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OSSIETZKY/1105: Seuche, Macht und Kapitalismus - Teil 1


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 10 vom 16. Mai 2020

Seuche, Macht und Kapitalismus (1)

von Stefan Bollinger


Herausforderung und Machtstrukturen

Die Welt ist erstmals global von einer Bedrohung erfasst worden, die mit geringer Zeitversetzung und unterschiedlicher Konsequenz zu ähnlichen Reaktionen führt: verordnete Lahmlegung des öffentlichen Lebens einschließlich weiter Teile der Wirtschaft, politischer Ausnahmezustand mit Sondervollmachten der Regierungen und Einschränkung parlamentarisch-demokratischer und erst recht basisdemokratischer Willensbildung, Suspendierung wesentlicher Bürgerrechte, Ausnahmeregelungen im medizinischen Bereich, weitgehende regierungsnahe Synchronisierung staatlich beeinflusster wie privater Medien, Wiedererrichtung nationalstaatlicher Alleinverantwortung einschließlich Grenzhoheit und Sicherung der Eigeninteressen, faktische Ausschaltung internationaler Strukturen, egal ob EU, UNO, selbst weitgehend der WHO, im Interesse nationaler Alleingänge. Es ist die "Stunde der Exekutive"!

Auffällig ist die Parallelität der getroffenen Entscheidungen in Staaten unterschiedlicher politischer Ausrichtung, egal ob autoritär diktatorisch oder parlamentarisch-demokratisch verfasst. Es wird im Ausnahmezustand regiert, demokratische Institutionen sind nur eingeschränkt wirksam, und selbst die gern beschworene Gewaltenteilung in Gestalt richterlicher Entscheidungen spielt nur eine untergeordnete Rolle. Wo Gerichte aktiv werden, so die deutsche Erfahrung, geht es um die Verfügbarkeit von Eigentum, Öffnung von Geschäften, die Bewegungsfreiheit, das Versammlungsrecht und die Religionsausübung. Ihre Entscheidungen geben im Einzelfall den Klägern Recht, ohne bislang die staatlichen Durchgriffe in Frage zu stellen. Endlose Diskussionen passen derzeit nicht. Allerdings erzeugt die Dauer der Restriktionen Widerspruch, zuallererst von Wirtschaft und wirtschaftsnahen Eliten. Es gäbe höhere Güter als das Leben, so Bundestagspräsident Schäuble.

Für die BRD bemerkenswert ist, dass die Notstandsartikel des Grundgesetzes offiziell nicht genutzt werden, dass ein Infektionsschutzgesetz als oberster Regulator herangezogen wird und gleichzeitig die Arbeitsfähigkeit der Bundes- und Landesparlamente durch drastische Eingriffe in ihre Rechte und die der Fraktionen und Abgeordneten reduziert werden.

Der Kern der politischen Macht stützt sich auf eine Expertokratie, die ihre fachlichen Vorträge den Politikern zur politischen Entscheidung anheimstellt. Das anfängliche Naserümpfen über die als diktatorisch diffamierten Maßnahmen Chinas ist schnell dem Verlangen gewichen, ähnlich durchregieren zu können. Allerdings scheinen Machtsysteme wie in China oder anderen ostasiatischen Staaten eher geeignet zu sein, Schnelligkeit und Rigorosität von Maßnahmen zu gewährleisten. Nicht das Übermaß an demokratischen Mitsprachemöglichkeiten, aber die Souveränitätsrechte föderaler Subjekte, so die deutsche Erfahrung, führen zu Reibungsverlusten.

Vergleichende Untersuchungen werden künftig sinnvoll sein, um Gemeinsamkeiten, Unterschiede benennen und mögliche gemeinsame Schlüsse für ähnliche Situationen ziehen zu können. Sie werden Fragen nach der Gestaltungskraft von Regierungen in Notsituationen herausarbeiten müssen, nach demokratischen Sicherungen und Mitwirkungsmöglichkeiten zu fragen haben, auch nach der Bereitschaft der Bevölkerung, sich solchem Ausnahmerecht zu unterwerfen.

Wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung, deren ökonomische und soziale Folgen zwar erahnt, vielleicht auch berechnet werden können, die aber in ihren Auswirkungen auf Bürger, Arbeitende oder Arbeitslose bisher nur teilweise durchschlagen.

Auch wenn die bunten Bildchen eines eigentlich freundlich aussehenden Virus es verdecken: In seinem Schatten gehen die politischen Auseinandersetzungen der Vor-Corona-Zeit unvermindert weiter. Das Verhalten der USA gegen Russland, China oder den Iran ist so konfrontativ wie zuvor. Auch deutsche Medien blicken mit Häme oder Aggressivität auf die Vorgänge bei den östlichen Mächten und kritisieren pauschal deren Handlungen. Dass auch das Versagen der Trump-Administration nicht ausgeklammert wird, verändert an dieser Sichtweise wenig. Und dass allein das Virus die provokatorische Manöverserie "Defender 2020" zum Scheitern brachte, ist auch wenig tröstlich. Wenn im Schatten von Corona eine der härtesten Auseinandersetzungen auf dem Erdölmarkt stattfindet, die sich klar gegen Russland, den Iran, Venezuela und andere nicht wohigelittene Staaten richtet, so ist das eine Facette; die Fortsetzung der militärischen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten lassen ebenfalls wenig Gutes erwarten. "Modernere" Kernwaffen und die Suche nach Trägerflugzeugen für die deutsche "nukleare Teilhabe" zeigen, die derzeitige Apokalypse genügt nicht.


Historische Dimension

Niemand kann heute das Ausmaß der Bedrohung tatsächlich erfassen. Dass es zum Beispiel 2012 dazu realitätsnahe Planspiele gab, bedeutet leider nicht, dass Experten aus Wissenschaft und Politik sich damit Gehör verschafften und mehr als Planungsszenarien in Schubladen ablegen konnten. Damals galt solch Pandemie mit einem Virus "Modi-SARS" als nur bedingt wahrscheinlich: statistisch zwischen 100 und 1000 Jahren nur einmal. Deshalb das Wirtschaften umstellen?

Als dann der "unwahrscheinliche Fall" eintrat, hat das Bedrohungspotential der Seuche die allermeisten Staaten zu den erwähnten harschen Maßnahmen veranlasst, deren Lockerung jetzt begonnen hat. Aber offensichtlich können nur effektive Behandlungsmittel und ein Impfstoff die Seuche eindämmen und beenden. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen sind damit aber nicht aus der Welt. Im Unterschied zu früheren globalen Brüchen durch Krieg und massive Wirtschaftskrisen gibt es einen Hoffnungsschimmer: Es sind weder die Wirtschaftsstrukturen vom Groß- bis zum Kleinbetrieb noch die Wirtschaftsbeziehungen zwingend dauerhaft brachgelegt. Auch ist nicht zu erwarten, dass die bisher Beschäftigten durch Tod oder Siechtum in Größenordnungen ausfallen.

Die aktuellen Exit-Diskussionen schieben soziale, psychologische Faktoren vor. Im Kern geht es allerdings um das Wiederhochfahren der Wirtschaft - die Sicherung der kapitalistischen Verwertungsprozesse sowohl für die Großunternehmen als auch für die fragilen klein- und mittelständischen Unternehmen. Dabei werden Gesundheitsrisiken bewusst "eingepreist" und klassisch neoliberale Rezepte ausgestellt. Gleichzeitig steht dahinter die Frage, wie schnell die erstaunlich rasch bereitgestellten finanziellen Stützungsmittel für Wirtschaft, Beschäftigte und soziale wie kulturelle Infrastruktur wieder eingefahren werden können.

Die jetzige Seuche hat einschneidendere Folgen als alle Pandemien in der Vergangenheit, insbesondere die Pest und die Pocken, die in der Römerzeit und im Mittelalter über Jahrhunderte grassierten und Regionen und Staaten trafen und zurückwarfen.

Die global radikal eingreifende Wirkung ist bei den natürlichen Prozessen bedingt mit "Achtzehnhundertunderfroren" zu vergleichen, also dem durch eine Vulkanexplosion ausgelösten "Jahr ohne Sommer 1816", das mit Hungersnöten und Wirtschaftskrisen zumindest in Europa die nachnapoleonische Restauration und den Vormarsch der Reaktion beförderte.

Die Weltwirtschaftskrisen ab 1929 beziehungsweise 2007/08 hatten ebenfalls globale Wirkung, trafen die einzelnen Staaten aber unterschiedlich und ermöglichten auch Ausnahmen und erfolgreiche Lösungsstrategien für einzelne Großmächte (Sowjetunion beziehungsweise BRD oder China).

Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts haben dagegen in den betroffenen Regionen und darüber hinaus zerstörend, mordend gewirkt und jeweils breite soziale und nationale Bewegungen ausgelöst, die in der Tat einen radikalen Bruch mit der jeweiligen Vorkriegsordnung und über Jahrzehnte für einen Teil der Staaten einen Ausbruch aus den bisherigen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten des Kapitalismus ermöglichten. Hungersnöte und Seuchen spielten in dem Kontext auch eine Rolle. Sie verschärften die Krise, haben sie aber nur indirekt intensiviert. Das fällt besonders für die gegenwärtig gern zitierte "Spanische Grippe" 1918/20 auf, die eben nicht Auslöser der nationalen und sozialen Revolutionen im Gefolge des Weltkrieges und der Russischen Revolutionen wurde, sondern Regierungen wie Opposition gleichermaßen schwächen konnte.

Allerdings zeigt der Vergleich dieser Umbruchs- und Krisenprozesse - bei erheblichen nationalen Unterschieden - sowohl 1929 wie auch 1914 und 1939 sowie in den jeweils folgenden Jahren, dass es entscheidend darauf ankam, ob politische und geistige Kräfte für einen im Idealfall in sich geschlossenen geistigen, ideologischen, politischen, vor allem machtpolitischen Umbruch bereitstanden und in den tiefen Krisen handelten. Spätestens 2007/08 war erkennbar, dass Unmut, Protest und inhomogene und letztlich eher machtabstinente Kräfte eine solche Situation nicht zu nutzen vermochten.

Bei der gegenwärtig auch unter Linken regen Diskussion über die Zeit nach der Corona-Krise mit Hoffnungen auf eine veränderte - und hier ist gemeint eine sozial und ökologisch bessere - Welt sind erhebliche Zweifel angebracht. Aus Krisen geht niemand anders hervor, als er in sie hineingegangen ist und sie gestaltet hat. Er mag individuell geläutert sein, er mag untergehen oder die Krise für sich genutzt haben, mehr nicht. Einen Ausweg aus der Krise finden nur jene Kräfte, die in Konfrontation mit dem herrschenden Block von Regierung, Kapital und Medien einen Vorlauf an theoretischer Einsicht, an handfesten Losungen, an Organisation und Führungskraft besitzen. Trotzdem: Jede Krise eröffnet auch neue Wege - Chancen wie Risiken.

Auch die aktuelle Krise wird, wenn sie aus der unmittelbaren, existentiellen, medizinischen Phase endgültig in eine offene Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit, Lohn- und Sozialabbau, möglicherweise fortgesetzter Repression übergeht so wie auch schon 2007 und in den Folgejahren neue soziale Bewegungen aktivieren oder reaktivieren, wahrscheinlich in engerer Verbindung auch mit den vor der Krise im Schwange befindlichen ökologischen Bewegungen unter dem Label der "Klimakrise". Wenn es aber keine politisch geschlossene, organisierte und führungsstarke Bewegung geben wird - so die Erfahrungen von Occupy bis Gilets jaunes (Gelbwesten) -, dann werden Widerstand und Alternativversuch in den täglichen Existenzängsten der Mehrheit der Bürger zerfleddern. Oder schlimmer: Die Suche nach Alternativen wird von rechts besetzt, mit nationalistischen, rassistischen, demokratiefeindlichen Konzepten und Bewegungen.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Dreiundzwanzigster Jahrgang, Nr. 10 vom 16. Mai 2020, Seite 330 - 334
Redaktion: Haus der Demokratie und Menschenrechte
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Ossietzky wurde 1997 von Eckart Spoo begründet und erscheint zweiwöchentlich.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2020

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