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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1417: Am Tschernobyl-Tag erlebte die Anti-Atom-Bewegung ihr Comeback


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 - Juni 2010
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Wir sind wieder da
Am Tschernobyl-Tag erlebte die Anti-Atom-Bewegung ihr Comeback


Am 24. April demonstrierten an mehreren Standorten von Atomanlagen fast 150.000 Menschen


In Ahaus, NRW, nahmen 7.000 an einer Kundgebung teil. 120.000 Menschen ermöglichten eine geschlossene Menschenkette zwischen den Reaktoren Brunsbüttel, Brokdorf, Krümmel via Hamburg, wo es gegen das neue Kohlekraftwerk Moorburg ging. Über mehrere Tage war ein Treck aus Gorleben nach Krümmel gerollt.

Im südhessischen Biblis umzingelten über 20.000 Menschen das dortige AKW. Für Süddeutschland war dies der größte Anti-Atom-Protest seit über 20 Jahren, es kamen Menschen aus Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland, darunter besonders viele junge Menschen.

Ähnlich massiv waren die Proteste nur am 14. Oktober 1979 gewesen, als ebenfalls an die 150.000 Menschen in Bonn gegen Atomkraft demonstrierten.


MICHAEL WILK vom Arbeitskreis Umwelt (AKU) Wiesbaden sprach auf der Auftaktkundgebung in Biblis über die Erwartungen der Bewegung und ihr Verhältnis zu Rot-Grün.


Alle Atomanlagen abschalten

Liebe Anwesende, wir stehen hier heute vor dem ältesten noch laufenden AKW der Republik. Block A wurde 1974 in Betrieb genommen, Block B 1976. Viele wissen es vielleicht nicht: Es waren noch zwei weitere Blöcke geplant, die jedoch nach heftigen Protesten nicht gebaut wurden.

In Biblis stehen nicht nur die ältesten, sondern auch die pannenträchtigsten AKW. 1987 kam es in Biblis beinahe zum Gau, mit dem Risiko einer atomaren Verseuchung der gesamten Region. Über 800 meldepflichtige Ereignisse gab es seit der Inbetriebnahme.

Und trotzdem betonen wir: Es geht heute nicht nur um Biblis oder Neckarwestheim. Diese Reaktoren stehen stellvertretend für alle Atomanlagen. Alle sind brandgefährlich, alle gehören stillgelegt und abgeschaltet und zwar sofort.

Wir werden uns auch nicht mit dem Abschalten von Biblis zufrieden geben (das dann trotzdem noch lange weiterstrahlt). Es ist durchaus möglich, dass sie uns mit ein oder zwei Abschaltungen befrieden wollen. Aber das läuft nicht. Wir fordern die Stilllegung aller Atomanlagen. So wie hier in Biblis demonstrieren jetzt gerade Tausende in Krümmel, Brunsbüttel und Ahaus.

Das einzige, was an einem Atomkraftwerk sicher ist, ist der Profit der Betreiber. Pro Tag spült ein AKW ca. 1,5 Mio. Euro in seine Kassen. Während einige das schnelle Geld machen, bleibt das Risiko für alle. Im atomaren Betrieb entstehen hochgefährliche radioaktive Substanzen (z. B. Plutonium mit einer Halbwertzeit von 24.000 Jahren), die für viele hunderttausend Jahre von der Biosphäre abgeschirmt werden müssen. Pro Jahr entstehen in einem AKW radioaktive Gifte von der l200fachen Menge der Hiroshima-Bombe. Die Entsorgung ist völlig unklar.

Auch im sog. Normalbetrieb sind AKW giftig. Die Leukämierate bei Kleinkindern ist in der Nähe von AKW signifikant erhöht.

Wir stellen fest: Atomkraftwerke sind nicht sicher, sie gehören abgeschaltet, sofort und ohne jeden Kompromiss.

Ich bezeichne den Betrieb von Atomanlagen als Körperverletzung. Eine Körperverletzung, die staatlich bewacht, gefördert und gesetzlich abgesichert ist. Wer atomare Gifte produziert, die Risiken kleinredet und Folgegenerationen eine ungeklärte Entsorgung über Tausende von Jahren aufbürdet, handelt kriminell. Nicht die Menschen, die auf die Straße gehen, um diesem Treiben ein Ende zu setzen, nicht die Menschen, die in Gorleben die Castoren blockieren und die Strecken lahmlegen, sind kriminell und gewalttätig - sondern diejenigen, die die Methode "Profit ohne Skrupel" staatlich legitimieren und absegnen.

Das ist der Unterschied zwischen legal und legitim. In diesem Sinne sind heute viele hier, die sagen: Nicht nur Protest ist notwendig - sondern auch legitimer, praktischer Widerstand. Protest und Widerstand sind angesichts der momentanen Politik notwendiger denn je.

Es werden Laufzeitverlängerungen von 10, 20, bis zu 60 Jahren diskutiert - sie verlängern entsprechend das Gefährdungsdesaster. Längere Laufzeiten bedeuten, noch länger Gefahr und noch viel mehr Atommüll.

Wir versprechen hier von dieser Stelle den politisch Verantwortlichen: Nicht mit uns!


Ein fauler Deal

Wir sind heute hier erschienen, weil wir wissen: Nur der Druck der Straße ändert die Verhältnisse.

Ich möchte an dieser Stelle für die organisierenden Initiativen sagen: Wir freuen uns über die vielen tausend unterschiedlichsten Menschen, die heute hier erschienen sind. Wir sehen auch die vielen Parteifähnchen im Gewimmel. Wir wissen, dass viele von euch in den letzten Tagen viel getan haben, um das hier zu unterstützen. Das ist prima, und wir freuen uns gemeinsam.

Aber viele von uns sind misstrauisch und können sehr wohl unterscheiden zwischen den einfachen Parteimitgliedern und dem, was sich Parteispitze nennt.

Wir alle hier wissen, dass der Atomkonsens aus der Regierungszeit von Rot-Grün ein fauler Deal war, der uns heute in Verbindung mit dem jüngsten Regierungswechsel teuer zu stehen kommt. Mit Teilabschaltungen und gedrosselten Strommengen haben die AKW-Betreiber die im Vertrag angelegte Lücke genutzt, um sich an den geplanten Abschaltterminen vorbei in die jetzige Legislaturperiode zu mogeln. Die Kritik an der Kungelei mit den Energiekonzernen, die wir damals äußerten, hat sich übel bewahrheitet. Dies hat uns noch misstrauischer gemacht.

In der Vielfalt liegt unsere Kraft. Aber wir haben nicht vergessen, dass in einer Pressemitteilung des Deutschen Atomforums von 2004 das "Engagement" der rot-grünen Bundesregierung bei der Umsetzung des Atomkonsenses gelobt wurde. So laufe der Betrieb der Kernkraftwerke im Großen und Ganzen "frei von politischen Störungen". Dies gelte "insbesondere für die Gewährleistung der Entsorgung der abgebrannten Brennelemente aus den Kernkraftwerken". Eine Verstopfung der Kernkraftwerke infolge nicht abtransportierter abgebrannter Brennelemente sei "nicht mehr zu befürchten". Besonders gelobt wurde damals ein gewisser Umweltminister Trittin, durch dessen Engagement Zwischenlager an den einzelnen AKW-Standorten durchgesetzt wurden.

Wir sind nicht ohne Grund misstrauisch gegenüber Parteien und Politikern, deren Inhalte und Strategien sich stets an Machterhalt und Legislaturperioden orientieren - und nicht an dem, was einfach richtig ist. Macht korrumpiert - viel Macht korrumpiert viel! Aus diesem Grund haben die aufrufenden Initiativen und Verbände für die Aktion hier in Biblis konsequent festgelegt, Parteien keine Bühne zu bieten. Aus Fehlern lernen heißt, dass wir uns nicht mehr auf andere verlassen, sondern nur noch auf uns.


Schrittmacher

Die große Menge der Anwesenden zeigt, wie viele Menschen wieder bereit sind, auf die Straße zu gehen, aktiv zu werden und nicht den Parlamenten das Feld zu überlassen. Wir wollen keine faulen Kompromisse mehr, kein Laufzeitgekungel, es gibt nur eines - und dafür werden wir euch die Hölle heiß machen: Abschalten, und zwar sofort!

Wir, die wir hier stehen, haben Kraft und Energie, Vielfalt und Entschlossenheit.

Wir haben viel mehr Energie und Power, als die da in ihrem AKW jemals erzeugen können.

Wir als soziale und ökologische Bewegung sind die Schrittmacher in Sachen gesellschaftlicher Perspektive. Wir richten uns nicht nach den Fünf-Jahres-Maximen der Legislaturperioden und nicht nach politisch-ökonomischer Tagespragmatik. Wir sagen auch nicht nur, was Recht ist, sondern was wir für richtig halten.

Es geht in diesem Sinne nicht nur darum, gegen etwas zu sein, sondern wir sagen, wofür wir sind: Abschalten sofort ist notwendig, aber dabei lassen wir es nicht bewenden: Wir arbeiten an einem Umbau der Gesellschaft, in der Mensch und Natur zählen, nicht Ausbeutung, Vernutzung und Profitmaximierung.

Noch länger Atomkraft betreiben ist auch nach den Maximen des realen Marktes ein Fehler, behindert dies doch den notwendigen weiteren Ausbau regenerativer Energien.


Alle schwärmen von Öko

Aber es ist erforderlich, noch weiter und radikaler zu fragen: Ein wenig mehr Bioöl im Getriebe dieses Gesellschaftssystems - genügt das? Alle Großkonzerne haben sich inzwischen die Ökologie auf die Fahnen geschrieben. Sie, die uns jahrelang als fortschrittsfeindlich bezeichneten, haben von uns gelernt. Siemens, RWE, die Autoindustrie - alle, selbst einige der konservativsten Vertreter des Kapitalismus - schwärmen jetzt von Öko. Ich warte darauf, dass Krauss-Maffei den ersten ökologischen Kampfpanzer baut, der dann ökologisch sauber, mit Absegnung der deutschen Parteien, nachhaltig deutsche Interessen am Hindukusch oder sonstwo verteidigt.

Auch Wirtschaftsbosse diskutieren die Idee des "Green New Deal" und die Möglichkeit, mit Öko aus der Verwertungskrise zu kommen. Sie beklagen, von den auf unser aller Kosten in die Banken gepumpten Milliarden würde zuwenig ökologisch eingesetzt. Und schon wieder reden sie von Profitmaximierung und Umsatzsteigerung, von "höher, schneller, weiter" und von Wachstum. Das alles mit Ökosiegel.

Das ist nicht das, was wir unter ökologisch und sozial verstehen. Ökologie, wie wir sie verstehen, bricht mit den Maximen eines ungezügelten Wachstums.

Ökologie ist auch keine deutsche oder europäische Angelegenheit.

Und wir sehen den Widerstand gegen die menschenverachtenden Projekte der Energiekonzerne nicht losgelöst von der sozialen Wirklichkeit. Es geht letztlich nicht nur um Ökologie. Es geht auch darum, ob sich die Herrschaftsstrategien der Konzerne in diesem Land, in Europa, ja weltweit dauerhaft behaupten können.

Während die Profite der einen steigen, verelenden die anderen. Der Giftmüll der Industrienationen wird den Ärmsten der Welt vor die Füße gekippt, Armut und Hunger interessieren nicht, solange die Waren und Kapitalströme in die richtigen Taschen fließen.

Die Arroganz der Macht hat viele Facetten. Wir müssen und werden die Zusammenhänge sehen und begreifen uns deshalb auch als eine soziale Bewegung, die NEIN sagt zu Entmündigung und Ausbeutung.

Wir sind heute hier und im Herbst in Gorleben. Wir werden überall da sein, wo sie uns nicht haben wollen.


www.aku-wiesbaden.de
www.ausgestrahlt.de


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 25. Jg., Juni 2010, Seite 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2010