Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

OSSIETZKY/624: Zur Ernüchterung


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 19 vom 18. September 2010

Zur Ernüchterung

Von Volker Bräutigam


Als Lothar de Maizière (CDU), letzter Ministerpräsident der DDR, kürzlich anmerkte, die DDR sei "kein vollkommener Rechtsstaat", aber auch "kein Unrechtsstaat" gewesen, fiel eine Meute von Journalisten und Politikern über ihn her. Gibt es denn keine Möglichkeit, den rechthaberischen, herrschsüchtigen Zensoren das Maul zu stopfen? Nein! Jedenfalls sind sie taub gegen jeden Hinweis auf rechtsstaatliche Defizite der BRD.

Am 3. Oktober vollendet sich das 20. Jahr der staatlichen Einheit. Das Jubiläum wäre Anlaß genug, endlich in sachlichem Ton über DDR und BRD zu reden und sich um Objektivität beim Rückblick auf den Prozeß des Anschlusses der DDR sowie auf die verfehlte Berliner Politik der nachfolgenden zwei Jahrzehnte zu bemühen. Stattdessen war und ist man aggressiver Volksverdummung ausgesetzt. Erforderlich sind Ernüchterungs- und Hygienemittel.

Eines davon ist Hans Frickes Buch "Eine feine Gesellschaft". Hilfreich ist, daß der Autor gleich zwei Hauptmotive für die verlogene Jubelstimmungsmache von Politik und Massenmedien nennt: Sie soll die Menschen von Krieg, Krise, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, "Hartz IV", Zerschlagung unserer Sozialsysteme, Armut und Bildungsmangel, kurz: unserer gesamtgesellschaftlichen Misere ablenken. Darüber hinaus dient die BRD-Beweihräucherung einem massiv fälschenden Geschichtsrevisionismus.

Frickes Buch ist ein Beispiel für faktenreich argumentierenden Widerstand gegen die allgegenwärtige Propaganda, mit der einerseits die DDR als abgewirtschafteter, maroder Unrechtsstaat niedergemacht und andererseits die BRD als Hort von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlanständigkeit verherrlicht wird. "Eine feine Gesellschaft" ist ein Angebot, sich mit geleugneten oder verdrängten Vorgängen und Zusammenhängen vertraut zu machen. Das Buch ermutigt dazu, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, um ein zutreffendes Bild von Deutschland zu erhalten. Fricke unterstreicht die Notwendigkeit dazu mit einem Zitat des britischen Feldmarschalls Bernhard L. Montgomery: "Die Geschichtsschreibung ist der zweite Triumph der Sieger über die Besiegten."


Hans Fricke: "Eine feine Gesellschaft - Jubiläumsjahre und ihre Tücken - Kritische Betrachtung der 'Wiedervereinigung'", GNN-Verlag, 252 Seiten, 15 Euro


*


Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Dreizehnter Jahrgang, Nr. 19 vom 18. September 2010, Seite 721
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Eckart Spoo (verantw.)
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
Telefon: 030/42 80 52 28
Telefax: 030/42 80 52 29
E-Mail: espoo@t-online.de
Internet: www.ossietzky.net, www.sopos.org/ossietzky und
www.linksnet.de

Ossietzky erscheint zweiwöchentlich.
Einzelheft 2,80 Euro, Jahresabo 58,- Euro
(Ausland 94,- Euro) für 25 Hefte frei Haus.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2010