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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1588: Bei Ver.di wird wenigstens diskutiert...


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11 - November 2011

Bei Ver.di wird wenigstens diskutiert...
Eindrücke vom 3. Bundeskongress

Von Helmut Born


Vom 17. bis 24. September fand in den Leipziger Messehallen der 3. ordentliche Bundeskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, Ver.di, statt. Über 900 Delegierte hatten über die letzten vier Jahre von Ver.di zu befinden, einen neuen Bundesvorstand und Gewerkschaftsrat zu wählen und über 1300 Anträge zu beraten.


Als erstes politisches "Highlight" stand am Eröffnungstag der Besuch des Bundespräsidenten Christian Wulff auf der Tagesordnung. Dieser betonte in seiner gut einstündigen Rede die Verdienste der Gewerkschaften in der letzten Krise, die es der Bundesrepublik erlaubt habe, so gut aus dieser herauszukommen, dass sie jetzt mit einem Aufschwung sondergleichen dastehe. Er bescheinigte den Gewerkschaften, eine Säule der Demokratie zu sein und eine herausragende Rolle beim Zusammenhalt der Gesellschaft zu spielen. Dann schloss er seine Rede mit der Warnung, an der Schuldenbremse führe kein Weg vorbei, damit hätten die Gewerkschaften sich auseinanderzusetzen.

Der Rechenschaftsbericht am Sonntag morgen erweckte den Eindruck, Ver.di sei in den vergangenen Jahren von Erfolg zu Erfolg geeilt. Weder die schlechte Entwicklung bei den Einkommen der Beschäftigten noch die nach wie vor abnehmende Zahl der Mitglieder waren eine kritischen Betrachtung wert. Lediglich die bedrückende Lage der Jugendlichen wurde erwähnt. Statt dessen wurden die starke Einkommensentwicklung und die positive Mitgliederentwicklung bei der Post hervorgehoben...


Aussprache

Frank Bsirske ging noch einmal kurz auf die gescheiterte Initiative des DGB mit dem Arbeitgeberverband BDA zur Tarifeinheit ein und stellte fest, diese sei in der Organisation nicht durchsetzbar gewesen. Deswegen sei es auch richtig gewesen, sich aus dem Projekt zurückzuziehen. Daraus habe auch der DGB auf Antrag von Ver.di die nötige Konsequenz gezogen. Er wolle aber am Prinzip der Tarifeinheit weiterarbeiten, entsprechende Initiativen würden folgen. Positiver war, dass er sich eindeutig für politische Streiks aussprach und das Recht auf Widerstand durch Blockaden gegen Naziaufmärsche betonte.

Die Delegierten verzichteten auf den großen Schlagabtausch und beschränkten sich meist auf einzelne, für sie wichtige, Themen. Eine Ausnahme bildete eine Delegierte aus Hessen, die die neue, "mäßigende" Rolle von Ver.di-Hauptamtlichen bei der Bildung von Betriebsratsregionen bei Schlecker kritisierte. Sie forderte vehement eine Beteiligung der Basis und erhielt dafür viel Beifall.

Ein Kollege prangerte die schlechte Einkommensentwicklung bei den Nahverkehrsbetrieben in Baden-Württemberg an. Daraus habe man die Konsequenz gezogen, sich aus dem TvÖD zu verabschieden und für einen eigenen Tarifvertrag zu kämpfen. Damit erhält das Thema Tarifeinheit in Ver.di einen ganz neuen Stellenwert. Nicht mehr die Konkurrenz der "Rosinenpicker" von Cockpit und Marburger Bund gefährden nun die Tarifeinheit, jetzt sind es Kollegen aus der eigenen Organisation. Vielleicht hilft der Vorgang ja, mal über die Gründe der Stärke von Konkurrenzorganisationen nachzudenken. Die schlechteste Einkommensentwicklung der EU, Arbeitszeitverlängerung und die stärkere Ausbeutung in den Betrieben gehen nicht spurlos an den Mitgliedern vorbei.

Wirkliche Höhepunkte waren die sehr kämpferischen Grussworte der internationalen Gäste: so Phillip Jennings, der Generalsekretär des Internationalen Dachverbands der Dienstleistungsgewerkschaften (UNI) oder die kolumbianische Gewerkschafterin María Baquero, die ergreifend über die Verfolgung von Gewerkschaftern in ihrem Land berichtete. Der Kongress dankte allen mit minutenlangem stehendem Applaus.

Die Wahlen zum Bundesvorstand und zum Gewerkschaftsrat endeten ohne eine wirkliche Überraschung. Im 14-köpfigen Vorstand sitzen allerdings nur noch fünf Männer - ein Ergebnis der konsequenten Politik der Ver.di-Frauen.


Lebendige Debatten

Gut drei Tage waren der Antragsberatung vorbehalten. Trotz Verlängerung um einen Tag waren die über 1300 Anträge aber auch in dieser Zeit nicht zu bewältigen. Dafür gab es zu wichtigen gewerkschafts - und gesellschaftspolitischen Fragen sehr ausführliche und gute Diskussionen. Versuche, sie durch Geschäftsordnungsanträge zu unterbinden, wurden in den meisten Fällen zurückgewiesen. In manchen Fragen zeigten sich grosse Differenzen zwischen den politischen Lagern und Fachbereichen, auch zwischen links orientierten Delegierten und Mitgliedern des Bundesvorstandes. Die Ver.di-Linke spielte bei wichtigen Debatten eine gute Rolle, konnte aber nur vereinzelt Erfolge erzielen. Dazu ein paar Beispiele:

Antrag 50: Weiterführung der Initiative für einen gesetzlichen Mindestlohn.

Ein Antrag aus Thüringen forderte die Fortführung der Initiative für 8,50 Euro; er wurde zur Annahme empfohlen; die vielen Anträge, die einen Mindestlohn von 10-12 Euro forderten, sollten als Arbeitsmaterial beerdigt werden.

Dagegen stellten die Landesverbände einen Änderungsantrag für 10 Euro Mindestlohn. An der anschließenden, sehr ausführlichen Debatte, beteiligten sich auch Mitglieder der Bundesvorstands, die dazu aufforderten, den Änderungsantrag abzulehnen. Als Kompromiss wurde mit grosser Mehrheit die Formulierung angenommen, dass "eine jährliche Überprüfung der Höhe des Mindestlohns zwingend ist. Das gilt auch für den schnellen Anstieg auf 10 Euro".

Antrag A111: Arbeitszeitpolitische Entschließung

Der von Bundesvorstand und Gewerkschaftsrat eingebrachten Antrag beschreibt die arbeitszeitpolitischen Ziele der Antragsteller, vermeidet aber die Festlegung auf eine konkrete Arbeitszeitverkürzung. Hingegen forderten verschiedene Anträge konkret eine Arbeitszeitverkürzung auf 30-35 Stunden.

Auch diese Anträge sollten zum Arbeitsmaterial wandern. Die Ver.di-Linke betrachtet die Frage der Arbeitszeitverkürzung aber als eine der wichtigsten und versuchte deshalb, wenigstens einen dieser konkreten Anträge durch zu bekommen. Das ist nicht gelungen. Trotz vieler Versuche konnte sich die Antragsberatungskomission mit ihren Empfehlungen durchsetzen, wenn auch häufig mit vielen Gegenstimmen. So bleibt den Befürwortern einer generellen Arbeitszeitverkürzung nur, sich auf den Text des Antrags 111 zu beziehen, der immerhin "die Tür für Arbeitszeitverkürzung öffnen" will.

Antrag A224: Frieden und Sicherheit weltweit

An diesem Antrag, der sich strikt gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr und für den Rückzug der Bundeswehr aus allen Kriegsgebieten aussprach, entzündete sich eine mehrstündige Debatte, die einer der Höhepunkte der Antragsberatung war. Hervorgerufen wurde die Debatte durch den Änderungsantrag eines Delegierten, die Bundeswehr dürfe sich "nur" an Einsätzen beteiligen, die mit einem UN-Mandat ausgestattet sind. Damit wurde A224 praktisch in sein Gegenteil verkehrt, weil er der Beteiligung an Auslandseinsätzen ein Tor öffnete.

In der Debatte wurde deutlich, dass mit dem Änderungsantrag gewerkschaftliche Grundpositionen aufgekündigt und zumindest mit SPD/grüner Politik kompatibel gemacht werden sollten. Vor allem Frank Bsirske sprach sich sehr deutlich für die Annahme des Änderungsantrags aus.

Letztlich entstand ein ganz neuer Antrag, der den ursprünglichen Antrag aufweichte. Zu Kriegseinsätzen wurde folgende Passage beschlossen: "Ver.di lehnt Krieg als Mittel der Politik ab. Ver.di setzt sich dafür ein, dass die Bundeswehr ausschließlich der Landesverteidigung dient. Auslandseinsätze sind vom Parlament zu beschließen und auf humanitäre Blauhelmeinsätze im Rahmen der UN-Charta zu begrenzen."


Worte und Taten

Es wurden noch manche guten Beschlüsse zum politischen Streik, zum Streikrecht bei kirchlichen Einrichtungen, zur Rente, zum Kampf gegen Nazis und zu vielen anderen Fragen gefasst.

Gefordert wurde auch ein aktiver und investiver Sozialstaat, in dem alle Menschen ein Leben in Würde und Freiheit führen können. Das hat aber nichts mit der Lebensrealität von Millionen Menschen zu tun, deren Würde tagtäglich mit Füssen getreten wird. Dieser Widerspruch führte leider nicht dazu, sich über grundlegende Alternativen Gedanken zu machen. Die Vergesellschaftung von Betrieben wurde folgerichtig nur als die letzte aller Möglichkeiten angesehen.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise wird die Auseinandersetzung der Gewerkschaften mit grundsätzlichen gesellschaftlichen Alternativen immer wichtiger. Die Praxis allerdings, sich in Worten für ein anderes Europa einzusetzen und in Taten zusammen mit den Unternehmerverbänden das bestehende Europa voranzutreiben, führt nur näher an den Abgrund heran und konterkariert viele Beschlüsse, die auf diesem Gewerkschaftstag getroffen wurden. Um diese Politik zu unterbinden braucht es andere, wesentlich basisorientierter strukturierte, Gewerkschaften.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 26.Jg., November 2011, Seite 8
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2011