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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1518: Für eine Welt ohne Grenzen! - Karawane zum Weltsozialforum in Dakar


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3 - März 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Mali/Senegal
Für eine Welt ohne Grenzen!
Karawane zum Weltsozialforum in Dakar

Von Dieter A. Behr


"Für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung" - diese Forderungen auf die Fahnen geheftet, startete am 26. Januar eine Protestkarawane von der malischen Hauptstadt Bamako zum 11. Weltsozialforum nach Dakar. Mit dabei waren 250 Mitglieder des Netzwerks Afrique-Europe-Interact, die in rund 50 antirassistischen Basisorganisationen in Mali, Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Spanien aktiv sind. Außerdem nahmen rund 20 Sans-Papier-Aktive aus Paris teil, und nach einigen Tagen schlossen sich uns drei weitere Karawanen an, die aus Marokko, Burkina Faso und Togo gestartet waren.


Genug Gründe, aktiv zu werden...

Hintergrund und Motivation für die Organisierung dieser dreiwöchigen Protestaktion war für die beteiligten Gruppen die Überzeugung, dass den herrschenden Ungleichheitsverhältnissen zwischen Nord und Süd sowie der Repression, der Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten ständig ausgesetzt sind, nur begegnet werden kann, wenn soziale Bewegungen transnationale Kooperationen auf gleicher Augenhöhe eingehen und sich gemeinsam auf langfristig angelegte Kampagnen einlassen.

Eine simple Zahl verdeutlicht diese Notwendigkeit: Über 14.000 Menschen haben seit Mitte der 90er Jahre beim Versuch, die Festung Europa zu überwinden und in die EU zu gelangen, ihr Leben verloren. Diese unbeschreibliche strukturelle Gewalt verlangt nach einer wirksamen antirassistischen Praxis sowohl in den Herkunftsländern der Migranten als auch in den Aufnahmeländern.

Doch die Zahl der Opfer der Festung Europa ist lediglich die Spitze des Eisbergs: An den grundlegenden Nord-Süd-Asymmetrien hat sich seit dem Beginn der Unabhängigkeit der Länder des afrikanischen Kontinents nichts grundlegend verändert, ganz im Gegenteil: Der Neoliberalismus schuf mit Beginn der 80er Jahre neue, verhängnisvolle Abhängigkeiten - Ausverkauf der öffentlichen Güter, Marktöffnungen und Preisdumping, Schuldenlast und Landraub durch westliche Konzerne, gekoppelt an die Bereicherung der afrikanischen Eliten und der politischen Klasse - diese Dinge sind wichtig, wenn man den aktuellen Zustand von Ländern wie Mali begreifen will. Auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen belegt Mali den 178. Platz, dahinter kommen nur noch die Zentralafrikanische Republik, Sierra Leone, Afghanistan und der Niger. Über 60% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, 33% der Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt, gerade mal 50% der Menschen haben Zugang zu sauberem Trinkwasser.

Vor diesem Hintergrund ist auch leichter verständlich, warum ca. 3 von 12 Millionen Malier in der Arbeitsmigration im Ausland leben - in Westafrika genauso wie in Europa. Wie bedeutsam die jährlich zurückgeschickten etwa 300 Millionen Euro sind, zeigt ein simpler Vergleich: Die Summe ist weit höher als die offizielle Entwicklungshilfe, sie macht sogar mehr als die Hälfte der Exporteinnahmen Malis aus.

Und dennoch: Nicht zufällig sind die Verbindungen von europäischen zivilgesellschaftlichen Gruppen gerade nach Mali besonders stark. Denn seit dem Jahr 1991, als es zu einer demokratischen Revolution gegen den autokratisch herrschenden Präsidenten Moussa Traoré kam, ist das Land von einer vielfältigen und lebhaften demokratischen Kultur geprägt. Obwohl der amtierende Präsident Amadou Toumani Touré nicht als fortschrittlich bezeichnet werden kann, werden in Mali dennoch bürgerliche und mediale Freiheiten gewährt, von denen viele der benachbarten Länder weit entfernt sind - zweifellos eine Errungenschaft der Revolution von 1991.

Die Vielfalt der associations (Vereinigungen), die sich für soziale und politische Rechte von Rückgeschobenen oder anderen marginalisierten Gruppen in Mali einsetzen, spiegelt sich auch bei der Karawane wider: Über 40 Organisationen sind allein von malischer Seite Teil des Netzwerks Afrique Europe Interact. Eine von ihnen ist die AME, die Association des Maliens Expulsés, die Vereinigung der Abgeschobenen Malis. In Bamako beheimatet, war sie wesentlich an der Vorbereitung der Karawane beteiligt. Die AME wurde bereits 1995 gegründet. Zu ihrem Kerngeschäft gehört die Betreuung von Rückgeschobenen nach ihrer Ankunft am Flughafen in Bamako; die AME ist aber auch eine starke politische Kraft in Mali gegen Frontex und die Externalisierung der europäischen Grenzschutzpolitik.


Die Karawane startet - mit einer Aktion im Flugzeug

Unerwarteterweise begannen die Aktivitäten der Karawane bereits vor dem angekündigten Startpunkt in Bamako: Am Flughafen Charles de Gaulle wurden Teilnehmende der ersten Reisegruppe mit europäischen Aktiven Zeugen einer geplanten Abschiebung nach Mali. Spontan solidarisierten sie sich mit dem jungen Mann, der gegen seine Abschiebung protestierte; dem spontanen Akt zivilen Ungehorsams schlossen sich rund ein halbes Dutzend weiterer Passagiere an. Trotz massiver Polizeigewalt gegen die Protestierenden konnte die Abschiebung an diesem Tag verhindert werden. Auch wenn diese Abschiebung nur eine unter vielen war, wurde die Aktion von einem breiten Medienecho begleitet - eine Tatsache, die Hoffnung darauf gibt, dass die europäische Öffentlichkeit bei diesem Thema nicht mehr auf Dauer wegschauen kann und dass weitere Abschiebungen - sei es auf Linien- oder auf Charterflügen - in Zukunft nicht mehr ohne breiten Protest stattfinden können.

Die ersten Tage in Mali dienten der Akklimatisierung und dazu, die befreundeten malischen Gruppen kennenzulernen. Auf einem großen öffentlichen Platz im Stadtteil Djelibougou versammelten sich täglich die angereisten und lokalen Aktiven, um die baldige Abfahrt logistisch und politisch vorzubereiten.

Am 29. Januar brach die Karawane in vier Bussen zur ersten Station auf: die rund 400 Kilometer entfernte Kleinstadt Nioro an der mauretanischen Grenze. Nioro und der Grenzübergang zu Mauretanien steht beispielhaft für die Externalisierung der EU-Grenzschutzpolitik: Tausende Migranten, die sich auf den Weg nach Marokko, zu den Kanarischen Inseln oder in Richtung spanisches Festland gemacht hatten, wurden in Kooperation mit dem spanischen Staat bzw. der europäischen Grenzschutzagentur Frontex an diesen Ort rückgeschoben. "Frontex zwingt Flüchtlingsboote zur Umkehr an die afrikanischen Küsten, Länder wie Mauretanien oder Algerien sammeln die Insassen dann auf und setzen sie im Grenzgebiet zu Mali einfach in der Wüste aus", berichtet Emmanuel N Gallè Njah, ein Mitglied der Vereinigung der Rückgeschoben Zentralafrikas nach Mali, ARACEM, die auch Teil der Karawane ist.

Nach einer symbolischen Demonstration in der Stadt wie auch am Grenzposten gibt es abends öffentliches Kinoprogramm - direkt auf der Straße vor der Schule, in der die Karawane untergebracht ist. Das Interesse ist groß, die lokale Bevölkerung kommt mit den Angereisten ins Gespräch, es wird vielfach zwischen Französisch und Bambara, der wichtigsten Alltagssprache in Mali, hin und her übersetzt. Wie so oft entlang der Strecke zieht die Karawane auch viele Kinder an. Mehrere Karawaniers, die ein Theaterstück für die Reise vorbereitet haben, beziehen daher, so oft es geht, Kinder in ihre Theaterarbeit mit ein.

Sooft Kinder die Aktivitäten der Karawane begleiten, sooft wird auch klar, wie groß die sozialen und ökonomischen Probleme des Landes sind: Ein Großteil der Kinder hat nicht die Möglichkeit, in die Schule zu gehen - stattdessen sind sie gezwungen, ihrer Familie mit informellen Jobs über die Runden zu helfen oder zu betteln. Ein verhängnisvoller Umstand, der sich aber nicht immer so düster darstellte: Spitou Mendy, Gewerkschafter der südspanischen Landarbeitergewerkschaft SOC, kommt aus dem Senegal und war vor seiner Migration im Jahr 2003 aktiver Gewerkschafter und Lehrer in Dakar. Der 50-Jährige ergreift während der Versammlungen entlang der Strecke bis Dakar öfters das Wort um zu unterstreichen, dass in den 70er Jahren der Zustand der Schulen und Universitäten in Senegal und Mali viel besser war als heute. Die vom Westen aufgezwungenen Strukturanpassungsprogramme des IWF und der Weltbank seien wesentlich dafür verantwortlich, dass das Bildungsniveau dermaßen stark abgenommen habe. Spitou Mendy betont: "Ich fahre auf der Karawane mit, um mit meinen Brüdern und Schwestern in Mali und Senegal darüber zu diskutieren, welche unrühmliche Rolle die europäischen Länder bei der Ausbeutung Afrikas spielen." So sind es die wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeitsverhältnisse, welche entlang der Karawane immer wieder den Bogen zwischen dem afrikanischen und europäischen Widerstand spannen.


Das Recht zu bleiben und das Recht zu gehen

Die Buskarawane zieht entlang der über 1300 Kilometer langen Strecke nach Dakar weiter nach Kayes, sowie Tambakunda und Kaolack im Senegal. An jeder Station finden Veranstaltungen mit der lokalen Bevölkerung, Demonstrationen und symbolische Aktionen statt. Im Fokus steht stets das Recht zu bleiben und das Recht zu gehen. Vielfach wird von lokalen Organisationen betont, dass Landflucht und Emigration fatale Folgen hätten: Die Jungen können von der Landwirtschaft nicht mehr leben, Preisdumping und Klimawandel würden immer mehr Menschen dazu bewegen, die ländlichen Regionen zu verlassen. Gleichzeitig werden immer wieder die Rücküberweisungen der Familienmitglieder, die im Ausland leben, positiv hervorgehoben - "ohne sie könnten wir nicht überleben", gibt eine Frau bei einer Versammlung im senegalesischen Kaolack zu verstehen.

Somit ist einmal mehr klar: die lokalen Kämpfe gegen die Zerstörung der bäuerlichen Landwirtschaft, gegen Landraub und Klimawandel, gegen die Verteuerung der Lebensmittel und den Ausverkauf der öffentlichen Güter im globalen Süden müssen zusammengeführt werden mit den Kämpfen der Migration - sprich den Kämpfen für globale Bewegungsfreiheit und für Bleiberecht und Legalisierung aller Migranten.

Mit diesen Erfahrungen erreicht die Karawane am 6. Februar Dakar und das Sozialforum. Neben der Beteiligung an und Organisierung von Workshops und Diskussionen tritt das Netzwerk Afrique-Europe-Interact noch mit einer kraftvollen Demonstration zum Sitz von Frontex in Erscheinung, auf der u.a. folgende Parolen zu hören sind: "Für das Recht auf Migration! Frontex tötet die Migranten auf den Meeren, tötet dort eure Kinder! Solidarität mit den Migranten! Die migrierten Arbeiterinnen und Arbeiter halten die Wirtschaft in Europa und in den afrikanischen Länder aufrecht!"

Nicht einfach ist für viele die Zeit nach der Karawane - nach drei Wochen intensivster und kollektiv erlebter Erfahrungen fällt es schwer, sich wieder an den alten, vermeintlich eingeübten Lebensrhythmus zu gewöhnen und sich bei allem Erfolg der Karawane damit abzufinden, dass es doch bei weitem noch nicht gelungen ist, das Recht auf globale Bewegungsfreiheit durchzusetzen. Noch vieles ist zu tun...


Die Durchführung der Karawane war nicht billig - deswegen ist Afrique-Europe-Interact nach wie vor auf Spenden angewiesen. Grundsätzlich ist jede Spende willkommen - ob 10, 100 oder 500 Euro. Als Dankeschön gibt es im Frühjahr 2011 die Videodokumentation unserer Karawane. Alle Infos auf:
www.afrique-europe-interact.net.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3, 26.Jg., März 2011, S. 10
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
Telefon: 0221/923 11 96
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2011