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OSSIETZKY/1074: Europaparlament entlastet Nazideutschland


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 20 vom 19. Oktober 2019

Europaparlament entlastet Nazideutschland

von Ulla Jelpke


Die Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus ist seit Jahren fester Bestandteil konservativer - und zunehmend auch sozialdemokratischer - Geschichtspolitik. Vor allem aus osteuropäischen EU-Staaten kommen regelmäßig Initiativen, die fordern, man müsse sich "gleichermaßen" vom deutschen Faschismus wie von kommunistischen Regimen beziehungsweise Ideologien distanzieren. So wurde schon 2008 in der sogenannten Prager Deklaration über "Europäisches Bewusstsein und Kommunismus" die "Gleichheit" kommunistischer und faschistischer Verbrechen beschworen. Zu den Unterzeichnern gehörte der spätere Bundespräsident Joachim Gauck. Solche Vorstöße zur Umdeutung der Geschichte haben in der Vergangenheit stets zu vernehmbaren Protesten von Seiten progressiver Historiker, Geschichtsaktivisten und Organisationen geführt. Jüdische Organisationen kritisierten insbesondere, damit werde auch die Schoah als singuläres Ereignis relativiert.

Derzeit scheint jedoch der rechte Revisionismus die Oberhand gewonnen zu haben. Denn von Protesten war kaum etwas zu spüren, als das Europäische Parlament im September 2019 noch eins drauflegte: Eine Mehrheit von 81 Prozent der Abgeordneten verabschiedete eine Resolution, die über bisherige "Totalitarismus"-Erklärungen weit hinausgeht, indem sie die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg direkt leugnet. Der Weltkrieg, so das Europaparlament, sei vielmehr vom Nazireich und der Sowjetunion gleichermaßen herbeigeführt worden.

Der zentrale Satz in der Resolution "Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas" lautet, "dass vor 80 Jahren, am 23. August 1939, die kommunistische Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutsche Reich den als Hitler-Stalin-Pakt bekannten Nichtangriffspakt und dessen Geheimprotokolle unterzeichneten, womit die beiden totalitären Regime Europa und die Hoheitsgebiete unabhängiger Staaten untereinander aufteilten und in Interessensphären einteilten und damit die Weichen für den Zweiten Weltkrieg stellten". Und damit man genau versteht, was gemeint ist, wird zwei Seiten später noch nachgeschoben, dass der Weltkrieg "als unmittelbare Folge" dieses Paktes und der Zusatzprotokolle "ausbrach, in deren Rahmen die beiden gleichermaßen das Ziel der Welteroberung verfolgenden totalitären Regime Europa in zwei Einflussbereiche aufteilten".

Alles klar also? Der Zweite Weltkrieg wurde nicht etwa von Nazi-Deutschland begonnen, sondern war ein gemeinsames Projekt Hitlers und Stalins. Solche revisionistischen Darstellungen à la "Historikerstreit" stießen früher auf große gesellschaftliche Widerstände. Heute dagegen finden sie größte Zustimmung: Für die Resolution stimmten nicht nur die Fraktionen der Europäischen Volkspartei (EVP), der Konservativen und Reformisten (EKR) sowie der Liberalen (Renew), sondern auch die der Sozialdemokraten (S&D) und der Grünen. Ablehnung kam fast ausschließlich von der Linken (GUE/NGL). Ein klares Zeichen für den Rechtsruck in Europa, auch auf geschichtspolitischem Feld.

Keine Frage: In manchen osteuropäischen Staaten, insbesondere im Baltikum und in Ungarn, ist die Geschichtsklitterung schon so weit fortgeschritten, dass man geradezu froh sein könnte, sie würden sich auf eine "Gleichsetzung" von rechts und links beschränken. Tatsächlich aber macht sich im Baltikum eine Rehabilitierung faschistischer Kollaborateure der Kriegszeit breit, die keinen Zweifel daran lässt, dass die Kommunisten (oder gleich die Russen) das allergrößte Übel der Weltgeschichte gewesen seien. Der Holocaust wird zwar nicht direkt bestritten. Aber jüdische Einwohner, die sich damals zu den sowjetischen Partisanen retteten (wohin auch sonst?!), stehen im Ruf von Vaterlandsverrätern. An einer Stelle wird dies in der Resolution wenigstens angesprochen, wenn sie "verurteilt, dass in einigen EU-Mitgliedsstaaten Geschichtsrevisionismus betrieben wird und Personen verherrlicht werden, die mit den Nationalsozialisten kollaborierten". Ross und Reiter werden hier freilich nicht genannt, was den Abgeordneten dieser Länder die Zustimmung ermöglichte. Ganz anders, wo es um das heutige Russland geht: Es wird gleich mehrfach als Inbegriff des Schurkenstaats markiert. Man sei, so die Resolution, "zutiefst besorgt angesichts der Bemühungen der derzeitigen russischen Führung, historische Tatsachen zu verfälschen und die vom totalitären Regime der Sowjetunion begangenen Verbrechen schönzufärben". Die russische Gesellschaft wird aufgefordert, "ihre tragische Vergangenheit aufzuarbeiten". Haltet den Dieb, kann man da nur sagen.

Die anderen Passagen der Resolution bekräftigen, was schon bisher vom Europaparlament verlautbart wurde: Dass zwar die NS-Verbrechen schon alle "aufgeklärt" seien, das Bewusstsein für die stalinistischen Verbrechen aber "nach wie vor dringend geschärft" werden müsse. Wiederholt wird das "gemeinsame Erbe der von kommunistischen, nationalsozialistischen und anderen Diktaturen begangenen Verbrechen" beschworen; zustimmend wird darauf hingewiesen, dass in einigen EU-Staaten sowohl die kommunistische als auch die nationalsozialistische "Ideologie" verboten seien (wie sich eine Ideologie verbieten lässt, wird hier nicht weiter problematisiert). Ebenfalls zustimmend wird auf die Verbote von sowjetischen beziehungsweise kommunistischen und faschistischen Symbolen verwiesen (wobei zumindest in der Praxis des Baltikums Hakenkreuze gerne als Ausdruck vorfaschistischer Traditionen ausgelegt werden). Widerspruch gegen die Resolution kam fast nur von links. Die spanische GUE/NGL-Abgeordnete Sira Rego machte darauf aufmerksam, dass es auch innerhalb der EU noch ausreichend Staaten gibt, die sich einer politischen und juristischen Aufarbeitung des Faschismus verweigern: Sie komme aus einem Land, "das voller Plätze und Straßen ist, die die Namen franquistischer Mörder tragen".

Keine Frage: Die Bestimmungen in den geheimen Zusatzprotokollen von 1939 sind skandalös. Die sowjetische Führung ahnte nur zu gut, dass diese das eigene Image untergraben könnten, weshalb ihre Existenz bis 1989 geleugnet wurde. Durchaus nachvollziehbar ist auch, dass sich die baltischen Staaten und Polen nicht nur als Opfer Deutschlands, sondern auch der Sowjetunion betrachten. All das ändert aber nichts daran, dass es Nazi-Deutschland war, das auf den Weltkrieg systematisch vorbereitet hat. Zu behaupten, im August 1939 sei eigentlich noch alles offen gewesen und erst die sowjetische Unterschrift unter die Abkommen habe die "Weichen" für den Krieg gestellt, impliziert den Umkehrschluss: Die Sowjetunion habe es damals in der Hand gehabt, den Weltkrieg zu verhindern. Das ist eine grobe Leugnung der Kriegsschuldfrage. Die Sowjets verhielten sich damals taktisch und versuchten, aus der desolaten Lage in Europa das Beste für sich herauszuholen. Für die Entstehung dieser Lage waren aber in erster Linie die Nazis verantwortlich. Und nicht nur sie: Die portugiesische Abgeordnete Sandra Pereira (GUE/NGL) und die lettische Abgeordnete Tatjana Schdanoka (Grüne) machten auf das Münchner Abkommen von 1938 aufmerksam. Damit, so Pereira, hätten die kapitalistischen Großmächte den Beginn des Zweiten Weltkrieges und den Einmarsch in die Sowjetunion vorbereitet. Als Ziel der Resolution benannte sie den Versuch, die Verantwortung der kapitalistischen Staaten für die NS-Verbrechen zu vertuschen. Auch in dieser Hinsicht ist der Kampf um die Auslegung der Geschichte ein Aspekt des Klassenkampfes - in dem derzeit leider nicht die Linke in der Offensive ist.


Die Resolution im Netz:
http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2019-0021_DE.pdf

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Zweiundzwanzigster Jahrgang, Nr. 20 vom 19. Oktober 2019, S. 706-708
Redaktion: Haus der Demokratie und Menschenrechte
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Oktober 2019

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