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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1884: Libyen drei Jahre nach den Sturz Qadhafis


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 12 - Dezember 2014
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Libyen drei Jahre nach den Sturz Qadhafis
Wo rohe Kräfte sinnlos walten

Von Bernard Schmid



Triumph war gestern. Am 15. September 2011 reisten der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy und der britische Premierminister David Cameron ins libysche Benghazi (Bengasi) und kassierten dort den Applaus der Menge. Diese spendete ihnen Beifall, weil vor allem französische und britische NATO-Truppen kurz zuvor einen maßgeblichen Beitrag zum Sturz des alten Regimes unter Muammar Al-Qadhafi geleistet hatten.


Al-Qadhafi, seit dem 1. September 1969 ohne Unterbrechung an der Macht, hatte zu dem Zeitpunkt die Kontrolle über die Hauptstadt Tripolis verloren, war jedoch noch am Leben. Er würde am 20. Oktober desselben Jahres in Syrte, seiner Geburtstadt und letzten Hochburg, von bewaffneten Rebellen aufgespürt, gelyncht und getötet werden.

Drei Jahre später steckt Libyen in einer chaotischen Situation. Viele Einwohner klagen über die galoppierende Unsicherheit aufgrund der großen Anzahl im Umlauf befindlicher Gewehre und der bewaffneten Auseinandersetzungen. Im August dieses Jahres war die Hauptstadt Tripolis wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten gewesen, weil Milizen sich am Flughafen Feuergefechte geliefert hatten und riesige Öl- sowie Benzindepots in Brand gerieten.

Damals besetzte eine Koalition aus mehreren bewaffneten Milizen unter dem Namen Fajr Libia ("Libyscher Regenbogen") die Hauptstadt mit militärischen Mitteln. Seit dem 23. August 2014, auf den Tag genau drei Jahre nach dem Sturz des Qadhafi-Regimes in Tripolis, übt sie nun die politische Kontrolle über die libysche Hauptstadt aus.


Wahlen annulliert

Heute hat diese Rebellenkoalition es nicht mehr nötig, sich bewaffnet gegen Widersacher im Raum Tripolis durchzusetzen. Am 6. November dieses Jahres annullierte das libysche Verfassungsgericht die Parlamentswahl vom 25. Juni 2014, das politischen Gegnern des Milizenbündnisses eine Mehrheit in der libyschen Nationalversammlung verschafft hatte. Das Urteil setzt einfach das alte Parlament wieder ein, das seit der vorherigen Wahl vom Juli 2012 amtiert hatte und dessen Zusammensetzung den bewaffneten Verbänden von Fajr Libia genehm war. Dem neuen Parlament hatte die Allianz aus mehreren Milizen vorgeworfen, im August dieses Jahres die Großmächte um internationale Hilfe angerufen zu haben: Sie sollten intervenieren, um den Vormarsch der bewaffneten Verbände auf Tripolis zu stoppen.

Bei den Wahlen vom Juli 2012, wie denen vom Juni 2014, handelt es sich nicht um Urnengänge, die mit denen in Europa vergleichbar wären. Bei den diesjährigen Wahlen war es organisierten politischen Kräften wie etwa Parteien verboten, als solche anzutreten. Vor zweieinhalb Jahren hatte es noch eine Mixtur gegeben: Von 200 Sitzen waren insgesamt 80 per Listenwahl besetzt worden, die unter verschiedenen Parteien ausgetragen wurde. Hingegen wurden 120 Sitze mit vordergründig "unabhängigen" Kandidaten, außerhalb von Parteien, per Persönlichkeitswahl besetzt.

Damals, am 7.7.2012, erhielt die bürgerlich-nationalistische, als liberal eingestufte "Allianz der nationalen Kräfte" bei der Parteienwahl eine deutliche Mehrheit mit 48% der abgegebenen Stimmen. Als zweitstärkste Kraft hinter ihr schnitt die den internationalen Muslimbrüdern nahestehende "Partei für Gerechtigkeit und Aufbau" ab, wurde mit 10,3% aber relativ weit abgeschlagen. Doch aufgrund der Positionen der oft sehr konservativ orientierten "unabhängigen" Abgeordneten ergab sich in vielen Fragen, insbesondere bei Themen wie Frauenrechte, regelmäßig eine proislamistische Mehrheit.

Die Neuwahl im Juni dieses Jahres hat diese Mehrheit in Frage gestellt. Da es den Parteien verboten war, Listen aufzustellen, war die Zustimmung zum neuen Parlament noch undurchsichtiger als die zum alten. Die Wahlbeteiligung war im übrigen ausgesprochen niedrig. Nur rund 630.000 erwachsene Libyer beteiligten sich real an der Stimmabgabe. Zuvor hatten sich 1,5 Millionen in die Wählerregister einschreiben lassen, knapp zwei Jahre zuvor waren es noch 2,8 Millionen gewesen.


Die politische Struktur

Diese weitgehende Abwesenheit von formal funktionierenden Parteien setzt in gewisser Weise die Funktionsmechanismen des Qadhafi-Regimes fort. Unter dem alten Regime waren politische Parteien ebenso wie unabhängige Vereine oder NGOs sowie Gewerkschaften verboten. Al-Qadhafi stellte dazu die Theorie auf, solche Organisationen würden nur "das Volk spalten", während in der angeblichen libyschen "Massenherrschaft" (so die ungefähre wörtliche Bedeutung der von ihm eingeführten Staatsbezeichnung Jamahiriya) doch das ganze ungespaltene Volk - verkörpert von ihm selbst - bereits an der Macht sei.

Zwar hatte auch Al-Qadhafi nach seiner Machtübernahme durch einen Putsch seiner Offiziersgruppe 1969 zunächst versucht, eine Staatspartei aufzubauen - die arabisch-nationalistisch inspirierte und antiimperialistisch argumentierende "Arabisch-Sozialistische Union". Doch weil die Partei sich mitunter Al-Qadhafis eigenwilligen Beschlüssen widersetzte, löste er sie 1975 ersatzlos auf.

Die praktische Konsequenz daraus war, dass die Mechanismen des Regimes - das in der Gesellschaft über keine Massenorganisation als strukturierten Ansprechpartner verfügte - weitgehend auf einer Revitalisierung alter Stammesstrukturen beruhten. Da es keinerlei organisierte, formal anerkannte Willensbildungsprozesse in Parteien, Gewerkschaften oder Staatsstrukturen gab (die Diktatur Al-Qadhafis behauptete auch, den Staat aufgelöst zu haben), wurden diese eben durch eine Vertretung der Gesellschaft mittels der tradierten Stammesverbände ersetzt. Letztere wurden zum hauptsächlichen Ansprechpartner des Regimes aufgebaut.

Obwohl die libysche Bevölkerung zu 80% in Städten und modernen Verhältnissen lebt, funktionierte sie also wie eine vormoderne Beduinengesellschaft.


Die Macht der Milizen

Das Erbe, das ein solcherart strukturiertes Regimes nach 42jähriger pausenloser Herrschaft hinterlassen hat, wirkt auch heute noch nach. In der Revolution 2011 hatten überwiegend lokale Milizstrukturen agiert, die sich jeweils entweder auf der Ebene einer Stadt, eines Stadtteils oder eines Stammesverbands (der einen urbanen Ballungsraum und umliegende Dörfer umfasst) bildeten. Sie kämpften bewaffnet gegen die Truppen des Regimes.

Nach dem Umsturz vom Spätsommer und Herbst 2011 behielten sie in den meisten Fällen nicht nur ihre Waffen, sondern bauten ihre örtliche Macht noch aus. Da Gelder an Rebellenverbände ausgeschüttet wurden - die Staatsmacht verpflichtete sich, deren Mitglieder zu bezahlen -, wuchs die Zahl der Waffenträger rasant an. Von 25.000 in den Tagen der Kämpfe gegen das Qadhafi-Regime stieg sie nach dem Umsturz bis auf 300.000.

Oberflächlich betrachtet beziehen sich die bewaffneten Verbände auf unterschiedliche Ideologien: Manche geben sich säkular und nationalistisch, andere regionalistisch, wieder andere treten mit einer islamistischen Ideologie auf und beziehen sich auf internationale jihadistische Verbände. In Wirklichkeit ähnelt sich ihre konkrete Funktionsweise vor Ort jedoch in den meisten Fällen. Zwar versucht die Staatsmacht seit nunmehr zwei Jahren, ihren Wildwuchs einzudämmen. Doch geschieht dies, indem die Milizen formal in die Streitkräfte eingegliedert werden. Und innerhalb der Armee behalten sie nicht nur ihre Waffen, sondern auch ihre jeweils eigenen Befehlshaber.


Der Geist aus der Flasche

Das alte Parlament, das seit dem 6. November wieder eingesetzt wurde, fasste auf vielen Politikfeldern reaktionäre Beschlüsse. Eine wichtige Ausnahme bildete die Verabschiedung des Dekrets vom 11. Juni 2014, das den während der Kämpfe von 2011 vergewaltigen Frauen eine offizielle Anerkennung als Kriegsopfer und Entschädigungszahlungen gewährt. Das Gesetz kam jedoch nur unter dem Druck massiver Proteste zustande, die die hohe Zahl der während des Bürgerkriegs vergewaltigten Frauen thematisierten.

Zugleich haben sich die politischen Kräfte vordergründig zwischen "proislamistischen" und "antiislamistischen" Bündnissen polarisiert, obwohl dabei auf allen Seiten die Ideologie oft nur oberflächlich aufgetragen ist. Gegen die sich islamistisch positionierenden, bewaffneten Verbände, die sich in Ostlibyen und dessen Regionalhauptstadt Benghazi festgesetzt haben, findet seit dem Frühjahr 2014 eine noch immer andauernde militärische Offensive statt. Sie wird vom General Khalifa Haftar geleitet, einem Mann, der vom ägyptischen Regime des Generals und Präsidenten Abdelfattah Al-Sissi und den USA unterstürzt wird - während der Regierungszeit Qadhafis lebte er lange Jahre in den USA im Exil, und zwar in Virginia, unweit des Hauptquartiers der CIA in Langley.

Die in manchen Kreisen aufkeimende Hoffnung respektive Befürchtung, er werde selbst die Macht übernehmen, erfüllte sich bislang jedoch nicht. Er schafft es nicht, der sich auf den Islamismus und Jihadismus beziehenden Milizen Herr zu werden. Anfang November flammten die Kämpfe um Benghazi wieder heftig auf und forderten binnen drei Tagen über 30 Tote.

Auch die internationalen Großmächte zeigen sich zunehmend besorgt über die unübersichtliche Lage in Libyen. Es lässt sich nicht behaupten, dass sie ihre Intervention derzeit als Erfolg bilanzieren.

Zumal Libyen seit zwei Jahren als Ölexporteur quasi ausscheidet und auf den Weltmärkten nicht präsent ist. Vor dem Umsturz produzierte das Land täglich 1,6 Millionen Barrel Rohöl. Im Jahresdurchschnitt 2014 fiel die Förderung auf nur noch 300.000 Barrel.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 12, 29. Jg., Dezember 2014, Seite 19
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2014


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