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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1228: Italien - Unibesetzungen und Generalstreik


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 12/Nr. 1 - Dezember 2008/Januar 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Italien: Unibesetzungen und Generalstreik
"Wir zahlen nicht für eure Krise!"
Auszubildende im Aufruhr gegen die Zerschlagung der öffentlichen Bildung

Von Cinzia Arruzza


Eine enorme "anormale Welle" von Protesten (so schreiben die Medien) ergießt sich seit Wochen über die Straßen und Plätze Italiens. Achtzehn Jahre nach der letzten großen Bewegung an den Schulen und Hochschulen des Landes stehen die Auszubildenden wieder im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung.


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Ihr erster greifbarer Erfolg ist die radikale Verschiebung der öffentlichen Debatte. In den letzten sechs Monaten nach den Parlamentswahlen im April, die Berlusconi einen erdrückenden Wahlerfolg beschert haben, dominierten eine rassistische Offensive der Rechten gegen Einwanderer, eine wahre Hexenjagd auf die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die als "Faulenzer" bezeichnet wurden, sowie wiederholte Angriffe auf den Widerstand der Gewerkschaften gegen den Ausverkauf der Fluggesellschaft Alitalia. Eine politische Opposition, die des Namens würdig wäre, gab es nicht.

Nun haben die Auszubildenden die politischen Verhältnisse umgekehrt und verleihen einer anderen Botschaft mit Macht Gehör: "Wir zahlen nicht für eure Krise!"

Kurz vor dem Generalstreik, den die Basisgewerkschaften für den 17. Oktober angesetzt hatten, begannen die Auseinandersetzungen in Dutzenden von Fakultäten und Hunderten von Schulen in allen Regionen des Landes. Von den Kindern und Lehrern der Grundschule, bis zu den prekär Beschäftigten an den Universitäten und Forschungsinstituten sind an den Protesten alle beteiligt - mit Demonstrationen, Schulstunden auf öffentlichen Plätzen und Sit-ins; die Beteiligung nimmt weiter zu. Am 30. Oktober haben die Gewerkschaften im Bildungsbereich zum Streik aufgerufen; in Rom demonstrierten an diesem Tag eine Million Menschen, und mehrere hunderttausend in zahlreichen anderen Städten.


Abschaffung der Grundschule

Anlass zu diesem Feuerwerk gab ein Gesetz, das die Regierung im August erließ. Sie meinte von den Sommerferien profitieren zu können, und peitschte in aller Eile das Gesetz 133/08 durch, das eine Reihe von Sparvorschlägen enthält, darunter im Bildungsbereich. Die geplanten Einsparungen sind drastisch: den Universitäten sollen die Mittel um 47% gekürzt werden, 467 Millionen Euro - angeblich werden hier Mittel verschwendet, gibt es zuviel Personal.

Die Ausgaben für die Hochschulen sollen in den kommenden fünf Jahren um 10% gesenkt werden. Es gibt einen Einstellungsstopp; nur noch 20% des Lehrpersonals, das in Rente geht, sollen ersetzt werden. Die Privatisierung der Universitäten soll entschieden vorangetrieben werden: die Hochschulen sollen in privatrechtliche Stiftungen verwandelt werden, die von der Einwerbung von Drittmitteln leben.

Einstellungsstopp auch an den Schulen; 87.000 Lehrerinnen und Lehrer und 44.000 Beschäftigte im sog. technischen Bereich werden dadurch fehlen. Ungeachtet der Proteste hat das Parlament am 29. Oktober eine Reform der Grundschule durchgepeitscht. Es macht viel Aufhebens um die angebliche Notwendigkeit, wieder mehr Disziplin einzuführen (Noten für Betragen, Wiedereinführung von Schulkitteln), verfolgt im Kern aber das Ziel, die Grundschule in ihrer bisherigen Form abzuschaffen: Es soll nur noch einen Klassenlehrer geben, die Anzahl der Schulen wird ausgedünnt und auch die Zahl der Schulstunden herabgesetzt. In den ärmeren Regionen soll es nachmittags keinen Unterricht mehr geben, das geht vor allem zulasten der Frauen.

Das Gesetz ist nichts anderes als die Umsetzung des Sparhaushalts von Wirtschaftsminister Tremonti im Bereich der Bildung und läuft darauf hinaus, dass der Staat sich radikal aus dem öffentlichen Schulwesen zurückzieht.

In Einklang mit rassistischen Gesetzesinitiativen, die sich gegen Einwanderer richten, sieht das Gesetz 133/08 separate Eingangsklassen für Migrantenkinder vor. Offiziell geht es darum, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich ausreichende Kenntnisse der italienischen Sprache anzueignen. Tatsächlich wird damit in die öffentliche Schule ein gefährliches Element der Rassentrennung eingeführt.


Die Opfer von Bologna

In den letzten fünfzehn Jahren wurden Italiens Schulen und Universitäten immer stärker vernachlässigt; die Ausgaben wurden ständig gekürzt und das Bildungsangebot stark verschlechtert. An den Universitäten zeigt der Bologna-Prozess (gestufte Abschlüsse mit Bachelor und Master und ein System der Leistungsnachweise) verheerende Folgen: Abschlussarbeiten und Prüfungen multiplizieren sich, es gibt darüber keine Kontrollen, die Prüfenden sind häufig unterbezahlte oder auch gar nicht bezahlte prekär beschäftigte Lehrkräfte, die Ausbildungsinhalte werden stark vereinfacht und fragmentiert, dafür steigt die Zahl der geforderten Leistungsnachweise und vor allem die Zahl der abzulegenden Prüfungen. Die italienischen Universitäten sind zu einer Art Ausbildung am Fließband geworden; die Ware, die sie produzieren, ist prekär beschäftigte Arbeitskraft.

Anders als in der Vergangenheit sorgt sich die neue Studentenbewegung um ihre Zukunft nach der Uni. Den Studierenden ist bewusst geworden, dass ihr Abschluss ihnen keineswegs einen sozialen Aufstieg und eine Verbesserung ihrer Lebenschancen ermöglicht. Im Gegenteil, auf sie wartet eine ungeschützte, allzeit flexible Beschäftigung, die es ihnen praktisch unmöglich macht, von ihren Eltern unabhängig zu werden. Die Reformen der letzten Jahre im Ausbildungssektor und in der Arbeitswelt haben eine Generation ohne Zukunft hervorgebracht - die Bewegung schöpft ihre Schubkraft aus ihrer radikalen Perspektivlosigkeit.

Die neue Bewegung der Auszubildenden arbeitet deshalb sehr bewusst an einem Bündnis mit den abhängig Beschäftigten; sie will die Bewegung auf die Gesamtgesellschaft ausdehnen. Am 31. Oktober haben die Studierenden an der Universität von Rom, die von ihnen besetzt ist, einen Appell verabschiedet, der alle Gewerkschaften zu einem Generalstreik gegen die Regierung einlädt. Sie rufen darin zu einem "koordinierten und verlängerbaren Streik" auf (das ist ein Wortspiel, das auf den "koordinierten und verlängerbaren Arbeitsvertrag" anspielt, eine der am weitesten verbreiteten Formen prekärer Beschäftigung der letzten zehn Jahre).

Im Aufruf heißt es: "Das scheint uns der Moment zu sein, einen 'koordinierten und verlängerbaren Generalstreik' durchzuführen, der Sektor für Sektor das Land und die Produktion lahmlegt. 'Wir werden für eure Krise nicht zahlen', ist eine Losung, die sich wie ein Lauffeuer verbreitet und eine ganze Generation in einen Aufruhr versetzt, wie man es noch nicht gesehen hat. Die Gewerkschaften (die konföderierten wie die Basisgewerkschaften) müssten, unabhängig von ihren programmatischen Differenzen, in der Lage sein zu verstehen, was in diesem Land passiert, welcher radikale Wandel vorbereitet wird, der die gesamte Gesellschaft in Mitleidenschaft ziehen wird. Sie sollten es verstehen, aber auch danach handeln, und die angemessene Aktion kann nur der sich ausweitende Generalstreik sein."


Die Aussichten

Welche Aussichten hat die Bewegung? Zum erstenmal gibt es keine institutionelle Kraft, die ihr natürlicher Ansprechpartner sein könnte. Nachdem die Parteien der Regenbogenlinken im Parlament nicht mehr vertreten sind (allen voran Rifondazione Comunista) und auch große Schwierigkeiten haben, in die Bewegung einzugreifen, tut sich ein Vakuum auf, das die Demokratische Partei (PD) zu besetzen sucht. Sie hat die vergangenen Monate mit einer soften Pseudoopposition vertan, hat der Regierung umsonst die Zusammenarbeit angeboten - auf allen Feldern, von der Reform der Institutionen über Alitalia bis zur Wirtschaftskrise. Seit die Studierenden so massiv auf die Straße gehen, gibt sie sich plötzlich kämpferisch und versucht, auf der Welle der Mobilisierungen zu schwimmen.

Bei den Schülern und Studierenden greift so etwas nur kurze Zeit, beim Lehrpersonal hingegen stärker. Sehr gefährlich ist der Vorschlag der PD, ein Referendum für die Abschaffung des Gesetzes anzustrengen, denn damit würde die Mobilisierung erst einmal abgebrochen zugunsten von Verhandlungen hinter geschlossenen Türen, und der Bewegung würde ihre Spitze genommen.

Es wird deshalb in den kommenden Wochen darauf ankommen, dass die Bewegung ihre politische Unabhängigkeit bewahrt, aber auch dass sie eine Diskussion lostritt, die über die Gesetzesvorhaben der Regierung hinausgeht und die Mitverantwortung der Mitte-Links-Parteien thematisiert. Denn sie sind maßgeblich für die Reformen verantwortlich, die in den letzten achtzehn Jahren die öffentlichen Schulen und Universitäten vernachlässigt haben zugunsten der Förderung von privaten Schulen und Universitäten, vor allem katholischen.

Die PD ist aber nicht die einzige politische Kraft, die versucht, auf der Welle der Bewegung zu reiten. Es gibt auch besorgniserregende Unterwanderungsversuche durch neofaschistische Kräfte. Sie haben am 29. Oktober mit Schlägern und Ketten linke Studenten angegriffen, die sich in Rom auf der Piazza Navona zu einer Demonstration anlässlich der Parlamentsdebatte über das Gesetz versammelt hatten. Die aktiven Teile der Bewegung haben daraufhin klare antifaschistische Stellungnahmen abgegeben, aber das Problem ist ungelöst, zumal die Neofaschisten mehr oder weniger offen von der Regierung und der Polizei unterstützt und geschützt werden.

Die Regierung weigert sich rundheraus, die Forderungen der Bewegung aufzugreifen. Damit stellt sich die Frage, wie ein Rückgang verhindert werden kann, wie Teilerfolge ermöglicht werden können, die die Bewegung stärken, und wie die Bewegung auf die Gesamtgesellschaft ausgedehnt werden kann.

Im Aufruf zur ersten nationalen Versammlung der Bewegung an der Universität von Rom am 15./16. November heißt es: "Wir denken an eine Versammlung, die sich vor allem das Ziel setzt, diese außergewöhnliche Bewegung geografisch und zeitlich auszuweiten. Wir wollen über die Inhalte und Formen unseres Kampfes sprechen; wir wollen das Thema der Selbstreform nach vorn bringen; wie wir mit den Gewerkschaften und den prekär Beschäftigten zusammenarbeiten können; wie wir unsere Aktionen fortsetzen, die Stadt lahmlegen und die Mobilisierung gegen das Gesetz 133 in eine allgemeine Mobilisierung gegen die Wirtschaftskrise verwandeln können."

Die außergewöhnliche Mobilisierung der Schüler und Studierenden hat neue Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Widerstand gegen die Offensive der Rechten und des Unternehmerverbands geweckt. Die italienische Bourgeoisie kann gezwungen werden, einen Preis für die Krise zu bezahlen. Von der Ausweitung der Mobilisierung auf andere gesellschaftliche Bereiche wird es abhängen, ob es möglich ist, auf der Linken neuen gesellschaftlichen und politischen Spielraum zu gewinnen. Die Mobilisierung der Auszubildenden und die parallel laufenden Tarifkämpfe - vor allem in der Metallindustrie, die FIOM hat für den 5. Dezember einen Streik angesetzt - schaffen die Bedingungen für eine gemeinsame Aktion, für einen Generalstreik.


Die Autorin Cinzia Arruzza war Mitglied der Jugendorganisation von Rifondazione Comunista und gehört heute zu Sinistra Critica.br www.sinisstracritica.org

(Übersetzung: Angela Klein)


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.12/Nr.1, 23./24. Jg., Dez. 08/Jan. 09, Seite 16
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2009