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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1538: Großbritannien - Tories im Frontalangriff auf die Gesellschaft


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5 - Mai 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Großbritannien
Die Sprache des Klassenhasses
Tories im Frontalangriff auf die Gesellschaft

Von Alan Thornett/Billy Curtis


Mit einer Schocktherapie wollte der britische Premier David Cameron das härteste Sparprogramm in der Geschichte des Landes durchsetzen. Dagegen laufen Studierende und Gewerkschaften Sturm.


Am 26. März gingen geschätzte 250.000-400.000 Menschen gegen ein Sparpaket auf die Straße, von dem Margret Thatcher geträumt hätte. Der "Marsch für eine Alternative" fand unter der Führung des britischen Gewerkschaftsverbands TUC statt. Der hatte sich mit dieser Antwort reichlich Zeit gelassen.

In der ersten Regierungskoalition Großbritanniens seit 75 Jahren gibt unangefochten David Cameron den Ton an, er ist der ideologischste aller Tory-Führer der jüngeren Zeit und steht rechts von Thatcher.

Seine Regierung hat das größte Sparpaket (Umfang: 81 Mrd. Pfund Sterling = 91 Mrd. Euro) in der britischen Geschichte aufgelegt: 500.000 Beschäftigte stehen im öffentlichen Dienst auf der Entlassungsliste, weitere 500.000 sind dadurch im Privatsektor gefährdet; es gibt massive Kürzungen bei Gesundheit, Bildung, Verkehr, bei der Rente, bei Wohnung und Sozialem, in den kommunalen Haushalten, in Kultur und Umwelt. Öffentliche Dienste werden dereguliert und privatisiert. Der Wohlfahrtsstaat, den der Beveridge-Bericht über Sozialversicherung und Vollbeschäftigung am Ende des Zweiten Weltkriegs eingeläutet hatte, soll erledigt werden. Vor allem der öffentliche Gesundheitsdienst NHS (National Health Service), der 1940 eingerichtet wurde, soll abgeschafft und privatisiert werden.

Es sind die Armen in den Städten, vor allem in den Innenstädten, die am härtesten vom Beschluss getroffen werden, die kommunalen Ausgaben um 25% zu kürzen. Die vorgesehenen Kürzungen des Wohngelds und im sozialen Wohnungsbau werden Hunderttausende von armen Familien aus besseren Vierteln vertreiben und eine riesige soziale Säuberungswelle in Gang setzen. Die Kürzungen im kommunalen Bereich werden sich sehr bald auch in den Krankenhäusern bemerkbar machen, wenn Patienten nicht mehr entlassen werden können, weil die Kommune nichts für die Pflege tut und Krankenhausbetten dadurch blockiert werden.


Von Sesselpupsern und Schmarotzern

Weder die Tories noch die Liberalen waren mit diesem Programm in den Wahlkampf gezogen. Cameron hat bis zuletzt ein soziales Image gepflegt und betont, wie sehr er den NHS schätze. Als das Gesetzespaket dann aber im Parlament vorgestellt wurde, schrien die Abgeordneten der beiden Parteien jeden nieder, der es kritisierte, und machten Großbritanniens Verschuldung und den Zustand seiner Wirtschaft dafür verantwortlich.

Doch das ist Unsinn, im Gegenteil, sie sind froh, dass sie die Krise zum Vorwand nehmen können, um endlich das Programm durchzupeitschen, das sie schon lange auf dem Zettel haben. Einige Tories haben offen zugegeben, man dürfe nicht zulassen, das die Gelegenheit, die die Krise bietet, verpasst wird.

Ihre Sprache wird immer brutaler: Sie holen Begriffe aus der viktorianischen Mottenkiste wie die von den "Bedürftigen" und denen in der "sozialen Hängematte", die Medien verbreiten endlose Geschichten über "Schmarotzer", die auf Kosten des "hart arbeitenden Steuerzahlers" leben, und von "Wohngeldbetrügern" mit großen Familien in Luxusappartements.

Menschen, die eine Berufsunfähigkeitsrente beziehen, werden als "arbeitsscheues Gesindel" bezeichnet, die sich davor drücken, sich eine Arbeit zu suchen. Beschäftigte im öffentlichen Dienst werden als unnütze Sesselpupser beschimpft, die untätig auf übermäßig ausgestatteten Arbeitsplätzen sitzen und vergoldete Pensionen einstreichen. Sie gelten als "Ausschuss", der so schnell wie möglich "ausgemerzt" gehört. Das ist die Sprache des nackten Klassenhasses.

Und dieses reaktionäre Geschwätz wird noch mit dem lächerlichen Mantra unterlegt, die Schulden müssten zurückgezahlt werden, es gebe "keine Alternative". Das ist die Wirtschaft eines Tollhauses, und sie wird das Land wahrscheinlich noch tiefer in die Rezession führen und noch mehr Arbeitsplätze vernichten.


Die Studierenden

Das ist eine Art Schocktherapie, ein entferntes Echo des Irakkriegs. Eine Tsunamiwelle von Angriffen wurde entfesselt - mit täglich einer anderen Sau, die durchs Dorf getrieben wird.

Die Lähmung, die das Land in den ersten Monaten befallen und der Regierung sogar Umfragemehrheiten beschafft hatte (eben weil es "keine Alternative" zu geben schien), ist Ende des vergangenen Jahres jedoch aufgebrochen. Da hielten sich die TUC-Gewerkschaften noch zurück und vertrösteten auf eine Demonstration "im nächsten März". Selbst an der Basis der größeren Gewerkschaften war die Stimmung verhalten. In den meisten Industriebereichen haben die massiven Angriffe auf Löhne, Arbeitsplätze und Rente bereits stattgefunden, ohne auf großen Widerstand zu stoßen.

Die Studierenden brachen das Eis. Im November gingen sie zu Zehntausenden gegen die Verdreifachung der Studiengebühren von 3.400 auf über 10.000 Euro auf die Straße; gleichzeitig wird an den Universitäten enorm gekürzt, vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Die Bewegung der Studierenden hat sich schnell radikalisiert, schließlich besetzten sie das Parteibüro der Tories und verschafften sich damit eine unerhörte öffentliche Aufmerksamkeit. Neu war auch die massive Beteiligung der Schüler an den Aktionen der Studierenden. In einigen Fällen nahmen die Schulen geschlossen an den Demonstrationen teil - nicht zuletzt, weil die neuen Studiengebühren erst für die neuen Schulabgänger fällig werden.


Die Gewerkschaften

Am 27. November fand eine große Konferenz gegen das Sparpaket statt, einberufen von der Coalition of Resistance - der größten der drei Kampagnen der radikalen Linken gegen die Sparmaßnahmen. An der Konferenz nahmen 1300 Aktivisten teil, unter ihnen viele Schüler und Studierende. Coalition of Resistance hat die Unterstützung von kleineren Gewerkschaften wie UNITE und UCU oder auch von Kampagnen wie der People's Charter und der Kampagne "Recht auf Arbeit". Die Koalition hat die Losung ausgegeben: Alle Kürzungen müssen auf Widerstand stoßen, wir sind nicht verantwortlich für die Verschuldung des Landes; Massenproteste von Gewerkschaften, örtlichen Anti-Spar-Komitees und Nachbarschaftsorganisationen können die Regierung zum Rückzug zwingen.

Die Demonstration von 26. März hat gezeigt, dass die Gewerkschaften soviel Menschen mobilisieren können wie keine andere gesellschaftliche Kraft. Aus ganz England, Schottland und Wales sind sie herbeigeströmt, eine Demonstration, deren Kern die organisierte Arbeiterbewegung bildete. Die einzigen, die vielleicht fehlten, waren die zahlreichen Nutzer der Schwimmbäder, Bibliotheken und Jugendklubs, die jetzt geschlossen werden.

Die Presse hat sich in ihrer Berichterstattung vor allem auf die Ausschreitungen geworfen, die am Rande der Demonstration stattgefunden haben. Davon gab es zwei: eine von anarchistischen Kräften, die Zoff mit der Polizei gesucht und einige Geschäfte und Banken angegriffen haben. Die zweite war Ausdruck einer neuen Radikalisierung. So gab es eine direkte Aktion gegen Vodafone - der Konzern ist dafür bekannt, dass er Steuern hinterzieht. Diese Sorte von Aktionen wird immer beliebter und findet Nachahmer.

Die Gewerkschaften stehen vor einem Dilemma: 165.000 Arbeitsplätze im kommunalen Bereich und 50.000 Arbeitsplätze im Gesundheitswesen kommen unter den Hammer - viele davon nur wenige Tage nach der Demonstration. Die Gewerkschaften fürchten so sehr, dass mit Hilfe der gewerkschaftsfeindlichen Gesetze, die Frau Thatcher eingeführt hat, evtl. ihr Vermögen eingezogen wird, wenn sie eine härtere Gangart einschlagen, dass sie keine landesweite Streikaktion planen. Es finden derzeit nur wenige isolierte Urabstimmungen über Streiks statt. Damit lässt sich aber nichts gewinnen und die Tories nicht stoppen. Führende Vertreter der Labour Party wie auch vieler Gewerkschaften halten einen Arbeitskampf für die Sicherung von Arbeitsplätzen und öffentlichen Dienstleistungen für wahlpolitisch schädlich. Dort, wo die Labour Party in den Kommunen den Ton angibt, wird sie sogar eigene Sparprogramme auflegen.

Es ist deshalb wichtig, die TUC-Gewerkschaften zu bedrängen:

- dass sie alle Gruppen von Beschäftigten verteidigen gegen den Verlust von Lohn, Arbeitsplatz, Rente und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen;
- dass sie Bündnisse zwischen örtlichen Gewerkschaften, Nachbarschaftsorganisationen und sozialen Initiativen fördern;
- dass sie den Beschluss ihres Kongresses vom vergangenen September, eine "national koordinierte Aktion" gegen die Sparpläne durchzuführen, unverzüglich in die Tat umsetzen. Vor allem eine Kampagne zur Verteidigung der gesetzlichen Rente steht ganz oben auf der Tagesordnung.


Beide Autoren sind Mitglieder von Socialist Resistance
(http://socialistresistance.org)


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5, 26.Jg., Mai 2011, S. 12
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2011