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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1627: Griechenland - Eine beispiellose humanitäre Krise


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3 - März 2012
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Griechenland
Eine beispiellose humanitäre Krise

Von Sonia Mitralia


Fast zwei Jahre nach Beginn der Schocktherapie für Griechenland, verabreicht von der Europäischen Zentralbank (EZB), der Europäischen Kommission und dem Internationalen Wirtschaftsfonds (IWF), ist die Bilanz katastrophal, empörend und unmenschlich.


Zunächst einmal geben die Anstifter dieser Politik nun selbst ihr offenkundiges Scheitern offen zu. Sie bekennen sogar, dass ihre Rezepte von Anbeginn an falsch, unrealistisch, ineffizient und sogar kontraproduktiv waren. Hier ein Beispiel, es betrifft nicht eine zweitrangige Frage, sondern den Kern des Problems, die griechischen Schulden selbst: Alle Verantwortlichen für das griechische Desaster stimmen darin überein, dass ihre Politik (die mehr als drakonische Sparpolitik), selbst wenn sie zu 100% effizient wäre, die griechischen Schulden bis zum Jahr 2020 auf höchstens 120% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bringen würde (von heute 160%) - d.h. auf den Anteil von 2009, bevor das Massaker begann!

Als wenn dies noch nicht genügte, zwingen sie jedoch den Griechen - und nicht nur ihnen - weiterhin eben die Politik auf, deren Scheitern sie selbst zugegeben haben. In Griechenland sind wir inzwischen beim siebten "Memorandum" über die Sparpolitik und die Zerstörung des öffentlichen Dienstes angelangt, nachdem die ersten sechs ihre völlige Ineffizienz unter Beweis gestellt haben! Wir erleben in Portugal, in Irland, in Italien, in Spanien und fast überall in Europa die Anwendung derselben drakonischen Sparpläne. Überall führen sie zu demselben Resultat, die Wirtschaft und die Bevölkerung werden zunehmend tiefer in die Rezession getrieben.


Angriff auf die Frauen

In Wirklichkeit sind Ausdrücke wie "drakonische Sparpolitik" absolut unzureichend, um zu beschreiben, was derzeit in Griechenland geschieht. Die Löhne und die Renten wurden um 50%, in manchen Fällen sogar um 70%, gekürzt. Unter Grundschulkindern grassiert Unterernährung, der Hunger taucht vor allem in den großen Städten des Landes auf, deren Zentren nun von Zehntausenden elenden, hungrigen und zerlumpten Obdachlosen belagert sind. Die Erwerbslosigkeit trifft unter der Gesamtbevölkerung 20%, unter den Jugendlichen sogar 45% (unter jungen Frauen beträgt sie sogar 49,5%). Die öffentlichen Dienste sind aufgelöst oder privatisiert; in der Folge ist (per Regierungsentscheid) die Zahl der Krankenhausbetten um 40% gesunken, selbst eine Entbindung muss teuer bezahlt werden, den öffentlichen Krankenhäusern fehlt es an Verbandsmaterial und an grundlegenden Medikamenten wie Aspirin.

Der griechische Staat ist, im Januar 2012!, noch immer nicht fähig, den Schülern die Schulbücher des im September 2011 begonnenen Schuljahres zu verschaffen. Zigtausende Behinderte oder an seltenen Krankheiten Leidende sehen sich zu einem baldigen Tod verurteilt, weil der griechische Staat ihnen die finanzielle Unterstützung und die Medikamente gestrichen hat. Die Anzahl der Selbstmordversuche ist rasant gestiegen, ebenso die der nun ihrem Schicksal überlassenen HIV-Infizierten und Drogenabhängigen.

Millionen griechischer Frauen sehen sich nun mit Aufgaben betraut, die normalerweise der Staat durch die öffentlichen Dienste übernahm, als diese noch nicht abgebaut oder privatisiert waren. Für die Frauen folgt daraus ein wahres Martyrium: Sie sind die ersten, die entlassen werden und dazu gezwungen sind, mehr und mehr unentgeltlich zu Hause zu arbeiten und den Ausfall der öffentlichen Dienste zu kompensieren. Sie sind auch direkt vom Wiederauftauchen patriarchalischer Unterdrückung betroffen, die als ideologisches Alibi für die erzwungene Rückkehr der Frauen an den heimischen Herd dient.


Vorrang hat die Lage der Bevölkerung

Wir könnten fast unbegrenzt mit der Beschreibung der Zerrüttung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Griechenland fortfahren. Aber selbst wenn wir uns auf das beschränken, was wir gerade geschildert haben, müssen wir feststellen, dass wir es mit einer gesellschaftliche Situation zu tun haben, die vollständig der völkerrechtlichen Definition eines Not- oder Gefahrenzustands entspricht. Das Völkerrecht verpflichtet die Staaten ausdrücklich dazu, der Befriedigung der elementaren Bedürfnisse ihrer Bürger Vorrang zu geben, nicht der Rückzahlung von Schulden.

Die Völkerrechtskommission bei der UNO erklärt zur Situation des Notstands: "Wir können von einem Staat nicht erwarten, dass er seine Schulen, seine Universitäten und seine Gerichte schließt, dass er seine öffentlichen Dienste derart aufgibt, dass er seine Gemeinschaft dem Chaos und der Anarchie ausliefert, nur damit er über Geld verfügt, um seine ausländischen oder einheimischen Gläubiger zu bezahlen. Es gibt Grenzen bei dem, was man vernünftigerweise von einem Staat erwarten kann, ganz wie bei einem Individuum auch."

Unsere Position, die von Millionen Griechen geteilt wird, ist klar und lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass wir mit dem Völkerrecht übereinstimmen. Die Griechen müssen nicht Schulden bezahlen, die aus verschiedenen Gründen nicht die ihren sind.

Erstens weil die UNO und die internationalen Abkommen - die sowohl von Griechenland als auch von den Gläubigerländern unterzeichnet wurden - den griechischen Staat auffordern, vorrangig nicht die Gläubiger zu befriedigen, sondern den Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern und gegenüber den Ausländern nachzukommen, die seiner Gerichtsbarkeit unterliegen.

Zweitens weil die griechischen Staatsschulden, oder zumindest ein sehr großer Teil davon, alle Merkmale einer anrüchigen und jedenfalls illegitimen Schuld aufweisen, die das internationale Recht auffordert, nicht zurückzuerstatten. Dies ist übrigens der Grund dafür, warum alles getan werden muss, um die griechische Kampagne für ein Schuldenaudit, die versucht, den illegitimen Teil der Schulden zu identifizieren, zu befördern und nicht zu behindern (wie es der griechische Staat jetzt tut).

Unsere Schlussfolgerung ist kategorisch: Die griechische Tragödie ist weder schicksalhaft noch unlösbar. Die Lösung ist da, ein Bestandteil der Lösung ist die Ablehnung, Annullierung und Nichtbezahlung der griechischen Staatsschulden. Sie ist der erste Schritt in eine Richtung, die das Wohl eines ganzen europäischen Volkes im Auge hat, das von einer für Friedenszeiten beispiellosen humanitären Katastrophe heimgesucht wird...


Sonia Mitralia ist Mitglied des griechischen "Komitees gegen die Schulden" und Mitglied der internationalen Nichtregierungsorganisation CADTM (Comité pour l'annulation de la dette du Tiers Monde). Sie hielt die vorstehende Rede vor der Sozialen Kommission der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, die am 24. Januar 2012 in Straßburg zum Thema "Die Sparmaßnahmen - eine Gefahr für die Demokratie und die sozialen Rechte" tagte.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3, 27.Jg., März 2012, Seite 14
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2012