Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


ROTFUCHS/212: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 260 - September 2019


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

22. Jahrgang, Nr. 260 - September 2019



Aus dem Inhalt

*

Eine Überlebensfrage

Seit Mitte August 1939 organisierte die faschistische Führung Deutschlands fingierte Überfälle, für die in der Nazipropaganda Polen verantwortlich gemacht wurde. Die Aktionen mündeten am 31. August 1939 in den "Überfall" auf den Sender Gleiwitz: SS-Leute in Zivil verkündeten dort auf Deutsch und Polnisch einen Aufstandsaufruf an die polnische Minderheit im deutschen Teil Oberschlesiens.

Wenige Stunden später, am 1. September um 4.45 Uhr, eröffnete das in Danzig liegende Linienschiff Schleswig-Holstein das Feuer auf die polnische Garnison auf der Westerplatte. Deutschland hatte 25 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg auch den Zweiten begonnen. Hitler behauptete: "Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!" Nicht einmal die Uhrzeit stimmte.

80 Jahre danach organisieren die USA und ihre Verbündeten unentwegt kriminelle Akte, mit denen sie die Kriegsgefahr in mehreren Regionen der Welt steigern und in Nordamerika und Westeuropa rechte und faschistische Bewegungen und eine Welle der Gewalt fördern. Diese Strömungen formulieren schärfer, was Konservative und nationalistische Sozialdemokraten seit Jahrzehnten predigen: Nicht der globale Klassenkampf von oben, nicht die Diktatur des Finanzkapitals und sein Drang zum Krieg, sondern Zuwanderung und Migration sind die größte Bedrohung des Kapitalismus seit dem Ende der Sowjetunion. Heute übertrifft die darauf basierende Hetze an Intensität und Reichweite die Nazis von 1939. Was in der Bundesrepublik als Gerede über die "Islamisierung des Abendlandes", also etwas, was es nicht gibt, begann, könnte nach Vorhersagen in den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg am 1. September im Aufstieg der AfD zur stärksten Partei vorläufig gipfeln - einer Partei, die nur mühsam ihr faschistisches Wesen kaschiert. Die Behautung einer Invasion angeblich krimineller Migranten brachte in den USA den unberechenbarsten Chauvinisten der vergangenen 120 Jahre ins Weiße Haus.

Sie wollen Krieg! Am 2. August, als die Zerstörung des INF-Vertrags vollendet war, verkündete der US-Kriegsminister die rasche Aufstellung bisher verbotener Waffen gegen China. Das Spektakel, das die USA und ihre getreuen Londoner Vasallen in der Straße von Hormus seit Wochen inszenieren, weist Parallelen zu 1939 auf: Es wird ja nur zurückgeschossen. Und Syrien, Ostukraine, vor allem Venezuela? Seit dem nach Gleiwitz-Modell organisierten Putschversuch vom 23. Januar befindet sich das südamerikanische Land im ökonomischen Würgegriff der USA, hat es nach Einschätzung von US-Wissenschaftlern wegen der Folgen für das Gesundheitssystem Zehntausende Tote zu beklagen. Am 6. August wurden neue Sanktionen Trumps bekannt und nachgewiesen, daß die USA einen Cyberkrieg gegen die Streitkräfte Venezuelas führen.

Tatsachen dieser Art veranlassen manche, die sich Linke nennen, sich als Lakaien der Konterrevolution anzubiedern. So veröffentlichte z. B. das "neue deutschland" am 30. Juli ein Interview mit zwei venezolanischen Regierungsgegnern unter der Überschrift "Venezuela schadet der Linken".

Anlaß war die 25. Tagung des Forums von São Paulo in Caracas mit 750 Vertretern von 125 Organisationen aus 70 Ländern. Es stand im Zeichen der Solidarität mit Venezuela, Kuba und Nikaragua. Im Interview war davon keine Rede, vielmehr sollte offenbar nachträglich eine Haßpredigt auf lateinamerikanische Linke veröffentlicht werden. Die sähen, wurde da unkommentiert gelogen, "leider" zu einem nicht unerheblichen Teil "die Welt noch durch die Brille des kalten Krieges" und wiederholten "Muster des Realsozialismus, des Stalinismus". Wer solchen "Genossen" Raum gibt, macht Trump-Twitter überflüssig.

Wenn der Krieg beginnt, muß die Linke gespalten werden. Es ist für uns eine Überlebensfrage, das zu verhindern.

Arnold Schölzel

*

Keinen neuen kalten Krieg in Europa!

Friedensbewegung und INF-Vertrag

US-Präsident Donald Trump kündigte Anfang Februar den für Europas Sicherheit wichtigen Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) zum 2. August auf. Der russische Präsident Putin setzte, als Reaktion darauf, selbst den INF-Vertrag aus. Nach Fertigstellung der US-Aegis- und THAAD-Raketenabwehrsysteme (in Polen, Rumänien und THAAD, letztere mobil voraussichtlich für Deutschland) soll nun auch der Weg für die Stationierung neuer nuklearer Marschflugkörper in Europa geebnet werden.

Ende Oktober 2017 bezifferte die "Kongreß-Geschäftsstelle für den US-Haushaltsetat" (Congressional Budget Office) die veranschlagten Kosten der US-Atomwaffenaufrüstung für die kommenden 30 Jahre auf mittlerweile 1,2 Billionen US-Dollar. Es handelt sich nicht um eine größere Sympathie gegenüber der Politik Rußlands, wenn hier stärker der Blick auf die US-Politik gerichtet wird, sondern um die realistische Einschätzung einer Kriegsangriffsgefahr durch ein militärisch stark überlegenes US-Militär, unterstützt durch das Militärbündnis NATO, das unter US-Hegemonie steht. Die Zahlen der immens größeren US-Rüstungsausgaben, die über dem Zehnfachen der russischen Militärausgaben liegen, können bei SIPRI, dem Stockholmer Internationalen Institut über die weltweiten Militärausgaben, nachgelesen werden. Auch wenn alle Atomwaffenstaaten weiter aufrüsten: Der Militärisch-industrielle Komplex der USA mit seinen ca. 800 Militärbasen (außerhalb des eigenen Landes) läßt bei den heute tief verschuldeten Vereinigten Staaten auf nichts Gutes hoffen.

So schockte auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz der rechte US-Vizepräsident Mike Pence die Anwesenden mit Präsident Trumps neuer amerikanischer Raketenabwehrstrategie, die wie eine reine Kriegserklärung aussieht - siehe dazu die "Monitor"-Sendung vom 21. Februar "Hochrüsten um jeden Preis: Die neuen nuklearen Pläne der USA". Es sind die Pläne von Trumps "Sicherheits"berater John Bolton, der Falke unter den Falken: Pläne, die sich eindeutig gegen Rußland und auf regionale und damit hier in Europa stattfindende Atomkriege richten. Gerhard Piper, Publizist und Politikwissenschaftler, schrieb dazu: "In der Sendung [Monitor] fordert Elbridge A. Colby, der bis 2018 Chefstratege im Pentagon war und nun als Director for Defense Plans am Center for a New American Security (CNAS) in Washington arbeitet, 'die richtige Strategie und die richtigen Waffen, um einen begrenzten Atomkrieg zu führen und zu gewinnen.'

Und: 'Wir müssen bereit sein, Atomwaffen gezielt einzusetzen. Natürlich kann man die apokalyptische Gefahr solcher Waffen nicht komplett kontrollieren, aber wir sollten zu einem gezielten Einsatz bereit sein.' "Die Bundesregierung fährt aktuell den Kurs der Bündnistreue zur USA, indem sie einseitig Stellung gegen Rußland bezieht, anstatt eine Entspannungspolitik zu betreiben, die die streitenden Parteien an den Verhandlungstisch drängen würde. Damit wächst auch die Gefahr eines möglichen Unfalls: Neue nukleare Mittelstreckenraketen, die voraussichtlich für die Raketenabwehr an der Grenze zu Rußland aufgestellt werden, geben dem Gegenüber kaum Zeit für eine Entscheidung. So können falsche Computersignale hier der Weltuntergangsuhr der US-amerikanischen Atomwissenschaftler recht geben. Es ist heute wieder zwei Minuten vor zwölf, so spät oder gefährlich, wie es bisher nur einmal im kalten Krieg war.

Nukleare Aufrüstung: Atomwaffenstützpunkt Büchel

Aktuell gibt es die erste Neuentwicklung einer US-amerikanischen Atomwaffe seit dem Ende des kalten Krieges, die B61-12-Atombombe. Sie soll im Jahr 2020 in Serienproduktion gehen und ab 2024 die ältere Version (B61) u. a. in Büchel ersetzen. Unsere aktuell aus 67 Friedensorganisationen bestehende bundesweite Kampagne "Büchel ist überall - atomwaffenfrei jetzt!" fordert von der Bundesregierung den Abzug der letzten Atomwaffen aus Büchel, die Unterzeichnung und Ratifizierung des UN-Atomwaffen-Verbotsvertrages und eine Absage an die geplante nukleare Aufrüstung. Büchel ist der einzige Standort in Deutschland, wo heute (US-)Atombomben stationiert sind (vermutlich zwanzig). Dort (und gemeinsam in NATO-Manövern) üben deutsche Piloten im Rahmen der "nuklearen NATO-Teilhabe" mit Bundeswehr-"Tornado"-Kampfjets, Atombomben ins Zielgebiet zu fliegen und abzuwerfen.

In Büchel fanden vom 26. März bis 9. August zum vierten Mal seit 2016 unsere Proteste in Form einer 20-wöchigen Aktionspräsenz statt. Alle diese Aktionen, die zivilen Ungehorsam beinhalten, verfolgen das Ziel eines atomwaffenfreien Deutschlands. Weder darf die Bundeswehr an nuklearen NATO-Manövern teilnehmen, noch darf von hier aus (Ramstein und Büchel) ein US-Atomkrieg geführt werden. Die Proteste stehen für eine klare Absage an die nukleare Teilhabe der NATO und damit auch gegen einen nuklearen Ersteinsatz, der Teil der NATO-Doktrin ist. Sie steht für den Erhalt des INF-Vertrages. Mit unseren Prozeß-Kampagnen legen wir den Finger in die Wunde: Die Atomwaffen in Büchel sind aus vielen Gründen gesetzeswidrig, und wir haben eine Verpflichtung, gegen dieses Unrecht Widerstand zu leisten. Wenn immer mehr Menschen den Weg durch die Gerichte wagen, haben wir eine Chance, wie damals in Mutlangen in den 80er Jahren. Mutlangen war ein Symbolort für die Aufrüstung mit Massenvernichtungswaffen, wie es Büchel heute ist. Dort protestierten Tausende von Menschen gegen die Stationierung der Pershing-II-Mittelstreckenraketen mit Sitzblockaden. Der Druck der Friedensbewegung hatte einen Anteil daran, daß der INF-Vertrag geschlossen und die Pershing-Atomraketen abgezogen und vernichtet wurden. Atomare Abrüstung versucht jetzt unsere Kampagne am Symbolort Büchel zu erreichen, wofür wir gemeinsam mit der regionalen Gruppe "Initiativkreis gegen Atomwaffen" des Versöhnungsbundes e. V. am 1. September den diesjährigen Aachener Friedenspreis erhalten werden.

Dezentral riefen zudem Organisationen und Friedensgruppen aus unserem Kampagne-Trägerkreis zum bundesweiten Aktionstag am 1. Juni auf (in Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Bonn, Frankfurt und München). Er richtete sich gegen die Aufkündigung des INF-Vertrages, gegen ein neues atomares Wettrüsten und tritt für eine atomwaffenfreie Welt ein.

Mayors for Peace

Die "Mayors for Peace" (Bürgermeister für den Frieden) ist eine weltweite Organisation, der 7744 Städte (Stand April) angehören. Deutschland steht nach dem Iran und Japan an dritter Stelle mit 650 Mitgliedsstädten. Auch bei den Bürgermeistern macht sich die neue Bedrohung durch die Aufkündigung des INF-Vertrages bemerkbar. Neu in diesem Jahr ist der ICAN-Städteappell: Bereits dreizehn Städte haben den "ICAN-Städteappell" unterschrieben, der fordert, daß "Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen beitreten soll": Mainz, Wiesbaden, Marburg, Köln, Potsdam, München, Göttingen, Reinheim, Dortmund, Bremen, Schwerin, Düsseldorf und Kaiserslautern. Auch international ruft ICAN die Städte dazu auf, den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen zu unterstützen. Große Städte in Nordamerika (darunter die US-Regierungs-Stadt Washington DC), Europa und Australien haben den Appell schon unterzeichnet. Ein Verbot von Atomwaffen verbietet dann auch die nukleare Teilhabe.

Atomkrieg und Klimawandel

Das Militär ist der größte Klimakiller, was aber auch die größte Chance für nötige klimapolitische Alternativen bietet. 1,7 Billionen Dollar werden jährlich weltweit für die Rüstung ausgegeben. Rüstungsproduktion und Rüstungsexporte sowie der Einsatz der Waffen, auch das Üben mit den Kampfflugzeugen, erzeugen u. a. riesige Mengen unsinniger CO2-Ausstöße. Allein ein Zehntel der Rüstungsausgaben reichen für einen ökologischen wirtschaftlichen Umbauprozeß. Es gilt, den militärisch-industriellen Komplex für unsere Zukunft und die der zukünftigen Generationen abzubauen. Krieg ist obsolet! Solidarisch sind wir aktuell ganz besonders mit der jungen Klimabewegung "Fridays for Future" und mit "Extinction Rebellion"!

Jugend in Aktion

Sehr ermutigend ist die 18-köpfige Jugend-Delegation der jungen Menschen aus Deutschland, welche die Vorbereitungskonferenz (NPT PrepCom vom 29. April bis zum 10. Mai) zur anstehenden Atomwaffensperrvertrags-Konferenz in 2020 (NPT), begleitete.

Die jungen Menschen haben mit weiteren Jugend-Delegationen aus den USA, Neuseeland und Japan eine gemeinsame Rede erarbeitet, die von Mandy aus der deutschen Delegation am 1. Mai dort vorgetragen wurde. Ganz im Sinne von Greta und anderen Jüngeren, wie wir es im Moment in den Nachrichten über die Aktionärsversammlungen bei RWE (Kohleausstieg) und auch Bayer (Glyphosat/Monsantokauf) erleben. Auch beim Atomwaffen-Thema ist jetzt die nachfolgende Generation mit dabei. Diese Delegation ist eine Initiative der Pressehütte Mutlangen und der DFG-VK, die zum Trägerkreis unserer Kampagne gehören.

Die neue breite gesellschaftliche Mobilisierung für die Abrüstung von Atomwaffen ist von besonderer Wichtigkeit. Der Klimawandel und die Gefahr eines globalen Atomkrieges sind aktuell die größten Gefahren für die Menschheit!

Marion Küpker

(Leicht gekürzt aus "FriedensForum" 4/2019)

*

Der 2. Weltkrieg und die Verdrehungen des Westens

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Die Bildserie von Herluf Bidstrup wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

*

Wie vor 80 Jahren der 2. Weltkrieg begann

An den 2. Weltkrieg zu erinnern, erübrigt sich fast, denn Hitler ist allgegenwärtig. Geschichtsverdrehung hat Hochkonjunktur.

Ein kurzer Rückblick:
Nach dem Ende des 1. Weltkriegs blickten die Menschen fassungslos auf die grausamen Folgen. Es gab 10 Millionen Tote und noch mehr Verkrüppelte. Der verlorene Krieg und die fast unblutige Revolution vom November 1917, die durch einen Matrosenaufstand den Kaiser verjagte, wurde in der Folge zu einem Blutbad durch die Freikorbs und der Versailler Vertrag zur Zündschnur einer noch größeren Katastrophe.

Die Machtübertragung an Hitler im Januar 1933 garantierte ihm dafür "freie Hand". Schon am 3. Februar 1933 erklärte Hitler vor den militärischen Eliten der Reichswehr: "Ziel ist die Wiederherstellung der deutschen Macht. ... Der Marxismus muß mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. ... Es fehlen für unsere Erzeugnisse die Absatzmärkte. Zu dieser Not kommt nun die bolschewistische Gefahr hinzu, die den überkultivierten Menschen wieder zur Idee der Primitivität zurückführen will ..."

1939 ist Deutschland gut "gerüstet". Der Anschluß Österreichs wurde von den Westmächten akzeptiert, das "Münchner Abkommen" unterschrieben.

Die Tschechoslowakei hatte zwar das Sudetenland verloren, so das damalige Argument, aber Europa den Frieden gewonnen. Doch schon am 15. März 1939 wird die Tschechoslowakei vollständig annektiert.

Für die Sowjetunion war klar, daß alles, was sich ab 1933 in Deutschland abspielte, früher oder später in einen Krieg münden wird. Auf dem 17. Parteitag der KPdSU im Jahr 1934 verlas Bucharin die Passage aus "Mein Kampf", bei der Hitler von der Eroberung der Sowjetunion sprach, und sagte: "Das ist der Gegner, Genossen, mit dem wir es zu tun haben! Er wird uns in all den gewaltigen Schlachten entgegentreten, die die Geschichte uns auferlegt."

In diesem Zusammenhang ergeben sich auch Fragen zu den "Säuberungen" von 1937/38. Diesen fielen drei von fünf Marschällen, 13 von 15 Armeekommandeuren, 57 von 85 Korpskommandeuren und 110 von 195 Divisionskommandeuren zum Opfer. Diese Zahlen können u. a. die katastrophalen Niederlagen der Sowjetunion 1941 und 1942 erklären.

Gab es wirklich eine "Fünfte Kolonne?" In allen Ländern, die von der Wehrmacht erobert wurde, gab es sie, die Anhänger des Faschismus, selbst in England und den USA. Aus äußerer Aggression, Sabotage, Provokationen und innerem Verrat hätte Hitler Profit schlagen können.

Am 1. September 1939 folgt der Überfall auf Polen, und es begann der Waffengang zur Umsetzung der Pläne Hitlers und seiner Generale, für welche die Wehrmacht seit 1933 vorbereitet wurde. 61 Divisionen mit 1,5 Millionen Soldaten fielen in Polen ein. Am 6. Oktober war Polen geschlagen, und 16.000 deutsche Soldaten waren gefallen. Sowjetische Truppen besetzten die vereinbarten Gebiete in Polen.

Ein weiterer Beweis für die zu erwartende Konfrontation mit Nazi-Deutschland war der Sowjetisch-Finnische Krieg vom 30. November 1939 bis 13. März 1940.

Die junge Sowjetunion, geschwächt durch die Vielzahl von Abwehrkämpfen gegen die Interventionen, mußte am 14. Oktober 1920 im Vertrag von Dorpat Finnland erhebliche territoriale Zugeständnisse machen.

Die sowjetische Staatsgrenze und im besonderen Leningrad waren dadurch von der Seeseite (Finnischer Meerbusen) und von der Landseite (Karelische Landenge) bedroht. Diesen Zustand zu verändern bemühte sich die sowjetische Regierung in den 30er Jahren. Sie schlug Finnland unter anderem einen Gebietstausch vor und wollte Inseln von Finnland pachten, um einen Marinestützpunkt am Eingang des Finnischen Meerbusens errichten zu können. Die finnische Regierung lehnte aber alle Vorschläge ab. Sie betrachtete die Sowjetunion als Gegner und errichtete mit Hilfe unter anderem der Deutschen an der karelischen Grenze starke Militäranlagen (Mannerheim-Linie) und Flugplätze.

Als die Hitler-Faschisten Polen überfielen, bemühte sich die Sowjetunion verstärkt um die Verbesserung der Sicherheit ihrer Grenzen. Der Schutz Leningrads kam wieder auf die Tagesordnung. Finnland lehnte alle Vorschläge ab, was dann zum Krieg führte. Am Ende siegte die Rote Armee und besetzte nur die Teile Finnlands, die sie für die Sicherheit Leningrads für notwendig erachtete.

Die Regierungen Englands und Frankreichs hatten Nazideutschland nach dem Einmarsch in Polen zwar den Krieg erklärt, aber unternahmen keine militärischen Aktionen. Ihr Wunsch war, daß Hitler nun die Sowjetunion angreifen würde, und sie warteten deshalb ab.

Der Völkerbund wurde in diesem Sinne instrumentalisiert. Obwohl nur die Hälfte der Mitglieder des Völkerbundrates dafür stimmte, wurde die Sowjetunion, wegen der Finnlandaktion, aus dem Völkerbund ausgeschlossen. Stalin hat bei der Konferenz in Jalta im Februar 1945, als es um den Modus der Beschlußfassung in der neuen Weltorganisation ging, an diese Ereignisse erinnert. "Meine Moskauer Kollegen können nicht vergessen, was sich während des russisch-finnischen Krieges im Dezember 1939 abgespielt hat, als Briten und Franzosen den Völkerbund gegen uns in Bewegung brachten und es ihnen gelang, die Sowjetunion zu isolieren und aus dem Völkerbund auszuschließen, als sie später sogar mobil machten und von einem Kreuzzug gegen Rußland sprachen."

Im April 1940 wurden die neutralen Staaten Dänemark und Norwegen überfallen und besetzt. Am 10. Mai 1940 griff Hitlers Wehrmacht Frankreich und die neutralen Länder Belgien und Holland an. Am 22. Juni 1941 begann der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion. Mit 153 Divisionen und 3,3 Millionen Soldaten griff sie ohne Kriegserklärung auf breiter Front zwischen Ostsee und Schwarzem Meer an. Ziel war es, auch hier einen "Blitzkrieg"-Erfolg zu erreichen.

Unter dem Decknamen "Barbarossa" war der Überfall vom NS-Regime sorgfältig geplant worden. Kurz nach 4 Uhr früh übergab der deutsche Außenminister dem sowjetischen Botschafter eine Note, die er gegen 6 Uhr der internationalen Presse bekanntgab. Der Text rechtfertigte den Angriff damit, daß die Sowjetunion "entgegen allen von ihr übernommenen Verpflichtungen und im krassen Gegensatz zu ihren feierlichen Erklärungen" sich "gegen Deutschland gewandt" habe und "mit ihren gesamten Streitkräften an der deutschen Grenze sprungbereit aufmarschiert" sei. Die Wehrmacht habe Befehl, "dieser Bedrohung mit allen zur Verfügung stehenden Machtmitteln entgegenzutreten". Deutsche Flugzeuge bombardierten bereits seit drei Stunden sowjetische Städte.

In Polen, auf dem Balkan und in der Sowjetunion hatten die deutschen Besatzer von vornherein verbrecherische Ziele. Der "Generalplan Ost" sah die Dezimierung der slawischen Bevölkerung um etwa 30 Millionen und die Unterdrückung der verbleibenden Menschen vor.

Bis zur Kapitulation Japans hatte die Rote Armee 6,2 Millionen Gefallene zu beklagen, mehr als 15 Millionen Verwundete, 4,4 Millionen Gefangene oder Vermißte und drei bis vier Millionen Ausfälle wegen Krankheit. Das bedeutet, daß von den 34,5 Millionen mobilisierten Männern und Frauen 84 Prozent getötet, verwundet oder gefangengenommen wurden. Hinzu kommen rund 17 Millionen zivile Opfer. Das sind unvorstellbare Größenordnungen.

Obwohl das Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929 für die Unterzeichner auch gegenüber Staaten bindend war, die ihm nicht beigetreten waren, wurde es gegenüber sowjetischen Soldaten nicht angewendet. Auch laut Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907, die als Völkergewohnheitsrecht angesehen wurde, hätten die Kriegsgefangenen der sowjetischen Streitkräfte entsprechend der HLKO behandelt werden müssen, zumal die Sowjetunion am 17. Juli 1941 erklärte, "sie wolle auf der Basis der Gegenseitigkeit die HLKO einhalten, der sie bis dahin nicht beigetreten war" - doch in einer "von Hitler selbst formulierten Antwortnote" lehnte die deutsche Seite am 21. August 1941 brüsk ab, denn "es lag nicht in Hitlers Interesse, auf diesem Kriegsschauplatz kriegsvölkerrechtliche Regeln gelten zu lassen".

Dieses verbrecherische Treiben endete erst am 8. Mai 1945. Immer wieder wird versucht, den Anteil der Roten Armee am Sieg zu schmälern und die Landung in der Normandie zu glorifizieren - bis dahin, sie als "Wende im Krieg" zu bezeichnen. Eine Geschichtslüge, der wir entgegentreten müssen!

Oberst a. D. Horst Nörenberg
Potsdam

*

Ein Zehnjahresvertrag, der keine zwei Jahre hielt

Am 23. August 1939 unterzeichneten der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Wjatscheslaw Molotow und der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop in Moskau in Anwesenheit von Josef Stalin und des deutschen Botschafters Graf von der Schulenburg den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, der auf zehn Jahre befristet war. Es war in der damaligen Situation ein wichtiger und notwendiger Schritt der sowjetischen Außenpolitik.

Der Vertrag hatte folgenden Inhalt:
Die deutsche Reichsregierung und die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, geleitet von dem Wunsche, die Sache des Friedens zwischen Deutschland und der UdSSR zu festigen, und ausgehend von den grundlegenden Bestimmungen des Neutralitätsvertrages, der im April 1926 zwischen Deutschland und der UdSSR geschlossen wurde, sind zu nachstehender Vereinbarung gelangt:

Artikel 1 Die beiden vertragschließenden Teile verpflichten sich, sich jeden Gewaltakts, jeder aggressiven Handlung und jeden Angriffs gegeneinander, und zwar sowohl einzeln als auch gemeinsam mit anderen Mächten, zu enthalten.

Artikel 2 Falls einer der vertragschließenden Teile Gegenstand kriegerischer Handlungen seitens einer dritten Macht werden sollte, wird der andere vertragschließende Teil in keiner Form diese dritte Macht unterstützen.

Artikel 3 Die Regierungen der beiden vertragschließenden Teile werden künftig fortlaufend zwecks Konsultation in Fühlung miteinander bleiben, um sich gegenseitig über Fragen zu informieren, die ihre gemeinsamen Interessen berühren.

Artikel 4 Keiner der beiden vertragschließenden Teile wird sich an irgendeiner Mächtegruppierung beteiligen, die sich mittelbar oder unmittelbar gegen den anderen Teil richtet.

Artikel 5 Falls Streitigkeiten oder Konflikte zwischen den vertragschließenden Teilen über Fragen dieser oder jener Art entstehen sollten, werde beide Teile diese Streitigkeiten oder Konflikte ausschließlich auf dem Wege freundschaftlichen Meinungsaustausches oder nötigenfalls durch Einsetzen von Schlichtungskommissionen bereinigen.

Artikel 6 Der gegenwärtige Vertrag wird auf die Dauer von zehn Jahren abgeschlossen mit der Maßgabe, daß, soweit nicht einer der vertragschließenden Teile ihn ein Jahr vor Ablauf dieser Frist kündigt, die Dauer der Wirksamkeit dieses Vertrages automatisch als für weitere fünf Jahre verlängert gilt.

Artikel 7 Der gegenwärtige Vertrag soll innerhalb möglichst kurzer Frist ratifiziert werden. Die Ratifikationsurkunden sollen in Berlin ausgetauscht werden. Der Vertrag tritt sofort mit seiner Unterzeichnung in Kraft.

Die Sowjetunion hätte gern einen anderen Vertrag abgeschlossen. Doch die Verhandlungen zwischen Großbritannien, Frankreich und der UdSSR waren von Beginn an von gegenseitigem Mißtrauen getragen. Der britische Premierminister Chamberlain stand der Sowjetunion skeptisch gegenüber. Die Sowjetunion wiederum war nicht davon überzeugt, daß die Westmächte wirklich einen Vertrag abzuschließen gedachten. In den Verhandlungen standen sich drei Positionen gegenüber: Großbritannien wollte, daß jedes der drei teilnehmenden Länder eine Garantie für Polen und Rumänien übernehmen sollte.

Frankreich schlug einen gegenseitigen Beistandspakt für diese beiden Staaten vor. Die Sowjetunion beabsichtigte, einen dreiseitigen Vertrag abzuschließen zwischen ihr, Großbritannien und Frankreich, die sich gegenüber allen europäischen Nachbarstaaten der Sowjetunion zu militärischem Beistand verpf lichten und auf jeden Separatfrieden mit Deutschland verzichten sollten.

Die Verhandlungen verliefen schleppend. Am 3. Mai 1939 wurde der bisherige Außenkommissar Litwinow abgelöst, und der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare Molotow übernahm zusätzlich die Leitung der Außenpolitik.

Viel Zeit ging verloren, weil die Briten allein zehn Tage brauchten, um eine Delegation für die Verhandlungen zusammenzustellen, und weil die britischen und französischen Delegationen nicht mit dem Flugzeug, sondern mit einem Linienschiff anreisten.

Erst am 11. August 1939 begannen daher die Verhandlungen in Moskau. Ein entscheidendes Problem war die Frage eines sowjetischen Durchmarschrechtes durch Polen. Damit war die Regierung in Warschau nicht einverstanden. Die britischen und französischen Offiziere, die in Moskau verhandelten, hatten keine Vollmachten. Die Verhandlungen gerieten ins Stocken. Die Sowjetregierung sah sich daher gezwungen, den deutschen Vorschlag eines Nichtangriffsvertrages anzunehmen.

Der Vertrag wird bis heute kontrovers diskutiert. Das gilt insbesondere für die gleichzeitig abgeschlossenen geheimen Zusatzvereinbarungen. Heute kann man auch bei DDR-Historikern, die früher anderes schrieben, lesen, daß der Vertrag den Weg für die Aggression des faschistischen Deutschlands gegen Polen frei machte. Doch die Kriegsvorbereitungen gegen Polen waren bereits so weit fortgeschritten, daß daran eine Weigerung der UdSSR, den Vertrag abzuschließen, wohl kaum noch etwas geändert hätte. Dem Nazigeheimdienst war sicher auch bekannt, daß Polen der Roten Armee das Durchmarschrecht verweigerte, so daß sie nicht an der Seite Polens in den Krieg hätte eingreifen können. Der Krieg gegen Polen war nicht mehr aufzuhalten.

Die Nachricht über den Abschluß des Nichtangriffsvertrages überraschte auch deutsche Kommunisten und andere Antifaschisten und löste bei einigen Unverständnis und Verwirrung aus. Das Zentralkomitee der KPD gab am 25. August 1939 eine Erklärung zum Abschluß des Vertrages ab. Darin wurde der Pakt begrüßt, weil er wenigstens eine Zeitlang die Sowjetunion vor einem Angriff der deutschen Faschisten schützte.

Im Gegensatz zu manchen Behauptungen setzten die deutschen Kommunisten ihren ant ifaschistischen Kampf entschieden fort. Von den illegalen Organisationen der KPD waren es vor allem die Kommunisten um Robert Uhrig in Berlin, die Kader und Gruppen zusammenfaßten, um eine Widerstandsorganisation mit einer einheitlichen Leitung zu schaffen.

In dem geheimen Zusatzprotokoll wurde erklärt, daß für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu Finnland und zu den baltischen Staaten (Estland, Lettland und Litauen) gehörenden Gebieten die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessenssphäre Deutschlands und der UdSSR bildet.

Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staat gehörenden Gebiete wurden die Interessenssphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San abgegrenzt. Hinsichtlich des Südostens Europas betonte die sowjetische Seite ihr Interesse an Bessarabien. Ein deutsch-sowjet ischer Grenz- und Freundschaftsvertrag ergänzte am 28. September 1939 den Nichtangriffspakt. Neben einer Bekräftigung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wurde Litauen der Sowjetunion zugeschlagen. Ein Grenzvertrag war sicher erforderlich, ein Freundschaftsvertrag nicht unbedingt.

Diese Verträge wurden während des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses erwähnt und später veröffentlicht. Aber die Westmächte besaßen nur Kopien des Vertrages. Die sowjetische Seite erklärte, daß sie nicht über das Original verfüge. Das stellte sich 50 Jahre später als falsch heraus.

Nachdem Polen militärisch geschlagen war, ging die polnische Regierung am 17. September 1939 ins Exil, und Polen kapitulierte einen Tag später. Am 17. September marschierte die Rote Armee in ukrainische und belorussische Gebiete ein, die durch Polen unter Bruch des Friedensabkommens von Riga 1921 okkupiert worden waren.

Militärische Bedeutung bei der Zerschlagung Polens hatte dieser Einmarsch nicht. In den Ländern Litauen, Lettland und Estland, die zum russischen Zarenreich gehörten, war nach der russischen Oktoberrevolution die Sowjetmacht errichtet worden.

Sie wurde durch die Konterrevolution unter Beteiligung deutscher Freikorps kurze Zeit später beseitigt und 1940 wieder errichtet. Dagegen gab es Widerstand in den baltischen Ländern und internationale Proteste. Bessarabien wurde im August 1940 in die Moldauische ASR eingegliedert.

Am 22. Juni 1941 fiel die faschistische deutsche Wehrmacht unter Bruch der Verträge in die Sowjetunion ein.

Dr. Kurt Laser

*

Gedenkort für die Opfer des NS-Vernichtungskrieges in Osteuropa

Aller Opfer gedenken!

Der deutsche Überfall auf Polen am 1.9.1939 und die Vernichtungspolitik gegenüber der polnischen Zivilbevölkerung war der Beginn der "NS-Lebensraumpolitik" in Ostmitteleuropa. Antisemitismus und Rassismus verbanden sich hier mit der "NS-Lebensraumpolitik" zu einem systematischen Raub- und Vernichtungsfeldzug gegen Polen, die Sowjetunion, aber auch Jugoslawien und andere Nationen. Der Vernichtungskrieg der Nazis in Ostmitteleuropa hinterließ eine unvorstellbare Spur menschlichen Leids und traumatisierte nachkommende Generationen der Opfer. Beschämend wenig ist davon in der heutigen deutschen Öffentlichkeit bekannt.

Seit 2013 setzt sich die Initiative "Gedenkort für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik" für einen solchen Gedenkort in Berlin ein. Als Fraktion unterstützen wir dies. Unser aktueller Antrag "Gedenkort für die Opfer des NS-Vernichtungskrieges in Osteuropa" (18/4917) strebt eine interfraktionelle und mehrheitsfähige Initiative an. Ziel ist, eine Initiative für einen Gedenkort für alle Opfer des NS-Vernichtungskrieges noch in dieser Wahlperiode zu erreichen.

Anläßlich des 80. Jahrestages des Überfalls auf Polen sammelt nun eine interfrakt ionelle Abgeordnetengruppe seit einigen Wochen Unterstützerinnen und Unterstützer für ein "Polen-Denkmal". Ihr Appell setzt sich dafür ein, einen eigenen Gedenk- und Lernort für die Opfer der deutschen Besatzung in Polen einzurichten. Der Aufruf ist durchaus nachvollziehbar. Er benennt korrekt die gravierenden Wissens- und Erinnerungslücken der deutschen "Erinnerungskultur". Dennoch halten wir ihn für hoch problematisch, gerade in seiner einseitigen Fokussierung auf polnische Opfer. Der Vernichtungskrieg hat in Polen begonnen, er hat sich aber nicht auf Polen beschränkt.

Es ist kaum vermittelbar, daß man von den vielen Ländern, die dem Vernichtungskrieg zum Opfer fielen, nur Polen ein "eigenes" Denkmal widmet. Eine Hierarchisierung des Gedenkens ist immer problematisch. Nach welchen Kriterien sollte Polen dabei an oberster Stel le stehen, und Rußland, Ukraine, Belarus ignoriert werden? Weder das Kriterium des Zeitpunkts des deutschen Überfalls kann das rechtfertigen, noch eines wie die absolute oder relative Zahl der Opfer oder die Länge der Besatzung. Die Schaffung eines "Polen-Denkmals" bei gleichzeitiger Ignorierung des Völkermordes in den Ländern der damaligen Sowjetunion ist aber nicht nur aus deutscher Sicht erinnerungspolitisch fragwürdig.

Sie könnte auch vorhandene Konflikte um Erinnerungspolitik zwischen Polen und der Ukraine, aber auch zwischen Polen und Belarus verschärfen, bzw. diese erführen unter dem Deckmantel der NS-Aufarbeitung eine unangemessene Einmischung aus Deutschland. Unser Antrag für einen "Gedenkort für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik" weist im großen und ganzen auf die gleichen Lücken in der Erinnerungskultur hin wie die Polen-Initiative, nur wird hier klargestellt: Diese Lücken beziehen sich auf ganz Osteuropa. Ausdrücklich wird festgestellt, daß bereits der Überfall auf Polen 1939 der Beginn eines Krieges war, der immer auch unter rassistischer Maßgabe geführt wurde, der Ideologie vom "Untermenschentum" folgte und der Auftakt für einen Vernichtungsfeldzug war, der sich weiter fortsetzte.

Die rassenideologisch motivierten Verbrechen im Raub- und Vernichtungskrieg in Osteuropa erfolgten in einem inneren Zusammenhang, der durch Separierung, Nationalisierung und Priorisierung nicht künstlich aufgerissen werden sollte. Deutschland hat die Pflicht, Verantwortung für die Erinnerung an das von deutscher Seite geplante und umgesetzte Geschehen in seinem vollen Umfang nachzukommen. Insofern kann aus unserer Sicht nicht eines Teils des NS-Vernichtungskrieges gesondert gedacht werden, ohne die anderen Teile ebenfalls zu thematisieren. Denn eine Opferhierarchie ist sicherlich das Letzte, was von uns zum Ausdruck gebracht werden sollte.

Würde man sich vor allem auf das angestrebte Polen-Denkmal konzentrieren, würde zu Recht seitens der diversen Nachfolgestaaten der SU nach einem vergleichbaren Mahnmal für die 27 Millionen Toten der Sowjetunion gefragt. Die von der Sowjetunion in Berlin errichteten Mahnmale sind kein Ersatz für ein Gedenken von seiten der Bundesrepublik. Die Folge wäre also die Aufsplittung in einzelne Gedenkorte. Eine solche Entwicklung wäre für die Herausbildung eines historischen Bewußtseins geradezu kontraproduktiv.

Ulla Jelpke / Jan Korte

Jan Korte ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer und Ulla Jelpke innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag.

*

"Ich habe heute zwei Männer getötet ..."

Stefan Köhler und Tom Zola gaben ihrem schmalen Einsatzbericht den Titel "Krieg in Afghanistan". Krieg gegen Afghanistan wäre eher angebracht. Ich bin auf das Büchlein durch eine lapidare Rezension in der "Zeitschrift für Innere Führung" aufmerksam geworden. Warum diese so knapp ausfiel, läßt sich mit dem Inhalt dessen erklären, was die Autoren zusammengetragen haben.

Sie schreiben u. a.: Um die immer zahlreicher werdenden "Missionen" der Bundeswehr abzudecken, "wurden mehr und mehr unzureichend vorbereitete Soldaten" als Kanonenfutter in die Einsatzorte entsandt. Die Autoren berichten von Farid und Karim, die Söldner eines afghanischen Warlords waren, "der sein Vermögen dem Handel mit Opium verdankte".

Es ist davon auszugehen, daß auch dieser Warlord gute Kontakte zu den deutschen Stellen in Afghanistan pflegte. Köhler und Zola weisen auf "Kamerad" Volkmann hin, der sich "mit gezückter Pistole über den Leib eines afghanischen Wachmanns beugte", der "reglos", d. h. tot, dalag. Er hatte "ein halbes Magazin in den Afghanen" geleert.

Als Volkmann von einem Einsatz kommt, meldet er lapidar: "Ich habe heute zwei Männer getötet. Habe sie mit der MG-Salve auf Brusthöhe erwischt, jeweils vier oder fünf Treffer. Ich habe es genau gesehen. [...] Vor ein paar Wochen noch, da habe ich gekotzt, nachdem ich einen anderen Menschen erschossen hatte. Heute habe ich mit Sicherheit zwei, vielleicht sogar drei oder vier getötet. [...] Habe sogar gejubelt. [...] Aber was geschieht hier mit uns? [...] Was für Menschen werden wir sein, wenn wir wieder nach Hause kommen?"

Köhler und Zola konnten ihren Ohren nicht trauen, was Volkmann von seinem Einsatz mit Tränen der Empörung berichtete. "Weißt Du, was ich auf dem Rollfeld gesehen habe? Was? Die Amis fliegen palettenweise Opium aus! [...] Ich habe es gesehen! [...] Die haben in einer Nacht zwei Hercules und eine C-17 vollgemacht. [...] Woher weißt du das? Ich konnte nicht schlafen. Bin deswegen ein bißchen herumgewandert. [...] Dann bin ich zur Rollbahn, um mir die Flugzeuge anzusehen. [...] Dann sah ich, wie sie das Zeug verladen haben. Eine Palette fiel vom Stapler, ein Sack platzte auf. Habe gesehen, wie sich der braune Dreck auf dem Asphalt verteilt hat. [...] Ich habe dann den Posten darauf angesprochen. [...] Der schüttelte den Kopf. [...]

Jede Nacht beladen die mehrere Maschinen mit dem Zeug. Immer nur nachts! Dem Posten hat das auch gestunken. Ich habe da mal ein bißchen recherchiert." Ich habe einen Kumpel auf dem Flugplatz, der sagt, "die fliegen das Dreckzeug nach Deutschland. Hast Du irgend jemandem davon erzählt? Klar, meinem Chef. Der hat das weitergegeben, aber passieren tut da nichts. [...] Ich bin doch nicht Soldat geworden, um Drogenhändler [...] zu schützen! Aber genau das tun wir hier. ISAF-Truppen bewachen die Mohnfelder! Wir tasten die Warlords nicht an, weil die mit den Amis verbündet sind."

Wie der militärisch-industrielle Komplex funktioniert, beschreiben Köhler und Zola am Beispiel des "sehr eng mit einem großen deutschen Rüstungskonzern" verbundenen Staatssekretärs im Verteidigungsministerium und dessen Neffen Major R., der gerade in Afghanistan im Einsatz ist. Der Staatssekretär empfahl diesem, keine kritischen Berichte aus Afghanistan nach Deutschland zu schicken, das würden die "Wirtschaftskreise" nicht mögen. "Natürlich", versicherte Major R. dem Onkel. "Guter Mann. Mach weiter so, Junge, und du wirst es noch weit bringen", ermunterte der Staatssekretär.

Die Schlußfolgerung des Berichts von Köhler und Zola lautet: "Alltag in Afghanistan. Das würde erst aufhören, wenn der letzte ausländische Soldat das Land verlassen hat." Wie also soll es weitergehen in Afghanistan?

Florian Beerenkämper und seine Koautoren befassen sich in "Der innerafghanische Friedens- und Aussöhnungsprozeß" mit den Ansätzen und der eventuellen Etablierung eines Friedensprozesses am Hindukusch. Sie beabsichtigen, daraus Schlußfolgerungen für das künftige entwicklungspolitische Engagement und für weltweit militärische Operationen Deutschlands zu ziehen. Die Autoren zeichnen die politische und militärische Entwicklung in Afghanistan seit der US-Invasion 2001 bis 2010 nach. Die NATO-Länder, die sich als sogenannte internationale Gemeinschaft ausgeben, sind mit ihren Versuchen, durch mehrere Programme, wie Disarmament, Demobilization and Reintegration (Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration), den Widerstand zu neutralisieren, kläglich gescheitert. Dies hatte u. a. auch damit zu tun, daß die USA verhandlungsbereite Talibankommandanten wie u. a. Mullah Mansoor am 21. Mai 2016 gezielt durch Drohnen eliminierten. Sein Nachfolger wurde der als radikal-islamistisch bekannte Mullah Habibullah. Damit haben die USA dem Friedensprozeß einen Bärendienst erwiesen. Hätte der Westen tatsächlich Frieden am Hindukusch gewollt, wäre eine Beteiligung der Taliban schon an der Petersberger Konferenz im Dezember 2001 unverzichtbar gewesen. Diese Chance wurde allerdings durch die USA vertan mit allen bekannten und absehbaren Folgen. Als die Kabuler Regierung Anfang 2016 versuchte, mit der Beteiligung von Pakistan, den USA und der VR China die Taliban für Friedensgespräche zu gewinnen, ist sie damit gescheitert. Denn die Taliban weigern sich, mit einer US-Marionetten-Regierung in Kabul zu sprechen. Die letzte Fluchtbewegung mehrerer Zehntausender, "gut ausgebildeter, junger Afghanen" nach Europa "und ein zunehmender Popularitätsgewinn der Taliban vorrangig unter jungen Afghanen", deuten darauf hin, daß kaum jemand den Versuchen einer friedlichen Lösung des Konfliktes am Hindukusch Glauben schenkt.

Die Autoren weisen auf die "schlechte Regierungsführung", deren eigentlich nicht vorhandene Verläßlichkeit und mangelndes deutsches Vertrauen in die Kabuler Regierung hin, was den BRD-Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Gerhard Müller, veranlaßte, künftig "vermehrt auf Religionsgemeinschaften als Partner [...] zu setzen". Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß die Religionsgemeinschaften mit korrupten Regierungsmitgliedern, Warlords, Drogen- und Waffenhändlern in Personalunion stehen.

Zum Schluß empfehlen die Autoren, daß sich Deutschland auf der Grundlage der Erfahrungen auf dem Balkan und in Afghanistan "auch zukünftig und verstärkt international diplomatisch, entwicklungspolitisch und militärisch engagieren" sollte. Ob diese Empfehlung angesichts des Scheiterns am Hindukusch folgerichtig ist, darf getrost bezweifelt werden.

Dr. Matin Baraki

*

Erklärung des DKP-Parteivorstands zum Iran-Konflikt

Hände weg vom Iran! Nein zu Kriegsdrohungen und Sanktionen!

Die aggressivsten Kräfte an der Spitze des US-Imperialismus drängen auf die Unterwerfung des Iran mit allen Mitteln - bis hin zum Krieg. Seitdem die US-Regierung das sogenannte Atom-Abkommen JCPOA zwischen Iran und den fünf UN-Vetomächten (USA, Rußland, China, Großbritannien, Frankreich) sowie Deutschland im Mai 2018 aufkündigte, wurden die mörderischen Wirtschaftssanktionen wieder aktiviert. Mit immer schnelleren Schritten wird nun eine militärische Drohkulisse aufgebaut, die nach dem Willen der US-Kriegstreiber in letzter Konsequenz in einen Angriffskrieg münden kann. Dabei hatte sich der Iran an die Umsetzung des Abkommens gehalten. Die USA sind - ohne daß das vertraglich überhaupt vorgesehen ist - aus dem Abkommen ausgestiegen. Der vorgesehene Mechanismus zur Klärung von Streitigkeiten wurde ignoriert.

Wie schon in der Vergangenheit wird wieder versucht, mit einem mörderischen Wirtschaftskrieg das iranische Volk so schwer zu treffen, daß ein "Regime Change" möglich wird. Dieses Ziel wurde seit dem Ende des Schah-Regimes 1979 nie aufgegeben. Völkerrechtswidrig mischen sich die USA und ihre Verbündeten rund um den Globus in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein und maßen sich an, mißliebige Regierungen zu beseitigen und Marionettenregierungen zu installieren. Das Prinzip der nationalen Souveränität - der Freiheit eines jeden Volkes, unabhängig seine inneren und äußeren Belange zu bestimmen - wird durch das Faustrecht in den internationalen Beziehungen ersetzt.

Seit Monaten trommeln US-Sicherheitsberater Bolton und US-Außenminister Pompeo gemeinsam mit den Regierungen Israels und Saudi-Arabiens für einen Krieg.

Fadenscheinig werden dem Iran jetzt Sabotage-und Terrorakte im Persischen Golf untergeschoben. Ein neuer Akt der niederträchtigen Tradition des US-Imperialismus, erwünschte Kriegsgründe selbst zu schaffen - vom "Tonkin-Zwischenfall" in Vietnam bis hin zu den angeblichen irakischen Massenvernichtungswaffen - droht.

Jeder Angriff auf den Iran würde mit Gegenschlägen beantwortet und so die ganze Region in einen Krieg mit unabsehbaren Folgen stürzen. Dessen ungeachtet verläßt die deutsche Bundesregierung nicht das enge Bündnis mit den USA. Anstatt deren Kriegskurs zu verurteilen, ermahnt Außenminister Maas ausschließlich den Iran, seinen Teil des Atomabkommens weiterhin einzuhalten. Aus Angst vor möglichen Maßnahmen der US-Regierung wird die deutsch-französisch-britische Tauschbörse Instex, die die Sanktionen mit dem Iran teilweise umgehen sollte, nicht in Betrieb genommen. Während Rußlands Außenminister Lawrow den USA "unverantwortliches Verhalten" vorwirft und der chinesische Präsident Xi Jinping dem bedrohten Iran eine "stetige Entwicklung der Beziehungen" zusichert, sieht die deutsche Außenpolitik der gefährlichen Entwicklung tatenlos zu - aus Kalkül. Denn angesichts schwindender Anteile an der Weltwirtschaft sucht die BRD gemeinsam mit den USA den Ausweg in zunehmender politischer und militärischer Aggressivität gegenüber Staaten wie China, Rußland und Venezuela, die sich der westlichen Vorherrschaft nicht mehr unterordnen.

Von ernsthaften Maßnahmen, die US-Kriegstreiber wirkungsvoll auszubremsen, kann sowieso keine Rede sein. Notwendig wäre es, sofort

  • die US-Basen und -Kommandos auf deutschem Boden wie in Ramstein, Spangdahlehm, Stuttgart zu schließen
  • die US-Atombomben aus Büchel, Rheinland-Pfalz, abzuziehen
  • der US-Armee die Überflugrechte und jede Nutzung deutschen Territoriums zu verweigern, wie es die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorgibt ("Luftfahrzeugen, die an einem gegen das völkergewohnheitsrechtliche Gewaltverbot verstoßenden militärischen Einsatz bestimmend mitwirken, darf die Benutzung des deutschen Luftraumes nicht gestattet werden.")
  • jegliche Rüstungsexporte, insbesondere nach Saudi-Arabien, USA und Israel zu verbieten
  • eine längst überfällige Politik der Entspannung mit Rußland einzuleiten, anstatt wie Merkel und Kramp-Karrenbauer stur weiter am Konfrontationskurs festzuhalten.

All dies passiert nicht. Die Bundesregierung tut nichts, um die drohende Gefahr abzuwenden. Trotz der Planung eines Angriffskrieges durch die US-Regierung, der sich eindeutig gegen den Weltfrieden und die Sicherheitsinteressen der Völker, auch der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands, richtet.

US Army go home!

Essen, 16. Juni 2019

*

Zur Geschichte der US-amerikanisch-iranischen Beziehungen
Wie CIA-Agenten der Pfauenthron retteten

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

*

Fluchtursache Imperialismus

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

*

EU-Wahldesaster und große Erfolge der PTB

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

*

China: Die mißlungene Generalprobe

In seinem Beitrag "Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens" vom 1./2. Juni in der "Berliner Zeitung" beschäftigt sich Arno Widmann mit den Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz Anfang Juni 1989. Als Aufhänger greift er auf das weltweit bekannte Foto zurück, auf dem ein Mann zu sehen ist, der sich völlig unbewaffnet den anrollenden Panzern entgegenstellt. Widmanns Beschreibung dieser Szene deckt sich weitgehend mit derjenigen, die von einem Mitglied der Pekinger Führung geliefert wurde. Der führende Panzer und alle hinter ihm fahrenden versuchten auszuweichen, stets aber versuchte der Mann, die Panzer an der Weiterfahrt zu hindern. Selbst als der Mann auf den ersten Panzer kletterte, hielt sich die Besatzung zurück. "Unsere Soldaten", so die Schilderung eines Mitglieds der Pekinger Führung. "haben die Anweisungen der Partei perfekt ausgeführt. Es ist erstaunlich, daß sie es geschafft haben, in solch einer Situation die Ruhe zu bewahren." Dieser Bewertung mag sich Widmann nicht anschließen. Zwar stimmt er dem heute in den USA lebenden "Menschenrechtsaktivisten" Yang Jianli zu, daß es neben dem auf dem Foto sichtbaren Mann einen zweiten Helden gab, nämlich den unsichtbaren Fahrer des Tankfahrzeugs, der den Mann nicht überrollte. Aber dann flüchtet Widmann - ganz Mainstream-Journalist - in den spekulativen Raum: Vermutlich seien beide Helden später getötet, mindestens gefoltert oder bestraft worden. Eine andere Erklärung aus seiner Sicht wäre ja auch schwerlich in Einklang mit dem Begriff "Massaker" zu bringen, das einen "Leichenberg" (Widmann) mit bis zu zehntausend Toten produziert haben soll. Ob sich wohl ein israelischer Fahrer in vergleichbarer Situation auf besetztem palästinensischem Gebiet gleichfalls Zurückhaltung auferlegt hätte? Allein schon diese Frage stellen, hieße, sich prompt den Vorwurf des Antisemitismus einzuhandeln. Dem will sich Widmann selbstredend nicht aussetzen, wie er sich auch weigert, mit analytischem Blick den Ursachen des Geschehens und der eskalierenden Gewalt auf den Grund zu gehen.

Noch am 20. Mai 1989 trotzten - wie Widman korrekt beschreibt - Hunderttausende Bürger erfolgreich den von Peking entsandten Truppen. Diese hatten keinen Schießbefehl und zogen sich zurück. Aber schon wenige Tage danach wäre auf dem Platz des Himmlischen Friedens "das Morden im vollen Gange" gewesen, schreibt Widmann. Den Widerspruch will er nicht erklären, weil er nicht in das Bild der sich angeblich ausschließlich für Frieden und Demokratie einsetzenden und zudem auf Gewaltlosigkeit setzenden Demonstranten paßt.

Werfen wir einen Blick auf die "Tiananmen Papers", die im Westen mit propagandistischem Aufwand veröffentlicht wurden, um die ganze Brutalität der chinesischen Staatsführung unter Beweis stellen zu können. Doch was lesen wir dort? "Plötzlich kam ein junger Mann angerannt, hat etwas in einen Panzerspähwagen geworfen und ist verschwunden. Kurz darauf sah man grün-gelben Rauch aus dem Fahrzeug quellen, während die Soldaten herauskamen, sich auf die Erde legten und sich sterbend an den Hals griffen. Jemand sagte, sie hätten Giftgas eingeatmet.

Aber den Offiziellen wie den Soldaten gelang es trotz ihrer Wut, die Selbstkontrolle zu wahren." Wahrscheinlich reicht dieser kurze Auszug noch nicht, um die antichinesische Empörung ein wenig einzudämmen. Lesen wir weiter:

"Mehr als 500 Fahrzeuge der Armee sind an Dutzenden Kreuzungen in Brand gesteckt worden. ... Auf der Chang'an-Straße hielt ein Militärfahrzeug mit Motorschaden an, und zweihundert Aufständische haben den Fahrer angegriffen und totgeschlagen. ... An der Cuiwei-Kreuzung hat ein Wagen, der Soldaten transportierte, verlangsamt, um einen Zusammenstoß mit der Menge zu vermeiden. Da hat eine Gruppe von Demonstranten damit begonnen, Steine gegen ihn zu werfen, Molotow-Cocktails und Fackeln, wobei er sich in einem bestimmten Moment auf die linke Seite neigte, weil einer der Reifen platt war durch die Nägel, die die Demonstranten ausgestreut hatten. Dann haben die Demonstranten irgendwelche Gegenstände angesteckt und sie gegen das Fahrzeug geworfen, dessen Tank explodierte. Alle sechs Soldaten sind in den Flammen gestorben."

Im Klartext: Soldaten, die versuchen, das Leben ihrer Angreifer zu erhalten, werden getötet. Ist das ein Beweis der von der Kommunistischen Partei begangenen Grausamkeiten? Oder haben wir es auf seiten der Demonstranten mit einem Akt der Gewaltlosigkeit zu tun?

Es steht außerhalb jeden Zweifels, daß auf dem Platz des Himmlischen Friedens Gewalt ausgeübt wurde. Doch stellt sich heute auch nach 30 Jahren die Frage, wer sie ausgelöst hat. Wer waren die Einpeitscher, und wer waren die Hintermänner für das Geschehen, für das heute eines der Lieblingswörter (Massaker) der westlichen "Wertegemeinschaft" herhalten muß, wenn es darum geht, den Systemgegner an den Pranger zu stellen? Der Ex-Kanzler Helmut Schmidt, dessen China-Kenntnisse jedem Sozialdemokraten zur Ehre gereichen würden, hat daran erinnert, daß das militärische Eingreifen aufgrund der nicht mehr tragbaren Situation die Ultima ratio war, weil die Demonstranten die Tätigkeit der Regierung blockierten und jeden Kompromiß kategorisch ablehnten. "Die Soldaten, im Bemühen, die Ordnung wiederherzustellen", haben, so Schmidt, "zunächst Ruhe bewahrt, doch sie wurden mit Steinen und Molotow-Cocktails angegriffen" und wurden gezwungen zu handeln. Diese Version wurde sogar vom damaligen US-Botschafter bestätigt, als er erklärte, daß die Regierung letztlich keine andere Option hatte, als militärisch einzugreifen. Aber, fügte er offenherzig hinzu, es habe sich um eine widerwillig getroffene Entscheidung gehandelt. Die ersten Soldaten, die den Platz räumen sollten, erinnerten ihn "mehr an einen Kinderkreuzzug als an eine militärische Strategie". Es seien unbewaffnete Truppen gewesen, die zulassen mußten, daß eine "zornige Menge zehn Militärfahrzeuge zerstören" konnte. Die Soldaten haben sich zurückgezogen. Der US-Militärattaché, General Jack Leide, kommentierte diesen Vorgang genüßlich so: Das Fiasko der Volksbefreiungsarmee war "eine chinesische Version des Rückzugs von Napoleon aus Moskau". Wir wissen, viele Vergleiche hinken. Dieser aber hat es besonders in sich, weil hier eine entscheidende Verwechslung, mithin Fälschung, vorliegt. Es war seinerzeit der Hausherr, der russische Oberbefehlshaber Michail Kutusow, der nach etlichen Rückzügen sogar Moskau opferte, aber dann, nach der Schlacht von Borodino, die napoleonischen Truppen Zug um Zug vernichtet hat. Der durch und durch verunglückte Vergleich nähert sich - gewiß unfreiwillig - einem Eingeständnis, daß hinter den Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Menschenrechten andere Kräfte standen und ganz andere Ziele ansteuerten. Als einheimischer Hoffnungsträger diente der in die Spitze der chinesischen Führung aufgestiegene Zhao Ziyang, ein Mann, der die Marktwirtschaft mit eiserner Faust durchzusetzen versuchte, mit seiner neoliberalen Agenda Anhänger bei den Studierenden fand - unter ihnen zahlreiche, die in Europa und den USA studiert hatten - und die Hoffnungen der USA auf einen Regime Change nährte. Washington nahm Witterung auf und versuchte, den Gang der Ereignisse zu steuern. War also der "Aufstand" auf dem Tiananmen-Platz eine rein innerchinesische Tragödie? Mitnichten.

Als es kurz nach den Ereignissen zu einer Begegnung zwischen Abgesandten von US-Präsident Bush (sen.) mit Deng Xiaoping in Peking kam, präsentierte der Führer der Kommunistischen Partei Chinas einen Befund, aus dem hervorging, daß die USA "tief" in die Ereignisse verwickelt waren. Und, so Deng, verantwortlich waren für eine "Operation, die zum Krieg hätte führen können". Dieser Einschätzung wurde von den amerikanischen Gesprächspartnern nicht einmal widersprochen. Worin aber konnte diese Operation, die zum Krieg hätte führen können, bestehen, wenn nicht im Versuch eines von außen dirigierten Staatsstreichs mit dem Ziel, den möglicherweise proamerikanischsten chinesischen Führer (Zhao Ziyang) an die Macht zu bringen, um das Volk hernach nach neoliberaler Pfeife tanzen lassen zu können?

Der sogenannte Aufstand auf dem Tiananmen-Platz war Teil der Gesamtstrategie des weltweiten Versuchs eines alle Widerstände aus dem Weg räumenden Rollbacks mit dem Ziel, die Welt für alle Zeiten dem US-Imperialismus auszuliefern. Es war der mit dem Friedensnobelpreis dekorierte Henry Kissinger, der die Absichten mit verblüffend zynischer Klarheit formulierte: "Ich sehe keinen Grund dafür abzuwarten, daß ein Land marxistisch wird, nur weil sein Volk unverantwortlich ist."

Domenico Losurdo, der im letzten Jahr verstorbene italienische Philosoph und Kommunist, hat es so auf den Punkt gebracht: "Im nachhinein betrachtet, erscheinen die Vorfälle auf dem Tiananmen-Platz von 1989 wie die Generalprobe der als 'Farbenrevolutionen' getarnten Staatsstreiche, die in den Jahren danach folgen sollten." Solche Begriffe wie "humanitäre Intervention", "Responsibility to Protect" und eben "Regime Change" wurden erst später in den imperialistischen Wortschatz aufgenommen, sie wurden aber schon damals entwickelt. In der Volksrepublik China gerieten sie nicht zur Blüte.

Hans Schoenefeldt
Berlin

*

Wie die USA Kuba in ein koloniales Anhängsel verwandeln wollen

Klartext über das Helms-Burton-Gesetz

Das "Gesetz für Freiheit und kubanische demokratische Solidarität" ist eine rachsüchtige Monstrosität, die darauf abzielt, die Seele Kubas durch Ausbluten zu brechen und einen so großen Schock auszulösen, daß das Land für immer zu Boden gedrückt wird. Es ist das konkrete Projekt der Vernichtung einer Nation.

Stellen wir uns zwei hypothetische Szenarien vor - Szenarien, die für uns, die wir Vertrauen in die Widerstandsfähigkeit und den Mut unseres Volkes haben, allerdings unmöglich sind.

Das erste: Dem imperialistischen Feind und seinen Verbündeten gelingt es unter Anwendung ihrer militärischen Macht, den größten Teil des Landes zu besetzen und eine Übergangsregierung zu installieren, nachdem sie das Ende der Revolution verkündet haben.

Das zweite: Vom Feind gesäte Uneinigkeit, Täuschung, Entmutigung und Verrat führen dazu, daß wir "das Schwert fallen lassen" wie 1878. Eine Übergangsregierung wird eingesetzt und US-Truppen besetzen das Land, um die Ankunft von "humanitärer Hilfe" zu gewährleisten.

Hätten wir dann "freie und demokratische" Wahlen? Nein, diese von den Interventionstruppen ernannte Übergangsregierung kann keine Wahlen ausrufen, bevor dies nicht vom Kongreß der Vereinigten Staaten genehmigt wird.

Der US-Präsident oder sein ernannter Prokonsul muß dem Kongreß alle sechs Monate einen Bericht über den Verlauf des Übergangsprozesses auf der besetzten Insel vorlegen. Es stellt sich die Frage, wie lange dieser Prozeß dauern wird, wenn sie alle sechs Monate einen Bericht benötigen. Wie lange werden die Yankee-Truppen auf unserem Territorium bleiben? Die Antwort auf beide Fragen: Man weiß es nicht.

Dann endlich, nach wer weiß wie vielen Jahren, gibt der US-Kongreß seine Zustimmung für die Durchführung von Wahlen. Was passiert mit der Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade? Wurde sie vielleicht aufgehoben, als das Ende der Revolution ausgerufen wurde? Nein, sie wurde nicht aufgehoben, das ist nicht der Plan. Sie bleibt während des Übergangs als eiserner Druckmechanismus intakt.

Angenommen, der Übergang ist nun vorbei, wir haben bereits einen Präsidenten und eine Regierung im Stile der Yankees und nach ihrem Geschmack. Werden sie jetzt die Blockade aufheben? Man könnte es meinen, aber nein, das ist nicht das, was diese Absurdität von Gesetz festlegt, das die Unterschrift von Helms und Burton trägt. Der Präsident oder sein Prokonsul müssen dem Kongreß bestätigen, daß den US-amerikanischen "ehemaligen Eigentümern" einschließlich den Kubanern, die nach 1959 zu Cubano-Amerikanern wurden, der Wert all ihres ehemaligen Eigentums, das gemäß den revolutionären Gesetzen und im Einklang mit dem Völkerrecht verstaatlicht oder konfisziert wurde, zurückgegeben wurde oder sie entschädigt wurden.

Die von US-Experten 1997 berechnete "Kompensation" hätte einen ungefähren Wert von 100 Milliarden Dollar. Eine Neuverhandlung der Vereinbarung über den US-Marinestützpunkt Guantanamo ist ebenfalls vorgesehen, ohne daß die Rückgabe garantiert wird.

Unsere Häuser, unsere Böden, unsere Schulen, unsere Fabriken, unsere Erholungszentren, unsere Krankenhäuser, unsere Forschungszentren, alles, was während der Übergangszeit von Großkapitalisten im besetzten Land noch nicht geraubt wurde, würde in die Hände der früheren Eigentümer oder derer gelangen, die diese Vermögen von den ursprünglichen Besitzern gekauft haben, oder, was noch schlimmer wäre, in die Hände von Spekulanten, Schuldnersammlern und Banditen aller Formate.

Um die Prozesse, Entschädigungen und Schulden zu bezahlen, müßten die kubanischen Regierungen Darlehen aufnehmen, zum Beispiel beim IWF, was immer höhere Zinszahlungen nach sich ziehen würde, und es ergäbe sich daraus eine endlose Plünderungsspirale.

Es gibt Menschen in den Vereinigten Staaten, Unternehmen und Unternehmensgruppen, die "Vermögen" in Kuba von ihren "früheren Eigentümern" gekauft haben, Menschen, die mit dem Wert dieser Vermögen Handel treiben, die echte oder gefälschte Titel besitzen und sich auf einem seltsamen, in jeder Hinsicht illegalen Markt bewegen.

Immobilienspekulanten haben Grundstücke an zukünftige Bauherren verkauft. Es gibt bereits Entwürfe vom "zukünftigen Havanna"! Es ist ein großes Geschäft, für das sich nicht wenige Hyänen die Zähne schärfen. Sie träumen davon, ganze Gemeinden hinwegzufegen und Walmart-Supermärkte, McDonalds, große Casinos und Bürogebäude zu bauen, teure Viertel für sehr reiche Leute errichten zu lassen und die große Mehrheit der Bevölkerung der Hauptstadt in Elendsviertel zu verbannen, die in den großen Städten Lateinamerikas so reichlich vorhanden sind.

Wir würden in die Hände von Fonds wie Distressed oder Holdouts fallen, besser bekannt als Geierfonds. Wir Kubaner würden Jahre brauchen, um eine fast unbezahlbare Schuld zu begleichen, denn wie könnte ein durch Krieg und Besatzung erschöpftes, verarmtes Land sie bezahlen, ein Land, das einen Großteil seiner Söhne und Töchter im Arbeitsalter verloren hätte? Wir würden in den Händen von Gangstern bleiben, die bereit sind, den nationalen Reichtum Kubas bis auf den letzten Tropfen "aufzusaugen".

Sagen wir es im Klartext: Sie werden es nicht schaffen! Wie Fidel sagte, das Denken und das Werk der kubanischen Kommunisten werden Bestand haben. Kuba wird Bestand haben: "Wir Kubaner sind aus Eisen und können den härtesten Prüfungen standhalten." Wir werden immer wieder aufstehen, um die Freiheit zu verteidigen, Generation für Generation.

Raul Antonio Capote

(Red. bearbeitet aus "Granma Internacional", Havanna, Mai 2019)

*

EU-Wahlen 2019 - Probleme und Gefahren

Die in Wirtschaft und Politik, in Medien und Gesellschaft Herrschenden machten es sich vor den Wahlen zum EU-Parlament und machen es sich auch danach sehr einfach und proklamieren Klima zum alles überragenden Thema. Natürlich ist es eine wichtige, überlebenswichtige Frage. Aber wo bleibt das politische Klima, das ökonomische, das geistige Klima, das Klima einer friedlichen Welt? Gibt es denn keinen Grund, das zu problematisieren? Gibt es keine anderen Gefahren, keine Kriegsgefahren, welche die Existenz und Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gefährden?

Oder sollte vermieden werden, darüber zu sprechen? Kann es Zufall sein, daß bis zur Wahl, aber auch in den Nachbetrachtungen die Frage der Klimaverschlechterung in den Mittelpunkt gestellt wurde, ohne auf die tatsächlichen ökonomischen, politischen und geistigen Ursachen einzugehen, die dem imperialistischen Charakter und den Zielen der Politik der USA, der EU und ihrer Hauptmächte eigen sind? Warum wurden und werden die Fragen des Klimas von den Fragen der Entwicklung des Kapitalismus in der Gegenwart, von der zunehmenden Konkurrenz der imperialistischen Mächte im Kampf um die Neuverteilung der Einflußsphären zur Sicherung von Vorherrschaft und Einflußsphären, von Profit, Militarisierung und Aufrüstung getrennt, die zur Zerstörung nicht nur der Natur, sondern auch der menschlichen Zivilisation und Kultur, des Menschen überhaupt führen? Ist es nicht höchste Zeit, diese Existenzfragen der Menschheit, wenigstens in den auswertenden Debatten einzubeziehen und Schlußfolgerungen daraus abzuleiten?

Die ungleichmäßige Entwicklung im Kapitalismus führt zu einer ständigen Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den imperialistischen Mächten, die immer wieder neu analysiert werden muß, weil sie stets zu Kriegen geführt hat.

Die Zeit der unipolaren Ordnung der USA läuft ab. Damit verschwinden aber nicht die Gene des Imperialismus und der ihm eigenen Politik. Unter den Bedingungen der monopolistischen Herrschaftsverhältnisse und der monopolistischen Konkurrenz äußert sich die ökonomisch bedingte Aggressivität des Monopolkapitals auch weiterhin in dem Drang nach Vorherrschaft und Hegemonie unter Anwendung ökonomischer und außerökonomischer Gewalt - von der ideologischen und politischen Diversion (Regime Change) bis zur militärischen Aggression. Nichts von einer Analyse der daraus hervorgehenden Gefahren für Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit der Völker und Staaten war in den Auftritten der Parteien vor den Wahlen festzustellen. Aber auch nach den Wahlen gibt es hier keine positiven Veränderungen.

Zur Begründung und Verteidigung der bei den Wahlen sichtbar gewordenen Verstärkung der konservativ-reaktionären innen- und außenpolitischen Konzeptionen der Bourgeoisien der Großmächte der EU wird statt dessen ein Kampf für und wider "Nationalismen" inszeniert.

Aber nirgends und von keinem wird herausgearbeitet, daß z. B. die nationalen Ökonomien nach wie vor der Rahmen sind, in dem sich die Tendenz zum Ausgleich der Profitraten vollzieht. Und darum geht es doch den Monopolen, gleich ob national oder international!

Vor allem das begründet nach wie vor die Dominanz und Unterschiedlichkeit nationaler Ökonomien und ihre Einbettung in internationale Zusammenschlüsse. Das begründet die wirkliche Haltung der imperialistischen Mächte innerhalb und außerhalb der EU. Die aktuellen Vorgänge belegen das. Laut Trump, Bolton u. a. erhoffen sich die USA z. B. aus dem Brexit klare Vorteile für die Konsolidierung ihrer ökonomischen Beziehungen sowohl zu Großbritannien als auch zur EU. Sie erwarten, mit Großbritannien "ein weiteres starkes und unabhängiges Land zu haben, das der NATO hilft, effektiver zu sein" (John Bolton). Es geht also um eine Zunahme von Rivalitäten im Verhältnis USA-EU, aber auch im Beziehungsgeflecht zwischen den imperialistischen Staaten, verbunden mit Konkurrenz, Aufrüstung und Militarisierung sowie entsprechenden reaktionären Entwicklungen im Inneren.

An der Westgrenze Rußlands wird intensiv daran gearbeitet, erneut einen "Cordon sanitaire" von der Ostsee bis ins Gebiet des Schwarzen Meeres und ein militärisches Aufmarschgebiet aufzubauen, das die gesamte Region von der Ostsee bis ins Mittelmeer (von Finnland bis Sizilien) mit Anschluß an den Nahen und Mittleren Osten einschließt.

Die Gefahren nehmen zu, weil diese Aktiviäten von imperialistischen "Partnern" verfolgt werden, die sich in bezug auf die Gegnerschaft zu Rußland und China zwar einig sind, aber Gegensätzliches anstreben, wenn es um Hegemonie und Profit geht.

Innerhalb der EU wird eine wachsende Kritik an der Vormachtstellung Deutschlands spürbar. In den Südstaaten der EU sowie in den ost- und mitteleuropäischen Mitgliedsstaaten mehren sich Stimmen gegen die "Achse" Berlin-Paris. Frankreich und Deutschland beschwören "Europa" verbal, um ihren nationalen Einfluß besonders auf dem Gebieten der Ökonomie und der Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu erweitern. Dabei werden die Staaten Ost- und Mitteleuropas nicht nur ausgebeutet, sondern auch als Objekt im antirussischen Feldzug mißbraucht. Weder Die Linke noch die SPD, noch andere EU-Parteien haben dazu eine Alternative entwickelt, die über das Ja oder Nein zum Brexit hinausgeht. Vereinzelte konstruktive Vorschläge finden kein Gehör. Dabei liegt es auf der Hand und ist durch die historische Erfahrung bestätigt, daß nur eine Außen- und Sicherheitspolitik, die auf die Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit und der gleichberechtigten Zusammenarbeit der Staaten in Europa (unter Einschluß Rußlands) jene Kräfte stärken kann, die nach einem friedlichen Interessenausgleich zwischen den Staaten, darunter zwischen den USA und der EU oder den USA und China, streben.

Nicht eine der gegenwärtig politisch relevanten Parteien bzw. Kräftegruppen in der EU machte eine entsprechende Analyse bzw. zog Schlußfolgerungen, um sie im Wahlkampf mit den Wählern zu diskutieren und die Menschen für den Friedenskampf zu mobilisieren.

Es ging während des Wahlkampfs, genau wie zuvor oder danach, nicht um die vielgepriesene angebliche demokratische Befragung des Volkes. Es ging vielmehr darum, ein Volk so zu manipulieren, daß es an den Wahlurnen die Interessen und Ziele der Herrschenden als seine eigenen Anliegen bestätigt. Die Beauftragten des Kapitals in Regierung und Parlament sollten qua Abstimmung zu einer Innen- und Außenpolitik legitimiert werden, die den Interessen des Kapitals entspricht.

Auf der Grundlage der Zunahme und Zuspitzung der sozialökonomischen und politischen Widersprüche in der EU und in ihren Mitgliedsländern ist zu erwarten, daß sich die reaktionären Tendenzen in der Gesellschaft und in der Politik verstärken werden, weil die sich aus den Widersprüchen ergebenden Bedingungen ein günstiges Feld für die Intensivierung der Wiederaufnahme und Umsetzung reaktionärer außen- und innenpolitischer Konzeptionen darstellen.

Prof. Dr. Anton Latzo

*

Vor 70 Jahren wurde aus Neuhardenberg Marxwalde

Das Lateinische "Nomen est omen" heißt: der Name hat eine (Vor-)Bedeutung. Das trifft auch für Dorf und Schloß Neuhardenberg zu. Bereits von der Bundesstraße 167 aus, die durch die Gemeinde führt, sind die Schloßfassade sowie die beiden Kavaliershäuser gut zu erkennen. Ein dem alten Baustil angepaßter Hotelneubau sowie ein neuer Veranstaltungssaal vervollständigen den imposanten Eindruck. Besucher schwärmen beim Anblick der im Glanz strahlenden historischen Anlage, die seit fast 200 Jahren untrennbar mit der Geschichte der Familie von Neuhardenberg verbunden war. Allerdings mit wechselnder Geschichte. Vor 1759 gehörte das Gut zu den königlichen Domänen.

In den Wirren der Schlacht des Siebenjährigen Krieges bei Kunersdorf wäre Friedrich Xl. fast von den Kosaken gefangengenommen worden. Der Rittmeister bei den Zietenschen Husaren, Joachim Bernhard von Prittwitz, rettete ihn im letzten Moment. Als Dank und Anerkennung übergab er ihm das Gut Quitlitz. Im Jahre 1814 erhob der König Friedrich Wilhelm II., den preußischen Reformer und Staatskanzler Karl August Freiherr von Hardenberg für dessen Verdienste um den Staat in den erblichen Fürstenstand. Außerdem schenkte er von Hardenberg einen umfangreichen Güterkomplex im Lebuser Land, zu dem auch Quitlitz gehörte, das nach Tauschgeschäften wieder an den preußischen Staat gefallen war. Der König ordnete an, den Ort, der die Zentrale der fürstlichen Standesherrschaft wurde, in "Neuhardenberg" umzubenennen. Unter Hardensbergs Regentschaft erlangte der Ort in politischer wie auch in kultureller und baugeschichtlicher Hinsicht eine Bedeutung wie kaum ein anderer im ländlichen Bereich.

Mit den Stein-Hardenbergschen Reformen wurde in Deutschland der Grundstein für das kommunale Selbstverwaltungsrecht gelegt. Letzter adliger Schloßherr war Carl Hans von Hardenberg, der 1944 wegen Widerstands gegen das Nazi-Regime verhaftet wurde.

70 Jahre ist es her, daß Neuhardenberg in Marxwalde umbenannt wurde - zu Ehren des großen Denkers. Man muß etwas suchen, bis man seine Büste gefunden hat. Sie steht ernst und dunkel unter blauem Himmel auf dem Rasen zwischen kleiner und großer Karl-Marx-Allee. Die Büste wurde vergessen.

Bei einer Gemeindeversammlung im Februar 1949 stimmten die Anwesenden für Marxwalde, auch die Gemeindevertreter einigten sich auf diesen neuen Namen, obwohl die Mehrheit von ihnen der CDU angehörte. Man kann es als Kuriosum der Geschichte begreifen, daß 1990 beim Beschluß zur Rückbenennung die PDS die Mehrheit in der Gemeindevertretung stellte. Aber "Marxwalde" mußte weg. Nach der "Wende" wurde um Namen, Plätze und Straßen sowie Denkmäler gestritten. Eine Zielrichtung war dabei, alles auszulöschen, was an den Versuch erinnern könnte, auf deutschem Boden eine antikapitalistische Alternative zu verwirklichen.

In die Kritik kam auch ein Brief des Bürgermeisters Karl Linse von 1958, der die Bitte des verstorbenen Grafen Hardenberg, im Ort bestattet zu werden, ablehnte: "Gemeinsam lehnen wir das an mich gerichtete Ansinnen mit der eindeutigen Begründung ab, daß der Name Graf von Hardenberg mit so viel Bitternis für die ehemals abhängige Bevölkerung von Marxwalde verbunden ist, daß eine Überführung der Leiche des Grafen von Hardenberg eine Verhöhnung des Willens der Mehrheit der Bevölkerung von Marxwalde darstellen würde."

Inzwischen ist auch das Geschichte. Doch böses Blut blieb. So meldete dpa, daß "die Karl-Marx-Büste in Neuhardenberg von unbekannten Tätern mit rotbrauner Rostschutzfarbe beschmiert wurde. Am Sockel entdeckten die Beamten ein Hakenkreuz."

Einen haben die Neuhardenberger aber immer als Helden gefeiert: Dr. Sigmund Jähn, Generalmajor der NVA, Held der Sowjetunion und der DDR, Fliegerkosmonaut und erster Deutsche im Weltraum. Von 1960 bis 1978 lebte Jähn in dem Dorf, das damals noch Marxwalde hieß. Mit seinem Weltraumflug mit der sowjetischen Sojus 31 am 26. August 1978 machte er sich und Marxwalde berühmt. Die Gemeindevertreter haben ihm das nicht vergessen und ihn 28 Jahre nach seinem historischen Flug einstimmig zum Ehrenbürger ernannt. Für viele Neuhardenberger war und ist er ein treuer Genosse, Vorgesetzter, Freund und Nachbar. Im Dorfmuseum wird an dieses geschichtliche Ereignis erinnert.

"Wir sehen zu, daß unsere Alltagskultur und unsere Geschichte nicht verlorengehen", betonte Dietmar Zimmermann, der Vorsitzende des Heimatvereins. Das Dorfmuseum heißt "Alte Schule" und befindet sich in Neuhardenberg, in der Karl-Marx-Straße 22.

Heinz Pocher
Strausberg

*

Eine vernunftwidrige Äquidistanz-Haltung

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

*

Ein Beitrag auf der Strategiekonferenz der PDL in Hamburg vom 22. Juni

Die Systemfrage und die Eigentumsfrage stellen!

Nicht zuletzt nach den Wahlen am 26. Mai sind Strategiedebatten in unserer Partei bitter notwendig. Es geht dabei immer um zwei Aspekte: um Gesellschaftsstrategie und um Wahlstrategie. Gesellschaftsstrategie ist für uns eine auf die progressive Veränderung der Gesellschaft gerichtete Handlungsorientierung sozialistischer Politik. Wahlstrategie zielt auf Mobilisierung und Gewinnung von Wählern ab.

Um erfolgreiche Wahlstrategien bemühen sich auch die anderen politischen Parteien. Für uns muß es im Gegensatz zu diesen immer darum gehen, eine Wahlstrategie zu entwickeln, die der Durchsetzung unserer Gesellschaftsstrategie dient. Unsere Wahlstrategien dürfen sich so auch keineswegs als bloße Stimmenmaximierungskonzepte mittels Reklametechniken verstehen. Sie müssen teil der gesellschaftsstrategie sein.

Eine Personalisierung des Wahlkampfes kann auch für uns sinnvoll sein. Eine bloße Personalisierung (Thüringen: "Bodo Ramelow statt Barbarei") ohne einen das politische Denken oder die Gesellschaft verändernden Inhalt kann aber auch zum Lacher werden.

Wahlstrategien sind kontraproduktiv, wenn sie mit falschen, uneinlösbaren Versprechen einhergehen: z. B. "Mit uns kommt der politische Richtungswechsel." Selbst als wir in Brandenburg, in Thüringen, in Berlin, in die Regierung gegangen sind: Der Richtungswechsel kam nie. Die Folge sind Krisen des Vertrauens und der Glaubwürdigkeit, also Wahlverluste.

Einprägsame Methoden oder auch treffende Worte können wichtig sein. Aber sie müssen sich in unsere gesellschaftsstrategische Handlungsorientierung einordnen wie z. B. "Enteignet die Miethaie!" Linke Wahlstrategie muß der Aufklärung der Wählerinnen und Wähler über die gesellschaftlichen und politischen Zustände dienen. Sie verfehlt ihren Zweck, wenn sie sich ins allgemeine Illusionstheater über Machtoptionen, die keine sind, einordnet.

In Wahlkämpfen ist mit Marx, Engels und August Bebel immer wieder deutlich zu machen, daß Wahlen einen Doppelcharakter haben. Sie sind Mittel der Befreiung, aber sie sind auch Instrumente der politischen Prellerei. Wahlen sind Zeiten der politischen Manipulation und leerer Versprechungen. Für uns müssen sie Zeiten der Aufklärung und der Mobilisierung für unsere politischen Ziele sein, die zugleich Ziele der Lohnarbeiterklasse sind.

Es ist erfreulich, daß über all das heute hier diskutiert werden kann. Schließlich gab es am 26. Mai das schlechteste bundesweite Wahlergebnis in der Geschichte der Linken. Da kann man nicht die Losung ausgeben: "Alles in Ordnung. Weiter so." Das aber war mein Eindruck von der Pressekonferenz unserer Parteivorsitzenden am 27. Mai.

Als Sachse sehe ich die Situation möglicherweise auch dramatischer als Ihr hier in Hamburg. In Hamburg ist der prozentuale Anteil der Linken bei den Europawahlen um etwa 20 Prozent zurückgegangen; in Sachsen um 34 Prozent.

In Sachsen kann ich auch etwas zur Wirkung bestimmter Wahllosungen sagen, weil ich in etwa das politische Alltagsdenken dort kenne. Wirksam wäre in Sachsen bei den Europawahlen die Losung gewesen: "Schluß mit Aggressionsvorbereitungen gegen die Russische Föderation!"

In Sachsen gab es am 26. Mai auch Kommunalwahlen. "Die Linke" schnitt mit 11,2 Prozent noch schlechter ab als bei den Europawahlen.

Nur in Leipzig wurde "Die Linke" mit 21,4 Prozent stärkste Partei. Ansonsten verlor sie 32 Prozent ihrer kommunalen Mandate. Bundesweit rückten wir bei den Europawahlen mit 5,5 Prozent in die beängstigende Nähe der bei Bundestagswahlen geltenden Sperrklausel. Der Ernst der Lage wird deutlich, wenn wir in diesem Zusammenhang beachten:

Wir haben weiter bei den Lohnabhängigen, den Arbeitslosen und den Wählern bis zum 29. Lebensjahr verloren und bei den Nichtwählern nichts gewonnen.

Wir haben im Osten noch schlechter als die PDS im Jahre 2002 abgeschnitten, als diese die Bundestagswahlen mit 4,0 Prozent vergeigte. In Ostdeutschland kam die PDS damals immerhin noch auf 16,9 Prozent der Wählerstimmen. Diesmal erhielt sie in den ostdeutschen Bundesländern (beinahe hätte ich gesagt: "in der DDR, den sogenannten neuen Bundesländern") 13,8 Prozent, gut drei Prozentpunkte weniger.

Ich sehe derzeit in der Partei drei große Probleme sowohl von gesellschaftsstrategischer als auch von wahlstrategischer Bedeutung:

Erstens: Unsere Partei hat sich schneller verändert, als sie die Gesellschaft verändern kann. Das geschah innerhalb von nur gut einem halben Jahrzehnt.

Zweitens: Unverkennbar gibt es eine Führungskrise in unserer Partei, die auch, aber nicht nur darin zum Ausdruck kommt, daß ihre Führung so tut, als habe sie alles richtig gemacht.

Drittens: Deutlich wurde: Die Linke ist mit einer zweifachen Orientierungskrise konfrontiert: einer objektiven und einer subjektiven.

Erstens: Zu den Veränderungen in unserer Partei weg von einer kämpferischen, systemverändernden Partei in Richtung des allgemeinen Politikbetriebes

Es ist aus meiner Sicht beängstigend, was sich da getan hat. Dabei meine ich besonders die Entwicklungen in Ostdeutschland und in Sachsen. Für Hamburg erlaube ich mir kein Urteil.

Zwischen dem Erscheinungsbild der Partei in Ostdeutschland und abnehmenden Wahlergebnissen gibt es einen engen Zusammenhang. Dies war in der deutschen Parteiengeschichte seit 1914 fast immer so.

Seit 66 Jahren, seit 1953 fühle ich mich als Teil dieser Geschichte. Mit 18 Jahren wurde ich 1955 in Braunschweig Mitglied der SPD, zwei Jahre vorher Mitglied der "Sozialistischen Jugend - Die Falken". Es waren die Jahre vor dem Godesberger Programm, als noch das antikapitalistische Aktionsprogramm von Hannover galt. Aber unübersehbar war schon damals der Wandel der SPD von der Oppositionspartei hin zur Staatspartei, die den kalten Krieg mitmachte und ihren Frieden mit Kapitalismus und Bundeswehr gemacht hatte.

Einige Tage vor meinem Einberufungstermin zur Bundeswehr am 1. März 1957 ging ich in die DDR. Es dauerte immerhin acht Jahre, bevor ich dort in die SED aufgenommen wurde. Meine vielfältigen Erfahrungen danach sind ein Kapitel eigener Art.

Nach der "halben Revolution" von November 1989, um es mit den Worten von Karl Marx von 1848 zu sagen, folgte nach knapp zwei Monaten eine handfeste "ganze Konterrevolution". Ich blieb in der PDS. Ich war dann acht Jahre Mitarbeiter bzw. Referent der Gruppe bzw. Fraktion PDS/Linke Liste im Bundestag.

Positiv war aus meiner Sicht, daß mit dem Einzug der PDS in den Bundestag und deren Erstarken in den folgenden Jahren die Zeit einer "pluralen Fassung einer Einheitspartei" des Kapitals im Bundestag zu Ende gegangen war. Die Systemfrage, die Klassenfrage, die Friedensfrage wurden in den parlamentarischen Debatten wieder thematisiert. Aber die PDS änderte sich nach wenigen Jahren in Richtung Anpassung. Die Enttäuschung kam Ende der neunziger Jahre. Bei der Wahl 2002 schied sie, abgesehen von zwei Direktmandaten, aus dem Bundestag aus. Sie machte aber weiter so und entsorgte 2003 mit dem Chemnitzer Programm den Marxismus.

Erfreulicherweise gelang damals die Wiedergeburt einer linken Partei. Die Rettung kam von außen, nicht von innen. Mit der Protestbewegung gegen die Agenda 2010 liefen der SPD Mitglieder und Wähler davon. Hunderttausende von Hartz IV Betroffene und Sympathisanten gingen auf die Straße.

Viele forderten eine neue kämpferische linke Partei. Von der so entstandenen WASG führte der Weg 2007 zur Linken. Sie gab sich 2011 in Erfurt ein für einen Marxisten akzeptables linkes Programm. Ich blieb Mitglied.

Heute mit dem Wahlergebnis vom 26. Mai ist Die Linke m. E. wieder dort angekommen, wo die PDS im Jahre 2002 war. Sie ist zumindest in Ostdeutschland in einer Existenzkrise. Es ist mit linken Parteien offenbar wie in der griechischen Mythologie mit Sisyphos und dem Stein, den er immer wieder den Berg rauf rollen muß.

Die herrschende Klasse gerade in Deutschland hatte um die Wende zum 20. Jahrhundert mit Reichstags- und Landtagsdiäten und später mit der Parteienfinanzierung einen genialen Einfall. Sie setzte sich über das Verbot der Abgeordnetenfinanzierung in der Verfassung von 1871 hinweg. Sie sorgte sukzessive dafür, daß selbst Politiker einer Systemopposition (damals SPD) finanziell gut versorgt werden. Es entstand in der SPD eine Sozialschicht mit eigenen Interessen, die sich von den Interessen der Lohnabhängigen unterscheiden.

Diese Sozialschicht war, wie Wolfgang Abendroth in seinem Buch "Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie" schrieb, Träger von Anpassung. Sie war an der "verwaltungsmäßigen Fortführung" der Partei interessiert. Sie dachte "konservativ im Rahmen dieser Aufgabe". Sie war nicht mehr in der Lage "über ihre eigene Situation hinausdenken zu können und zu wollen". (S. 42) Natürlich gibt es dabei keinen Automatismus.

Das ist aus meiner Sicht die generelle Situation, mit der sich jede neue linke kämpferische Partei nach kurzer Zeit konfrontiert sieht. Die Parlaments- und Regierungsfixiertheit der Partei nimmt zu. Die Partei droht sich zum Normaltyp einer Parlamentspartei zu entwickeln, wo unten gearbeitet und oben Geld verdient wird. Daraus entwickelt sich in der Regel eine Glaubwürdigkeitskrise, die bei Wahlen in Erscheinung tritt.

Marxistische Wissenschaftler bezeichnen das als Integrationskraft des parlamentarischen Regierungssystems. Der nach unten zurückrollende Stein muß wieder nach oben gerollt werden. Besser wäre es, zu verhindern, daß er zurückrollt. Noch ist es m. E. in unserer Partei dafür nicht zu spät.

Wie weit die Dinge mittlerweile aber schon gediehen sind, schätzt m. E. der Ältestenrat unserer Partei nach den Maiwahlen richtig ein: "Das offizielle Erscheinungsbild unserer Partei wird zunehmend durch eine Mischung von pseudo-professioneller Langeweile und links-grünen Attitüden bestimmt. Der Markenkern unserer Partei als fundamentale Gegnerin des kapitalistischen Systems und als konsequente Vertreterin ostdeutscher Belange droht verlorenzugehen. Die kulturelle Bindungen zu den arbeitenden Armen, den Arbeitslosen und dem vom System abgehängten Teil der Jugend schwinden zusehends." Unsere Wahlverluste am 26. Mai bestätigen diese Einschätzung.

Zweitens: Zur Führungskrise in unserer Partei

Bis heute fehlt eine offizielle Analyse und Bewertung des Wahlergebnisses vom 26. Mai. Auch bei der letzten Vorstandssitzung am 16. Juni wurde keine vorgelegt.

Auf der Pressekonferenz der beiden Vorsitzenden am 27. Mai waren leere Sprüche angesagt. Es gäbe keinen Grund, "in Sack und Asche zu gehen". Eine "Personaldiskussion" stehe nicht an. Führungsverantwortung sieht anders aus.

Verdrängt wird, daß gerade auch im Europawahlkampf eine überzeugende kämpferische Gesellschafts- und Wahlstrategie weitgehend fehlte. Die richtige Einschätzung der EU als militaristisch und monopolkapitalistisch wurde aus dem Programm gestrichen. Unsere Hauptforderung nach einem sozialen Europa unterschied sich nicht von der der SPD.

Wie einmal ein politisch sehr erfolgreicher Sozialist schrieb (Lenin, 1916), sind die Vereinigten Staaten von Europa entweder "unmöglich oder reaktionär". Wenn man statt darüber aufzuklären, daß das heute auch so ist, von links konträr dazu ein soziales Europa herbeifabuliert, findet man links nicht viel Zustimmung, denn die Realität sieht anders aus.

Hinzu kam im Wahlkampf eine Verflachung unseres Engagements für Frieden und Sozialismus. Die friedenspolitische Resolution auf dem Europaparteitag gegen die Kriegsvorbereitung in Richtung Russische Föderation wurde zu Fall gebracht. Der Landesvorsitzende aus Sachsen rühmte sich, als Tagungsvorsitzender die Solidaritätsresolution zu Venezuela verhindert zu haben. So etwas mobilisiert nicht. Es demobilisiert. Ich bin mal gespannt, ob das auf dem sächsischen Landesparteitag zur Sprache gebracht wird. Ich vermute, da schweigt mal wieder des Sängers Höflichkeit.

Ich habe vor einem Jahr auf den Leipziger Parteitag miterlebt, wie die Parteitagsregie Sahra Wagenknecht regelrecht auf die Anklagebank setzte. Die Rede von Elke Breitenbach erinnerte mich an absurde Parteiverfahren der SED in den sechziger Jahren. Wer es als Führung zuläßt bzw. sogar fördert, daß unsere charismatischste und fähigste Politikerin gemobbt wird, der ist nicht auf der Höhe seiner Führungsaufgaben. Die sinkenden Umfragewerte (acht Prozent) gehen vermutlich vor allem darauf zurück.

Drittens: Alle Linken sind mit einer objektiven Orientierungskrise gestaltender Politik konfrontiert. In unsere Partei kommt noch eine subjektive Orientierungskrise hinzu. Unsere Partei braucht eine Neukonzipierung ihrer Gesellschafts- und Wahlstrategie

Die Grundrichtung unserer Gesellschaftsstrategie im Erfurter Programm von 2011 ist m. E. richtig: "Die strategische Kernaufgabe der Linken besteht darin, zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beizutragen, um eine solidarische Umgestaltung der Gesellschaft ... durchzusetzen." (S. 49) Um die Gesellschaft umgestalten zu können, muß Protest und Gegenwehr allerdings heute den Charakter eines gesellschaftlichen Aufbruchs mit der Kraft der Novemberrevolution von 1918 haben.

Ende der siebziger Jahre hat sich die strategische gesellschaftliche Situation in den kapitalistischen Industriestaaten drastisch verändert. Die Profitraten sanken rapide. Es begann die neoliberale Kapitaloffensive. Es kam zur "Rückkehr der Proletarität" (Karl Heinz Roth). Die ökonomische und politische Bedeutung des Finanzkapitals nahm zu. Es verschärfte sich das "Einreißen des sozialstaatlichen Gebäudes" und die imperialistische Kriegspolitik. Die Chancen politischer Gestaltung verschlechterten sich drastisch. In Frankreich scheiterte die Linkskoalition unter Mitterrand nach wenigen Monaten ernsthafter Umgestaltungen. Josef Schleifstein sagte damals sinngemäß: "Wenn es schon in Frankreich nicht geht, dann geht es nirgendwo in Europa." Damit hatte er offenbar recht. Das gilt auch heute.

Hinzu kam dann mit dem Scheitern des Realsozialismus in Europa der sich verstärkende Trend zur "demobilisierten Klassengesellschaft" (Klaus Dörre). Die Lohnarbeiterklasse veränderte sich strukturell.

Nicht zuletzt mit neuen Techniken der Individualisierung des politischen Denkens konnte (und das scheint mir das zentrale Problem zu sein) von den Herrschenden die Entwicklung der Arbeiterklasse "für sich selbst", zum politischen Akteur, gestoppt werden. Es gibt anwachsend punktuelle Lichter des Klassenwiderstandes (Mieterproteste, Gegenwehr in der Pflege, Kampf um die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie). Aber es gibt kein allgemeines Leuchtfeuer des Klassenwiderstandes.

Aus der Sicht dieser Situation gibt es m. E. folgende Aufgaben:

Zum einen: Die Linke muß aussteigen aus dem politischen Illusionstheater. Wer heute ein "Weiter so" in Richtung Regierungsbeteiligung auch auf Bundesebene verlangt, der zerstört die Partei als gesellschaftsverändernde Kraft vollends. Der geht in die Integrationsfalle der politischen Umformung von Widerstand in Zust immung. Nicht die Regierung wird dann schlechter. Schlechter wird die Partei. Ihre Glaubwürdigkeit geht den Bach runter.

Zum anderen: Richtig ist die gerade auch von Bernd Riexinger unterstützte Orientierung der Partei auf Klassenpolitik. Aber Regierungsbeteiligungen konterkarieren diese Orientierung. Sie bedeuten Brückenschlag zu den Herrschenden. Was bringt diese Orient ierung auf Klassenpolitik, wenn zugleich der Klassencharakter der staatlichen Institutionen negiert und verdrängt wird? Wer z. B. die Schuldenbremse akzeptiert, der akzeptiert neoliberale Politik.

Außerdem: Die richtige Orientierung auf die Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse verlangt ein Konzept der Sammlung der Kräfte, der Entwicklung von politischer, gewerkschaftlicher und geistig-kultureller Gegenmacht, der Mobilisierung des politischen Widerstandes gegen Neoliberalismus und Kriegspolitik. Dabei müssen wir bundesweit natürlich den Kampf gegen soziale Grausamkeiten, gegen die Verdoppelung der Rüstungsausgaben und Umweltzerstörung aufnehmen. Im kommunalen Bereich müssen wir beharrlich für konkrete Verbesserungen kämpfen (Leipzig).

Schließlich: Unsere Wahlstrategie muß diese Gesellschaftsstrategie mit Leben erfüllen. Wir stehen nicht nur in Opposition zu den Regierenden. Wir stehen in Opposition zum Kapitalismus und zur herrschenden Klasse. Wir stellen die Systemfrage und die Eigentumsfrage.

Wenn wir die Prinzipien der Regierenden - Schuldenbremse, Sozialpartnerschaft, NATO-Deutschland usw. - akzeptieren, dann schießen wir quer gegen den Kampf um Gegenmacht. Natürlich nicht immer, aber hin und wieder müssen wir im Wahlkampf und in den Parlamenten wie einst August Bebel mit Nagelschuhen über das politische Parkett gehen. Wir müssen die Regierenden immer wieder laut und deutlich anklagen: der Kumpanei mit Rüstungskonzernen, Kriegspolitikern und Kapitalinteressen. Wir müssen aufklären über die wahren Herrschaftsverhältnisse in unserem Land.

Prof. Ekkehard Lieberam
Leipzig

Ekkehard Lieberam:
Am Krankenbett der Linkspartei.
Therapie: Mehr Marx als Murks.
pad-Verlag, Bergkamen 2019, 84 S., 5 €.
Bestelladresse: pad-verlag@gmx.net oder:
Am Schlehdorn 6, 59192 Bergkamen

Siehe auch RF Nr. 253, Seiten 9-10 und RF Nr. 256, Seite 6 ...

*

Wissenschaftliche Weltanschauung
Die Bedeutung des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale
Sendung des Deutschlandsenders vom 28. August 1975

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

*

"Verwertungsdynamik kennt keine Grenzen"

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

*

Zum Berliner Volksbegehren "Deutsche Wohnen und Co. enteignen!"
Bloß eine Luftnummer?

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

*

BUCH-TIPS

- Egon Krenz: Wir und die Russen
Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst 89

Lange bevor Gorbatschow von den Zuspätkommenden sprach, die das Leben strafen würde, zeigten sich Risse zwischen der sowjetischen und der DDR-Führung. Was lief angesichts der 89er Ereignisse hinter den Kulissen zwischen Berlin, Bonn und Moskau? Die DDR war zwar ein souveräner Staat, hier standen aber eine halbe Million Sowjetsoldaten. Sie griffen nicht ein. Warum? Die DDR-Führung hatte sie gebeten: Bleibt in den Kasernen! Erstmals berichtet das damalige DDR-Staatsoberhaupt, Egon Krenz, über die Absprachen mit Moskau. Zum 30. Jahrestag des Ereignisses rekonstruiert Krenz die vielfältigen Vorgänge, die damals zwischen den politischen Akteuren abliefen, korrigiert Legenden und belegt mit Fakten, wie es dazu kam, daß aus dem kalten Krieg am Ende nicht noch ein heißer wurde. - Die nun dreißig Jahre zurückliegende Grenzöffnung, die Egon Krenz mit verantwortete, hatte eine lange Vorgeschichte. Zu der gehört das spannungsreiche Verhältnis zwischen Erich Honecker und Michail Gorbatschow. Krenz, Zeuge von Begegnungen und Gesprächen dieser beiden Politiker, berichtet von Vorgängen und Ereignissen, die noch nie publiziert wurden und von denen es nur seine persönlichen Aufzeichnungen gibt.

edition ost, Berlin 2019, 304 S., 16,99 €


- Jörg Kronauer: Der Rivale
Chinas Aufstieg zur Weltmacht und die Gegenwehr des Westens

China ist seit dem Zerfall der Sowjetunion das erste Land, welches das Potential hat, mit den westlichen Hegemonialmächten ökonomisch und politisch gleichzuziehen, ihre Dominanz also auf allen Ebenen zu brechen. Damit macht man sich bei den Herren der Welt, die ihre Entthronung befürchten müssen, keine Freunde. Mit allen Mitteln versuchen sie daher, ihre wankende Macht zu wahren.

Dieses Buch zeichnet die Konflikte nach, die aus Chinas Aufstieg zur Weltmacht und den Reaktionen der westlichen Mächte darauf entstanden sind und weiter entstehen - vom Aufbau neuer Bündnissysteme in Ost- und Südostasien, über die Konflikte im Südchinesischen Meer, die Kämpfe um Einfluß in Afrika und den Staaten entlang der Neuen Seidenstraße bis zum antichinesischen Wirtschaftskrieg der USA und den Versuchen des Westens, die technologische Entwicklung der Volksrepublik zu torpedieren.

Kronauer verhehlt nicht seine Sympathie für die aufstrebende Wirtschaftsmacht, beschönigt aber nicht die geopolitischen Motive, verleugnet nicht Mißstände und Widersprüche - oder er läßt die Beurteilung offen, wenn die Datenlage unzureichend ist.

Konkret-Literatur-Verlag, Hamburg 2019. 296 S., 26 €


- David Goeßmann: Von links bis heute - Sarah Wagenknecht

In ihren ökonomischen Analysen ist sie eine der Klarsten und Sachkundigsten im Land. Mit ihrer Neugier ist sie als eine der wenigen fähig, das Feingewebe der Wirtschaft mit progressiven Ideen zu verbinden. Von ihren Gegnern wird immer wieder ihre umfassende Detailkenntnis gelobt. Sahra Wagenknecht, seit Oktober 2015 Fraktionsvorsitzende der Linken im Deutschen Bundestag, fasziniert und polarisiert wie kaum ein anderer in unserer derzeitigen politischen Landschaft. Dieses Buch zeigt, wie die promovierte Volkswirtin, Publizistin und Politikerin zu dem wurde, was sie heute ist. Es schildert ihre bei Goethe, Hegel und Marx beginnenden Einflüsse und den langen Weg der Autodidaktin über die Systeme hinweg. Sahra Wagenknecht, die Ostdeutsche, hat die Politik der Bundesrepublik beeinflußt wie nur wenige Frauen vor ihr. Ihre wechselhaften Rollen in der PDS, in der Partei Die Linke, der Linksfraktion sowie in der Bewegung "Aufstehen!" kommen in diesem Buch genauso zur Sprache wie Partei- und Wahlprogramme, an denen sie entscheidend mitgearbeitet hat.

Der Autor thematisiert nicht nur die herausragenden Leistungen und Fähigkeiten dieser singulären Politikerin, sondern analysiert auch die problematischen Seiten ihres Politik- und Wirtschaftsverständnisses.

Das Neue Berlin, Berlin 2019, 128 S., 12 €


- Dirk Krüger: Gegen das Vergessen
Fünf Wuppertaler Arbeiterschriftsteller und Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Diktatur stellen sich vor

Werner Möller, Emil Ginkel, Peter Kast, Werner Eggerath, Walter Gorrish - eine Dokumentation ihres Lebens im 20. Jahrhundert der Kriege und Revolutionen, ihrer Literatur, ihres Kampfes in der Arbeiterbewegung und gegen den Faschismus, ihrer Leistungen beim Aufbau eines demokratischen Deutschlands nach 1945.

Die Dokumentation zu Leben und Werk der fünf Wuppertaler Widerstandskämpfer und Arbeiterschriftsteller, die für die eigenständige Herausbildung und Entwicklung der deutschen Arbeiterliteratur überregionale Bedeutung erlangt haben, versteht sich als ein Beitrag gegen das Vergessen historischer Ereignisse und Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und als längst fällige Ergänzung zu den bedeutenden Arbeiten, die in Wuppertal von der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft und der Armin-T.-Wegner-Gesellschaft geleistet wurden.

"Doch ist zerronnen mancher Traum
Trotz alledem, der Freiheitsbaum
Wird dennoch Früchte tragen!"

Das schrieb Werner Möller 1919. Möller ist einer der fünf Arbeiter-Schriftsteller, die in diesem Buch vorgestellt und nahegebracht werden. Allen fünf ist gemeinsam, daß sie sich früh politisch engagiert haben - als Sozialisten und als Kommunisten. Gemeinsam ist ihnen auch, daß alle aus Arbeiterfamilien stammten, ihre Handwerksberufe erlernten und eine große Liebe zum Wort entwickelten.

NordPark-Verlag, Wuppertal 2018, 408 S.,

*

Antifaschistische Kaufleute - die Bremer Familie Hollmann

Am 29. März 1943 wurden Leo Drabent, seine Frau Marianne, Hans Neumann sowie vier andere Mitglieder der Bremer Widerstandsgruppe "Drabent" festgenommen. Drabent, 1899 geboren, war in Bremen vor 1933 als Redner der KPD gegen die NSDAP aufgetreten. Nach der Machtübergabe an den deutschen Faschismus wurde er verhaftet und gefoltert. 1934 freigekommen, war er 1936 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Seit seiner Entlassung 1939 organisierte er gemeinsam mit Neumann (geboren 1908) ein Widerstandsnetz in Bremen. Sie standen auch in Verbindung mit der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe in Hamburg.

Die Gestapo verhaftete 1943 in Bremen insgesamt 15 Personen. Drabent und Neumann wurden am 13. Oktober 1944 vom 2. Senat des Volksgerichtshofes zum Tode verurteilt und fünf Wochen später nacheinander frühmorgens um 6 Uhr im Zuchthaus Brandenburg ermordet.

Der "Fall Hollmann" ist ein wichtiges Glied der Geschichte des Bremer antifaschistischen Widerstandes. Bei der Familie Hollmann liefen verschiedene Fäden zusammen. Heinrich Hollmann (1898-1965) hatte sich zusammen mit seiner Ehefrau Eleonore vom kaufmännischen Angestellten zum Wein- und Spirituosengroßhändler in Bremen emporgearbeitet.

Im Jahr 1942 verfügte er über ein Einkommen von 28.000 Reichsmark, etwa das Zehnfache eines Arbeiterjahreseinkommens. Neben seinem Geschäft besaß er umfangreichen Haus- und Grundbesitz sowie eine Schnapsbrennerei.

Obwohl sie zum Bürgertum zählten, bekannten sich die Hollmanns zum Kommunismus. Spätestens seit 1929 gehörten beide der KPD und der Roten Hilfe an. Heinrich und Eleonore Hollmann waren damit unter den Bremer Kaufleuten keine völlige Ausnahme. Unter ihnen gab es einige, die sich mit dem kommunistischen Teil der Arbeiterschaft verbunden fühlten. Die Hollmanns, die besonders mit der Gruppe um Drabent und Neumann auf der AG Weser-Werft zusammenarbeiteten, unterstützten bei Inhaftierungen immer wieder finanziell die Ehefrauen und Familienangehörigen.

Eine wichtige Rolle für ihre Haltung spielte offenbar eine familiäre Bindung Eleonores: Ihre Schwester Cläre Preißner (geboren 1900) war politisch noch stärker engagiert als sie. Cläre war während der Kämpfe um die Bremer Räterepublik bereits 1919 in die KPD eingetreten. Sie war mit dem Kunstschlosser und Schriftsteller Peter Kast (geboren 1894 als Carl Preißner) verheiratet, ebenfalls KPD-Mitglied und in der Novemberrevolution Delegierter des Emdener Arbeiter- und Soldatenrates. 1922 gebar sie den gemeinsamen Sohn Uschka, ließ sich aber in den frühen Jahren der Weimarer Republik von ihrem Mann scheiden. 1932 wurde Kast als verantwortlicher Redakteur der "Roten Fahne" zu drei Monaten Gefängnis verurteilt und in Berlin-Spandau inhaftiert. Von 1937 bis 1939 kämpfte er in Spanien gegen den Franco-Faschismus. Er war für die XI. Internationale "Thälmann"-Brigade in der Basis in Albacete und im Kommissariat in Madrid aktiv, leitete die historische Kommission und war als Presseoffizier tätig. Nach dem Ende des Spanischen Krieges floh Kast nach Frankreich und wurde dort zusammen mit seinem Freund, dem Dichter Erich Weinert, und dem Schriftsteller Lion Feuchtwanger interniert. Kast verhalf Feuchtwanger zur Flucht, ihm selbst gelang es, in die Schweiz zu entkommen.

Orlenka, die Tochter von Heinrich und Eleonore Hollmann, wurde am 7. Mai 1923 geboren. Wegen Abhörens der ausländischen Sender "Radio London" und "Radio Moskau" mit einem neuen Rundfunkempfänger, den sie 1942 angeschafft hatten, wurden ihre Eltern vom Hanseatischen Oberlandesgericht Bremen zu 4 Jahren bzw. zu 3 Jahren und 3 Monaten Zuchthaus verurteilt. Beide blieben bis zum Ende des "Dritten Reiches" in Haft. Während dieser Zeit leitete die junge Kontoristin Inge Majer, die einen jüdischen Vater hatte, die große Spirituosenfirma. Orlenka, die ihr Studium abbrach, übernahm später die Geschäftsführung, um die Firma vor dem Zugriff nazifaschistischer Konkurrenten zu schützen. Sie war im Hochverratsverfahren freigesprochen worden.

Orlenka Hollmann war eng mit Georg Gumpert befreundet, einem Mitglied der kommunistischen Widerstandsgruppe auf der AG Weser-Werft. Einer der Verhafteten aus Drabents Gruppe nannte 1943 die Namen von Orlenka und Georg als Verbindungsleute der Gruppe. Die Gestapo glaubte, nun ein Mittel in der Hand zu haben, um nicht nur das letzte Mitglied der kommunistischen Kaufmannsfamilie, das sich noch in Freiheit befand, zu inhaftieren, sondern auch das Hollmannsche Geschäft endgültig zerstören zu können. Da allerdings gegen Orlenka Hollmann keine konkreten Anklagepunkte vorlagen, wurde sie zweimal auf Antrag des Generalstaatsanwaltes freigesprochen. Die Gestapo scherte das wenig; sie verhaftete die junge Frau erneut und brachte sie ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, wo Orlenka bis zur Befreiung im April 1945 durch die Rote Armee blieb.

Inge Majer übernahm erneut die Geschäfte der großen Weinfirma. Die junge Kontoristin hatte zwar um die politischen Auffassungen ihrer "Arbeitgeber" gewußt und mit ihnen sympathisiert, sich jedoch in politischer Hinsicht zurückgehalten. Im September 1943 wurde sie von dem inzwischen eingesetzten Treuhänder als Geschäftsführerin abgelöst, jedoch in der Firma behalten. Das Schicksal der großen Spirituosenfirma war damit besiegelt. Im Januar 1944 wurde der Familie Hollmann jede Verfügung über ihr Vermögen entzogen, im November 1944 wurde es zugunsten des Reiches beschlagnahmt und eingezogen.

Auch Inge Majer geriet in die Mühlen der Gestapo. Im Februar 1944 verhaftete man sie und hängte ihr ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das Weingesetz an. Sie hatte Weinflaschen, deren Etiketten sich nach einem Bombenangriff infolge Wasserschadens gelöst hatten, unwissentlich falsch etikettiert. Sie verbüßte eine achtmonatige Haftstrafe bis zum 23. September 1944. Als sie sich kurz danach die Schlüssel zur Hollmannschen Wohnung bei der Gestapo abholen wollte, um dort nach dem Rechten zu sehen, meldete einer der Gestapoleute dies seinem Vorgesetzten. Dieser ließ sich die Akte kommen und verfügte daraufhin Inge Majers erneute Festnahme. Neben ihrer engen persönlichen und beruflichen Verbindung zu den Hollmanns spielte dabei offensichtlich ihre jüdische Abstammung eine Rolle. Sie blieb ebenfalls bis Kriegsende in Ravensbrück.

Inge Majer überlebte Faschismus und Krieg. Orlenka Hollmann, die nach der Befreiung aus Ravensbrück psychisch schwer erkrankte, starb am 25. Februar 1984 im Alter von 61 Jahren. Ihre Tante Cläre Preißner war 70 Jahre in der Kommunistischen Partei aktiv und starb hochbetagt, seit mehreren Jahren erblindet, 1991 in Bremen.

Peter Kast wurde in der DDR ein bekannter Schriftsteller. Seine Bücher "Der Millionenschatz vom Müggelsee" (1951), "Erlebnisse auf weiter Fahrt. Aus dem Nachlaß" (1963) oder der Band "Camaradas. Ein Spanienbuch" (1952) von Erich Weinert, zu dem er ein Nachwort schrieb, hatten dort großen Erfolg. Er starb 1959. Bis 1992 gab es in Berlin-Adlershof die Peter-Kast-Straße, die dann in Radickestraße umbenannt wurde. Bis zum Jahr 2000 existierte am Adlershofer Marktplatz der Peter-Kast-Club.

Nach der Befreiung vom Faschismus 1945 hatte die Familie Hollmann große Schwierigkeiten, um eine angemessene Wiedergutmachung und finanzielle Entschädigung für Haft und Raub des gesamten Vermögens durchzusetzen. Ihre beiden Häuser stehen noch fast unverändert in Bremen, Ecke Langemarckstraße und Westerstraße.

Gerd-Rolf Rosenberger
Bremen

*

GEDANKEN ZUR ZEIT

Trivialliteratur und Kitsch

Was man der Trivialliteratur vorwerfen muß (so beliebt diese bei manchem auch sein mag), ist, daß diese Literatur, sowohl in der Form von Groschenheften als auch in gebundener Buchform der Masse der Leserschaft ein falsches Gesellschafts- und Weltbild vermittelt, indem sie lediglich Scheinbedürfnisse erzeugt und befriedigt, die wahren sozialen Bedürfnisse der Massen jedoch thematisch bewußt ausspart, die Bildung eines kritischen politischen Bewußtseins oder gar Klassenbewußtseins systematisch verhindert und somit nicht zur Emanzipation, sondern zur Verdummung des Volkes beiträgt.

Kitsch ist daneben jene Literatur, die durch hochtrabende, pathetische Reden große, edle und vor allem "tiefe" Gefühle zu wecken vorgibt, die tatsächlich aber wohl nur affektiert sind oder, schlimmer, mit Begeisterung für menschenverachtende politische Machthaber einhergehen. (Man denke in diesem Zusammenhang nur an die NS-Blut-und-Boden-Literatur oder die von Goebbels propagierte Deutsche Kunst, die im Haus der Deutschen Kunst in München zur Schau gestellt wurde - zu derselben Zeit, als wirklich grandiose Kunst als "entartet" beschimpft und geächtet wurde.)

Was den Umgang mit Trivialliteratur angeht, so empfiehlt der Literaturdidaktiker Malte Dahrendorf "Toleranz und heitere Gelassenheit". Das mag angehen, wenn man an Schnulzentexte wie "Steig in das Traumboot der Liebe" denkt. Aber es gibt Schlimmeres als Trivialität, nämlich die traurige Tatsache, daß manche Menschen nicht nur Gefallen an der "Insel der Schönheit", sondern auch an volksverhetzender, gewaltverherrlichender, rassistischer, antisemitischer Literatur finden oder gar Darstellungen sexueller Gewalt in Wort und Bild lieben. Hier stoßen wir streckenweise an eine rechtliche Grauzone, das heißt einen Bereich, in dem manches nicht oder noch nicht eindeutig gesetzlich geregelt ist. Angesichts solcher "Geschmäkker" dürften Toleranz und heitere Gelassenheit sich wohl verbieten, denn hier geht es nicht mehr um Gedankenfreiheit, sondern um Straftatbestände.

Wo die Freiheit der Kunst und die Freiheit des Künstlers endet, da endet auch die Freiheit des Rezipienten, und wer wie der Marquis de Sade entsprechend seinem "Geschmack" kriminell tätig wird, der gehört zu Recht in die Psychiatrie oder ins Gefängnis. Freiheit fordern wir dagegen für alles, was dem Geist humanistischer Aufklärung dient oder diesem wenigstens nicht im Wege steht, und die Welt des Geistes ist (mit der oben gemachten Einschränkung) so bunt und reich, daß sie nahezu jedem Geschmack ein schier unbegrenztes Tummelfeld voller Entdeckungsmöglichkeiten für die Suche nach Schätzen bietet, und wie das Grundgesetz Religionsfreiheit garantiert, garantiert es grundsätzlich auch Geschmacksfreiheit und alle Formen der Geschmacksbefriedigung, die sozial verträglich und gesetzeskonform sind, wobei das, was Wohlgefallen auslöst - nämlich die Schönheit -, jeweils im Auge des liebenden Betrachters liegt.

Darum sei ein jeder ermutigt und ermuntert, sich zu seinen Vorlieben und Abneigungen zu bekennen und die Geschmäcker Andersdenkender und Andersfühlender in derselben Weise zu tolerieren, wie er wünscht, daß man auch die seinen respektiere.

Theodor Weißenborn

*

ANTIQUARISCHES ZUM THEMA
  • Wolfram Neubert / Klaus Ziermann: Klassenbewußtsein gegen Manipulation. Reihe Abc des Marxismus-Leninismus. Dietz-Verlag, Berlin 1969
  • Klaus Ziermann: Romane vom Fließband. Die imperialistische Massenliteratur in Westdeutschland. Dietz-Verlag, Berlin 1969
  • Claus Ritter: Woche für Woche. Report über Regenbogen-Postillen. Verlag der Nation, Berlin 1974
  • Klaus Ziermann: Vom Bildschirm bis zum Groschenheft. Der Literaturbetrieb der BRD - Machtstrukturen und Widersprüche. Dietz-Verlag, Berlin 1983
  • Hermann Langer: "Wollt ihr den totalen Tanz?" Streiflichter zur imperialistischen Manipulierung der Jugend. Verlag Neues Leben, Berlin 1986
  • Heckel / Keßler / Ulle / Ziermann: Kulturpolitik in der Bundesrepublik von 1949 bis zur Gegenwart. Dietz-Verlag, Berlin 1987
  • Günter Herlt / Klaus Ziermann: SDI und "Denver-Clan". Zu den Kulturexporten des "American way of life". Dietz-Verlag, Berlin 1987
  • Gerhard Henschel: Gossenreport. Betriebsgeheimnisse der "Bild"-Zeitung. Edition Tiamat, Berlin 2006

*

VOR 30 JAHREN

Auf nach Österreich!

Am 19. August 1989 fand in Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze das Paneuropäische Picknick statt. Dem Spektakel war der Sieg der Konterrevolution in Ungarn vorausgegangen. Im Mai 1988 war János Kádár von Károly Grósz als Erster Sekretär der USAP abgelöst worden. Im April 1989 trat das Politbüro der USAP zurück. Bei der Neuwahl siegten die Reformkräfte um Németh und Pozsgay. Am 2. Mai 1989 öffnete die ungarische Regierung die Grenzen nach Österreich und begann mit deren Abbau.

Ende Juni unterbreitete Mária Filep vom Debrecener Demokratischen Forum den Soproner Kollegen den Vorschlag, am 19. August am Ort des "Eisernen Vorhanges" ein Picknick für 150 bis 200 Personen zu veranstalten. Die Idee dazu war Ferenc Mészáros bei einer Veranstaltung in Debrecen gekommen, auf der Otto von Habsburg über die Paneuropäische Bewegung sprach. Dort war die Frage aufgeworfen worden, was wäre, wenn man sich das nächste Mal an der westlichen Landesgrenze treffen und ein Lagerfeuer zum Zeichen der Freude entfachen würde. Als Schirmherren "des Lagerfeuers der Freude" gewann man Otto von Habsburg und den ungarischen Innenminister Imre Pozsgay.

"Radio Freies Europa" warb für das Ereignis. Das Emblem des Picknicks zeigte eine den Stacheldraht durchfliegende weiße Taube. Flugblätter wurden verbreitet, auf denen das Emblem, der Programmablauf, der Grenzverlauf und der Grenzort abgedruckt waren. Der Plan sah vor, sich am frühen Nachmittag des 19. August im Soproner Hotel Lövér zu treffen. Dort sollte eine Pressekonferenz stattfinden. Danach wollte man mit Bussen an den Grenzübergang Szentmargitbánya fahren, um 15 Uhr das Grenztor aus Holz öffnen, zum Marktplatz des österreichischen Grenzortes St. Margarethen gehen, dort ein Meeting abhalten und zusammen mit Österreichern zur Festwiese Sopronpuszta, dem Ort des Picknicks, zurückkehren. Nebenbei sollte unter dem Slogan "Baue ab und nimm mit!" ein Kilometer Grenzanlage abgebaut werden. Doch es kam alles ganz anders. Botschafter, Konsule und über hundert Berichterstatter aus aller Welt waren erschienen. Otto von Habsburg schickte seine Tochter Walburga. Innenminister Imre Pozsgay ließ sich von seinem Sekretär László Vass vertreten, der sich wie zufällig auch noch verspätete. Die Delegation war infolgedessen nicht zur Zeit am Grenztor.

Oberstleutnant Árpád Bella, der örtliche Kommandant des Grenzüberganges, erinnerte sich: "Ich besprach mit meinem österreichischen Kollegen Johann Göltl den Ablauf. Ein paar Minuten vor 15 Uhr erschien auf dem etwa 100 Meter weit einsehbaren Straßenabschnitt eine große Gruppe von Fußgängern ... Sie war nicht die Delegation, sondern eine Gruppe von DDR-Bürgern. Ich ging ihr entgegen. Für Fragen und Antworten war keine Möglichkeit, sie drückte die Torflügel ein, rannte in Richtung Österreich und verursachte ein großes Durcheinander. Gewaltanwendung kam für uns nicht in Betracht."

István Róka, ein Grenzsoldat, berichtete: "Sie kamen aus den umliegenden Wäldern, sahen verwildert aus. Wir fühlten, daß hier etwas nicht stimmte. Eine Gruppe lief zielgerichtet auf das Grenztor zu ... In kürzester Zeit gab es sehr viele Leute auf beiden Seiten. Sie saßen auf Bäumen und Masten ... Zur Wahrheit muß gesagt werden, daß in diesem Moment nichts von dem großen europäischen Frieden zu spüren war."

661 Leute durchbrachen die ungarisch-österreichische Grenze. Der Bürgermeister von St. Margarethen, Andreas Waha, informierte sofort die bundesdeutsche Botschaft in Wien, damit diese Busse schicke und auf ihrem Terrain Notquartiere einrichte. Das Spektakel ging weiter. Walburga von Habsburg und László Vass verlasen die offiziellen Reden und würdigten darin das gerade Geschehene. Auf der Festwiese wurden Pörkölt gekocht, Wurst und Speck gebraten, es flossen Bier und Wein. Das Picknick hätte bis in die Morgenstunden angedauert, wäre es nicht von Blitz und Donner beendet worden. Auf den Straßen nach Sopron parkten Hunderte verlassene Trabants und Wartburgs mit DDR-Kennzeichen. Das Überraschungsszenario der Grenzöffnung wiederholte sich Monate später in Berlin. Ein völlig "argloses" Mitglied des Politbüros gab eine gesperrte Information "ganz nebenbei" auf einer Pressekonferenz preis. Daraufhin "stürmten" Menschenmassen die Grenzübergänge. Ein heilloses Durcheinander entstand.

Völlig überforderte Grenzer ließen die Massen durch. Sekt floß in Strömen, nicht auf einer Festwiese, sondern auf den Straßen und Plätzen Westberlins. Hunderte Berichterstatter waren "zufällig" zur Stelle.

Die ungarischen "Freiheitskämpfer" legen großen Wert auf die Feststellung, daß in Sopron der Fall der Berliner Mauer begann. Bundeskanzler Helmut Kohl drückte das am "Tag der deutschen Einheit" 1990 so aus: "Die Erde unter dem Brandenburger Tor ist ungarische Erde." Er dankte der ungarischen Regierung für den Dienst und versprach ihr 500 Millionen DM Kredit. Anläßlich der Jahreskonferenz des Europäischen Ökumenischen Netzwerkes im Februar 1991 in Helsingborg mokierte sich der Ungar András Máté-Tóth darüber, daß vom Kredit der Bundesregierung nur 50 Millionen geflossen wären.

Ein Narr, wer an Zufälle glaubt. Wer hatte die Hunderte DDR-Leute in die Wälder bei Sopron gelockt? Wer bestellte die hundert Berichterstatter aus aller Welt? Wer sorgte für die Verspätung der offiziellen Delegation? Das Paneuropäische Picknick von Sopron war genauso wie die Öffnung der bundesdeutschen Botschaften in der CSSR, in Polen und in Ungarn Plan der Konterrevolution gegen die DDR. Die Mannschaft um Gorbatschow hatte die DDR längst als Opfer auf dem Altar des europäischen Hauses auserwählt. Der Traum, dadurch einen Platz in der Beletage dieses Hauses zu erlangen, war spätestens mit Sopron zu Ende. Das Heft des Handelns hielten andere in der Hand.

Wolfgang Herrmann
Dreesch

*

Stimmen aus aller Welt über die DDR

Solange der sozialistische deutsche Staat, die DDR, existierte, haben sich immer wieder Persönlichkeiten aus der ganzen Welt bei oder nach Besuchen über die DDR geäußert. Zum 30. Jahrestag am 7. Oktober 1979 hat die Auslandspresseagentur Panorama DDR über hundert solcher Stellungnahmen in einem Buch vereint. Entstanden ist so ein Mosaik persönlicher Erfahrungen und Erkenntnisse, die jeweils ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit widerspiegeln. Stellvertretend für die anderen veröffentlichen wir hier einige dieser Äußerungen - Älteren zur Erinnerung, Jüngeren zur Verdeutlichung dessen, was die DDR für die Welt (und für uns) war.

Great Albwale
Freiheitskämpfer aus Namibia

Gemeinsam mit anderen verwundeten Freiheitskämpfern, aber auch kleinen Kindern, die bei Überfällen südafrikanischer Söldner auf unsere Dörfer schwere Verletzungen erlitten, bin ich in die DDR gekommen. Ärzte und Schwestern im Klinikum Berlin-Buch tun alles, uns wieder gesund zu pflegen und mit neuer Zuversicht zu erfüllen. Seit der ersten Stunde unseres Aufenthaltes umgibt uns die Liebe und Fürsorge vieler Menschen. Sie gilt, dessen bin ich sicher, nicht nur uns persönlich, sondern dem ganzen um seine Freiheit kämpfenden namibischen Volk!

Bevor ich die Reise aus meiner Heimat in die Deutsche Demokratische Republik antrat, wußte ich recht wenig über dieses europäische Land und seine Menschen. Denn das südafrikanische Apartheidsystem unternimmt alles, uns die Wahrheit über die sozialistischen Länder zu verschweigen. Wenn wir eines Tages in unsere Heimat Namibia zurückkehren, werden wir unseren Kampfgefährten und Freunden viel über die tiefe Solidarität der DDR mit den Völkern Afrikas zu berichten haben.


Dr. Mohammed Amir
Minister für Arbeit und Berufsausbildung der Demokratischen Volksrepublik Algerien

Ich war mehrfach in der DDR und kenne den sozialistischen deutschen Staat. Ich habe große Hochachtung vor den Leistungen der Menschen.

Die Deutsche Demokratische Republik hat es in ihrer Geschichte schwer gehabt, sich zu behaupten und so zu entwickeln. Und gerade wegen der Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, verstehen wir ihren Weg sehr gut und wissen ihn zu würdigen. Das Beispiel der DDR interessiert uns Algerier besonders, weil wir - wenn auch unter anderen Bedingungen - nach der Erringung der Unabhängigkeit unseres Landes schwere Probleme des Anfangs zu bewältigen hatten, die Hinterlassenschaft des Kolonialismus, und dieses Erbe ist bekanntlich noch keineswegs überwunden. Die DDR ist ein Freundesland, in dem mit dem Willen und der Organisiertheit seiner Werktätigen die sozialistische Revolution erfolgreich durchgeführt wurde. Viel Courage hat es erfordert und viel Vertrauen in die eigene Kraft, sich trotz der schweren Startbedingungen zu einem der leistungsfähigsten Industriestaaten zu entwickeln.

Wir haben mit der DDR Vereinbarungen getroffen, die für uns eine wichtige Hilfe sind, so zum Beispiel die Ausbildung junger Bürger Algeriens zu Facharbeitern in Betrieben der DDR. Das ist ein Beitrag zur Lösung eines der dringendsten Probleme Algeriens, der Heranbildung von Fachleuten für die Entwicklung unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Auch die Abkommen mit der DDR für die Unterstützung Algeriens beim Aufbau von Einrichtungen für den Arbeitsschutz, bei der Qualifizierung von Arbeitsmedizinern sowie von Kadern für die Berufsausbildung sind für uns sehr wertvoll. Wir wollen unter anderem Lehrmittel und Maschinen für die Berufsausbildung erwerben.


Mohammed Hamid

Schüler aus der VDR Jemen

Jeden Tag spüren wir hier die große Aufmerksamkeit und Fürsorge, die man uns von allen Seiten entgegenbringt, damit wir unsere Ferien in Freude und Sorglosigkeit verbringen können. Mir gefällt es hier im Pionierlager sehr gut, und wir verstehen uns auch mit den anderen Kindern, die verschiedene Sprachen sprechen. Sie alle haben den Wunsch, in Frieden und Sicherheit zu leben. Wir lernen hier viel Neues und sammeln Erfahrungen organisatorischer, politischer und sozialer Art. Dies alles wollen wir in unserer Heimat anwenden und dazu beitragen, daß die Kinder in der VDRJ, ja die Kinder in der ganzen Welt, in Glück und Frieden leben können, wie die Kinder in der DDR und in den sozialistischen Ländern.

*

Eine Kunstausstellung mit plastischen Porträts von Christiane Rößler

Begegnungen 2009-2019

Unter dem Titel "Begegnungen 2009-2019" zeigt die Berolina-Galerie im Rathaus Mitte bis 4. Oktober plastische Porträts und dokumentarische Fotografien von Christiane Rößler sowie Auszüge aus den Briefwechseln und dem ihre Arbeit begleitenden Tagebuch.

Die Bildhauerin begibt sich mit ihren Arbeiten auch in die Auseinandersetzung mit der bald drei Jahrzehnte zurückliegenden Vergangenheit um den 4. November 1989 in der Mitte Berlins, unweit der Berolina-Galerie.

Christiane Rößler suchte bereits im Studium die persönliche Begegnung. Sie traf Gesprächspartner, die nach 1945 als Emigranten zurückgekehrt waren bzw. eine Generation später in Literatur, Bühnenkunst und Wissenschaft arbeiteten. Gemeinsam für alle Porträtierten sind die Wohn- und Schaffensorte in Berlin und ihr Wirken in Europa und in der Welt.

Mit ihren Arbeiten leistet Christiane Rößler nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung aktueller Zeit- und Kulturgeschichte, sondern auch zum Selbstverständnis von Kunst und Künstler.

Vorsichtig und differenziert nähert sich die Bildhauerin dem Wesen ihrer Gegenüber. Ein intensiver persönlicher Blick liegt bei aller kritischen Distanz der Auseinandersetzung zugrunde. Er wird durch den sorgfältigen Guß und die warm-braune Patina der in Bronze ausgeführten Köpfe verstärkt. Realismus ja, Naturalismus nein.

Zu den Porträtierten gehören Wolfgang Kohlhaase, Anna Elisabeth Wiede, Hermann Kant, Werner Mittenzwei, Manfred Wekwerth, Volker Braun, Prof. Nyota Thun, Gisela May, Inge Keller, Frido Solter, Hermann Klenner, Siegfried Matthus, Gisela Steineckert, Harry Kupfer und Moritz Mebel.

Die Ausstellung findet statt im Rathaus Berlin Mitte (Berolina-Galerie), Karl-Marx-Allee 31, direkt am U-Bahnhof Schillingstraße.

Grußworte sprach anläßlich der Ausstellungseröffnung am 9. August Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel; Christiane Rößler führte unterstützt durch Gisela Steineckert in den Entstehungsprozeß der Porträts ein. RF

Die Galerie ist mit der S-Bahn (Alexanderplatz oder Jannowitzbrücke), der U5 (U-Bhf. Schillingstraße), der Tram (M4, M5, M6, M8) oder dem Bus (142, 200) erreichbar. Die Galerie ist behindertengerecht ausgestattet.

*

Werner Eggerath und Thomas Mann

Werner Eggerath wurde am 16. März 1900 in der damals noch eigenständigen Stadt Elberfeld (heute Wuppertal-Elberfeld) geboren und entstammte einer Arbeiterfamilie. Nach langer Arbeitslosigkeit, diversen Gelegenheitsarbeiten, aktiver Beteiligung an der Niederschlagung des Kapp-Putsches 1920 und drohender Verhaftung floh er nach Holland. Im Frühjahr 1923 kehrte er nach Deutschland zurück und lebte in dem kleinen Dorf Gangelt. Dort heiratete er Georgine Kaiser. 1924 trat er - unmittelbar nach dem Tode Lenins - in die KPD ein und wurde kurz darauf deren "Parteiarbeiter".

Als es ihm gelang, den Schützenverein des Ortes zur Unterschrift unter das von KPD und SPD angestrengte Volksbegehren zur entschädigungslosen Enteignung der deutschen Fürsten zu bewegen, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Nachzulesen ist die herrliche Provinzposse in seinem Buch "Der Kosakengeneral". Damit legte er das Fundament für seine folgende beachtliche politische und schriftstellerische Karriere.

Nach verschiedenen Funktionen am Niederrhein wurde er ab November 1930 bis Oktober 1932 mit der Funktion eines Unterbezirksleiters der KPD in Wuppertal betraut und war maßgeblich an der Organisation des großen Auftritts von Ernst Thälmann 1932 im Stadion am Zoo beteiligt. In seinem Buch "Die Stadt im Tal" hat er diese Zeit beschrieben.

Der Aufenthalt in seiner Geburtsstadt war nur von kurzer Dauer. Ende 1932 schickte ihn die Partei zum Studium an die Internationale Lenin- Schule in Moskau. Er konnte das Studium aber nicht abschließen, da ihn die KPD bereits im März 1933 wieder nach Deutschland, nach Berlin, abberief und ihn in den antifaschistischen Widerstand schickte.

Am 21. Januar 1935 wurde er in Berlin von der Gestapo verhaftet und vom 1. Senat des Volksgerichtshofes "wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit und schwerer Urkundenfälschung" zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, die er bis Juni 1945 in den Nazi-Zuchthäusern von Münster und Bochum verbüßen mußte. Werner Eggerath hat diese Leidenszeit in seinem Buch "Nur ein Mensch" als Mahnung für die nachfolgenden Generationen festgehalten.

Unmittelbar nach seiner Entlassung folgte er der Bitte eines Freundes und begab sich in die sowjetische Besatzungszone, nach Eisleben. Es begannen nun unglaublich bewegte Jahre. Er half beim Aufbau der Gewerkschaften, arbeitete an der Landreform und der Verwaltungsreform mit und wurde in den Landtag gewählt. Zunächst Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident wirkte er von Oktober 1947 bis Juni 1952 als Ministerpräsident des Landes Thüringen.

Werner Eggerath wurde Mitbegründer der DDR, Botschafter in Rumänien und schließlich Staatssekretär für Kirchenfragen. Danach begann für den vielfach Hochgeehrten ein Leben als freier Schriftsteller.

Noch vor der Gründung der DDR fungierte er zusammen mit dem Dichter Johannes R. Becher als Gastgeber und maßgeblicher Organisator des historischen Besuchs von Thomas Mann in Weimar im August 1949. Die dort erfolgte Verleihung des "Goethe-Preises" an Thomas Mann fand unmittelbar nach der Verleihung des "Goethe-Preises" in Frankfurt am Main an Thomas Mann statt. Bei den Gedenkfeierlichkeiten zum 200. Geburtstag von Goethe (28.8.1749 in Frankfurt am Main) und seinem Tod (22.3.1832 in Weimar) wurden beide Städte in einem Atemzug genannt.

Der namhafte Schriftsteller wurde deswegen in den westdeutschen Besatzungszonen scharf angegriffen und mit häßlichen, gemeinen Kommentaren bedacht. Man hat es ihm außerordentlich übelgenommen, der sowjetischen Besatzungszone einen Besuch abgestattet zu haben.

Thomas Mann hat aber alle Versuche, ihn politisch auf eine Stellungnahme gegen die damalige sowjetische Besatzungszone festzulegen, ebenso scharf wie souverän zurückgewiesen: "Ich kenne keine Zonen. Mein Besuch gilt Deutschland selbst, Deutschland als Ganzem und keinem Besatzungsgebiet. Wer sollte die Einheit Deutschlands gewährleisten und darstellen, wenn nicht ein unabhängiger Schriftsteller, dessen wahre Heimat, wie ich sagte, die freie, von Besatzungen unberührte deutsche Sprache ist." Den mit dem Goethepreis verbundenen Geldbetrag stiftete er für den Wiederaufbau der bombenzerstörten Weimarer Herderkirche.

Zum 50. Geburtstag erhielt Eggerath von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein umfangreiches Fotoalbum. Darin ist auch der Besuch von Thomas Mann in Weimar mit vielen Fotos dokumentiert. Das Album befindet sich heute im Besitz seiner Tochter Marina. Am 16. Juni 1977 ist Werner Eggerath gestorben.

In meinem Buch "Gegen das Vergessen. Fünf Wuppertaler Arbeiterschriftsteller und Widerstandskämpfer stellen sich vor", ist eines der Fotos, das Eggerath mit Thomas Mann vor dem Schiller-Goethe-Denkmal in Weimar zeigt, abgebildet. Eine umfangreiche Würdigung Werner Eggeraths kann hier nachgelesen werden. Das Buch ist in jeder Buchhandlung zum Preis von 18 Euro erhältlich.

Es kann auch direkt beim Autor (zum Autorenpreis von 10 Euro plus 2,50 Euro Porto) bezogen werden:
Dr. Dirk Krüger,
Zietenstraße 25, 42281 Wuppertal
Telefon: 02 02-50 71 26 oder per e-mail:
krueger.wtal@t-online.de

Dr. Dirk Krüger
Wuppertal

*

Gegentendenzen

Die "Marxistischen Blätter" haben in ihrem aktuellen Heft den Schwerpunkt "Kulturstaat DDR": Der Umgang mit DDR-Kunst und Literatur ändert sich. Seit etwa einem Jahrzehnt, schreibt der Kunstwissenschaftler Peter Michel im Heft 4/2019 der "Marxistischen Blätter", mehrten sich "die Zeichen der Hoffnung auf einen achtungsvolleren Umgang mit in der DDR entstandenen Kunst - trotz aller Rückfälle in die Niederungen des kalten Krieges". Diesen Wandel widerspiegeln die zehn Beiträge zum Heftschwerpunkt "Kulturstaat DDR".

Lange Zeit gehörte die Behauptung zum Repertoire der Konterrevolution, es gebe in der DDR weder Kunst noch Literatur, sondern allein Agitation. Das ist nicht vorbei, aber es machen sich Gegentendenzen bemerkbar. Als Beispiele seien hier genannt: Die sehenswerte Ausstellung "Alltag formen! Bauhaus-Moderne in der DDR", die noch bis zum 5. Januar 2020 im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt zu sehen ist, sowie das Schaudepot im Kunstarchiv Beeskow (www.kunstarchiv-beeskow), das im Mai eröffnet wurde. Unmittelbar neben der Burg Beeskow werden jetzt 17.000 Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Plastiken und Fotografien aus Beständen von DDR-Einrichtungen sowie von Parteien und Massenorganisationen in einer würdigen Form aufbewahrt und in Führungen gezeigt. Sie wurden 1990 unter zum Teil abenteuerlichen Umständen gerettet. Denn die Haßreden auf DDR-Kunst und -Künstler in den Jahren 1989 und 1990 hatten Folgen: Die Zahl der vernichteten Kunstwerke durch die "Sieger der Geschichte" ist unbekannt. Experten vermuten, daß es Zehntausende Arbeiten waren, die gestohlen, auf den Müll geworfen oder in den internationalen Kunsthandel geschleust wurden. In Eisenhüttenstadt und Beeskow arbeitet eine junge Generation von Kunstwissenschaftlern, die nach der künstlerischen Qualität der Werke fragt. Zum Wandel trägt auch wachsendes Interesse aus dem Ausland bei. DDR-Kunstwerke gelangten in viele Länder der Welt. Im Kunstarchiv wird darauf verwiesen, daß sich dort schon eine große Delegation des Museum of Modern Art in New York den Bestand zeigen ließ, bevor deutsche Gemäldegalerien sich interessierten.

Tendenzen dieser Art, die sich um die DDR-Verteufelung durch den bundesdeutschen Mainstream nicht kümmern, müssen erklärt werden. Das findet in diesem Heft der "Marxistischen Blätter" statt, und ziemlich einhellig kommen die Autoren zu dem Schluß: Es hat etwas mit ästhetischer Qualität und damit zu tun, daß Kunst und Literatur in der DDR etwas zu sagen hatten - im doppelten Sinn des Wortes. Michel zitiert den verstorbenen Kunsthistoriker Peter H. Feist, der zu den Merkmalen der Kunst in der DDR ein "ausgeprägtes, feines Empfinden für Soziales" zählte. Kunst sei nicht hermetisch vom "Außerkünstlerischen" abgegrenzt worden, verstand sich "als Teil einer internationalen 'linken' Kultur, im Weiterarbeiten an einer Alternative zu Kapitalherrschaft und Imperialismus".

Zu ähnlichen Schlußfolgerungen kommt der Filmkritiker Hans-Günther Dicks, der die Filmgeschichte der DDR skizziert sowie den Umgang mit den DEFA-Produktionen im kalten Krieg und nach 1990 beleuchtet. Er wertet die Auszeichnung des Films "Gundermann" von Andreas Dresen über den DDR-Baggerfahrer und -Liedermacher mit dem deutschen Filmpreis, der "Lola", am 3. Mai in Berlin als "späte Genugtuung für eine Kinematographie, zu deren Untergang einige Gäste des Galaabends im Palais am Funkturm schon 30 Jahre zuvor unter Krokodilstränen Grabgesänge angestimmt hatten". Der Musikwissenschaftler Stefan Amzoll beschreibt in 14 Miniaturen das "Bauhaus der DDR", das trotz äußerst beschränkter Mittel eine "Vorreiterrolle" gespielt habe, Modelle und Lösungsansätze für Städtebau und Architektur entwarf, "wie wenig sie auch tatsächlich wirksam wurden". Widersprüche dieser Art benennt auch Bruno Flierl. Er weist darauf hin, daß das DDR-Wohnungsbauprogramm "in ökonomischer Hinsicht eine große Leistung war" - 40 Jahre lang kostete die Miete ungefähr eine Mark pro Quadratmeter -, aber die Bevölkerung und die Architekten "nicht voll zufriedenstellte". Es hätte mehr Varianten und "vor allem eine lebendige Aussprache" geben müssen.

Der Literaturwissenschaftler Kai Köhler untersucht, wie Handbücher, Lexika und Literaturgeschichten mit der DDR umgehen. Sein Fazit: Es dominiert eine "Politisierung des Urteils". Solche Arbeiten, die in heutigen Studiengängen oft als einzige Quelle dienen, kommen "nicht ohne Urteil aus der Siegerperspektive", d. h. mit "Geschichtsverfälschungen", aus. Insgesamt aber deute sich in der Literaturwissenschaft "nach einer Phase der Abrechnung mit der DDR besonders in den 90er Jahren, eine Milderung nicht nur des Tons, sondern auch des Inhalts an". Ein weitgehend unbekanntes Gebiet der DDR-Literatur untersucht der Literaturwissenschaftler Rüdiger Bernhardt: Die Bewegung schreibender Arbeiter, die von der 1. Bitterfelder Kulturkonferenz einen starken Impuls erhielt und bis 1989 in etwa 250 Zirkeln lebendig blieb. Die Publizistin Sabine Kebir umreißt das Werk der Schriftstellerin Elfriede Brüning (1910-2014), die wie keine andere Autorin das "Entwicklungsbild der Frauenemanzipation in der DDR" analysiert habe. Der Regisseur Jens Mehrle zeigt in fünf kurzen, prägnanten Abschnitten, warum das Theater im sozialistischen Deutschland unbestritten "zu seiner Zeit eines der besten der Welt" war: Es habe sich ein waches Publikum gebildet und ein "gemeinsamer Boden für Kämpfe" existiert. Der Schriftsteller Armin Stolper erinnert sich ironisch an seinen Werdegang zum Dramaturgen, der Historiker Ludwig Elm schildert die Rolle des Kulturbundes in der DDR.

Die DDR-Kultur ist in vieler Hinsicht lebendig geblieben. Auch das ist ein dialektisches Resultat der Konterrevolution: Sie hat mit ihrer Niveaulosigkeit, Bilderstürmerei und kalten Bücherverbrennung in gewisser Weise ein ostdeutsches Erfahrungskollektiv von Kunst- und Literaturinteressierten geschaffen. Das Heft der "Marxistischen Blätter" markiert eine Situation, in der Gehaltvolles auch international gewürdigt wird - und zeigt zugleich: Die Ästhetik einer Gesellschaft des Friedens und der Solidarität gewinnt gerade in Zeiten des Krieges und der Entsolidarisierung an Anziehungskraft.

Arnold Schölzel


Marxistische Blätter, Heft 4/2019, 160 Seiten, 9,50 Euro.
Bezug: Marxistische Blätter, Hoffnungstr. 18, 45127 Essen,
Tel.: 0201/236757, E-Mail: redaktion@marxistische-blaetter.de

Der Verlag der "Marxistischen Blätter" macht "RotFüchsen" ein Sonderangebot: Wer das Heft "Kulturstaat DDR" oder ein anderes unter Angabe des Stichworts "RotFuchs" bis zum 7. Oktober 2019 bestellt, erhält es für 5 Euro statt für 9,50 Euro (jeweils plus 1,90 Euro Porto)

Ohne Scheuklappen

Der Trend der Neunzigerjahre, im Umgang mit Kunst aus der DDR keine Differenzierung zuzulassen, war Teil einer verheerenden Anschlußpolitik der BRD. Es mehren sich nun die Zeichen der Vernunft. Es gibt sogar einige wenige Politiker, die - unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit - einen Beitrag dazu leisten. Exbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) warnte schon im Jahr 2003 anläßlich der Eröffnung einer Gerhard-Kettner-Ausstellung in Dresden davor, angebliche "Staatskünstler" auszugrenzen. Der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU), sprach 2016 bei der Vernissage einer Willi-Sitte-Ausstellung in Merseburg voller Sympathie für den Künstler. Und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) bezog Ende Oktober 2017 in seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung "Hinter der Maske" im Barberini-Museum Potsdam gegen das Fehlurteil Stellung, man könne in der DDR entstandene Kunst "nicht verstehen oder einordnen, ohne immer sofort ihren Bezug zu Staat und Gesellschaft zu bestimmen". Er plädierte statt einer solchen "Verkürzung" nachdrücklich dafür, in der DDR entstandene Kunst "eben als Kunst" wahrzunehmen.

Solche Statements darf man sicher nicht überbewerten. Doch sie unterscheiden sich wohltuend von hetzerischen Auslassungen in der Vergangenheit.

Aus: Peter Michel, Kein häßlicher Regentropfen der Geschichte. Marxistische Blätter 4/2019

*

LESERBRIEFE

Faschistoides Treiben ist in Deutschland Alltag geworden. Viele Bürger erleben es in den Kommunalparlamente oder bei den zahlreichen rassistischen Demos, Musikkonzerten bis hin zum vergangenen Europa- und Kommunalwahlkampf, wo sich neben der NPD (in MV) auch die AfD zur Wahl stellte und mit ihren Losungen deutlich fremdenfeindlich offenbarte.
Daß in dieser Zeit die große Koalition in Berlin die militärischen Ausgaben weiter forciert und im Gleichklang dazu sich mit faschistischen Regierungschefs wie z. B. in Brasilien oder Kolumbien trifft und diese Lateinamerikareise des SPD-Außenministers auch noch als eine "dringend notwendige Reise zu Freunden" betitelt, unterstreicht den Rechtsruck in Deutschland.
Angesichts dieser Entwicklungstendenzen wäre die Schaffung einer breiten linksorientierten Aktionsfront das Gebot der Stunde. Wir erleben aber, daß persönliche Befindlichkeiten und Rechthaberei in Führungsetagen linksorientierter Parteien und Vereine diese immer wieder verhindern.
Aber es geht auch anders, wie die vor einigen Wochen durchgeführte Protestaktion im Rahmen des landesweiten "Tages der Bundeswehr" beweist. Es gelang unter der organisatorischen Leitung des Rostocker Friedensbündnisses, die Basisgenossen der Linkspartei Stralsund, die Genossen der DKP aus Rostock, Stralsund, Rügen und Greifswald wie Vertreter von IPPNW, ISOR aus Rostock und Mitglieder des "RotFuchs-Fördervereins" aus Rostock zusammenzuführen, die an den drei Brücken zum Veranstaltungsort in Stralsund - gut sichtbar mit zahlreichen Plakaten und Transparenten - ihren Protest gegen die Militarisierung der Gesellschaft zum Ausdruck brachten. Selbst die Bundeskanzlerin, die es sich im Rahmen ihres Wahlkreisbesuches nicht nehmen ließ, ein paar gewohnt überflüssige Worte zur Rechtfertigung der militärischen Hochrüstung zu äußern, kam an unserem Protest nicht vorbei.
Daß unter strengen Sicherheitsauflagen auf dem Alten Markt in Stralsund auch noch das öffentliche Gelöbnis stattfand, machte es für uns Protestierende nicht gerade leicht, unsere Flyer zu verteilen und mit den Gästen vor Ort ins Gespräch zu kommen. Wir haben aber in kürzester Zeit (noch nicht einmal zwei Stunden) weit über 800 Flyer, Aufklärungsbroschüren usw. verteilt und sind dabei mit nicht wenigen in die sachliche Diskussion gekommen. Das gelang aber nur, weil sich alle trotz zum Teil unterschiedlicher politischer Standpunkte auf das verständigt haben, was uns eint - der Kampf für den Erhalt des Friedens und gegen Faschismus.

Carsten Hanke, Rostock


Zu Dr. Matin Baraki: Kommt es zu einem Krieg der USA gegen Iran? RF 258/259, S. 5
Ein großes Kompliment an Dr. Baraki für seinen Beitrag! Er ist nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil der Autor die vom Westen, namentlich den USA, gepflegte dämonisierende Sichtweise mit einer zeitgeschichtlichen und politischen Analyse kontert, an der nicht zuletzt aufgrund der unwiderlegbaren Fakten niemand vorbeikommen kann.
Einziger Einwand meinerseits ist, daß Baraki auf das iranische Nuklearprogramm in den Jahren nach der Revolution von 1979 bis zum Ende des vom Irak begonnenen Kriegs gegen den Iran und den politischen Entscheidungen der Revolutionsregierung in den Jahren danach nicht eingegangen ist. Charlotte Wiedemann hat in ihrem Buch "Der neue Iran" dieser Zeitspanne ein ganzes Kapitel gewidmet. Die von ihr dargestellten Fakten sind für das Verständnis des Iran ebenfalls unabdingbar.
Das iranische Nuklearprogramm wurde - wie Baraki richtig und ausführlich beschreibt -in der Schah-Zeit mit amerikanischer und französischer Hilfe massiv aufgelegt. Nach der Revolution von 1979 wurde es aber vom Revolutionsführer Khomeini aus religiösen (!) Gründen eingestellt. Kurz danach begann die irakische Invasion, der Auftakt eines klassischen Angriffskriegs gegen den Iran.
Niemand kam zu Hilfe! Mit Ausnahme Syriens standen ausnahmslos alle großen Mächte an der Seite Iraks. Der Sicherheitsrat der UNO weigerte sich acht lange Kriegsjahre hindurch, die eindeutige Aggression beim Namen zu nennen. Das grauenhafteste Kapitel war die westliche Beihilfe zu Saddams chemischer Kriegsführung. Unternehmen aus westlichen Staaten, auch aus der Bundesrepublik, lieferten wichtige Komponenten. Wie später veröffentlichte CIA-Dokumente belegen, leisteten die USA Aufklärungshilfe bei der Bestimmung von Angriffszielen - und dies in vollem Wissen, daß Angriffe mit Giftgas geplant waren. Wieder rief der Iran den UNO-Sicherheitsrat vergeblich an. Diese Lektion wird das iranische Volk nie vergessen, sie hat sein kollektives Gedächtnis geprägt.
Noch dreißig Jahre nach Kriegsende sind mehr als siebzigtausend Chemiewaffenopfer dauerhaft auf medizinische Hilfe angewiesen. Was alle Iraner bis heute und auch in Zukunft verbindet, ist der Satz: "Wir standen allein." Und genau das ist der Grund, weshalb der Iran nach dem Krieg das Nuklearprogramm wieder aufgenommen hat.
Was dem Iran angetan wurde, sollte eigentlich zu einer selbstkritischen Reflexion führen. Respekt und Empathie seitens des sich selbst als Wertegemeinschaft lobenden Westens wären mehr als angemessen. Statt dessen bemüht man sich weiterhin mit Belehrungen und Kriegsdrohungen, den Iran zu "bekehren".
Eine besonders bittere Geschichte aus jüngster Zeit will ich abschließend erwähnen: Vor ein paar Jahren, als die Verhandlungen mit dem Iran über das Atomprogramm noch nicht weit gediehen waren, gab es Inspektionen der IAEA im Iran mit den üblichen Vorwürfen der Behinderung, Verschleierung etc. Eine verlangte und vom Iran erfüllte Maßnahme war, die Wissenschaftler namentlich zu nennen, die am Atomprogramm gearbeitet hatten. Die Folge: Innerhalb von fünf Monaten wurden sie von Mossad-Agenten ermordet.

Hans Schoenefeldt, Berlin


Die Bundesrepublik Deutschland war an dem ab dem 9. Juni durchgeführten bisher größten NATO-Manöver seit 1989 gegen Rußland mit einem erheblichen Anteil an Waffen, Flugzeugen, Schiffen, Panzern, Soldaten und militärischen Führungskräften mit dabei. Daß CDU/CSU und SPD koalierend ihren Segen dafür gaben, ist nicht überraschend. Ihrer Regierungskonkurrenz, den Grünen, fiel jedoch auch nichts Besseres ein, als "Bedenken" wegen möglicher Umweltschäden anzumelden. Die gen Osten gerichteten Panzer störten sie nicht, nur die hinterlassenen Kettenspuren in der Flora. Nicht die Landeübungen von NATO-Seestreitkräften an imitierten Ostseeküsten Rußlands empörten sie, nur die dabei entstandenen Schäden für die Natur. Nicht Manöverangriffe aus der Luft auf fiktive russische Ziele waren relevant, sondern nur deren Abgase hinsichtlich der Luftverschmutzung.
Mit ihrer Haltung zu diesem NATO-Manöver stehen sie zu ihrer doppelzüngigen Tradition in der Frage von Krieg und Frieden, die sie schon im NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 bekundet haben.
Führungskräfte der Grünen scheinen nicht zu begreifen, daß mit der Gefährdung des Friedens durch die NATO die größte Schadensursache für Natur und Umwelt entsteht. Wer ehrlichen Herzens Umweltschützer sein will, muß sich erstrangig als Friedenskämpfer gegen die Kriegsvorbereitungen der NATO und ihrer Mitgliedstaaten gen Rußland und gegen die aktuell von den USA und der NATO in Asien und Afrika geführten Kriege engagieren.
Die Russen wollen keinen Krieg. Sie haben die Nase voll von all den Napoleons und Hitlers, denen es um nichts anderes als um die Ausplünderung der Reichtümer in Rußlands Weiten ging und welche die Trumps von heute mit ihren NATO-Manövern erneut ins Visier nehmen.

Manfred Wild, Berlin


Die Nichteinladung des russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Gedenkfeier anläßlich des "D-Days" in Paris kann nur als Provokation verstanden werden. Sie ist ein Versuch der Westmächte, die Leistungen der Sowjetunion, welche die Hauptlast im 2. Weltkrieg getragen hat, zu relativieren und Rußland heute international zu isolieren. Die Geschichte soll umgeschrieben werden. Als Angehörige der älteren Generation haben wir die Pflicht, die Lügen der Herrschenden zu widerlegen und die Wahrheit zu verbreiten. Das um so mehr, als der im Sommer von der "rechten Szene" verübte Mord an Regierungspräsident Lübcke - diesmal traf es einen Vertreter des Staates - aufhorchen läßt. Die mit Samthandschuhen behandelte Aufklärung ermöglicht das Gedeihen der rechtsextremen Kräfte, damit sie später "gebrauchsfähig" einsetzbar sind.

Hans-Georg Vogl, Zwickau


Will Herr Maas als ehemaliger Justizminister und jetziger Außenminister eine Rechtsreform für internationale Rechtsbeziehungen proklamieren? Ich lese, Herr Maas besuchte den umstrittenen rechtskonservativen Staatschef Brasiliens, Bolsonaro. Er glaubt, hier den kompetenten Mann für die Durchsetzung der Menschenrechte in Brasilen gefunden zu haben. Ebenso könnte man glauben, ein Bauer wäre gut beraten, einen Fuchs für die Sicherheit seiner Hühner zu halten.
In Südamerika scheint er sich wohl zu fühlen. Um weiter Gutes zu tun, reist er nach Bogotá. Hier trifft er sich mit Oppositionellen Venezuelas und sichert dem selbsternannten Übergangspräsidenten Juan Guaidò die anhaltende Unterstützung Deutschlands zu.
Ist das der Demokratiebegriff der Marke Maas? Der demokratisch gewählte Präsident Maduro wird inzwischen als Machthaber betitelt, und diejenigen, welche zu diesem demokratischen Ergebnis stehen, werden in den Medien als Banden des Machthabers präsentiert.
In Deutschland sind nicht alle mit der Politik ihrer Regierung einverstanden. Nun stelle man sich einmal vor, Frau Wagenknecht würde diesen Gedanken aufgreifen und sich als Übergangsbundeskanzlerin empfinden und Rußlands Präsident Putin würde statt mit Bundeskanzlerin Merkel ein diplomatisches Treffen mit Frau Wagenknecht vereinbaren.
Für mich ein unglaubliches Szenarium, aber es mag durchaus Menschen geben, die sich dies vorstellen können. Was wäre das für ein politischer Affront und zu Recht eine Einmischung in innere Angelegenheiten Deutschlands!
Für Venezuela und Herrn Maas scheint das allerdings nicht zu gelten. Wie ist es zu verstehen, daß einem studierten Juristen diese einfachsten Rechtsnormen internationaler Beziehungen so schnell verlustig gegangen sind?

Jürgen Bartz, Wismar


Die Wahlergebnisse der Linken schmerzen. Vor allem dort, wo selbstlos im Kommunalbereich viel Arbeit geleistet wird. Was wurde erwartet, wenn die Führungskräfte der Partei (ausgenommen Sarah Wagenknecht) in dieser medienpolitischen Landschaft kaum öffentlich bemerkbar mit klaren Aussagen hervortreten? Gute Programme reichen nicht, wie sich erneut zeigt. Die Zwistigkeiten währenddessen offenbaren wenig Politikfähigkeit und bestätigen leider Theodor Fontane im Jubiläumsjahr: "Gerade die, die dasselbe Ziel verfolgen, bekämpfen sich immer am heftigsten." Wie weiter?

Atti Griebel, Berlin


Die Wohnung ist eine Ware wie jede andere, und nichts macht vor profitabler Vermarktung halt, keine Moral, kein Menschenrecht hindert daran. Wohnen und Wohnung wurde zum Geschäftsobjekt. Vertreibung von Menschen, Familien aus ihrer Wohnung und ihrem sozialen Umfeld wird zunehmend Realität.
Die Eigentumsfrage stellen, darin besteht die entscheidende Konsequenz. Wo sie gestellt wird, ist der Aufschrei der "Eigentümer" des Spekulationsobjektes Wohnen zu hören. Die Markt-Schreier stimmen ein mit schlimmen Szenarien für Omas Häuschen oder Vermietung auf der Ebene einfachen Warenhandels. Doch Konzernen, die Wohnen heute für Mietwucher und Spekulation betreiben, muß die Eigentumsfrage entschädigungslos gestellt werden. Wir sollten nicht immer die Sprachregelungen der Bourgeoisie übernehmen, von Wohnungsmarkt reden und vergessen, was uns Wohnen und Wohnung fern des Kapitalismus bedeutet. Enteignen beginnt mit Entmachten der Spekulanten und Profiteure und nicht mit Scheinlösungen, die den Bedrohten von Wohnungsarmut und -not nicht unmittelbar helfen. Mir scheint, auch Linke beschäftigen sich zu sehr mit derartigem Kauderwelsch, das nichts an der Wohnungsfrage löst. Sofortlösungen finden sich bereits bei Friedrich Engels (etwa in "Zur Wohnungsfrage", MEW Bd. 18, S. 209 bis 287).

Roland Winkler, Aue


"Der Markt regelt alles." Unter diesem undurchschaubaren und alternativlos scheinenden Satz ist die Orientierung für die aktuelle Politik gegeben. Es sind nicht nur die Neoliberalen, die dieses Motto verinnerlicht haben, es hat inzwischen die Mehrheit der Gesellschaft erfaßt. Zumindest bis vor kurzem. Denn sowohl die Ergebnisse der Europawahlen wie auch die schon davor aufgetauchten Probleme mit Brexit, den nationalistischen Gewichtsverlagerungen in einer Reihe von Staaten wie auch die ganz aktuellen Probleme des Abstiegs der "Volksparteien", ihren personellen und orientierungslosen Querelen zeigen, daß die Gesellschaft vor Herausforderungen steht, die ein völlig neues Denken und Herangehen erfordert. Dieser Marktmythos scheint an seine Grenzen zu stoßen. Das Für und Wider um die Äußerungen von Kevin Kühnert von der SPD ist nur ein Zeichen dafür. Sicher, dieser Mythos vom allmächtigen Markt hat seine Erfolge eingefahren. Man hat ihm wachsenden Wohlstand, demokratische Unversehrtheit, das Überwinden von Grenzen, ja sogar den Sieg über den Versuch, eine sozialistische Gesellschaft zu gestalten, zugeordnet. Es ist immer wieder gelungen, für im Markt auftauchende Probleme andere verantwortlich zu machen oder sie als normal, als vorübergehend oder alternativlos zu bezeichnen. Aber jetzt zeichnen sich sowohl in der Innenpolitik, in der Umweltpolitik wie auch in den internationalen Beziehungen Probleme ab, die bei einer Fortsetzung des "Weiter so" zu katastrophalen Ergebnissen führen könnten.
Im Inneren der Staaten verschärfen sich die sozialen Probleme: Wohnungs- und Bildungsfragen, Alters- und Kinderarmut, Gesundheitsfürsorge und Rentenfragen verlangen ein Eingreifen des Staates. In der Umweltpolitik wird deutlich, daß mit Appellen und freiwilligen Ankündigungen nichts verändert wird. Aber auch die Wirtschafts- und Strukturpolitik verlangt ein Eingehen auf gesellschaftliche und nicht Profitinteressen. Das spiegelt sich nicht zuletzt auch in den internationalen Beziehungen wider. Der Umgangston, gegenseitige Abhängigkeiten und Erpreßbarkeit werden immer gefährlicher. Politische und ökonomische Sanktionspolitik zeigt die Verwobenheit von Markt und Politik. Der Markt treibt die Politik. Wohin, sehen wir aktuell in den Beziehungen zwischen den USA und China, den Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten oder um Venezuela.
Er macht selbst vor den Beziehungen zwischen sogenannten Verbündeten nicht Halt. Er kennt nur ein Interesse, den Profit. Denn nichts anderes ist dieser Marktmythos: das Instrument, das auf "Teufel komm raus" die Profitinteressen einer Gesellschaftsschicht bedient.

Franz Tallowitz, Saterland


In der "Märkischen Allgemeinen" gab man etwas, was in der DDR gang und gäbe war, als neue "Erfindung" aus: Agroforst hieß das Stichwort. Dabei handelt es sich um nichts anderes als um Windschutzstreifen, die in unserer Land- und Forstwirtschaft jedes Kind kannte. Vereinzelt sieht man noch Reste davon stehen. Agroforst - was für ein Name! Windschutzstreifen war wesentlich treffender.
Erst machen sie alles kaputt, um es dann als Eigenkreation unter neuem Namen und neuer Regie wieder zu präsentieren. Mehr als ärgerlich!

Beate Bölsche, Brielow


Wenn sich heute Vertreter der etablierten Parteien zu wichtigen aktuellen Themen äußern, ist es oft erstaunlich, daß nach Jahrzehnten plötzlich gelebte DDR-Praxis wieder neu erfunden wird. Beispiel Kinderbetreuung: Vor allem die Kinderkrippen standen lange im Fokus der Kritik. Von der Einmischung des Staates in die Erziehung und Betreuung war da die Rede. Jetzt will man nachholen, was in der DDR Praxis war.
Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD wurde das Ziel einer Grundrente aufgenommen. Neu ist das nicht, denn in der DDR gab es so etwas, unter dem Namen Mindestrente bekannt, schon einmal.
Um die Luft sauberer zu machen und die Verkehrsdichte zu verringern, gibt es die fundamentale Idee, den örtlichen Nahverkehr weiter auszubauen und preiswerter zu gestalten. Ein lobenswerter Gedanke, aber auch nicht neu. Subventionierte Preise für Bus und Bahn waren in der DDR eine Selbstverständlichkeit - eine Fahrt mit der Stadtlinie/Straßenbahn kostete für einen Erwachsenen 20 Pfennig.
Laut ist auch die Forderung nach weniger Plastikmüll. Einkaufsbeutel aus Stoff und Papier oder Glasverpackung werden wieder aktuell. Alles schon einmal dagewesen. Welcher frühere DDR-Bürger erinnert sich nicht an die "Sero-Annahmestellen"?
Also: Von der DDR lernen ...

Siegfried Duske, Biedenkopf


Zu Stimmen aus aller Welt über die DDR: Juan Antonio Samaranch, RF 257, S. 26
In außerordentlich schwerer Zeit für die olympische Bewegung hatte Juan Antonio Samaranch, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) von 1980 bis 2001, auf der 90. Session 1985 in Berlin dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, in Anerkennung der Verdienste für die Sache des Weltsports und die Treue zum olympischen Ideal, den Olympischen Orden in Gold verliehen.
Als 1990 westdeutsche Schreihälse - in Kooperation mit der "Wende"-Jubelgemeinde - die Aberkennung dieses Ordens forderten, lehnte Samaranch ab.
Auch im 70. Jahr des BRD-Grundgesetzes gehört die grundsätzlich gegensätzliche Entwicklung der olympischen Bewegung in beiden deutschen Staaten Deutschlands zur unwiderlegbaren Wahrheit: Kein Mitgliedsland des IOC hat sich derart viel Unolympisches geleistet wie die Bundesrepublik Deutschland.

Manfred Wozniak, Erfurt


Zu Dr. Michael Walter: Solidarität im Blauhemd, RF 257, S. 23
Mit großem Interesse las ich diesen Artikel im Juni-RF. Er entspricht den Erfahrungen, die wir selbst in der VR Jemen gemacht haben. Unter Führung von Generaloberst Heinz Keßler, dem späteren Chef der Politischen Hauptverwaltung der NVA und Verteidigungsminister, weilte eine Delegation der Nationalen Volksarmee, deren Mitglied ich war, in diesem Land. Zuvor war deren Präsident Muhammad Ali an der Unteroffiziersschule in Eilenburg, die zu meinem Verantwortungsbereich gehörte.
Zum Programm unserer Delegation gehörte auch der Besuch bei der dort weilenden FDJ-Brigade. Die jemenitischen Genossen waren voller Lob über die Arbeit und Haltung unserer "Außenpolitiker" im Blauhemd. In unseren Gesprächen mit den jungen Leuten spürten wir, wieviel Selbstlosigkeit dazu gehörte, den Menschen in Jemen zu helfen, ein eigenständiges, besseres Leben aufzubauen.
Dem Autor, Dr. Walter Michel, vielen Dank für die Erinnerung an diese Seite der Jugendorganisation unseres Landes, an die gelebte Solidarität der DDR mit den Völkern, die für ihre Unabhängigkeit vom Imperialismus kämpften.

Heinz Bilan, Leipzig


Es ist höchste Zeit, zu konkreten Maßnahmen zur Bekämpfung der Fluchtursachen zu kommen, welche die Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten veranlassen, den gefährlichen Weg über die Meere zu nehmen, um nach Europa zu gelangen. Was den hier Herrschenden nur einfällt, ist die Entsendung von Soldaten und Polizisten, die Sicherheitskräfte in diesen Ländern schulen sollen. Dabei geht es nur darum, zu verhindern, daß weitere Flüchtlinge zu uns gelangen. Deren Not und Elend, für die Deutschland führend mitverantwortlich ist, spielen dabei kaum eine Rolle. Viel wichtiger wäre es, den Ländern zu helfen, daß dort Bedingungen geschaffen werden, die Arbeit bringen und den Menschen ermöglichen, ihre Nahrungsmittel selbst zu produzieren. So könnte man sich durchaus am Beispiel DDR orientieren. Es war eben nicht nur so, daß Waffen in die afrikanischen Entwicklungsländer geliefert wurden. In viel größerem Umfang schickte die DDR Mähdrescher, Traktoren, LKW und Maschinen als Solidaritätsgüter dorthin. Nicht zu vergessen Ärzte, Lehrer und vor allem auch FDJ-Jugendbrigaden, die vor Ort geholfen haben, das Leben zu organisieren. Die heute führenden Nationen sind ökonomisch viel stärker, als es die DDR je war, aber sie tun nichts, was den Menschen wirklich hilft.

Ralf Kaestner, Bützow


Im Juni nahm ich an einer Reise - Leiter war Gisbert Graff - nach Wolgograd teil. Das emotional sehr eindrucksvolle und außerordentlich interessante Erlebnis, besonders der Besuch des Mamajew-Hügels mit der überragenden Statue der Mutter Heimat sowie das Panoramamuseum haben mich sehr nachdenklich gestimmt. Welch unsägliches Leid haben deutsche Faschisten über die Bevölkerung der Sowjetunion gebracht!
Für mich besonders bewegend: die Begegnung mit Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges. Ich hatte die Fahne, die dem Grenzregiment 3 von sowjetischen Militärberatern aus der 8. Stalingrader Garderarmee - Standort Nohra überreicht wurde, dabei. Da kamen auch den alten Kämpfern die Tränen, als sie erfuhren, welchen Weg diese Fahne von Stalingrad nach Nohra, weiter nach Dermbach und nun noch mal nach Stalingrad genommen hatte. Autogramme auf der Fahne und herzliche Umarmungen von Waffenbrüdern begeisterten auch das anwesende Fernsehteam und alle Fotografen.
In der ganzen Stadt wird die Ehre der heldenhaften Verteidiger und Sieger über die deutsche Wehrmacht sichtbar gepflegt und geachtet.
Doch die Politiker der USA, der NATO-Staaten mit Deutschland an der Spitze scheinen aus der Geschichte nichts gelernt zu haben. Statt Friedenserhaltung, Abrüstung und Freundschaft, besonders mit Rußland, forcieren sie Konfrontation, provozieren, rüsten zum Krieg.
So wurden am 28. Juni in Bad Salzungen 500 Bundeswehrangehörige zu einem halbjährigen Einsatz ins Baltikum, an die Grenze Rußlands, geschickt. Ihre Aufgabe: Verteidigung der Ostflanke der NATO. Ein nicht zu begreifender Affront gegen Rußland!
Ich habe die Hoffnung, daß es mit vereinten Anstrengungen möglich ist, die Kriegstreiber zu stoppen und das höchste Gut für die Existenz der Menschheit - den Frieden - zu erhalten.

Harald Hentschel, OSL a. D. d. GT d. DDR, Oechsen


Vor kurzem wollte ich mir in der Mediathek eine Sendung mit dem Titel "Unsere Wälder" ansehen. Da ich sehr naturinteressiert bin, lud ich mir den Beitrag herunter. Schon nach wenigen Minuten habe ich ihn verärgert weggedrückt. Es ging um die Luftbrücke amerikanischer und britischer Flugzeuge nach Westberlin im Jahre 1948. Dort wurde in üblicher Lügenmanier behauptet, daß diese Stadt versorgt und verteidigt werden mußte, da die sowjetische Besatzungsmacht im Osten ganz Berlin für sich gewollt hätte. Kein Wort über die wirklichen Ursachen, warum seitens der Sowjetunion die zeitweilige Abriegelung Westberlins vorgenommen werden mußte.
Bekanntlich wurde durch die Währungsreform im Westen ein entscheidender Schritt in Richtung der Spaltung Deutschlands getan. Dieses dort wertlos gewordene Geld sollte in das sowjetisch besetzte Gebiet geschmuggelt werden, um eine Inflation und ein wirtschaftliches Chaos auszulösen. Um das zu verhindern, war die sowjetische Besatzungsmacht gezwungen, Maßnahmen zum Schutze des von ihr verwalteten Territoriums zu treffen. Diese waren nur für einen begrenzten Zeitraum vorgesehen, bis im Osten eine eigene Währung in Umlauf gebracht werden konnte.
Allein das war die Absicht dieser zeitweiligen Isolierung Westberlins. Es ging dabei in keiner Weise um die Einnahme dieser Stadt. Ohne die Absicht westlicher Politiker und Geheimdienste, die wirtschaftliche Lage im sowjetischen Besatzungsbereich drastisch zu verschlechtern, hätte es eine solche Maßnahme seitens der UdSSR nicht gegeben. Das wird der Öffentlichkeit heute gleichermaßen verschwiegen wie damals. Statt dessen wird die Lüge von einer drohenden Einnahme Westberlins durch die Sowjetarmee weiterhin verbreitet.

Jürgen Förster, Dresden


Zu Johann Weber: 70 Jahre Grundgesetz der BRD, RF 257, S. 14
Ich möchte ergänzen, daß der Ermittlungsrichter den Erlaß eines Heftbefehls gegen Max Schäfer 1968 wegen Verstoßes gegen das KPD-Verbot ablehnte. Daraufhin verfolgte man ihn wegen angeblicher Beleidigung der ihn verhaftenden Polizisten, welchen gegenüber der in der Nazizeit langjährig verfolgte Widerstandskämpfer sagte, als diese ihm Handschellen anlegten: "Das ist ja wie bei der Gestapo!" Das Amtsgericht Frankfurt/M. sprach ihn frei, und nach Einlegung von Revision durch die Staatsanwaltschaft kam auch das Oberlandesgericht zu keiner anderen Auffassung. Der Programmentwurf der KPD vom Februar 1968 wurde unabhängig von alledem in der Druckerei in Neumünster beschlagnahmt, und über die Einziehung sollte durch das Landgericht Flensburg entschieden werden.
Dort bejahte man einerseits dessen angeblich verfassungsfeindlichen Inhalt, war aber andererseits der Meinung, die politische Aufklärung wäre zulässig. Aufgrund der hiergegen von der Staatsanwaltschaft eingelegten Revision und Aufhebung der die Einziehung ablehnenden Entscheidung von Flensburg durch den BGH mußte die Sache nach Zurückverweisung erneut vor dem LG Flensburg verhandelt werden. Dort wurde 1970 das Verfahren durch das Gericht ausgesetzt, nachdem die Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft mehrfach den Gerichtssaal verließen, um damit eine von den Verteidigern beantragte Einvernahme zahlreicher prominenter Zeugen zu torpedieren. In beiden Verfahren war Friedrich Karl Kaul als Verteidiger tätig.

RA Ralph Dobrawa, Gotha


Während die erste Verfassung der DDR in aller Öffentlichkeit diskutiert und eine Reihe von Vorschlägen aus der Bevölkerung angenommen wurde, ist das Grundgesetz den Westdeutschen tatsächlich übergestülpt worden. Aber trotz aller Kritik, die auch an der Urfassung geübt werden kann, war es gar nicht so schlecht, und es legte sich auch nicht auf eine Gesellschaftsordnung fest. Wenn die Bundeskanzlerin allerdings behauptet, es wäre die beste deutsche Verfassung, dann irrt sie sich.
Die erste Verfassung der DDR war noch kein sozialistisches Gesetzeswerk. Sie orientierte sich wie das Grundgesetz an der Weimarer Verfassung. Mitunter stimmten die Formulierungen fast wörtlich überein. Aber die Verfassung der DDR enthielt die Rechte auf Arbeit, Wohnen und Bildung. Das fehlt im Grundgesetz. Von Anfang an wurde in der DDR gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt. Aufgenommen wurden auch die Veränderungen, die durch die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher und die Bodenreform erreicht wurden. Daher kann man sagen, daß die erste Verfassung der DDR besser war als das Grundgesetz.

Dr. Kurt Laser, Berlin


Ich halte soeben das erste Mal Ihre Zeitschrift in der Hand, welche mir durch einen Kunden übergeben wurde, und bin begeistert. Endlich ein Medium, welches mir aus dem Herzen spricht und mich mit neuem Wissen und Informationen versorgen kann, um in meinen Gesprächen weitere wichtige Argumente für eine sozialistische Welt zu finden. Ich freue mich auf den ersten "RotFuchs" in meinem Briefkasten.

Wolfgang Schade, Dessau-Roßlau

*

Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin


Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2019/RF-260-09-19.pdf

*

Quelle:
RotFuchs Nr. 260, 22. Jahrgang, September 2019
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang