Industries", "Sublime Frequences" (Erhabene Frequenzen) oder "Outhere Records" nennen sich wichtige Labels dieser neuen aufstrebenden Nischenmusik. Insider nennen das Genre auch "Global Ghettotech". "Global Ghettotech" ist laut dem Musikethnologen Wayne Marshall die neue und frische Musik aus den Strassen und den Ghettos der Metropolen der ehemals kolonisierten Länder der Welt.

Die Ghettotech KünstlerInnen stammen meist aus der Elite dieser Länder. Sie sind die kosmopolitischen Könner und KennerInnen einer sich rasant wandelnden Welt. Sie lassen sich in kein Korsett zwingen: Sie vertonen die Welt aus ihrer ganz persönlichen Sicht und Perspektive. Da klingen nicht nur Traditionen. Da klingt das Chaos. der Welt, die Hektik des Alltags, der Krach des Verkehrs, die Wut über die politische und ökonomische Lage. Diese neuen Künstler offerieren vielfältige, frische, überraschende, kontroverse und persönliche Einsichten in die Welt des 21. Jahrhunderts. Sie schaffen Sinn im Chaos und schaffen so die Programmmusik einer zunehmend globalisierten und digitalisierten Welt.

Als ExpertInnen des Internetzeitalters agieren sie in transnationalen Nischennetzwerken - unabhängig von der Weltmusik-Industrie. Die Nischenmusik verbindet MusikerInnen und Soundkünstler in den Metropolen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, mit Mitbürgern in der Diaspora und mit Gleichgesinnten EuropäerInnen und US-Amerikanern.

Produziert wird auch mal im Kollektiv: Die Stimme kommt aus Dakar, der Beat aus Paris. Diese Geschmacksgemeinschaft tauscht ihre Musik auf Online-Plattformen aus und stellt täglich Hunderte von Mixtapes ins Netz. Das Netzwerk wächst rasant - genauso wie die Geschwindigkeit und Menge der Up- und Downloads. Wenn einer HörerIn diese Musik nicht gefällt, so gefällt sie hält einem anderen.

Das 1. NORIENT Musikfilm Festival in der Reitschule soll überraschende Einblicke in das neue Genre bieten, unbequeme Meinungen verstärken und viele Fragen aufwerfen. Die Filme gehen nahe an die Künstlerinnen und Musiker heran und lassen sie sprechen. Eine Kritik von Denise Garcia, der Regisseurin von "I'm, Ugly but Trendy", soll für einmal nicht zutreffen: "Es wird die ganze Zeit über die Funk-Sängerinnen der Favelas geredet, aber niemand lädt sie dazu ein, sich an der Debatte zu beteiligen. Eher kommt ein Anthropologe zu Wort als eine Funkeira."

- NORIENT -

www.norient.com

MEHR INFOS ZU NORIENT

Das international tätige Berner Netzwerk NORIENT.COM - Independent Network for Local and Global Soundscapes - arbeitet seit 2002 interdisziplinär an den Schnittstellen von Musik und Gesellschaft, Journalismus und Wissenschaft. NORIENT ist eine umfassende Vernetzungs- und Vermittlungsplattform, die im In- und Ausland arbeitet: Kernstücke sind das Online-Magazin, die norient Produktionen und das norient Künstler-Kollektiv. Norient hat sein Atelier im PROGR in Bern.

Im Online-Magazin berichten Journalisten, WissenschafterInnen und Kulturschaffende über musikalische und kulturelle Strömungen und Entwicklungen in Afrika, Asien, Lateinamerika, Europa, der Schweiz - Bern. Die Texte vermitteln Musik und MusikerInnen an eine breite Leserschaft in der Schweiz und im Ausland. Dank seiner weltweit verstreuten Autoren ist das norient Magazin nicht eurozentristisch angelegt, sondern bietet Platz für eine Vielzahl von Perspektiven und Positionen.

Seit 2002 konzipiert NORIENT auch thematische Veranstaltungen (Konzerte, Konferenzen, Filmabende, etc.) zu musikalischen, kulturellen, politischen und sozialen Themen. Das Kernteam von NORIENT setzt seine Erkenntnisse aus den vielfältigen Tätigkeiten zudem künstlerisch um: in der audio-visuellen Performance und Lecture "Sonic Traces: from the Arab World", die 2008 mit dem Sitemapping Preis des Bundesamts für Kultur ausgezeichnet und im In- und Ausland gezeigt wurde. Der Netzwerkgedanke bleibt in der künstlerischen Arbeit zentral. Viele Projekte werden in Kollaboration mit ausländischen KünstlerInnen durchgeführt.

Inhaltlich konzentriert sich NORIENT hauptsächlich auf Musikerinnen, die eigenständig lokale und globale Einflüsse verarbeiten, Traditionelles mit aktuellen Techniken neu interpretieren und in ihrer Musik die kulturellen Wechselwirkungen der Globalisierung und zunehmende Digitalisierung reflektieren; Musiker, die in einer kritischen Art und Weise die gesellschaftlichen und politischen Realitäten in ihrer Heimat thematisieren; und Musikerinnen, die als erste, zweite oder dritte Einwanderergeneration in Europa und der Schweiz leben und neue musikalische Kombinationen suchen.

In seiner vielfältigen Arbeit will das NORIENT Team aktuelles, hochstehendes Musikschaffen kompetent und unabhängig sowohl an ein breites Publikum wie auch an spezialisierte NischenkennerInnen im In- und Ausland vermitteln.

Dank dem Gewinn des Musikvermittlungspreises des Kantons Bern 2009 kann norient seinen Webauftritt neu gestalten. Die neue Webseite soll im Frühling 2010 aufgeschaltet werden.

Raute

Lö Trösenbecks Selbstversuch: Norient

DÖNER KEBAB ODER MERGUEZ FRITES? - 1001 NACHT IM NORIENT

Unser geliebter Professor Lö Trösenbeck erzählt hier die inoffizielle Geschichte des Norient Netzwerks als Abenteuerroman: Er startet an einem Londoner Konzert mit Punjabi-Musikern mit gigantischen Turbänen und endet mit dem 1. Norient Filmfestival und der dahinterliegenden Doktrin des "Norient Style Filmmaking."

Zweitausend zwei Meter lange und mindestens zweihundert Kilo schwere Punjabi mit gigantischen Turbänen in einem verlassenen Fabrikgebäude irgendwo im Schlund von London, in einer Gegend, wo sich die englischen Bobbys nicht hin trauen. Blut- und Schweissgeruch in der Luft. Ein Fest, welches Lö Trösenbeck so schnell wie möglich wieder verlassen wollte. Aber dann kam der Doktor und sagte: "Ich habe den schweren Jungs an der Kasse gerade erzählt, wir seien berühmte schwedische Filmemacher und müssten da rein. Sie haben geflickt und mir zwei Freikarten gegeben."

Eine typische Nacht im Norient. Vor einer Stunde sassen der Doktor und Lö Trösenbeck noch bei einem Bierchen in einer gemütlichen indischen Lesbendisko. Auf einmal befanden sie sich im globalen Chaos, einem ausser Kontrolle geratenem Bhangra-Rave. Es war wunderbar. Sie waren gerade daran, einen Film über Musikerinnen und DJs zu fabrizieren, allesamt Inder und Inderinnen, Pakistani und Bangladeshi der zweiten und dritten Migranten-Generation in Grossbritannien. Weltmusiker oder Ethnomusikerinnen würden diejenigen sagen, die alles uneuropäische oder unamerikanische gerne in den gleichen Suppentopf werfen. Etwas, das die betroffenen Musiker, wie der Nation-Records-Label-Boss und Gründer der Elektro-Punk-Gruppe Fun-Da-Mental Aki Nawaz, zur Weissglut treibt: "Unsere Musik wird als scharf bezeichnet... sie tönt wie ein Curry, sagen die Leute... warum sagt man das immer bei uns? Warum sagt man dann nicht bei Britpop-Bands, eure Musik tönt wie Fish'n'Chips'?" Etwas weniger scharf formuliert es der Tabla-Virtuose und Produzent Kuljit Bhamra: "Die Leute nennen unsere Musik 'Weltmusik'. Aber eigentlich machen wir Musik der Welt". Auch der lustige Dhol-Trommler Johnny Kalsi fragt sich, warum alles, was nicht unbedingt der westlichen Kultur zuzuordnen ist, gleich mit allen Klischees einer orientalischen Welt ausgestattet wird: "Wenn mich meine Nachbarin zum Tee einlädt, zündet sie immer gleich ihre Räucherstäbchen an. Warum? Nur weit ich einen Turban trage?"

Keine Räucherstäbchen brannten im Hintergrund, als sich der Doktor und Lö Trösenbeck in einem Londoner Pub trafen. Sie hatten in Zeiten von Zico, Sokrates und Rummenigge bei einem Berner Agglomerationsklub Fussball gespielt und sich dann aus den Füssen verloren. Nach ein paar lauwarmen Bieren kam ihr Passspiel wieder in Gang und sie beschlossen, gemeinsame Sachen zu machen: Die kolonialistischen Konzepte "Orient" und "Okzident" mussten endgültig gebodigt werden. Die Globalisierung ist keine Einbahnstrasse, sondern eine Tatsache voller Geschichten, die erzählt werden müssen. "Tausendundeine Nacht im Norient" könnte eine Geschichte heissen. Und die grosse Frage lautet: "Was ist norientalischer? Der Döner Kebab oder Merguez Frites?"

Um der grossen Frage auf den Grund zu gehen und neue Geschichten zu erzählen, trafen sich der Doktor und Lö Trösenbeck immer wieder und bastelten an Projekten, wie dem Dokumentarfilm über die asiatischen Musikanten Englands. Meistens jedoch fehlte das Geld, denn die Geschichten aus dem Norient sind nicht immer Märchen mit Happy End und 100 Prozent Shareholder-Value. Um wenigstens ab und zu einen Film machen zu können, formulierte Lö Trösenbeck die Doktrin des "norient style filmmaking":

1. Teures Equipment ist sinnlos. Im Norient begibt man sich gerne in gefährliche Situationen. Teure Mikrofone werden gerne gestohlen. Ab und zu gibt es wüste Schlägereien oder zärtliche Intimitäten, die sich mit kleinen Handycams viel besser filmen lassen als mit schweren Schulterkameras. Und sowieso, die Sonne oder das Neonlicht sind zwar manchmal giftig, dafür aber ehrlicher als Scheinwerfer.

2. Das Schreiben von Filmfördergesuchen sollte weitaus weniger Zeit in Anspruch nehmen als das Rumhängen mit potentiellen Protagonistinnen des Films. Erlaubt ist der Konsum jeglicher Drogen und Getränke sowohl beim Gesuchschreiben wie beim Rumhängen. Spannend sind Filme aber meistens erst dann, wenn soviel Protagonistenrumhängerei statt gefunden hat, dass alles erzählt wird, auch wenn die Kamera läuft. Eine Produktion kann noch so teuer sein, Vertrauen zwischen Filmemacherinnen und Gefilmten kann nicht gekauft werden.

3. Das Filmteam ist so klein, dass es in einem Fiat Cinquecento Platz findet. Je intimer der filmische Rahmen desto spannender die Geschichten, die erzählt werden. Und ein Fiat Cinquecento bietet optimale Gelegenheit dazu.

4. Voice-Over von einem anonymen Sprecher oder von einer angeheuerten Schauspielerin sind verpönt, denn sie vermitteln den Eindruck, es gebe einen Gott, der altes erklären kann. Wenn es überhaupt Göttinnen und Götter gibt, dann sind dies die Protagonistinnen und Darsteller. Also soll das Wort nur ihnen gehören.

5. Spass muss sein. Auch im globalen Chaos ist der Witz das schönste Gedicht.

Die Doktrin, welche auch als schlechte Entschuldigung für schlechtes Filmemachen betrachtet werden darf, wurde im ersten Norient-Film "Buy More Incense" ("Kauft mehr Räucherstäbchen", erhältlich auf DVD exklusiv in einem Indischen Restaurant in der Nähe des Berner Karl-Marx-Denkmals) konsequent befolgt. Der Doktor und Lö Trösenbeck gerieten sich darob teilweise gar garstig in die Haare und verloren zuweilen die grosse Frage aus den Augen. Aber am Schluss waren sie zufrieden und froh, der Film fertig und bald schon vergessen. Sie erlebten neue Abenteuer im Norient, in Zürich, Bümpliz, Kairo, Beirut. Da kam plötzlich eine E-Mail aus Krakau, Polen, und eine Einladung ans Musikfilmfestival "Muzyka i Dwiat" (Musik und Welt). Lö Trösenbeck hatte in einer Minute der Verzweiflung einen Ausschnitt des Films auf ein Internet-Homemovie-Portal geladen. Und wenige Mausklicks später sassen er und der Doktor in einem Fiat Cinquecento und wurden durch die Schluchten von Krakau geführt. Sie tranken täglich Bier mit den Festivalpublikum. Der Kater war schliesslich so gross, dass man ihnen den Publikumspreis für "Buy More Incense" verlieh. Die beiden Norientalisten waren so beglückt, dass sie beschlossen, ein ähnliches Fest für den Film zu organisieren. Auffallend war, dass ihnen beim Auswählen der Filme immer wieder die Werke am besten gefielen, welche die "norient style filmmaking"-Doktrin erfüllten. Hochglanz gibt es vielleicht im Orient und Okzident. Im Norient sind die Bilder zwar manchmal sehr wacklig, die Töne zu laut, das Make-Up verschmiert, aber die Geschichten sind so wunderbar-lustig und düster-wahnsinnig wie die globalisierte Welt selbst.

Noch nicht sicher ist, ob am 1. NORIENT MUSIKFILM FESTIVAL die Döner-Merguez-Frage gelöst wird. Sicher ist, wir sind inzwischen alle im Norient angekommen. Vielleicht wird die Schweiz zu Schweden. Vielleicht wird Amerika zu Asien. Und vielleicht wird Grossbritannien in zweihundert Jahren indisch sein, wie dies der britisch-asiatische DJ Bobby Friction im oben erwähnten Film prophezeite. Worauf der Trommler Johnny Kalsi mit schaltendem Lachen antwortete: "Sicher. Europa wird indischer. Kauft mehr Räucherstäbchen...!"

- SPAM@TROESENBECK.CH -

Lö Trösenbeck schreibt hauptsächlich Megafontexte und Fördergesuche, würde aber eigentlich lieber im Norient mit ProtagonistInnen rumhängen.

Raute

Donnerstag 14.1, 20h. Kino Reitschule

SLEEPWALKING THROUGH THE MEKONG

Die amerikanische Gruppe Dengue Fever und die Khmer-Sängerin Chhom Nimol begeben sich auf eine Tour durch Kambodscha. Ein eindrücklicher Roadmovie.

Der Mekong, dieser Flussriese, gibt Kambodscha seinen eigenen Takt vor. Bis heute regiert Sanftmut den Alltag dieses südostasiatischen Königreiches.

In dieses Taktgefüge will sich die kalifornische Band Dengue Fever mit einer gehörigen Portion Demut eingliedern. Diese ist auch angebracht: Die Band wagt sich auf die schwierige Reise nach Kambodscha. Der Regisseur John Pirozzi begleitet sie und lässt Musik und Menschen auf eine fröhlich verspielte Art zu Wort kommen. Die Band ist Gast, und sie bleibt Gast.

Dengue Fever ist eine skurrile und zugleich faszinierende Kombo: Sie vereint seit 2001 fünf amerikanische Musiker und die bekannte kambodschanische Sängerin, Chhom Nimol. Die Band spielt die populären Lieder Kambodschas der 1960er- und 70er-Jahre in der Landessprache Khmer. Die Hauptstadt Phnom Penh galt zu jener Zeit als das Paris Süd-Ost-Asiens. Lokale Rockbands interpretierten die traditionellen Lieder Kambodschas neu. Die Klangsprache entsprach dem Zeitgeist der psychedelischen Rockmusik - dem Soundtrack der Hippiebewegung. Die Musik wurde mit fetzig kratzenden Gitarren aufgepeppt, und die Sängerinnen sangen dazu psychedelisch anmutende Melodien mit geschmeidigen Verzierungen. Heute würde diese Musik jedem James Bond Film gut anstehen.

Getragen wurde die Szene von damals sehr populären Stars wie Sim Sisamouth und Ros Sereysothea. Ihre Lieder geniessen bis heute einen hohen Bekanntheitsgrad. Die Künstler selber sind hingegen verschwunden. Sie sind Kriegswirren und dem Terrorregime der Roten Khmer zum Opfer gefallen und teilen somit das gleiche grausame Schicksal, wie viele ihrer Landsleute. Hören Kambodschaner heute diese Musik aus den 1960er- und 70er-Jahren, so denken sie nostalgisch und melancholisch zurück - in eine Zeit vor dieser traumatischen Periode.

Dengue Fever spielt diese alte Musik im Film auf improvisierten Bühnen und im Fernsehstudio und kommt dabei mit vielen Einheimischen in Kontakt. Denen stehen Stolz und Freude sichtlich ins Gesicht geschrieben: Ausländer, die die eigenen Lieder singen! Das wird als Kompliment aufgenommen. Das wirkt wie Balsam auf die Seelen. Während der Zeit der Roten Khmer ging ein grosser Teil des kulturellen Erbes verloren. Die Lieder sind geblieben - und dass sie jetzt von einer amerikanischen Band auf einer Bühne gespielt werden, ist doch wunderbar - aber auch sehr eigenartig.

Einen stark symbolischen Charakter erhält der Besuch von Dengue Fever in einer kleinen Musikschule. Mit Kindern übt die Band Lieder ein. Die anfängliche Scheue verfliegt bereits nach den ersten Akkorden. Die alten Melodien sind schnell erkannt und werden im Chor von den Kindern begleitet.

Das musikalische Erbe Kambodschas bliebe wohl auch ohne Dengue Foyer erhalten. Und doch leistet die Band einen wichtigen Beitrag: sie spielt die Lieder in einer neuen und frischen Art, und sie verschafft ihnen eine internationale Hörerschaft. Die Musiker bringen Moderne und Tradition zielstrebig aber unverkrampft zusammen. Und sie machen beim Khmer-Rock noch nicht hält. Eine bezaubernde Filmaufnahme zeigt sie mit einem der wenigen noch lebenden alten Meister, dem Chapei-Musiker Kong Nay. Dieser charismatische Mann schafft mit seinem Gitarren ähnlichen Instrument und seiner holprig explosiven Stimme höchste Liedermacher-Kunst: Die Poesie seiner Texte machen ihn zu einem grossen Barden der traditionellen sowie zeitgenössischen Kultur der Khmer. Für diese Musik liessen sich wohl viele Musikliebhaber weltweit erwärmen. Bleibt zu hoffen, dass der fruchtbare Kulturaustausch weitergeführt wird. Insbesondere auch, dass die Initiative dazu auch von kambodschanischen Musikern selbst kommt.

- FABIO NAPOLETANO -

Fabio Napoletano arbeitet als Kaufmann in Phnom Penh. Er ist grosser Fan der betörenden Stimme von Ros Sereysothea.

Raute

Do 14.1, 21.30h. Kino Reitschule

BEIJING BUBBLES - I JUST WANT TO SING, DRINK AND FUCK

"People are strange. But most of the people in the world are strange. But in China strange people are more", erzählt Bian Yuan, Sänger der Pekinger Punkband Joyside, und nimmt uns mit auf einen Trip durch die wilde Rock'n'Roll-Welt in Chinas Hauptstadt. Susanne Messmer und George Lindt besuchen in ihrem Film "Beijing Bubbles" fünf Bands in der sich rasant wandelnden Metropole. Entstanden sind intime Porträts von individualistischen Musikerinnen und Musikern und ihren Träumen.

"Mit 'Beijing Bubbles' wollten wir Träume ausdrücken. Ja, auch die Sehnsucht nach etwas, was nicht fassbar ist oder noch nicht ist oder vielleicht niemals werden wird. Wir reden aber hier von der Zeit, als Beijing Bubbles gedreht wurde. Die Szene hat sich sehr vergrössert seitdem. Aber mit Musik kann man in China kein Geld verdienen, sich damit kaum finanziell über Wasser halten... noch weniger mit Musik, die nicht dem allgemeinen Mainstream entspricht", erklärt der Berliner Regisseur George Lindt, der neben dem Filmemachen auch noch Romane schreibt und das Indie-Plattenlabel "Lieblingslied Records" führt. 2004 drehten Lindt und Messmer gemeinsam mit dem Kameramann und Cutter Lucian Busse. "Beijing Bubbles' ist der erste Film, der über diese Szene gedreht wurde. Seit der Film international für so viel Aufsehen gesorgt hat und dann sogar im Museum of Modern Art in New York gezeigt wurde, gibt es auf einmal ganz viele Filmteams, die über diese Szene einen Film gemacht haben. Vielleicht war unser Film so etwas wie eine Initialzündung. Mit Sicherheit hat der Film einigen Bands, aber bestimmt der ganzen Szene geholfen, internationale Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich möchte nicht behaupten, unser Film wäre genial, aber er lässt den Protagonisten viel Zeit und lässt sie selbst erzählen, es gibt keinen Kommentar und damit auch keine Wertung. Unser Film hatte auch keine finanzielle Förderung von irgendeinem TV-Sender oder einer Filmfördergesellschaft. Damit hatten wir auch keine Möglichkeit, den Film 'glossy' zu machen. Heute denke ich, es ist auch der Charme, den der Film hat: er ist roh, ehrlich und geradlinig. Die Filme, die ich danach über die Szene gesehen habe, sind oft auf Effekthascherei aus. Am Schlimmsten finde ich aber den Film von den australischen Filmemachern, der schlicht fast nur in China lebende Amerikaner zu der Szene befragt hat und die Bands selbst eigentlich kaum zu Wort kommen lässt. Insgesamt finde ich aber schön, dass 'Beijing Bubbles' so viel ausgelöst hat. Einzig und allein schade finde ich, das Mariette Slomka vom ZDF unseren Film für ihre Chinareportagen fast eins zu eins kopiert und damit auch noch Ruhm erlangt und Geld verdient hat.

Geld verdienen können die Punk-Rocker oft nichts, dafür aber gewisse Clubbetreiber. In Punk-Bars kostet das Bier oft den halben Tageslohn eines Wanderarbeiters und es kommt vor, dass neben der Pogo-Tanzfläche Sofas aufgestellt sind, für deren Gebrauch man eine V.I.P.-Gebühr von 100 Dollar bezahlen muss. "Sicherlich sind Punk und Rock auch schon in China mehrere Schritte der Gentrifizierung entgegen gegangen", meint Lindt. "Die Clubs, die in 'Beijing Bubbles' zu sehen sind, existieren zum grössten Teil gar nicht mehr. Das liegt nicht an den Clubbetreibern, sondern daran, dass sich in China alles rasant entwickelt. Das D-22 (ein Club in einem Pekinger Studentenviertel) hat einen Teil der 'echten' Szene aufgefangen. Am schlimmsten sind aber die Expats die versuchen, die Szene zu Geld zu machen. Aber das ist mit Punk in den USA und Europa auch so passiert..."

Der Film zeigt nicht nur die Punk-Clubs, sondern gibt auch Einblick ins Privatleben der Musikerinnen und Musiker. Der anfangs erwähnte Punker Bian Yuan wohnt in einem Zelt, das er in einem Abbruchhaus aufgestellt hat. Andere Musiker führen das Filmteam zu ihren Eltern, welche oft das brotlose Leben eines Rock'n'Rollers finanzieren. Besonders stark ist eine Szene im Film, in der die Musiker der Gruppe Sha Zi auf die Ereignisse von 1989 auf dem Tiananmen Platz angesprochen werden, ein Thema, über das sich in China kaum jemand wagt, öffentlich zu sprechen. "Die Szene auf dem Tiananmen Platz wurde mit versteckter Kamera gedreht. Vielleicht kommt da in dem Augenblick aus dem Interview inhaltlich nicht so viel, aber man spürt die Macht und Präsenz des Unwohlseins sehr stark in dieser Szene. Diese Dominanz der Macht und der Angst darzustellen, war uns da wichtig. Es fallen keine grossen Worte in dem Augenblick, aber jeder, der etwas über dieses Massaker weiss, spürt die Anwesenheit des Ganzen... später im Interview im Club ist die Stimmung wesentlich entspannter", erzählt Lindt über den Moment, als die Bandmitglieder sehr offen über ihre Erlebnisse während dem Massaker sprechen. "Auch dieser Kontrast ist wichtig für uns gewesen. Vieles in 'Beijing Bubbles' erschliesst sich auch erst nach einem zweiten Mal. Je mehr man über die Situation weiss, desto mehr Ebenen tun sich im Film auf."

Dass die Musikszene von Peking nicht nur Punk-Rock nach westlichem Vorbild macht, zeigt die Gruppe T9, welche mongolische Instrumente in ihren Rock-Sound integriert, ein Muster, das in der westlichen exotik-liebenden Musikwelt sehr erfolgreich sein könnte. Lindt meint dazu: "Ich glaube, dass wir dort immer nach was speziell Chinesischem in der Musik suchen, ist eine sehr eurozentristische Herangehensweise. Die meisten Bands aus Deutschland, der Schweiz oder aus Österreich verarbeiten ja auch nicht ständig Mozart, Bach oder Wagner. Ich glaube, dass es bestimmt irgendwann auch internationale Musikstars aus China geben wird. Vermutlich wird das mit Rockmusik in seinen zahlreichen Spielarten noch etwas dauern..., aber es muss ja auch nicht immer gleich der Weltruhm sein. Wir haben mehrfach Bands nach Europa geholt. Wir hatten Shazi, Carsick Cars, Hanggai Band und auch zweimal die Band Joyside hier. Über die Letzte Tournee von Joyside ist auch ein Film entstanden mit dem Namen 'The Joyside of Europe', welcher der neuen CD der Band beiliegt, die in Europa zugänglich ist. Wir haben mit www.asia-music-shop.com den Bands auch eine Möglichkeit gegeben, ihre CDs auch in Europa erhältlich zu machen. Hier kann man viele Originale finden, die es nicht offiziell zu kaufen gibt. Das Problem bei Tourneen ist immer der finanzielle Aufwand mit Flügen und die enormen VISA-Probleme. Aber wir werden es weiter versuchen..." Und der Rock'n'roll im chinesischen Untergrund ist sicher nicht tot zu kriegen, wenn alle nach dem Motto von Bian Yuan handeln werden: "I want to sing, drink and fuck."

- MICHAEL SPAHR -

Michael Spahr ist Historiker, Filmemacher, Künstler und Ko-Organisator des NORIENT MUSIKFILM FESTIVAL. Er tanzte 2007 Pogo auf mehreren Punk-Parties in Peking.

Raute

Fr 15.1, 20h. Kino Reitschule

NIMM PLATZ UND HÖRE RADIO DREDA ZU ...

Der Film ist ein Minibus-Trip durch Angolas Hauptstadt Luanda. KünstlerInnen, Musiker und Poeten nehmen das Mikrofon gleich selber in die Hand und führen die Zuschauer durch das alltägliche Chaos der Millionenstadt.

Steig auf und quetsch dich auf deinen Platz im Kondongueiro (ein Minibus, öffentliches Verkehrsmittel in Luanda) und höre dem Radio zu.

Dies ist Radio Dreda, das neuste Radio in der Stadt und es wird dich auf eine Fahrt nach Luanda nehmen, dir die vielen Aspekte des Wahnsinns, des Horrors, der kreativen Köpfe und der Wunder dieser Stadt zeigen, und das ganze anhand einer musikalischen Reise.

"Ô Dreda ser Angolano" heisst übersetzt ganz einfach "es ist cool, Angolaner zu sein." Inspiriert ist es von einem Album ('Ngonguenhação' von Conjunto Ngonguenha) aber in sich selber der Ursprung eines wunderbaren Hip-Hop Tracks.

Dies ist kein Film, es ist eine Radiosendung, es ist eine musikalische Radiosendung, und trotzdem behandelt die Sendung nicht die Musik. Es geht um die Stadt und die Leute dort, um ihre Kreativität, um Leute, die versuchen, von dieser Kreativität zu leben und auch um all die Millionen Menschen, die versuchen, andere Wege zu finden, um über die Runden zu kommen.

Die Musik ist der Film. Von Musikern ins Leben gerufen mit einer grossen Liebe für die Musik, und sie ist es, die den Wahnsinn Luandas erklärt, oder sie versucht es zumindest. Gleichzeitig bietet sie Linderung an und lässt gleichzeitig eine andere Art von Wahnsinn entstehen, eine positive Art, vibrierend und pulsierend. Poesie, Hip-Hop, Kuduro, alle sind sie Teile dieser Reise durch Luanda.

Wir hören die Stimmen von Künstlern wie Shunnoz Fiel, Sebém, dem wunderbaren Fridolim, wir hören uns Stücke von MCK (sprich "MC Kapa"), dem Kuduro-Combo "Os Turbantu" und dem Conjunto Ngonguenha an, und wir hören den vielen Stimmen auf der Strasse zu.

Alle diese Komponenten vermischen sich zu einem auf Film festgehaltenen Kunstwerk. Es soll keine Erzählung sein und doch werden viele Geschichten erzählt, in seinem Kern ein Musical, funkelnd mit der Liebe zum Detail. Es sind diese Details, die sehr präsent sind in der Verschmelzung von Bild und Ton im Film, auch in der Art, wie das Ganze strukturiert ist. Es sind die kleinen Elemente, die den Machern am Herz liegen, bis zuletzt, wenn der Passagier das Kandonguiero wieder verlässt.

Luanda ist eine Stadt mit allen Extremen dieser Welt. In den Augen der Portugiesen war Angola eine Kron-Kolonie, wo in der Natur und in der Kultur alles im Überfluss vorhanden war. Angola ist eine der "grossen" afrikanischen Nationen, 40 Jahre lang war Krieg. Luanda wurde für 500.000 Menschen gebaut, zur Zeit leben aber dort etwa 4 Millionen Menschen, denen die grundlegendsten Infrastrukturen fehlen. Offiziell ist Angola die teuerste Stadt der Welt. Das kulturelle Leben der Stadt ist extrem dynamisch und liefert immer wieder Trends.

Mittels Musik fängt Radio Dreda die Stadt Luanda und ihren Wahnsinn ein, ohne jedoch sie zu beschönigen oder zu kaschieren, ohne die Rolle eines Verfechters einzunehmen, sondern einfach um die Liebe zu diesem Land, dieser Stadt und dieser Musik zu zeigen.

- JASPER WALGRAVE -

Jasper Walgrave, Leiter Pro Helvetia, Kapstadt

Raute

Fr 15.1, 21.30h. Kino Reitschule

SLINGSHOT HIP HOP

Palästinensische Rapper in Gaza, Ramallah und Israel: Alle wollen sie Mauern nieder reissen, nicht nur die israelischen Mauern, sondern auch geschlechtsspezifische und religiöse Mauern in der palästinensischen Gesellschaft.

"Unsere Musik besteht aus 30 Prozent Hip Hop, 30 Prozent Literatur und 40 Prozent von dem da", sagt der palästinensische Rapper Tamer Nafar - und zeigt auf die Gitterstäbe vor seinem Fenster. Nafar ist allerdings nicht real eingesperrt, sondern nur, im übertragenen Sinn: als Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft aus der Stadt Lydd fühlt er sich fremd und unerwünscht in seinem Land. Seinen Frust, seine Unzufriedenheit packt er in seine Texte, die er mit seiner Hip Hop-Combo DAM ins Mikrofon rappt. Mit ihrem Song "Meen Irhabi?" - Wer ist ein Terrorist? - landeten die drei einen Download-Rekord (eine Million runtergeladene Dateien) und wurden in der ganzen Region bekannt.

Der Dokumentarfilm Slingshot Hip Hop - zu deutsch Steinschleuder-Hip Hop - porträtiert nicht nur DAM. Er gibt auch Einblick in den tristen, komplizierten Alltag der Palestinian Rapperz PR in Gaza und dokumentiert deren ersten Auftritt in Gaza City: Im Publikum sitzen alt und jung, Familien, Kids in Baggy Pants und klatschen begeistert zu den stampfenden Beats und dem politischen Sprechgesang. Dies alles geschieht noch vor dem Abzug der Israelis im Sommer 2005 und der Machtübernahme der islamistischen Hamas, die - so darf angenommen werden - nicht viel anfangen kann mit Hip Hop, so palästinensisch er auch sein mag. Slingshot Hip Hop erzählt auch die Geschichte von Abeer, einer Sängerin, die mit den Jungs von DAM zusammenarbeitet - wenn immer sie es schafft, unerkannt und heimlich aus dem Haus zu schlüpfen. Ihr Cousin hat sie nämlich bedroht: Rappen und singen gehören sich nicht für ein anständiges Mädchen. DAM, PR, Abeer und allen anderen palästinensischen Rappern, die im Film zu Wort kommen, ist eines gemeinsam: Sie verstehen Hip Hop als Mittel, ihre Wut zu kanalisieren. "Musik statt Gewalt" lautet die Botschaft.

Slingshot Hip Hop ist weit mehr als ein Musikfilm über Hip Hop in Palästina. Die Filmemacherin Jackie Salloum - Amerikanerin mit palästinensischen und syrischen Wurzeln - verzichtet auf politische Aussagen und zeigt die Lebenswelten und den Alltag der Palästinenser in Israel und Gaza kommentarlos. Jenseits der grossen Schlagzeilen - jenseits der grossen Politik. So ist der Film auf eine geradezu subversive Art und Weise unpolitisch. Es ist gar nicht nötig, des Langen und Breiten über die israelische Besetzungspolitik und Ausgrenzungspolitik zu reden, denn die Szenen sprechen für sich. Etwa wenn Mahmoud Shalabi, der Rapper aus der palästinensisch-israelischen Stadt Akka, in Tel Aviv von der Polizei kontrolliert wird, nur weil er Arabisch spricht. Oder wenn PR in Gaza unterwegs sind und stundenlang an Checkpoints aufgehalten werden.

Slingshot Hip Hop ist ein starker, berührender und spannender Film, tieftraurig und doch nicht ohne Hoffnung. Jackie Salloum ist an ihren Protagonisten ganz nah dran - und den ZuschauerInnen wachsen sie ans Herz. Wer sich für den Nahost-Konflikt interessiert und dazu noch Hip Hop mag, sollte sich den Film auf keinen Fall entgehen lassen.

- ANNA TRECHSEL -

Anna Trechsel ist Journalistin und Islamwissenschafterin. Sie reist regelmässig in den Nahen Osten.

Raute

Sa 16.1, 20h. Kino Reitschule

"I'M UGLY BUT TRENDY"

Funkeira-Sängerinnen aus Rio de Janeiro erzählen über den Alltag, die Probleme und Erfolge im männerdominierten brasilianischen Musikgeschäft. "Ich bin hässlich, aber 'trendy'" ist ein Film, der ein bisschen wie der Baile Funk ist: voller Energie, einfach produziert, laut, ehrlich und sehr direkt.

norient: Dein Film "I'm Ugly but Trendy" stellt das Funk-Universum Rio de Janeiros aus der Perspektive der "Funkeiras" dar, der weiblichen MCs, die in ihrem "anderen" Leben Mütter, Ehefrauen und Studentinnen sind. Wie war deine erste Berührung mit dem Funk und wie entstand die Idee, daraus einen Film zu machen?

Denise Garcia: Ich wohnte in dieser Zeit im Stadtteil Ipanema, der direkt neben der Favela do Cantagalo gelegen ist. Ich habe immer diesen Sound aus der Favela gehört, die Menschen haben sich so amüsiert. Also holte ich mir im Januar 2004 die Telefonnummer der erfolgreichen Rapperin Tati Quebra Barraca, weil ich entschieden hatte, diese Leute selbst kennen zu lernen. Ich rief sie an und machte ein Treffen mit ihr aus. Schon am nächsten Tag fing ich an zu filmen und hörte nicht mehr auf. Das ging über ein Jahr so.

Wie war es für dich beim ersten Mal auf einem Baile?

Zu meinen ersten Funk Bailes fuhr ich mit Tati. Ich war sehr beeindruckt, dass diese 25-jährige Frau, die im achten Monat mit ihrem dritten Kind schwanger war, so abgehen konnte. Wenn sie auf der Bühne erscheint, ist sie die Königin, alle kennen ihre Songs auswendig. Das fand ich schon super rebellisch. Es ist nicht mehr diese alte brasilianische Rolle, bei der sich die Frauen nur schön und sexy zeigen und dabei immer still bleiben. Nein, diese Frau war anders!

Der Titel deines Dokumentarfilms: "I'm Ugly but Trendy" ist ein Zitat aus einem Liedtext von Tati. Hast du ihn aus diesem Grund gewählt?

Dieser Titel offenbart, wie Funk in Brasilien gesehen wird, nämlich immer noch als etwas Hässliches. Wenn er aber zur Mode wird, und das ist anderen Dingen in Brasilien nicht anders, akzeptieren ihn die Leute plötzlich und die Kritik verschwindet.

Kannst du das ein bisschen genauer erklären?

Die Frauen aus der Favela, vor allem, die "schwarzen", sind für das Putzen des Fussbodens zuständig, während die Männer die Chauffeure und Sicherheitsmänner sind. Aber Künstlerinnen? Nein! Als Künstlerinnen werden sie weder gesehen noch ernst genommen. Idealerweise sollen sie für die Mittel- und Oberschichten zum Beispiel in der Küche unsichtbar sein. Es wäre eine sehr falsche Vorstellung zu glauben, Brasilien sei kein rassistisches Land. Der Mensch aus der Favela erschreckt die Mittelklasse. Allein schon deshalb, weil er zwangsläufig mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht wird, selbst wenn das gar nicht zutrifft. Prozentual gesehen ist die Zahl der in der Favela lebenden Menschen, die im Drogenhandel stecken, verschwindend gering. Der Funk stellt da heute eine Perspektive dar, die es früher nicht gab: Die Jugendlichen schauen auf zu Tati oder welchen Funkeiros auch immer und sehen, dass man mit Funk Ruhm erwerben und Geld machen kann. Immer mehr Heranwachsende wollen daher heute Künstler, also MC's werden.

Die Frauen MC's singen dabei fast nur über Sex.

Ich finde es sehr wichtig, dass die Frauen gerade über Sex sprechen anstatt über andere Dinge. Sie demonstrieren damit eine feminine Macht, die ich als neuen Feminismus bezeichnen würde. Ein Feminismus, der sagt, dass auch Frauen Spass am Sex haben und der darüber spricht, was sie dabei wollen. Und wenn sie sich sexy anziehen und sich sexy benehmen möchten, dann sind sie es, die das bestimmen und entscheiden. Genau das finde ich für den aktuellen Diskurs über den Feminismus sehr wichtig, denn das bedeutet, dass sie über Kontrolle verfügen. Im Vergleich dazu sind die Frauen in der Mittelklasse sehr still. Meiner Meinung nach läuft es in der Favela gleichberechtigter ab, denn der Diskurs über Sex ist offener oder zumindest existiert er überhaupt.

Sehen sich diese Frauen selber als Feministinnen?

Nein, es ist unglaublich, sie sehen sich nicht als Feministinnen. Denn den Weg, den Feministinnen in den USA oder im Westen gegangen sind, mussten die Frauen aus der Favela nie gehen: Als der Feminismus in den Vereinigten Staaten angefangen hat, ging es wesentlich um einen Kampf der Frauen, auch arbeiten zu dürfen und damit unabhängig zu werden. In der Favela gab es diese Konstellation nie, denn die Frauen in der Favela mussten immer arbeiten. Hätten sie nicht gearbeitet, hätten die Familien nicht überleben können. Deshalb gab es dort diese feministische Diskussion der selbstständigen arbeitenden Frau nie. Hier geht es mehr um Gleichheit, auch um das Recht sich zu amüsieren, denn die brasilianische Frau war oft in der Rolle, beispielsweise beim Karneval, sich als sexy, als rassige Frau zur Schau zu stellen. Alternativ dazu gab es die Bossa Nova-Frau mit ihren blonden Haaren, die fast eine Jungfrau sein musste. Der Bossa Nova kommt ja aus einer oberen Gesellschaftsschicht und die Frauen, die dort besungen werden, müssen blond und "weiss" sein. Dabei sind die meisten Brasilianerinnen "schwarz" und haben einen riesigen Hintern. Darum mag ich auch den Titel "Ich bin hässlich aber trotzdem trendy": Tati, von der er stammt, ist bestimmt keine Schönheit, sie ist klein und dick, aber sie hundert Prozent Brasilianerin und in der Favela, in der sie lebt, wird sie dafür auch geschätzt.

Die Medienwissenschaftlerin Ivana Bentes bezeichnete Tati als eine der ExpressionistInnen Brasiliens. Sie habe eine Sprach, die mit vielen Vorurteilen arbeite und selbst absolut "macho" sei. Sie begebe sich oft in dieselbe Position wie ein Macho, wenn sie singt: "ich ficke jeden, ich benutze Männer als Objekt". Bentes beschreibt das als eine Art Karikatur. Würdest Du sagen, dass die Art und Weise, wie die weiblichen MCs singen, eine Reaktion auf das ist, was die Männer singen?

Nein, das ist ein Spass. Auch das ist etwas, das ich als neu empfinde. Denn der Feminismus, den wir kennen, handelt immer davon, dass Männer und Frauen in einer konfrontativen Weise etwas zu klären haben. Aber im Fall dieser jungen Frauen ist es eher ein Spiel. Sowohl von Seiten der Frauen als auch von Seiten der Männer handelt es sich eher um Einladungen, um zusammen zu sein. Auch das finde ich neu, die Frauen hören mit dem ewigen Streit auf und sagen, "komm, ich will und ich mag es". Ich sehe so viele Analysen von Soziologen und Anthropologen in Brasilien, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie eine Woche in der Favela gewesen sind und danach ein Buch darüber schreiben. Untersucht wird immer noch die Favela als exotische Umgebung, in welcher der Männer und Frauen zwei vollkommen stereotype Rollen verkörpern. Doch so einfach ist es nicht: Gerade in der Favela ändern sich die Dinge rapide.

Meinst du, dass es durch den auf kommenden internationalen Erfolg von Baile Funk heute einen Unterschied in der Wahrnehmung der Favela gibt?

Klar, den gibt es: Denn die brasilianische Gesellschaft liebt immer das, was in Nordamerika und in Europa wertgeschätzt wird. Das ist natürlich positiv für die Funkeiros. Aber für sie ist es viel wichtiger, Erfolg auf den Bailes selbst zu haben. Es ist wichtig, auf die Bühne zu gehen und alle mitsingen zu sehen, weil sie mit diesen Shows ihr Geld verdienen. Mit dem Verkauf der CDs verdienen sie nichts, weil es alles Raubkopien sind. Wir haben heute in Rio ungefähr 700 Favelas und alle haben ihren Baue. Ein MC, der in der Funk-Szene schon bekannt ist, spielt auf zehn bis 15 verschiedenen Bailes am Wochenende und hat natürlich ausgesorgt. Denn ein Auftritt dauert nur ungefähr 20 Minuten, davon schaffen sie in einer Nacht vier bis sechs.

Wie hast du die Menschen erlebt, die du filmen wolltest und befragt hast. Wie waren ihre Reaktionen auf dein Projekt?

Ich hatte nie irgendwelche Probleme und konnte alle Fragen stellen. Ich hatte fast den Eindruck, dass sie darauf gewartet haben, dass endlich jemand kommt und sie sprechen lässt. Einige erzählten mir, dass zwar die Zeitungen und das Fernsehen über den Funk und die Favela berichten, dass aber niemand sie fragen würde, was sie davon halten. Es wird die ganze Zeit über sie geredet, aber niemand lädt sie dazu ein, sich an der Debatte zu beteiligen. Eher kommt ein Anthropologe zu Wort als ein Funkeiro.

- INTERVIEW: GESE DORNER, NELE HARLAN, SWANTJE PLÄHN, KATHARINA SCHNÄCKER & KAROLINE WEBER.
ÜBERSETZUNG: NELE HARLAN -

Dieses Interview ist in einer längeren Fassung im Buch "Funk The City: Sounds und städtisches Handeln aus den Peripherien von Rio de Janeiro und Berlin,) bei MetroZones (b_books) publiziert worden. (http://www.metrozones.info/)

Raute

Sa 16.1, 21.30h. Kino Reitschule

RIP! A REMIX MANIFESTO

Ein Manifest für die Copyleft-Kultur, ein spielerischer Umgang mit Copyrights, propagiert dieser Film auf polemische, humorvolle Weise. Im Zentrum steht die Mashup-Remix-Kultur und ihre tägliche Konfrontation mit dem Urheberrecht.

Eine unverschämte, dreiste Musik ist es, die Greg Gillis aus tausendundeinem Pogeschichts-Soundschnipsel zusammenbastelt. Sekunden aus den Werken von Queen, Bon Jovi, den Jackson 5, Beyoncé, allerlei Rapstars und Indie-Grössen blitzen manipuliert auf, verschwinden wieder und weiter geht die Reise durch die irrwitzigen Tracks des 27-Jährigen aus Pittsburgh. Er geht tagsüber seiner Arbeit als Labortechniker nach, verwandelt sich des Nachts in den grösstmöglichen Pop-Enthusiasten namens Girl Talk und versetzt die jugendliche Partymeute in Ekstase.

Allein, diese glückseligen, euphorischen, virtuos geschnittenen und vor allem originellen Mash-Ups dürften aus copyrighttechnischen Gründen gar nicht existieren, es sei denn, für jedes der unzähligen Samples würden die Rechte eingeholt. Die Rechnung für ein Girl-Talk-Album wie zuletzt das famose "Feed The Animals" beliefe sich auf läppische 4,2 Millionen Dollar.

Die illegale und doch populäre Kunst von Girl Talk ist Ausgangspunkt des filmischen Pamphlets "RiP! A Remix Manifesto". Der kanadische Regisseur und Internet-Aktivist Brett Gaylor polemisiert das Urheberrecht und attackiert die Praktiken der Grosskonzerne, die den Grossteil der Musik und Patente dieser Welt kontrollieren. Denn der kreative Umgang mit geistigem Eigentum in Zeiten des Internets sei kein krimineller Akt, so das Hauptpostulat von Gaylor, basiere Kultur doch immer auf Zitaten und Bruchstücken aus der Vergangenheit.

Ein früher Remix-Virtuose war seinerzeit Watt Disney: Seine Mickey Mouse imitierte Buster Keaton, Märchen wurden in die Gegenwart transformiert, Stummfilmklassiker in Trickfilm überführt. Die Ironie der Geschichte: Konzerne wie Disney sind es, die ihre Werke rigoros schützen, jegliches Zitieren mit Prozessandrohungen untersagen und in den USA bewirkten, dass das Urheberrechtsgesetz wesentlich verschärft wurde. Das Erbe der Kultur landet durch diese Machtfülle im Tresor, einem Tresor, den Gaylor und Gleichgesinnte wie der Creative-Commons-Erfinder und "coolste Anwalt der Welt" Lawrence Lessig knacken wollen.

Das "Remix-Manifesto" deklariert die Anliegen der Copyleft-Fraktion und zeigt auf, wie sich der Autorenbegriff in Downloadzeiten verändert hat - und wie urheberrechtlich geschütztes Material dennoch in einen Film eingeschleust werden kann. Dann nämlich, wenn dieses zur Argumentation gebraucht wird, gleich der Zitierweise in einer wissenschaftlichen Arbeit. Irgendwann ist dieser "Fair Use" im Film dann aufgebraucht, und statt den aufputschenden Klängen einer fiebrigen Girl-Talk-Show ist ein ungeschütztes Klavierstück zu vernehmen, ehe der Film zum Schluss nach Brasilien zieht; Das Land erscheint als idealisiertes Anderland, das die Open-Source-Kultur zum Prinzip erhebt und durch die Umschreibung von Medizin-Patenten billigere Medikamente anbieten kann. So kämpft die Copyleft-Fraktion nicht nur für eine kreativere, sondern auch für eine bessere und freiere Welt. Bis es soweit ist, gilt es allerdings noch einige argumentative Haken aus dem Weg zu räumen: So fehlt die Sicht der Musikanten, die nicht immer Bösewichte vom Schlage eines Lars Ulrich sind und auf Tantiemen auch angewiesen sind, gänzlich, wie auch Brett Gaylor trotz den hehren Remixpreisungen in der selben Verwertungskette angelangt ist. Denn die Rechte für den Copyleft-Film sind zumindest für die Schweiz nicht gratis; dem System scheint abseits des Virtuellen niemand zu entkommen.

- BENEDIKT SARTORIUS -

Benedikt Sartorius, Journalist und Co-Leiter der Filmreihe "Song & Dance Men"

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Interkulturelles Missverstehen

GLOBALER HIP HOP

Hiphop hat sich in den wenigen Jahrzehnten seit seiner Entstehung in der New Yorker Bronx der siebziger Jahre zu einer globalen Kultur entwickelt, die in rasanter Geschwindigkeit um den Globus gereist ist und heute Menschen auf allen Kontinenten in den Bann zieht. Ein Auszug aus einem längeren Artikel.

HipHop formt heute ein virtuelles Netzwerk von communities, das sich ständig durch neue Querverbindungen vor Ort rhizomatisch erneuert. Die Ausdrucksformen des HipHop sind 'Erbe' des Black Atlantic, jenes Systems historischer, kultureller, linguistischer und politischer Interaktion und Kommunikation, das seinen Ursprung in dem Prozess der Versklavung und Verschleppung von Afrikanern hat. Sie sind damit eine Antwort auf die 'sesshafte' Kulturgeschichte. Durch ihren Diasporacharakter der räumlichen Zerstreuung lösen sie kulturelle, territoriale und kolonialhistorische Mechanismen der Zugehörigkeit auf und schaffen mit diesem Prozess etwas Neues, das wiederum stark lokal verankert ist. Ausdifferenzierungen des HipHop in Europa, Afrika, Lateinamerika und Asien sind mit den Wandlungen einer schwarzen Protestkultur zur US-amerikanischen Massenkultur als histoire croisée verknüpft. Die 'Latinisierung' des Rap in den USA beweist die Transfer-Fähigkeit dieser musikalischen Form, die als eine Art 'open source' um die Welt reist.

Sounds auf Reisen

Die Frage der Verortung von hörbaren Phänomenen trat mit der Phase beschleunigter Globalisierung der letzten Jahrzehnte in den Vordergrund. Wie ändern sich Musik, Klänge und Geräusche, wenn man sie aus dem ,ursprünglichen' Kontext löst und sie auf Reisen gehen, sie mit anderen lokalen Klängen gemischt und neu re-kontextualisiert werden?

Was geschieht en détail, wenn soundscapes und musikalische Genres in neue kulturelle Kontexte transponiert werden?

Rap-Texte werden zwar gehört, aber oft nicht auf der Textebene verstanden, Anspielungen eines spezifischen kulturellen Gedächtnisses bleiben unerkannt, sprachliche Finesse und Kreativität unerkannt, textuelle und musikalische Wiederholungen gelten als monoton, sind aber oft Weiterentwicklungen von anderen Traditionen. Um dieses tiefe Verständnis der jeweils vor Ort zugrunde liegenden Inhalte der HipHop Kultur zu leisten, bedarf eines vielschichtigen Decodierungs- und Übersetzungsprozesses. Als Beispiel kann man den "Senerap" in Dakar nennen, der auf Wolof, Französisch und Englisch textet und bei den letzten Wahlen im Senegal (2007) die ansonsten nicht vorhandene demokratische Funktion der öffentlichen Opposition übernahm. Ein anderes Beispiel ist der 'Dusty Foot Philopsopher' K'Naan aus Somalia, der in Kanada lebt und über die Bürgerkriegserlebnisse auf Somali, Suaheli und Englisch rappt, dabei an lokale Erzähltraditionen anknüpft und sich in ironischer Abgrenzung zur Gangsta-Pose als afrodiasporische Stimme neu entwirft, mit der sich viele in Nordamerika und Europa Lebende Afrikaner identifizieren. Ein indigener bolivianischer Bevölkerungsteil rappt auf Aymara, der lokalen Indio-Sprache und gibt so seinen Unmut über politische Ausschlussmechanismen kund.

Wichtigkeit des lokalen Kontexts

Da HipHop extrem auf die unmittelbare Umgebung bezieht, ist es wichtig, auch den kulturellen und politischen Kontext - zumindest versuchsweise - zu 'übersetzen' und zu erklären, ohne den die komplexen Anspielungen und oft ironischen Verweise eines jeden Rap-Songs unverständlich bleibt. Damit verbunden ist auch die Frage, wie sich lokale Slangs und sprachliche Kunstformen der jeweiligen HipHop Szenen in andere Sprachen übersetzen lassen. Auf diese Weise gerät auch die Notwendigkeit der Übersetzung innerhalb einer Sprache wie Slang oder Verlan in den Blick, zudem kann man sprachliche Mischungen und Mehrsprachigkeit als Kennzeichen von Einwanderungsgesellschaften thematisieren. Auch die Frage, wie HipHop Entstehungskontexte und Referenzpunkte wie das 'Ghetto' oder die Hypermaskulinität in andere Kontexte übersetzt werden, scheint interessant. Wichtig scheint ferner die Übersetzung der Texte in die Performance mit ihrer Körpersprache zu sein (Körperlichkeit, Gestik) während der Aufführung als Interaktion mit dem Publikum.

- SUSANNE STEMMLER -

Susanne Stemmler ist Leiterin des Bereiches Literatur, Gesellschaft und Wissenschaft am Haus der Kulturen der Welt in Berlin.

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Musikethnologie Schweiz: Ein Plädoyer

MUSIKETHNOLOGISCHE HÖHENFLÜGE IN EINER POSTKOLONIALEN WELT

In Bern existiert wieder ein Lehrstuhl für eine Anthropologie der Musik. Zum Glück! Ansonsten droht die Musikethnologie aus den Lehrplänen der Schweizer Universitäten zu verschwinden. Das darf und muss nicht sein!

Eigentlich haben wir Musikethnologen den schönsten Job der Welt. Wir erschliessen uns wenig bekannte Orte - nah oder fern -, treffen uns mit Menschen und sprechen mit ihnen ausführlich über Musik. Dabei erhalten wir nicht nur differenzierte Einblicke in ihre musikalischen und ästhetischen Vorlieben, sondern auch in die sozialen und politischen Bedingungen und Spannungen, in denen sie leben und musizieren. Musik und Gespräche machen dabei fast immer deutlich, dass MusikerInnen auf ihr näheres und ferneres Umfeld reagieren: auf lokale, regionale oder globale Trends, auf Ideologien, Marktchancen, die Zensur oder die Kulturförderung. Publizieren wir das Erfahrene anschliessend in einer akademischen Zeitschrift, einer Zeitung oder auf einem Blog, so helfen wir mit, Wissen über einen Ort zu streuen; wir kämpfen gegen vereinfachende Schwarz-Weiss-Bilder an und hinterfragen Konzepte wie den "Clash of Civilizations". ...

Via Musik die Welt erklären

In einer zunehmend globalisierten Welt bekommen viele Menschen durch die Medien ein immer reichhaltigeres Repertoire an möglichen Lebensstilen vorgeführt; gleichzeitig erhalten sie dank der immer billigeren Informationstechnologie neue Mittel, sich der Welt mitzuteilen. Sozial- und Kulturwissenschafter schlagen deshalb vor, die Vorstellungen, Reflexionen und Visionen der Menschen ins Zentrum der Globalisierungs- und (Re)-Lokalisierungsforschung zu stellen; in ihnen finden theoretische Konzepte wie Identität, Transnationalität und Hybridität ihren lebendigen, oft widersprüchlichen Ausdruck. Die Forscher beziehen dabei künstlerische Darstellungsformen in ihre Analysen mit ein, weit sich menschliche Vor- und Einstellungen nicht in Worten allein ausdrücken, sondern meistens auch in Geschmäckern und künstlerischen Formen. Als Analyseinstrument eignet sich die Musik. Musikerinnen und Musiker drücken mit ihrer Auswahl von lokalen und globalen Melodien, Klängen und Rhythmen auch ihre Beziehung zur Welt aus. Sie offerieren musikalische Deutungsmuster, aus denen andere Menschen Haltungen, Werte und Lebensstile ableiten. Musik dringt tief in Gesellschaften ein und wird deshalb gerne von Machthabern für nationalistische Zwecke missbraucht oder aber gefürchtet und zensuriert.

Interdisziplinäre Forschung

Die musikethnologische Forschung arbeitet heute weitgehend interdisziplinär. Sie nutzt Theorien und Methoden aus den Sozial- und Kulturwissenschaften, der Musikwissenschaft, manchmal auch der Medienwissenschaft, der Psychologie und der Linguistik. Eine Frage, welche sie heftig und kontrovers diskutiert, ist, wie (und ob) musikalische und gesellschaftliche Analysen besser zusammengeführt werden können: Inwiefern kann man vom musikalischen Ereignis auf einen gesellschaftlichen Kontext schliessen? Und: Welche Erkenntnisse können die Kultur- und Sozialwissenschaften gewinnen, wenn sie die Musik als Quelle ihrer Forschung nutzen? Die Antwort scheint mir klar: Verbindet die Musikethnologie ihre Methoden der Musikanalyse mit den Theorien der Globalisierungs- und Lokalisierungsforschung, so liefert sie im besten Fall profunde Analysen über die Perspektiven, Zwänge, Chancen und Strategien von Menschen und Gesellschaften in der Welt von heute - und morgen. Die Forschung zeigt so jenseits der häufig bemühten Szenarien der kulturellen Hegemonie des Westens und der "McDonaldisierung" auf. Dies beinhaltet das Aufzeigen, wie kulturelle Formen, Stile und Vorstellungen heute im Wechselspiel zwischen Akteuren, staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen, lokalen und globalen Märkten entstehen und ausgehandelt werden.

Zu einer postkolonialen "Lokalität"

Im Fokus steht der kulturelle Wandel. Eine "moderne" Musikethnologie führt sich längst nicht mehr einseitig als Hüterin von musikalischen Traditionen auf und verteufelt gleichzeitig alles Neue. Was ist "lokale" Musik? Wie wird sie in einer zunehmend globalisierten und digitalisierten Welt von Musikerinnen und Musikern definiert und geschaffen? Dies sind zwei der Leitfragen, die mich antreiben etwa in meiner Dissertation zur subkulturellen Musik in Beirut. Alle portraitierten Musikerinnen und Musiker haben die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens im libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) gelebt. Parolen, Gewehrsalven und Bomben haben ihren akustischen Alltag derart einschneidend mitgeprägt, dass die Musiker noch heute alle Kriegswaffen allein vom Sound her erkennen. Sie begreifen mit dem Ohr, von wo nach wo eine Rakete zischt. Inzwischen sind die Hörerinnerungen in ihre Kunst eingeflossen - auf vielen Ebenen: Mazen Kerbaj imitiert auf seiner Trompete Hubschrauber, Gewehrsalven und Bomben. Raed Yassin sammelt Tonmaterial aus seiner Kindheit: Propaganda-Lieder, die politischen Reden der verschiedenen Fraktionen, dazu Radiojingles, Werbelieder, Pophits aus dem Krieg und alte Tonaufnahmen von der Stadt. AU das mixt er zu einem kontroversen Stück Ton- und Zeitgeschichte zusammen. Sind die Sounds von Kerbaj und Yassin zwei Beispiele für lokale Musik im 21. Jahrhundert? Ist Lokalität folglich die sehr persönliche Summe all dessen, was wir in unserem Leben gehört haben? Oder sind diese Künstler "verwestlicht", nur weil sie sich "westlicher" Stilformen bedienen?

Neue Ansätze einer "Alternativen Moderne"

Gelegentlich taucht der Begriff "Alternative Moderne" in der musikethnologischen Literatur auf. Das Konzept überzeugt. Gemeint ist eine "Moderne", die aus der eigenen Kultur schöpft, sie neu formuliert, oder gar neu erfindet. "Alternative Moderne" sollte dabei aber nicht essentialistisch definiert sein. Die globalisierte Welt kennt schon lange keine scharfen Irennungen mehr zwischen "eigen" und "fremd", "östlich" und "westlich". Die propagierte Andersartigkeit der Kulturen ist zu einem grossen Teil Konstrukt: sie wird gerne durch populistische Politiker, Regimes und Terrornetzwerke proklamiert - oder in der Musik durch den ständigen Fokus auf stereotype kulturelle Eigenheiten. Mein Idealtyp des alternativ-modernen Musikers kennt keine Scheuklappen. Er ist selbstbewusst und denkt postkolonial. In seiner Musik reflektiert er direkt oder indirekt die Diskrepanzen seines Lebens im 21. Jahrhundert. Gleichzeitig besitzt er profunde Kenntnisse in den komplexen und ästhetisch gereiften musikalischen Stilen, in denen er sich bewegen will, vielleicht in der indischen raga und tala Musik, in japanischer Hofmusik oder in der indonesischen Gamelan-Kunst. Er ist Purist im Umgang mit Sound, Struktur und Form, aber kein Verfechter stilistischer und kultureller Grenzen. Gerne versteckt er das zu offensichtlich "Lokale" tief in seiner Musik - er will partout nicht "exotisch" klingen, sich keinem anbiedern. Er arbeitet mit langen und ungeraden rhythmischen Zyklen, mit untemperierten arabischen maqam-Skalen, dem ausgeklügelten Arrangement der indischen dhrupad-Gesangskunst oder den Texturen afrikanischer Instrumente. Oder aber er analysiert die wachsende Lärmverschmutzung seiner Heimatstadt, verarbeitet Kriegsgeräusche, vertont Sounds aus Alpentunnels oder schafft Musik aus den Frequenzen, Interferenzen und Störungen der digitalen Welt. Die Musik des indischen Komponisten Sandeep Bhagwati folgt den Prinzipien und Regeln der indischen Musik, wird aber nicht von indischen Instrumenten gespielt. Der Ansatz erinnert an eine der Leitideen Béla Bartoks, laut der die Elemente einer lokalen Musik zur musikalischen Muttersprache des Komponisten werden müssten, um so letztlich in allem mitzuschwingen, was dieser künstlerisch ausdrückt. "Lokale" Musik muss also nicht zwingend beim ersten Höreindruck "lokal" klingen.

Das mag konstruiert erscheinen - typisch "westlich"! Musik müsse klingen, nicht nur im Kopf geboren sein, mag einer einwenden - und hat natürlich Recht: Den wirklich grossen Musiker, der seine alternativ moderne, postkoloniale Vision als tief emotionales Ereignis offeriert, gibt's nicht als Massenprodukt. Dürfen afrikanische Musiker denn keine traditionelle Musik mehr spielen, mag ein anderer fragen. Selbstverständlich dürfen sie das! Es geht lediglich darum, unseren Blick auf Musikerinnen und Musiker zu richten, die gerne vergessen gehen - zwischen den Volksmusikern und "klassischen" Kunstmusikern auf der einen Seite und den kommerziellen Popmusikern auf der anderen. Dazwischen aber liegt ein wichtiges und faszinierendes Forschungsfeld.

Darum ist sie relevant, die Musikethnologie und muss ihren Platz in der Forschungslandschaft Schweiz beibehalten können.

- THOMAS BURKHALTER -

Thomas Burkhalter hört gerne Musik. Er ist Musikethnologe, Kulturjournalist und Gründer des norient Netzwerkes.

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Sein Zuhause komponieren

ILLUSIONEN AUS LÄRM UND AUS STILLE

"Vorher war mein Elternhaus fast eine Insel der Stille im indischen Alltag gewesen, jetzt waren wir überall die lautesten Nachbarn." Der Komponist Sandeep Bhagwati wuchs in Indien auf, heute lebt er in Deutschland. Wie prägen die Höreindrücke seiner Kindheit sein heutiges musikalisches Schaffen?

Ich wuchs auf in einer ruhelosen Welt. Im Haus meiner Großeltern, im Bombay meiner Kindheit war Stille ein kostbares Gut. Altes war laut, durch die immer offenen Fenster drängten die Straßen in die Zimmer, mit ihren kreischenden Hupen, knatternden Dieseln, den melodischen Schreien der fahrenden Händler. Auch im Haus schrie man selbst dann, wenn man es sachlich meinte: um das unaufhörliche Brausen der Stadt im Wohnzimmer zu übertönen, hatten meine Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins ihre Stimmen zu kräftigen Organen erzogen.

Nie war man allein. Aus der Küche drangen Zisch-, Brutzel- und Hackgeräusche, aber auch jene oft in lautem Gekeife oder Gelächter kulminierenden Debatten in drei Sprachen - Gujarati, Marathi und Englisch - die sich nahtlos ins Esszimmer und in den Shivaji Park gegenüber fortsetzten, wo jeder Sonntag mit endlosen Lautsprechertests begann, Probeläufen für politische Massenveranstaltungen, deren geifernde Appelle regelmäßig den Hof und die Bäume vor unserem Haus überschwemmten. Darin punktierten Affen, Tauben, Mynahs und Krähen den allgegenwärtigen Lärm, aber auch die stillsten Minuten, kurz vor Tag, in jener verhaltenen, verwunschenen Zeit, in der das Hecheln hunderter Morgengymnasten den Tag begrüßte, Tennisbälle und -rufe, das Klackern der Bambusstäbe, die in wie rituelle Tänze anmutenden Verrenkungen aneinandergeschlagen wurden. Manchmal konnte man, in diesen kurzen Minuten des Zwielichts, tatsächlich das nahe Meer rauschen hören, der Bordun für all die bald darauf einsetzenden Morgengesänge aus den Häusern rundum, und für die ferneren Rufe der Muezzins.

Die Welt war ein brodelndes Miteinander verschiedenster Klänge, menschlicher, technischer, natürlicher - und von Musik. Die singenden Rufe der Bettler, die blechern und quäkend lärmende Fröhlichkeit der Hochzeitsbands, die jeden Winter zu einem monatelangen Fest werden ließ, die kreischenden Radios, die obsessive musikalische Beschallung jedes Unterfangens im öffentlichen Raum diente nicht, wie hierzulande, der Erzeugung klingender Schutzglöcken vor dem Alltagslärm, sondern erzeugte, dendritengleich, ein Netz von Beziehungen: da sang die Tante in der Küche das Lied aus einem vorbeifahrenden Taxi mit, hupte der Taxifahrer im Rhythmus der an ihm vorbeiziehenden Prozessionsmusik, die wiederum Filmschlager intonierte, die aus einem der Läden am Straßenrand quollen.

Jeder hörte, jeder machte aber auch Musik: Fast jeder ältere Mensch, der mir in Indien nahe war, sang täglich seine Gebete und Lieder vor sich hin, in einer melodischen Komplexität, die mir noch heute erstaunlich erscheint. Klassische und populäre Musik bedeuteten nicht musikalische Kategorien, sondern verschiedene Stufen der Aneignung: alles, was man wiederholen konnte, mit sich singend im Alltag umhertragen, war populär - klassische Musik war dagegen das Unwiederholbare, das den Moment des Hörens und Machens herausschälte aus der ewigen Wiederholung der Welt.

Die Welt war eine Haut aus Lärm, in der man geborgen war, die einen nicht in Ruhe ließ. Dann kam ich nach Deutschland, aufs schwäbische, später norddeutsche Land, mit seinen geschlossenen Fenstern, den großen Schallschluckern Regen und Schnee, den wortkargen Konversationen im Unterton. Vorher war mein Elternhaus fast eine Insel der Stille im indischen Alltag gewesen, jetzt waren wir immer und überall, wo wir wohnten, die lautesten Nachbarn.

Was ich mitnahm aus Indien, war das Bewußtsein dafür, dass kein Klang je alleine daherkommt - aber auch die Sehnsucht nach dem köstlichen Geschmack der Stille und der Kraft, die aus ihr entsteht. In Hammah, dem niedersächsischen Dorf meiner Jugend am Rande des Sterneberger Moors, wurde ich in der regenrauschenden Stille der einsamen Nachmittage zum Komponisten, der Töne aufsuchte und aus der Erinnerung klaubte. Unbeholfen anfangs (und eigentlich noch immer), aber unbeirrt in meiner Suche nach dem sich immerzu wandelnden, und genau aus diesem Grund letztlich intellektuell undurchdringlichen Zusammenwirken disparater Klänge.

Tatsächlich hat mich Musiktheorie bei aller intellektuellen Lust, die sie mir ermöglichte, nie wirklich gefesselt, ihre pseudo-mathematischen Spiele und pseudo-histologischen Präparate, seien es Skalen, harmonische Analysen, Frequenzraster, Formmodelle, Mikrotöne, die mich allesamt sehr lange Zeit selber verwirrten, vom Komponieren dessen, was ich wirklich suchte, abhielten - heute erscheinen sie mir als ebenso viele Mittelchen gegen die Folgen einer frühkindlichen akustischen Mangelernährung. Ihre bedauerlichen Opfer schneiden sich in heroischer Geste die Ohren ab, um den Tumult (und die Süsse) der Welt nicht ertragen zu müssen. So wollte ich nicht leben.

Mein kompositorischer Umgang mit den verschiedenen Klangwelten, in die ich geworfen wurde, und auch jenen, die ich später aufzusuchen begann, arbeitet sich keineswegs an einer Konjunktion musiktheoretischer oder klanglicher Kulturphänomene ab. Das würde meinem Empfinden nicht gerecht. Mein Weg in diesem terrain vague ist ganz persönlich, aber darin vielleicht auch verbindlicher. Er lebt von dem aus meinem Werdegang erklärlichen akustischen Gefälle zwischen Großstadt und Land, zwischen Gesang und Geräusch, vor allem aber zwischen den Regeln des Zusammenseins - und der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit von Harmonie und Bedeutung.

Einige meiner neuesten Arbeiten wie "Inside A Native Land" oder "Mora" erforschen vor allem das letzte Gefälle: wie kann man viele musizierende Individuen musikalisch einander zuhören lassen, ihnen Regeln geben, die ihnen den Kontakt zueinander erleichtern - und wie kann man dann aus diesem Kontakt Bedeutung entstehen lassen, eine Bedeutung, die ich als Komponist selbst noch nicht kenne, die jedoch auch über den Moment der Entstehung hinaus wirksam bleiben kann. Noch sind es nahezu monochrome Tableaux, die ich da entwerfe, in denen das Wuseln der Klänge sich vorerst auf wenige Gesten beschränkt, akustische Snapshots aus meiner Erinnerungstruhe, die Geschichten nur zwischen den Bildern erzählen.

Vielleicht ist das, so denke ich manchmal, überhaupt immer so, dass Bedeutungen nur im Zwischendrin entstehen. Hier ein Kinderschrei, dort ein Klavierton, dahinter der Diesel eines Lastwagens, ein Bohrer in der Wand und ein paar Worte Türkisch von der Straße herauf - so klingt es in meinem Berliner Arbeitszimmer gerade: und das ist eine schöne Metapher für meine Art von interkultureller Musik. So komponiere ich mir auch mein musikalisches Zuhause.

Immer wieder höre ich ich im Westen, dass wirkliche Musik nur aus der Stille kommen könne, aus der Stille der Welt. In Indien ist es dagegen die Lebensaufgabe eines klassischen Musikers, das Tosen der Welt mit heißem Bemühen in eine metaphysische Stille zurückzuführen.

Mir ist beides als Erfahrung nicht fremd - aber ich weiß: mein Glück als Musiker finde ich nur im Wechsel der Perspektiven, im Wirbel der Bedeutungen, in jener Gleichzeitigkeit des sich Fremdartigen, die mir ins Ohr brüllt, dass die Welt der Klänge formlos sei, ohne Ziel und ohne Gestalt, ein unzähmbares Flirren von Lebenszeichen und Klängen. Dann fühle ich mich wohl und bei mir. Und kann mich ruhig an meinen Schreibtisch zwischen all diesen Kulturen setzen - und komponierend in mich hinein dem lauschen, was von der rauschhaften Kakophonie der Welt, die mich jeden Tag meines Lebens durchweht, in meinem Hören hängen blieb.

- SANDEEP BHAGWATI -

Sandeep Bhagwati ist ein indischer Komponist, Musiker und Musikwissenschafter

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Swahili Rap in Tansania

ICH FAHR' TOYOTA, WAS FÄHRST DU?

Tansania besitzt eine vitale Rap-Kultur, die die gesellschaftlichen Probleme des Landes diskutiert - und den Musikern wie im HipHop-Heimatland USA sozialen Aufstieg verheisst.

Der schmale, schüchterne Junge mit der Akustikgitarre hat es schwer. Ganz allein steht er auf einer Bühne mitten in Daressalam. "Geh nach Hause", ruft jemand aus dem Publikum schon während des ersten Songs, und von da an ist kein Hatten mehr. "Geh doch in die Kirche", schlägt der nächste vor, und ein anderer ruft: "Du heulst wie eine Katze!" Leise Lieder, wenig Bizeps - melancholische Akustikgitarrenspieler können sich verpfeifen. Das, schimpft einer, sei doch wohl "weiße Musik".

Es ist ein Abend aus der Kategorie Bilderbuchafrika: eine bunt geschmückte Bühne im Stadtpark Mnazi Mmoja. Afrikanische Musiker in Baströcken spielen auf Trommeln und Marimbas panafrikanische Musik und tanzen ekstatisch Hüftkreistänze. Der Junge mit der Gitarre ist nur Rahmenprogramm. Bands aus vier Ländern, zusammengetrommelt von "Jeunesse musicale", der weltweit größten musikalischen Jugendorganisation, kämpfen im Finale um eine Europatournee. Am Ende siegen die mit den buntesten Kostümen, den wildesten Tänzern und den ethnischsten Trommeln - also die Vertreter einer in Europa allzu bekannten afrikanischen Musiktradition. Das Publikum applaudiert höflich. Nur einmal hat der Wettbewerb Popkonzertcharakter - als die einzigen Rapper im Finale auftreten. Ordnungshüter mühen sich, hüpfende Jugendliche in ihrem abgesperrten Bereich zu halten. Sie haben keine Chance. Die Metapher für die Freiheit der Bewegung heißt Bongo Flava - tansanische, kiswahilisprachige HipHop-Musik.

Das Wort Bongo ist nicht nur der Spitzname für Rapper, sondern zunächst einer für Daressalam selbst. Bongo kommt vom Wort für Gehirn, ubongo: Wer hier wohne, der brauche Grips. um zu überleben, so die gängigste Interpretation. Daressalam ist ein raues Pflaster, auch wenn die Landbevölkerung die wirtschaftliche Kapitale Tansanias als gelobtes Land betrachtet. Doch die wenigsten, die hierher kommen, finden einen Job. Bongo Flava gilt daher als der sicherste Weg, berühmt zu werden. Und an das ultimative Statussymbol zu kommen: einen eigenen Toyota.

Wo das Leben nicht immer fair ist, da ist HipHop zuhause. Fast jeder, der in den Straßen von Daressalam Kassetten oder Holzschmuck verkauft oder seine Dienste als Schuhputzer anbietet, hat schon eigene Rhymes geschrieben. Das Problem ist: Nur die wenigsten haben genug Geld, um Demo-Versionen ihrer Stücke produzieren. Von denen wiederum werden kaum welche im Radio gespielt. Die Erfolgsaussichten als Rapper sind tatsächlich also kaum höher als die jener, die auf den normalen Arbeitsmarkt in Daressalam drängen - von denen bekommen am Ende nur fünf Prozent eine Anstellung. Wer es jedoch schafft, eine Kassette herauszubringen, der tut das richtig, mit allem Medien-Tatütata. So eine Chance muss man nutzen. Vielleicht ist es die einzige im Leben: um Geld zu machen. Und um seine Botschaft zu verbreiten: Bongo Flava ist das Schwarze Brett der tansanischen Jugend. Es gibt nur nicht für jeden einen Reißnagel.

"Wir sind Lehrer", sagt Hamis Mohamed Mwinguma, der ein Trikot der Marke Nike trägt und sich als Rapper Mwanafalsafa nennt - Kiswahili für Philosoph. "Uns hören die Leute zu, also ist es unsere Aufgabe, den Leuten etwas zu sagen, Mann." Und so dreht es sich, wegen der ujumbe, der Message, in den Texten oft um sozial relevante Themen. Um HIV etwa. Der tragische Held aus Mwanafalsafas bekanntestem Song "Alikufa kwa ngoma" zum Beispiel predigt ständig gegen Ehebruch. "Aber trotzdem stirbt er an der Krankheit", sagt Mwanafalsafa. "Darin liegt die Botschaft: Jeden kann es erwischen." Bongo-Flava-Songs sind die wirkungsvollste Ergänzung zu den vielen Plakaten, die in Daressalam vor der HIV-Ansteckungsgefahr warnen.

Neben den Themen Aids, Armut und Arbeitslosigkeit stehen im tansanischen HipHop drei ganz andere Sachen im Vordergrund: Ablenkung, Abtanzen, Anbandeln. Wobei die Bereiche "Probleme" und "Party" oft zusammen behandelt werden. Die Rapper, die beim Wettbewerb der "Jeunesse musicale" auftreten, verbreiten mit aufgeblasenen Kondomen gute Laune zu ihrem Song über Aids. Das Muster zieht sich durch die Hitparade: In "Bush Pati" der Solid Ground Family geht es darum, dass sich auch ohne Geld feiern lässt; in der Ghetto-Hymne "Mtoto wa Geti Kali", mit der die aus den Slums von Temeke stammende Gruppe Gangwe Mobb in ganz Ostafrika berühmt wurde, um die schwierige Liebe zwischen einem armen Jungen und einem reichen Mädchen. Die Moral: Das Zusammengehörigkeitsgefühl in den Slums, wo man sein Hab und Gut "auf dem Platz einer Briefmarke" unterbringen kann, sei bedeutsamer, als in einer großen Villa zu leben, einsam und allein.

Der tansanische HipHop war inhaltlich von Beginn an dem Wertesystem der eigenen Gesellschaft angepasst. Als in den frühen neunziger Jahren der erste Musiker auf die Idee kam, auf Kiswahili zu rappen, benutzte er die Beats von Naughty by Natures "O.P.P." - die amerikanische Slang-Kurzform für "Other People's Pussy/Penis". Die tansanische Version aber hieß "Omba Pure Penzi" - "Verlange wahre Liebe". Mit dem Lied begann der Aufstieg des kiswahilisprachigen Rap. Während ältere Musiker ihn als US-Kopie und Zeichen für die kulturelle Unselbständigkeit des Landes kritisierten, wurde er zur muziki ya kizazi kipya, zur "Musik einer neuen Generation", wie die Zeitungen die Generation der unter 30-Jährigen nennen, der über fünfzig Prozent der tansanischen Bevölkerung angehören.

Heute, ein Jahrzehnt später, hat sich nach den Texten auch die Musik verselbständigt. Die Zeiten, in denen sich die Rapper streng an amerikanischen Vorbildern orientierten, sind vorbei. Bongo Flava ist auch musikalisch ein eigener Stil geworden, der panafrikanische Traditionen, Instrumente und Melodien einsetzt. Zwar schimpfen die Alten noch immer. Doch in ihrer Kritik schwingt auch Missmut darüber mit, dass sie die ständig neuen Jargonwörter der Jugend nicht verstehen. Die Rapper finden Bongo Flava nur konsequent: Sie berufen sich auf afrikanische Wurzeln von HipHop und sind stolz auf ihre ganz eigene Form, die dennoch universell verständlich ist. "Wir retten die Kunst von Tansania, damit die Wirtschaft ansteigt", heißt es im Refrain von Afande Seles "Mtazamo", dem "Besten Rapsong 2002". Für das Intro hat der Produzent eine Akustikgitarre benutzt. Solange es Bongo Flava ist und sich dazu tanzen lässt, ist das erlaubt.

- KLAUS RAAB -

Klaus Raub ist Ethnologe und Kulturjournalist. Er lebt in Berlin.

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Nachrichten der Familie Schoch Teil 3

WIR BLEIBEN - VORERST

Auf dem besetzten Fabrikareal Binz in Zürich ist vorerst ein bisschen Ruhe eingekehrt. die Besetzung läuft weiter und wird vom Kanton toleriert - bis hierhin war's ein steiniger Weg.

Nachdem im April 2009 im Amtsblatt bekannt wurde, dass der Kanton Zürich die seit dreieinhalb Jahren besetzte Liegenschaft am Fusse des Uetlibergs dem Meistbietenden verkaufen will, hat für uns Bewohner- und BetreiberInnen ein eine aufreibende Zeit begonnen. Nach Briefen, E-Mails, Gesprächen, Aktionen und Dutzenden Sitzungsstunden wurde es im Herbst dieses Jahres ein weiteres Mal ziemlich eng für die Binz.

Der Kanton liess uns wissen, dass er auf dem Areal Sondierungsbohrungen durchführen müsse um abfallrechtliche Untersuchungen zu machen und Grundwasserproben zu nehmen. Anfänglich wollte der Kanton, dass wir deshalb auf Ende Oktober die Hallen räumen und ausziehen. Darauf haben wir uns über mögliche Abläufe solcher Bohrungen informiert und herausgefunden, dass solche Untersuchungen auch bei bestehenden Gebäuden und besetztem Areal gemacht werden können und deshalb ein Abbruch eine möglicherweise jahrelange Baubrache hinterlassen würde. Der Kanton schenkte unserer Einsicht vorerst keinen grossen Glauben und wir mussten einen Geologen beauftragt, das ganze aus "fachmännischer" Sicht zu untersuchen. Seine Abklärungen ergaben, was wir bereits vorher wussten, nämlich dass die nötigen Untersuchungen bei bestehenden Gebäuden machbar sind.

Der Kanton trat darauf mit dem Vorschlag an uns, die Besetzung unter folgenden drei Voraussetzungen bis Ende Juli 2010 weiterlaufen zu lassen:

1. Die Familie Schoch behindert die nötigen Untersuchungen in keiner Weise.

2. Per Ende Juli 2010 muss die Familie Schoch das Gelände räumen und alles mitnehmen, was von ihr und ihren MitbewohnerInnen aufs Gelände gebracht wurde.

3. Die Familie Schach muss eine Sicherheitsleistung in der Höhe von 20.000 Schweizer Franken bezahlen. Damit soll verhindert werden, dass nach unserm Auszug eventuelle Entsorgungskosten für den Kanton anfallen.

Nach langem diskutieren und einigen - zum Teil umsetzbaren, zum Teil eher sehr kreativen Ideen - lautete unsere Antwort an den Kanton wie folgt:

1. Wir werden die nötigen Untersuchungen nicht behindern.

2. Wir schlagen vor, im Frühling 2010 den aktuellen Stand und Terminplan mit dem Kanton zu besprechen, da die Resultate der Untersuchungen noch ausstehen und im Moment nicht definitiv klar ist, was dann mit dem Grundstück geschieht.

3. Wir werden bis Ende Jahr 20.000 Schweizer Franken bereitstellen.

Die Reaktion des Kantons, welche uns am 7. September 2009 erreicht, war für uns wie ein Schlag ins Gesicht, da wir der Meinung waren, weitgehend (ausser das Auszugsdatum) auf die Forderungen des Kantons eingetreten zu sein.

So liess man uns in dem Schreiben wissen, dass unsere Bestätigung für den Kanton nicht ausreiche. Das Geld müsse nun bis Ende September einbezahlt sein, ansonsten werde umgehend die Räumung und der Abbruch veranlasst.

Die gleiche Drohung wurde nochmals gemacht, falls es zukünftig irgendwelche Beschwerden geben sollte.

Nach viel hin und her haben wir uns trotz ungutem Gefühl und Wut im Bauch dazu entschieden die 20.000 Schweizer Franken zu bezahlen, da die Binz uns als Lebens- und Arbeitsort, sowie als Infrastruktur für unzählige weitere Projekte zu wichtig ist.

Einfach so wollten wir dem Kanton das Geld aber nicht überweisen - denn ein vollständiger Kniefall hätte wahrscheinlich hart am internen Ego gekratzt und gleichzeitig sollte gegenüber dem Kanton, auch mit Blick auf zukünftige Besetzungen, klargestellt werden, - dass solche "Sicherheitszahlungen" nicht im Geheimen und ohne Trubel über die Bühne gehen werden.

So karrten wir noch im September 2009 sieben Garetten voll 5-Rappenstücke, präziser ausgedrückt 720 Kilogramm Geld oder eben 20.000 Schweizer Franken zum Gebäude der kantonalen Verwaltung und stellten es den Verantwortlichen in den Flur - frei nach dem Motto "Geld ist Geld und Sperrgut ist Sperrgut" oder "für euch die 5er, für uns das Weggli".

In den lokalen Medien und einem Teil der Bevölkerung stand die Binz danach als kreative, jung "gebliebene" und witzig-spritzige Besetzung da, da sich ja sogar der Verantwortliche beim Kanton vor den Medien ein Lächeln abringen konnte. - Wie angenehm!!!

Nichts desto trotz wollte der Kanton von uns eine Nachzahlung für die Bearbeitungskosten der 5erli-Aktion (Dreck und Papierchen aus den Schubkarren lesen, die Münzen in Behälter abfüllen, eine Transportfirma organisieren und der Transport = 3007 Franken 80 Rappen).

In einer nächsten Kontaktaufnahme wurde von Kantonsseite gleich ein neues Problem genannt, welches "wenn nötig" zu einer Räumung führen könne, nämlich die anscheinend steigenden Lärmklagen - nun ja, wir werden sehen, was als nächstes ins Haus flattert. Für uns war das letzte dreiviertel Jahr mühsam und nervig. Seit wir uns vom Kanton bis Ostern verabschiedet haben, kehrt der Alltag langsam zurück in die eiskalten Hallen.

Aber auch jetzt stehen weitere Diskussionen und Fragen an wie zum Beispiel: Wie treiben wir kollektiv 20.000 Schweizer Franken auf? Wie gehen wir mit weiteren Nörgeleien des Kantons um? Sollen wir uns auf die nächsten Auseinandersetzungen mit dem Kanton vorbereiten? Und wenn ja wie? Was ist die Binz eigentlich? Was bedeutet besetzen für uns? Wo liegen unsere Gemeinsamkeiten? Müssen wir alle Mailanfragen (von SchülerInnen der HDKZ) beantworten? Wer holt Holz und wer hat noch Bier?

Vielen Dank für eure Unterstützung!

- FRIDA UND RESI SCHOCH -

PS. Die ersten Sondierungsbohrungen in der Binz sind abgeschlossen. Insgesamt wurden dabei auf dem Aussengelände drei Löcher mit einer etwa hubstaplergrossen Maschine gebohrt. Ein Glück, dass ein Geologe beauftragt werden musste um festzustehen, dass dafür die Hallen nicht abgerissen werden müssen!!!

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ALTERNATIVEN SÄEN - TOUR DE LORRAINE 10

Am 23. Januar findet bereits zum zehnten Mal die Tour de Lorraine statt. Entstanden ist die TdL aus den Protesten und Diskussionen um das World Economic Forum (WEF) in Davos. Attac Bern, die Anti-WTO-Koordination und die städtische OeMe Kommission organisierten die erste Tour vor zehn Jahren, mit dem Ziel die Inhalte der Anti-WEF Kampagne einem breiten Publikum näher zu bringen und für die Demo in Davos zu mobilisieren. Mit dem Gewinn des Anlasses wurden dann auch die gemeinsam durchgeführten Informationsveranstaltungen, sowie die Proteste in Davos finanziert. Die Idee zur Tour de Lorraine hatten sie von den drei Beizen Du Nord, Brasserie Lorraine und dem Café Kairo abgekupfert, die einige Jahre zuvor bereits einen gemeinsames Fest unter diesem Titel durchgeführt haben.

Seither sind zahlreiche Beizen und Clubs dies- und jenseits der Lorrainebrücke dazu gekommen und die TdL hat sich zu einem schon fast traditionellen winterlichen kulturellen Grossanlass gemausert. Geblieben ist der politische Hintergrund und die nicht-kommerzielle Ausrichtung, Während in den ersten Jahren die Einnahmen ausschliesslich für die Anti-WEF Kampagnen genutzt wurden, wird der TdL-Gewinn seit einigen Jahren an verschiedene Projekte und Organisationen verteilt.

Nachdem die Protestbewegung Jahr für Jahr auf dem Weg nach Davos von der Polizei gestoppt und angegriffen wurde, und die WEF-Proteste an Kraft verloren hatten, wurde vor einigen Jahren der Verein Tour de Lorraine gegründet. Der Verein organisiert seither die jährliche TdL und entscheidet vierteljährlich über Anträge von verschiedensten Gruppen und Organisationen, die um finanzielle Unterstützung anfragen. Die Liste der Projekte, die mit finanzieller Hilfe der Tour de Lorraine durchgeführt werden konnten, ist auf der Webseite publiziert.

Seit der Vereinsgründung wird an der TdL jeweils ein politisches Thema unter die Lupe genommen. Dazu werden dann Infoveranstaltungen organisiert, Filme gezeigt oder Poetry Slams durchgeführt. Nach der "Finanzkrise", der "Pharmaindustrie" und der "Ernährungssouveränität", steigt die 10. Tour de Lorraine am 23. Januar 2010 unter dem Motto "Alternativen säen". Verschiedenen Projekten und Ideen wird eine Plattform geboten, die eine Alternative zum auf Konkurrenz und Profit ausgerichteten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell anbieten und entwickeln. Neben der Lancierung eines Projekts zu Vertragslandwirtschaft in Bern, bei dem sich Bauernbetriebe in der Region mit KonsumentInnen in der Stadt vernetzen, werden am Nachmittag des 23. Januars in der Reitschule Workshops mit Leuten aus diversen bestehenden Projekten angeboten.

Anfang Januar erscheint eine Ausgabe der Zeitung antidot inclu, in der einige dieser Projekte näher vorgestellt werden und auch das Kulturprogramm der TdL, sowie die Workshops im Detail angekündigt werden. Die megafon AbonnentInnen bekommen die Zeitung nach Hause geschickt, zusammen mit einer Handvoll Tomaten-Sämli, auf dass der Widerstand gegen das System weiter spriesst - und Alternativen gesät werden.

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Poetry Slam zur Finanzkrise vor der UBS beim Bahnhofplatz an der TdL09

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Aulabesetzung an der Uni Bern

WAS WIR FORDERN UND WARUM

Wieso besetzten die Studierenden die Aula der Uni Bern? Was ging da überhaupt ab? Den Studierenden geht es doch gut, was motzen die da rum? Solche Fragen haben sich in letzter Zeit viele Leute gestellt - und hier sollen sie beantwortet werden.

Die Zeit in der Aula ist nicht nur zum Bier saufen und Rumhängen genutzt worden (wie dies böse Zungen behauptet haben), sondern vor allem zum Arbeiten. Arbeitsgruppen haben sich mit unterschiedlichen Aufgaben beschäftigt, darunter auch mit der Ausarbeitung konkreter Forderungen, die darauf im Plenum einen Konsens gefunden haben (Demokratie ist uns wichtig). Aber was genau sind unsere Forderungen, die nach der Besetzung weiterhin bestehen?

Die vier Hauptforderungen - 1. Bildung für alle

"Freie Bildung für alle!" steht zuoberst im Forderungskatalog. Ich habe bereits den Vorwurf gehört, dass man dann gleich die Maturität abschaffen könne. Das ist damit sicherlich nicht gemeint. Nein, uns geht es darum, dass es nicht richtig ist, wenn der Zugang zu höherer Bildung immer mehr vom sozio-ökonomischen Status abhängig gemacht wird. Wer keine reiche Eltern hat und trotzdem studieren will, muss arbeiten gehen und/oder kriegt mit etwas Glück ein Stipendium, das aber meistens nicht ausreicht (wie ich selber erleben muss). Dazu kommt noch, dass jeder Kanton eine eigene Stipendiums-Regelung kennt und die Ausschüttungen teilweise extrem unterschiedlich ausfallen. Wie soll man sich auf das Studium konzentrieren, wenn man sich ständig um die Finanzen sorgen muss? Im neuen Uni-Gesetz des Kantons Bern, das bald in die Vernehmlassung kommen soll, steht die Möglichkeit, die Studiengebühren zu verdoppeln (wie letzthin im Kanton Zürich) und in jedem Fach einen Numerus Clausus einzuführen. Eine Uni für eine reiche Elite? Und wenn man aufgrund Präsenzkontrollen in jede Vorlesung sitzen muss und deswegen weniger arbeiten kann, dann trifft das nicht diejenigen hart, die von Mami und Papi alles bezahlt bekommen. Was ist mit alleinerziehenden Müttern mit kleinen Kindern zum Beispiel? Nebst Abschaffung der Präsenzkontrollen wären auch Ausarbeitung von Teilzeitstudienplänen und die Verringerung der Anzahl Pflichtveranstaltungen geeignete Methoden. In diesem Punkt hat unser Rektor, Urs Würgler, wenigstens eingeräumt, dass Präsenzkontrollen in geprüften Vorlesungen absurd seien.

2. Eine demokratische Uni

Als zweites fordern wir: "Mehr Demokratie an der Uni!". Einige werden sich fragen, wieso wir das fordern, gibt es doch einen StudentInnenrat der SUB, der demokratisch gewählt wird, und auch der Mittelbau und die Fachschaften, werden in Entscheidungen mit einbezogen. Dass dies nur ein schöner Traum ist, hat vor kurzem die Misere mit dem Bachelor Sozialwissenschaften gezeigt, bei dessen Ausarbeitung Studierende wie Dozierende systematisch ausgeschlossen worden sind. Aus meiner persönlichen Erfahrung im StudentInnenrat kann ich nur bestätigen, dass die SUB sich schon seit Jahren für mehr oder weniger die gleichen Forderungen einsetzt, mit wenig Erfolg ständig wurden wir abgewimmelt, vertröstet und nicht ernst genommen. Und was soll der Artikel im neuen Uni-Gesetz, der die Schaffung eines Beirats ermöglicht? Wieso soll dem Senat, in dem die Studierenden und der Mittelbau vertreten sind, die Kompetenzen entzogen und das Rektorat gestärkt werden? Was ist mit dem Putz- und sonstigem Personal, das ausgelagert wurde? Wir wollen keine Uni, an der alles von Oben diktiert wird und die Demokratie zerstört worden ist! Und dies in einem Land, das sich stets seiner demokratischen Tradition rühmt!

3. Gegen die Ökonomisierung der Bildung

Die dritte Forderung lautet: "Gegen die Ökonomisierung der Uni!". Aber was ist schlecht daran? Um das zu verstehen, muss man etwas über die universitäre Tradition und den Bildungsbegriff wissen. Die Universität ist in erster Linie nicht ein Ort zur Berufsausbildung (mit der deutlichen Ausnahme des Fachs Medizin) sondern ein Ort der Bildungsvermittlung. Hier soll Forschung betrieben, kritisch gedacht und Kultur geschaffen werden. Die Fruchtbarkeit dieses Bildungsverständnisses hat sich immer wieder gezeigt. Was soll nun aber daraus gemacht werden? Eine Schule für zukünftig wirtschaftlich erfolgreiche Menschen? Dies betrifft nicht nur die Lehre, sondern auch die Forschung, insbesondere wenn es um die Verteilung der Forschungsgelder geht geforscht soll danach werden, was sich am besten vermarkten lässt. Wo ist da die freie Forschung geblieben? Wahrscheinlich sollten wir eine Totenwache abhalten. Doch auch die Lehre hat darunter zu leiden. Nicht länger sollen sich Studierende intensiv und tiefgründig mit dem Stoff auseinandersetzen und kritische Fragen stellen, sie sollen möglichst schnell "Fähigkeiten" erwerben, die auf dem Arbeitsmarkt nützlich sein sollen, um dann möglichst schnell die Uni wieder zu verlassen und den Leuten, die eine Lehre absolviert haben, Konkurrenz machen. Weiterhin ist da noch dieser Beirat, der geschaffen werden soll, sollte das neue Uni-Gesetz angenommen werden. Trotz Herrn Pulvers (des Erziehungsdirektors des Kantons Bern) gegenteilige Versicherungen, bin ich skeptisch, ob damit nicht den Vertretern der Wirtschaft Tür und Tor zur Einflussnahme auf die Uni geöffnet werden soll. Wo sind die dem Primat der Wirtschaft und dem allgegenwärtigen Leistungsdruck in unserer Gesellschaft entzogenen Freiräume des Denkens geblieben?

4. Der Verschulung der Uni entgegenwirken

Schliesslich ist unsere vierte Forderung: "Gegen die Verschulung der Uni!". Diese Tendenz hat leider nach der Umsetzung von Bologna stark zugenommen. Pflichtveranstaltungen, Pflichtveranstaltungen und noch mehr Pflichtveranstaltungen. Ach ja, und Präsenzkontrollen in fast jeder Vorlesung. Sind wir noch SchülerInnen? Nein, wir sind Studierende und damit erwachsene Personen, denen man zutrauen sollte, ihr Programm selber zusammenzustellen und auch in Eigenverantwortung den Stoff lernen zu können. Nach jedem Kurs wird eine Prüfung durchgeführt (teilweise sogar jede Woche), man jagt ECTS (European Credits Transfer System) nach und wählt die Kurse danach aus, wie viele Credits, sie geben, anstatt nach eigenen Interessen, da man ja seine Anzahl Credits holen muss. Eigentlich sollte damit die Leistung der Studierenden in Arbeitsstunden gemessen werden (was an und für sich bereits absurd ist - sind wir hier im Stundenlohn angestellt?), aber die Punkte werden meistens, ziemlich willkürlich verteilt und je nach Institut verschieden. So habe ich kürzlich erlebt, dass Biologie-Studierende für die gleiche Vorlesung weniger Credits erhielten als Philosophie-Studierende.

Dies sind also unsere Forderungen. Hoffentlich konnte ein wenig geklärt werden, wieso sie gestellt werden.

- FREIER DENKRAUM AULA -

Hast du Anregungen, Ideen, Kritik oder möchtest du gerne mitmachen? Schreib einfach eine Mail an: bern@unsereuni.ch

*

WAS AN DER UNI BERN GESCHAH

Am Dienstag, 17. November, dem International Students Day, besetzten rund 150 Studierende die Aula der Universität Bern. Die Besetzung geschah spontan im Anschluss an eine Demonstration gegen die Ökonomisierung der Bildung und die negativen Auswirkungen der Bologna-Reform.

In der Folge organisierten sich die BesetzerInnen in Arbeitsgruppen, die sich einerseits um die Einrichtung einer Infrastruktur der Besetzung, anderseits um die Erarbeitung von konkreten Forderungen kümmerten. Während zwei Tagen wurden Inhalte und Probleme in den AGs und im Plenum diskutiert, bis am Mittwochabend eine nicht abschliessende Liste veröffentlicht wurde, die folgende Schwerpunkte setzt: Für eine freie Bildung, für eine demokratische Uni, gegen die Ökonomisierung der Bildung und gegen die Verschulung des Studiums.

Die Entscheidungsfindung im Plenum fand basisdemokratisch per Konsens statt. Das heisst, beschlossen wird nur, womit sich alle einverstanden erklären. Wenn eine strittige Frage nicht entschieden werden kann, wird sie zur erneuten Behandlung in die Arbeitsgruppen zurückgegeben.

Dieses Prinzip garantiert die grösstmögliche demokratische Legitimation aller Entscheide. Der "Freie Denkraum Aula", wie er bald genannt wurde, bot während acht Tagen auch eine Plattform für ungezwungene Diskussionen über das Bildungswesen, Vorträge, Workshops und die Vernetzung von allen Interessierten.

Diesen Denkraum nachhaltig aufrechtzuerhalten, ist eines der Hauptziele der BesetzerInnen. Nachdem in den Verhandlungen über die Nutzung von alternativen Räumlichkeiten an der Uni Bern wegen der destruktiven Haltung des Rektorats keine Lösung gefunden wurde, beschloss die Gruppe, die Besetzung mit einer öffentlichen Podiumsdiskussion am Mittwoch, 25. November, zu beenden. Daran nahmen neben VertreterInnen der Besetzenden, der StudentInnenschaft der Uni Bern und des Mittelbaus auch der Dekan der Medizinischen Fakultät sowie Rektor Würgler und Erziehungsdirektor Pulver teil.

Die BesetzerInnen haben die Aula in der Gewissheit verlassen, dass sie eine wichtige Diskussion in Gang bringen konnten und dass sie sich weiter engagieren werden. So prangte nach dem Abzug in der leeren Aula ein Schild an der grossen Leinwand: Bis bald!

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Besuch im Gosteli Archiv in Worblaufen

GEGEN DAS VERGESSEN!

Ein frischer Tag Ende November, das Licht gelb, der Herbst ist immer noch da. Auf der Autostrasse Richtung Worblaufen ist Stau, weil die Bäume am Hang beim Felsenau-Viadukt gefällt werden. Arme Bäume. Es ist fünf vor zwei, eigentlich sollte ich schon in Worblaufen sein und die Klingel zum Gosteli-Archiv drücken.

Eigentlich. Ein schneller Anruf, ja, ich komme ein wenig zu spät, Stau, wegen den Bäumen. Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist vital, aufgestellt. Es ist Marthe Gosteli, die Gründerin des Archivs zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung.

Die mittlerweile 92-Jährige hat das Archiv 1982 gegründet, präsidierte in den 1960er-Jahren den Bernischen Frauenstimmrechtsverein, später war sie Vizepräsidentin des Bundes Schweizerischer Frauenorganisationen und Präsidentin der lobbyierenden Arbeitsgemeinschaft, bevor 1971 national über das Frauenstimmrecht abgestimmt wurde. Eine umtriebige und engagierte Frau, mit Herzblut und Hingabe am Werk, wie ich auch noch an diesem Nachmittag selber herausfinden würde.

Endlich beim Archiv angekommen, befinde ich mich auf einer Art Hochplateau. Von hier aus sieht man auf Worblaufen hinab, über Bolligen ins Krauchthal und wie sich die Aare von Bern aus weiterschlängelt. Hier wuchs Marthe Gosteli auf, viel grösser sei das Gut einmal gewesen. Der Rasen ist noch grün, die Luft um mich feucht, immer noch das Herbstlicht. Und da das Haus, das Elternhaus, das Archiv-Haus. Schön ist es, mit doppelseitigem Aufgang, zweistöckig, wohl noch ein kleiner Estrich. Gediegen sieht es aus. Hier drinnen lagert also das gesamte Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung. Marthe Gosteli lebt immer noch hier, teilt sich Wohn- und Arbeitsplatz. Sie ist dicht mit ihrem Lebenswerk verbinden, kennt jeden Winkel im Haus wohl genau so, wie sie ihr Archiv kennt.

Vor dem Haus ein geschlossenes Tor, ich bin zu klein, um darüber in den Vorgarten zu linsen. Klingeln, dann Hundegebell. Tönt jedoch nach einem kleinen Hund. Und dann öffnet mir Marthe Gosteli die Tür, führt mich ins Haus, das wirklich von oben bis unten mit Büchern, Dokumenten und Fotografien zur schweizerischen Frauenbewegung gefüllt ist. Ja, langsam sei der Platz schon ein bizi knapp Regula Schär, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Monika Bill, administrative Geschäftsführerin, werden mir vorgestellt. Mit Susanne Loch, die nicht anwesend ist, komplettieren sie das Team des Gosteli-Archivs.

Mit ihnen und Marthe Gosteli spreche ich die nächsten zwei Stunden, die wie im Flug vorbeigehen sollten. Ich bin eigentlich gekommen, um fürs megafon übers Gosteli-Archiv zu sprechen, und habe viel mehr als das mit nach Hause genommen.

Doch fangen wir vorne an: Das Archiv wurde mit der Absicht gegründet, dem Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung eine unabhängige Trägerschaft zu geben. Da die grossen Frauenverbände, gegründet Ende des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts, sowie die Pionierinnen der Frauenbewegung bereits über umfangreiches Archivmaterial verfügten, war die Idee einer Trägerschaft nur logisch. Jedoch war der Anfang nicht leicht; die Archivalien waren stark zerstreut, schwer zugänglich und nicht geordnet.

Dazu kam, dass die Frauenverbände nach dem erfolgreichen Kampf ums Frauenstimmrecht 1971 begonnen hatten, ihr Material wegzuwerfen.

Pläne für ähnliche Archive waren schon früher da, aber erst Marthe Gosteli konnte Zeit und Geld, die dafür nötig waren, aufbringen.

Im Gosteli-Archiv werden Archivalien zu Frauenorganisationen, Frauenverbänden und einzelnen Frauen, die in Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur, Gesellschaft und Familie eine wichtige Rolle gespielt haben, gesammelt. Auch Broschüren zu Frauenfragen, Materialien zu Frauenarbeit, Frauenstimmrecht, Frauenkongressen und Frauenausstellungen, Bild- und Tonträger, Zeitungsartikel, Biografien und vieles mehr findet man im vielseitigen Archiv.

Das Gosteli-Archiv kämpft gegen das Vergessen. Oft besteht die schweizerische Frauenbewegung in vielen Köpfen nur sehr lückenhaft. Prominent ist meist die Frauenbewegung von 1968, aber die Frauen in der Schweiz waren schon viel früher aktiv. Man muss die Frauenbewegung als Ganzes und aus ihrer Zeit heraus darstellen. Pionierinnen, die sich um die Jahrhunderte engagiert hatten, hätten die grösste Arbeit geleistet, ihr Mut und ihre Ausdauer seien bewundernswert, so Marthe Gosteli. Sie will, dass man weiss, was diese Frauenbewegung wirklich alles erreicht und gemacht hat, wie fortschrittlich 1920 schon gedacht wurde. Sie setzt sich mit ihrem Archiv für die Ausleuchtung der blinden Flecke der Schweizerischen Frauenbewegung ein, wie zum Beispiel die Rolle der Schweizer Frauen im Zweiten Weltkrieg oder auch ganz einfach das moderne Denken der Frauen um die Jahrhundertwende, als sie Bildung und Schulung auf allen Ebenen als nötige Grundlage für jede Frau erklärten: Es gibt viel mehr in der schweizerischen Frauengeschichte als "nur" das Stimmrecht. Viele Leute besuchen das Archiv zu diesem Thema, aber gerne würde Marthe Gosteli auch die vielen anderen Errungenschaften der Schweizer Frauen diskutiert und behandelt sehen.

Es muss sich etwas in den Köpfen verändern, sich mit Frauenfragen beschäftigen, auch heute noch. Und wer sich mit diesem Material beschäftigt merkt, dass Kenntnis dieser frühen Kämpferinnen unentbehrlich ist. Und doch wissen wir wenig oder nicht genug von Ihnen. Genau in diese Lücke springt das Gosteli-Archiv, ohne sich auf ein Themenfeld zu versteifen, sondern mit einer unglaublichen Bandbreite an Materialien, von damals bis heute: "Gleichberechtigung heisst auch Gleichberechtigung in der Geschichte."

Mit diesem Satz im Kopf und der Gewissheit, nicht das letzte Mal hier gewesen zu sein, verlasse ich das Haus auf dem Hügel. Auf dem Weg zum Bahnhof komme ich an der Gostelitreppe vorbei. Die Gemeinde Ittigen ehrte Marthe Gosteli, in dem sie eine Treppe in Worblaufen nach ihr benannte. Auf der Plakette steht: "Dr. h.c.(1) Marthe Gosteli, Pionierin der Gleichstellung der Frauen in Staat und Gesellschaft, Gründerin des Archivs für die Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung (Gosteli-Archiv)." Während ich weiter zum kleinen Bahnhof laufe, denke ich über diese letzten zwei Stunden nach und würde am liebsten allen, denen ich begegne, sagen, sie sollen mal da rauf ins Gosteli-Archiv, unbedingt, und zwar jetzt sofort.

Und deshalb auch an Dich, liebeR LeserIn: Geh einmal dorthin, schau Dir die Sachen an, nimm Dir ein bisschen Zeit dafür und sprich mit Marthe Gosteli, solange Du die Chance dazu hast. Es lohnt sich!

- NAFU -

Anmerkung
1) Marthe Gosteli erhielt von der Uni Bern 1995 die Ehrendoktorwürde aufgrund ihrer Pionierarbeit in der nur wenig bekannten Reittherapie für Körperbehinderte.

Quellen:
- www.gosteli-toundation.ch
- Susanne Wenger in Der Bund vom 19.4.2002

Besten Dank an Marthe Gosteli, Monika Bill und Regula Schär!

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ECKDATEN ZUM ARCHIV

Das Gosteli-Archiv besteht insgesamt aus 404 Archiven, davon 232 Bestände von Organisationen und 172 Privatarchive. Davon sind insgesamt 30 Prozent erschlossen und zugänglich. Das Gosteli-Archiv ist an den Bibliothekskatalog IDS Basel Bern angeschlossen.

Die Stiftung hat zwei Hauptanliegen:

1. Ideologiefreie Aufarbeitung der Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung
2. Einbezug der Geschichte der Frauen und der Frauenbewegung unseres Landes in den Geschichtsbüchern, im Schulunterricht und in der Erwachsenenbildung. Ohne eine "Geschichte der Frauen" werden diese nie vollständig den Männern gleichgestellt sein.

Publikation aus der Gosteli-Stiftung:

- Vergessene Geschichte - Illustrierte Chronik der Frauenbewegung 1914-1963

Das erste umfassende Nachschlagewerk zur Frauenbewegung vom Ersten Weltkrieg bis 1963.

Im "Jahrbuch der Schweizerfrauen" ist die Chronik der Frauenbewegung von 1914 bis 1963 erschienen. Diese Texte spiegeln wichtige Ereignisse der Frauengeschichte auf nationaler und internationaler Ebene wieder. Sie zeigen auf, wie die zahlreichen Verbände und die in ihnen Engagierten in Politik und Wirtschaft, Kultur und Kunst, Heim und Familie stets eine wichtige und kritische Rolle gespielt haben.

Der Herausgeberin Marthe Gosteli ist es ein Anliegen aufzuzeigen, dass die Frauenbewegung (die vermutlich grösste und am weitesten verzweigte soziale Bewegung des 20. Jahrhunderts) ihren Platz in der allgemeinen Geschichte zu Recht beansprucht.

Raute

Die Revolution der Städte

AKTION FREIRAUM RUFT ZUR KULTUROFFENSIVE AUF

Wo blieb sie, die Revolution der Städte, die in den 70er Jahren ausgerufen wurde? War es das Aufbäumen der Kulturszenen in den 80er Jahren, als in Zürich die Rote Fabrik, in Bern die Reitschule, in Luzern die Boa entstanden sind? Oder hat nicht die neoliberale Konterrevolution der Städte die urbanen Zonen so nachhaltig verändert wie keine andere?

Der globale Kapitalismus, welcher Nationen, ihre Grenzen und Gesetzgebungen umgeht und sich direkt in den urbanen Metropolen ansiedelt, hat die Städte zu den Zentren der Dienstleistung und der Unternehmen gemacht. Sie sind das Herz des globalen Kapitalismus. Und im Buhlen um Steuerzahlende, Firmensitze und Events werden die Städte global zu Konkurrenten und der Standortwettbewerb zum Haupttrieb urbaner Politik.

Luzern ist seit zwei Jahren trauriger Schauplatz der neoliberalen Standortpolitik. So wurde kürzlich - zwei Jahre nach der Schliessung des Kulturzentrums Boa - bekannt, dass das Frigorex-Areal, ein Industrieareal mit Konzerträumen, Ateliers, Werkstätten und Galerien, geschlossen wird. Fast zeitgleich mussten die Gowa-Halle, ein temporäres autonomes Kulturzentrum, und der benachbarte Wagenplatz Sous-le-pont schliessen. Die Areale fallen wie die Boa der "Tribschenstadt" zum Opfer, wird diese "Aufwertung" eines gesamten ehemaligen Industriequartiers genannt. Gebaut werden Wohnhäuser mit meist für Normalsterbliche kaum bezahlbaren Wohnungen. DINKs (Double-Income-No-Kids) ist die Hauptzielgruppe: Steuerstarke Bewohner_innen, die in gewinnbringenden Firmen arbeiten sollen.

Gleichzeitig läuft in Luzern das Theater ums Theater: Von unbekannten Investoren angetrieben, haben Private ein Projekt mit dem schillernden Namen "Salle Modulable" lanciert. Die Salle Modulable soll ein Theater- und Konzertsaal werden, der über die Landesgrenzen hinweg berühmt werden soll. Die Stadt, angetan von diesem Projekt, sucht fieberhaft nach einem (kostenlosen) Standort, selbstverständlich an prominenter Lage wie etwa dem (öffentlichen) Seeufer. Mit der Salle Modulable hat die Stadt, nach dem KKL und dem neuen Konsumtempel/Fussballstadion, ein neues Grossprojekt gefunden. Dies um international glänzen zu können - und liefern somit den potenziellen Tribschenstadtbewohner_innen einen weiteren Grund, nach Luzern zu ziehen.

Gegen diese Entwicklung hat sich vor zwei Jahren die Aktion Freiraum formiert. Sie hat den Widerstand gegen die Zerstörung von kulturellen Freiräumen immer wieder erfolgreich auf die Strasse gebracht - bis die Stadt zu einer Lösung bereit schien. Nach einem Jahr Verhandlungen hat die Aktion Freiraum diese abgebrochen. Es macht für uns keinen Sinn mit einer Stadt zu verhandeln, welche Kulturhäuser mit ihrer Stadtplanung nachhaltig zerstört; eine Stadtregierung, die sich letztlich nicht über die ökonomischen Zwänge der Globalisierung hinwegsetzen kann. In Luzern scheint sich endlich - der Konsens gebildet zu haben, dass Verhandlungen mit der Stadt keinen Sinn ergeben. Deshalb rufen wir zu einer neuen Kulturoffensive auf, welche sich, um alternative Kultur-, Lebens- und Gesellschaftsformen zu verwirklichen, den Raum zurück holt!

Die Entwicklung Luzerns ist kein Einzelfall. Hinter der Stadtentwicklung versteckt sich ein globaler Kapitalismus, welcher sich in den urbanen Zonen einnistet und die Stadt nach wirtschaftlichen Kriterien umkrempelt. Dabei zerstört er rücksichtslos Räume, welche nicht direkt der Verwertungslogik untergeordnet werden können. Sich gegen die Privatisierung von öffentlichem Raum, gegen die Vertreibung alternativer Lebensformen zu wehren, bedeutet, sich gegen die neoliberale Globalisierung zu stellen. Eine urbane Bewegung braucht diese Einsicht.

Deshalb: Es ist Zeit für eine erneute und immer währende Revolution der Städte! In Luzern und überall!

- SANDRO HOFSTETTER -

Weitere Infos: www.aktionfreiraum.ch bzw. aktionfreiraum@gmx.net

Raute

Nur was weh tut, klingt gut

AMÀLIA RODRIGUES - KÖNIGIN DES FADO

An dieser Stelle kam sonst immer ein Rückblick aufs vergangene Jahr oder die Scheiben des Jahres. Ich möchte diesmal darauf verzichten. Nicht, dass das Jahr 2009 so schlecht war, aber zugegeben, musikalisch gab es da nix, das wirklich weh tat oder berührte.

"Nur musikalische Ekstase gibt mir das Gefühl der Unsterblichkeit."
(E.M. Cioran)

"I hurt myself today
To see if I still feel
I focussed all the pain
The only thing that's real"

(Trent Reznor)

Seinen Ursprung hat der Fado in den Armenvierteln Lissabons, in den Hurenhäusern und Matrosenkaschemmen. Im 19. Jahrhundert setzte er sich in den bürgerlichen Salons durch und wurde schliesslich irgendwann so etwas wie die neue Volksmusik Portugals. Die wahre Herkunft ist umstritten (seien es Zigeunergesänge, brasilianische Sklaven oder Seefahrer gewesen, wahrscheinlich ist es eine Mischung von allem), sicher ist, dass der Fado als Bindeglied aller Portugiesen dient und sie im Schmerz vereint. Der Musik liegt das so genannte "Saudade" zugrunde, eine Art Klagegefühl, eine Sehnsucht, - wohl das Sehnen nach dem Einswerden mit dem Meer, der Welt, den Menschen, einfach allem, jedenfalls eine Sehnsucht, für die es keine Erfüllung gibt. Im Deutschen gibt es nicht mal eine Entsprechung für dieses Wort! (Genau genommen gibt es sie in keiner anderen Sprache, ausser eben in der Sprache der Musik. Die Portugiesen haben da wohl den anderen etwas voraus.)

Amàlia Rodrigues, (irgendwann 1920 in Lissabon geboren, 1999 ebenda gestorben), hat 60 Jahre lang als die grosse "Fadista" das gesamte Musikleben ihres Landes geprägt. Sie wird dort (aber nicht nur dort) verehrt wie eine Heilige. Bei ihrem Tod wurde eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen und die Menschen gingen zu hunderttausenden auf die Strassen. Ihr Kultstatus wird in Portugal eigentlich nur noch von dem des Dichters Fernando Pessoa übertroffen.

Der Fado, die wohl traurigste Musik der Welt, wurde von Amàlia Rodrigues, die zwar in armen Verhältnissen aufwuchs, aber schon mit 25 Jahren in grossen Hallen und Konzertsälen auftrat, aus dem Milieu der Prostituierten, Zuhälter und Seefahrer, die ihren Schmerz und ihre Verzweiflung nachts in dunklen, schäbigen Bars ausdrückten, herausgeholt. Sie machte den Fado erst so richtig populär, sie kultivierte die Traurigkeit des Saudade. Bereits ihr Auftreten war edel und speziell: mit ihren Verzierungen erinnerte sie immer an eine verwunschene maurische Prinzessin. Ihre Schönheit und vor allem ihre glockenklare Stimme in Moll vermochte (vermag bis heute) Herzen zu erobern. Man muss nicht die Worte verstehen und der portugiesischen Sprache mächtig sein, um die Kraft und den Stolz, die erlittenen und überwundenen Qualen, die Sehnsucht nach der Unendlichkeit oder die Melancholie über die Unlösbarkeit des menschlichen Daseins zu fühlen.

Also ich habe dieses Jahr viel Musik gehört, mich mit Neuerscheinungen beschäftigt, mit dem ganzen revivalesken Bullshit, der da auf den Markt geworfen wird. Vielleicht spricht es ja nur für meinen bedenklichen Zustand, aber mir viel es schwer, irgendetwas Neues, Starkes, Überwältigendes zu finden - war ein bisschen so: alles schon gehört, alles schon mal dagewesen - das tut alles nicht weh, geht nicht mal nahe, trällert nur so vor sich hin. Ich weiss nicht mehr wann und warum, doch eines Tages nahm ich meine alten Fadoscheiben hervor, vor allem die von Amàlia Rodrigues, legte sie auf und war gleich hin. Zugegeben, das war nach mehreren schlaflosen Nächten. Sie (und eine Flasche Wein) holten mich wieder runter, versetzten mich in einen Zustand der Kapitulation (aber auf positive Weise, wohlgemerkt). Ich kapitulierte vor etwas, das stärker war als ich und gegen das anzukämpfen sich nicht mehr lohnte. Diese Musik, diese Stimme erzählte mir von vertrauten Gefühlen wie Trauer und Hoffnungslosigkeit, jedoch auch von der Akzeptanz derselben... und dem Stolz darauf!

Von Zeit zu Zeit muss man sich wieder mit dem Echten, dem Authentischen, dem Wahrhaftigen beschäftigen - ist nicht einfach in unserer schnelllebigen Welt, aber umso dringlicher - es gilt auch der Tiefe eines Gefühls auf den Grund zu gehen, dazu ist Musik besonders geeignet, der Fado allemal. Ich kann alle Compilations, Best Of-CDs und Livemitschnitte von Amàlia Rodrigues empfehlen.

- TOMI KUJUNDZIC -

Raute

BUCHTIPP IM JANUAR 2010

Anarchismus + Schwarze Revolution = Neue Autonome Schwarze Politik

Was ist das revolutionäre Subjekt? Die Klasse oder die Rasse?

Die Zeitschrift Black Autonomy: "A Newspaper of Anarchismus and Black Revolution" erschien von 1994 bis 1997 in Seattle Amerika. Die Herausgeber waren Lorenzo Komboa Ervin und Gregory J., auch genannt Greg Jackson. Lorenzo ist ein ehemaliger Black Panther und sass lange Jahre im Knast. Im Gegensatz dazu war Greg Jackson bei der Herausgabe des Heftes ein junger Politaktivist aus Seattle.

Obwohl das Projekt Black Autonomy immer mit dem Namen des älteren Lorenzo verbunden blieb, war es doch Greg, der die eigentliche Hauptarbeit leistete. Black Autonomy sollte bald nicht nur mehr eine Schrift bleiben, sondern darum herum sollte ein entsprechendes Netzwerk aufgebaut werden, das als Basis eine neue autonome und schwarze Politik zum Konzept gehabt hätte. Damit ist der "antiautoritäre Kern des Anarchismus mit verschiedenen Maximen des revolutionären Schwarzen Nationalismus" gemeint. Provokanter Zündstoff. Von den restlichen anarchistischen Gruppierungen wurden die Versuche dieser neuen Bewegung als Abspaltung wahrgenommen. Dabei war dieser schwarze Widerstand unter anderem eine Folge der weissen und sehr geschlossenen AnarchistInnen-Szene. Black Autonomy enthält also einerseits eine libertär-sozialistische Politik und andererseits den Kampf der schwarzen Gemeinschaft. Der anfangs in diesem Zusammenhang schwer fassbare Begriff des Black Nationalism könnte laut Greg weiterentwickelt werden. Nach der Lektüre der Grundsatztexte sollten die schwarzen Nationalisten vor allem der Vollständigkeit halber in die Bewegung integriert werden. Das heisst, die so genannte schwarze Gemeinschaft wollte nicht Teile ihrer eignen Gruppe ausschliessen. Zu einer Etablierung des Projektes Black Autonomy kam es allerdings nie. Das Bändchen "Tötet den Bullen in eurem Kopf" enthält die wichtigsten Grundlagetexte des Black Autonomy-Projektes, geschrieben von Greg Jackson. Er versuchte die Geschichte, die Bedeutung von Black Autonomy und die Wichtigkeit für die Weiterführung radikaler und revolutionärer schwarzer Politik zu erläutern. Mögliche Kritikpunkte wie zum Beispiel die Beteiligung schwarzer AnarchistenInnen an den Veranstaltungen der umstrittenen Gruppierung "Nation of Islam" möchte ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen. Stattdessen verordne ich mir selbst den Satz "Weisse sollen hier die Schnauze halten". Oder noch besser "linke Weisse sollen hier die Schnauze halten". Greg Jackson übte Kritik an der anarchistischen, sozialistischen und kommunistischen Bewegung und diversen entsprechenden Organisationen. Die weisse Linke sei autoritär geworden, lebt nach einem Avantgardeprinzip und unterstützt nicht-weisse AktivistenInnen nur mangelhaft. Gerade das Gebot der weissen Linken, nicht in den Kategorien von Nationen zu denken und sich definieren zu wollen, konterte Greg Jackson folgendermassen: "Wer zum Teufel bist du, dass du uns das Recht auf Selbstdefinition absprechen willst, die auf dem kollektiven Leiden beruht, das wir in diesem Land erfahren haben und das untrennbar mit dessen Geschichte verbunden ist. Der schwarze Nationalismus ist nichts weiteres, als das Resultat des (weissen) Rassismus".

Die traditionelle weisse Linke als verkrustetes und erstarrtes Konstrukt. Das Bändchen hilft den linken Strukturen, sich selbst zu reflektieren und allenfalls umzudenken. Sicher ist es grösstenteils Wut, die aus Jackson spricht. Doch diese Wut ist in vielen Bereichen begründet. Während früher "hey, white men, go home, kill mother and father and hang up yourself" gefordert wurde, so kommt der Satz "kill the police-men into your head" doch schon viel liebenswürdiger daher.

Neben all dieser vielleicht etwas unerfreulichen Kritik bergen Greg Jacksons Texte aber ein Stück Geschichte, dass in keinem Infoladen oder anarchistischen Büchergestell fehlen darf.

- SAT -

Greg Jackson: Tötet den Bullen in eurem Kopf,
Unrast Verlag, ISBN 978-3-89771-487-8

Raute

COMIX

Christophe Blain
"GUS - 1. Nathalie"
Verlag Reprodukt
2007

Der scheinbar verwegene Cowboy Gus zieht mit seinen Freunden Clem und Gratt durch den wilden Westen und verdient seinen Lebensunterhalt mit Überfällen auf Banken und Züge.

Mit Macho-Allüren versucht er mehr oder weniger gekonnt die Enttäuschung über seinen fehlenden Erfolg bei Frauen wettzumachen. An erster Stelle steht da Nathalie, die er vergöttert, die sich aber leider immer wieder gerne mal mit anderen Männern verlobt.

Auch Gratt bleibt ziemlich auf der Strecke beim schönen Geschlecht, während der Familienvater Clem sich in die Hände einer Rothaarigen begibt, die ihm vormacht, der Einzige zu sein, während an der Wand dutzende Bilder ihrer Verflossenen hängen.

In fünf kurzen Episoden zeichnet Blain mit leichtem, karikierendem Strich den Alltag seiner charmanten Charaktere.

- MFG -

Raute

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Die in den Beiträgen wiedergegebene Meinung muss sich nicht mit der Meinung der Redaktion decken. Die Schwerpunkt-Beiträge dokumentieren die Entwicklung von Kunst- und Jugend- und Politszenen. Weder mit bildlichen noch textlichen Inhalten sollen die LeserInnen dazu aufgerufen werden, Straftaten zu begehen.

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Quelle:
megafon - Nr. 339, Januar 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2010