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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1938: Die Schlepperindustrie in Libyen


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 - Juni 2015
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Terroristen oder Unternehmer?
Die Schlepperindustrie in Libyen

Von Bernard Schmid


Sogenannte "Schlepper" für Migranten, vor allem wenn sie in und um Libyen herum aktiv sind, haben derzeit in Europa die denkbar schlechteste Presse. Frankreichs Präsident François Hollande bezeichnete sie bei einem Fernsehauftritt rundheraus als "Terroristen" - ein Begriff, der fast alle Maßnahmen zu legitimieren scheint.


Die EU-Institutionen wälzen derzeit Szenarien für militärische Aktionen, bei denen Schiffe, die für den Flüchtlingstransport über das Mittelmeer eingesetzt werden, zerstört werden sollen.

Dabei stellt sich die Frage, wer die "Schlepper" warum bekämpfen möchte. Die Figur des als "Schlepper" von Migranten tätigen Unternehmers hat nämlich ein Doppelgesicht. Auf der einen Seite verschafft er Menschen in Not eine Dienstleistung, an die sie auf anderem Wege nicht kommen können, auf der anderen Seite tut er dies aus eigennützigen Gründen. Die syrische Exilantin Maya Alkhechen erklärte dazu in einer Sendung von Günter Jauch, sie sei den Schleppern dankbar: "Mir blieb nur dieser verdammte Weg. Und jetzt wollen Sie den auch noch schließen?"


Zahlen und Fakten

Wie bei jeder Struktur, die unter den Bedingungen allgemeiner Prohibition einen "Marktzugang" schafft, versucht auch diese Unternehmergruppe, sich ein Monopol zu sichern und gleichzeitig größtmöglichen Profit zu erzielen. Wurde das "Schlepper"gewerbe in den 80er und noch in den 90er Jahren mehr oder minder als stümperhaftes Handwerk von Ortskundigen betrieben, so hat es sich längst industrialisiert und wurde gewissermaßen wirtschaftlichen Konzentrationsprozessen unterworfen.

Libyen spielt dabei eine Schlüsselrolle, und das nicht nur aus geografischen Gründen. Im Jahr 2014 kamen insgesamt 220.000 Menschen "illegal" auf dem Seeweg über das Mittelmeer in die EU, davon strandeten gut 170.000 in Italien. Von ihnen sollen rund 110.000 von libyschen Küsten aus gestartet sein. Die größten Gruppen bilden dabei syrische Kriegsflüchtlinge sowie Flüchtlinge vom Horn von Afrika: aus Eritrea, dem hypermilitarisierten, berüchtigten "Nordkorea Afrikas", und aus dem bürgerkriegszerstörten Somalia. Also Menschen aus Staaten, wo offensichtlich ist, dass sie weniger der Wunsch nach einer Anhebung ihres Lebensstandards als vielmehr der Wunsch nach schierem Überleben treibt.


Warum Libyen?

Dass viele Migranten auf ihrem Weg in die EU über Libyen reisen, obwohl etwa Tunesien näher an den europäischen Küsten liegt, hängt zunächst mit der Sperrung anderer Migrationsrouten zusammen.

Syrische Kriegsflüchtlinge flohen bis ins Jahr 2013 bevorzugt über Ägypten, von wo aus ein Seeweg über Zypern oder die griechischen Küsten in die EU führte. Doch seit dem Machtwechsel vom Juli 2013 hat der neue Präsident al-Sisi der Toleranz für syrische Assad-Gegner ein rabiates Ende gesetzt. Heute müssen sie eine Auslieferung an die Schergen des Assad-Regimes fürchten. Und Israel schriebt seit Anfang April massiv afrikanische Flüchtlinge nach Rwanda und Uganda ab.

Aber noch aus anderen Gründen ist Libyen ein beliebtes Transitland. In den Jahren der Gaddafi-Ära stand Libyen für Migranten aus dem subsaharischen Afrika zeitweilig weit offen. Nicht so sehr als Durchreisestaat, eher als Aufnahmeland, in dem sie ihre Arbeitskraft anbieten konnten. Denn Gaddafi gefiel sich einige Jahre in der Rolle eines panafrikanischen Führers. Hinzu kam aber, dass Libyer weitgehend körperlicher Arbeit entbunden waren, diese wurde in dem Ölrentenstaat mit relativ geringer Bevölkerungszahl weitgehend als "Ausländersache" betrachtet. In für Migranten schlechteren Phasen seines Regimes schickte Gaddafi sie entweder zurück, oder er schob sie auf mitunter brutale Weise ab, oder aber er ließ sie über das Mittelmeer ausreisen.

Gegenüber äußerem Druck zeigte sich Gaddafi empfindlich, dann ließ er die ins Land gerufenen Migranten oftmals fallen, oder er setzte sie als Verhandlungsmasse gegenüber den EU-Mächten ein. Als im Jahr 2008 an den Küsten von Italien und Malta erstmals 40.000 Migranten registriert wurden, von denen viele über Libyen gereist waren, und Gaddafi Besuch von Berlusconi bekam, sank die Zahl der Flüchtlinge aufgrund der dabei vereinbarten Maßnahmen auf 4500 jährlich.

Im Oktober 2010 hielt Gaddafi - ein Jahr vor seinem Tod - mit einigem Pomp in Tripolis einen "EU-Afrika-Gipfel" ab. Auch dabei ging es um Migrationskontrolle. Libyen sollte fortan alle drei Jahre 50 Millionen Euro für den Aufbau und die Schulung seiner Polizeikräfte von der EU kassieren, und diese in den Dienst der Migrationseindämmung stellen.


Kampf um internationale Anerkennung

Die heutigen politischen Akteure in Libyen treten in dieser Hinsicht oft in die Fußstapfen Gaddafis. Doch einige Dinge haben sich verschoben. Die örtliche Situation hat sich für migrantische Arbeitskräfte erheblich verschlechtert, nicht nur wegen der Bürgerkriegssituation und der darniederliegenden Ölproduktion, sondern auch wegen der rassistischen Pogrome, vor allem im Bürgerkriegsjahr 2011. Damit nahm der Ausreisedruck in Richtung Europa zu.

Doch auch das Spiel der politischen Akteure selbst hat sich gewandelt. Im Land ringen 200 Milizen und bewaffnete Gruppen um die Macht oder Parzellen davon. Entsprechend verfolgen sie Eigeninteressen, bei denen das Streben nach Finanzierungsmöglichkeiten für die jeweils eigene Miliz eine erhebliche Rolle spielt. Deswegen sind viele Milizen in das Agieren der "Schlepper"netzwerke involviert.

Diese muss man sich als fortgeschrittene transnationale Strukturen vorstellen: Strukturen in den Herkunftsländern, in Libyen und in Europa greifen dabei ineinander. Als im Oktober 2013 ein Boot vor der Insel Lampedusa kenterte und mindestens 366 Menschen in den Tod riss, unternahm die italienische Polizei eine Untersuchung über die Herkunft der Flüchtlinge. Es ergab sich, dass die meisten aus Ostafrika - Somalia oder Eritrea - stammten und zuvor, im Juli desselben Jahres, in einem Lager im südlibyschen Sebha festgehalten, gefoltert und die Frauen oft vergewaltigt worden waren. Den Männern wurde dabei Geld abgepresst, die Frauen mussten mit sexueller Dienstbarkeit "bezahlen". Die Wächter des Lagers waren gleichermaßen Somalier und Libyer. Offenkundig gibt es hier eine grenzübergreifende kriminelle Zusammenarbeit.

Zugleich buhlen politische Strukturen in Libyen in Europa um ihre Anerkennung als lokale Akteure, die für "Ordnung" und Migrationskontrolle sorgen können. 2011 wurden die ersten Folgeabkommen zwischen Libyen und Italien darüber geschlossen. Und 2013 beschloss die EU ein bedeutendes Investitionsprogramm in Libyens Polizei- und Grenzschutzkräfte.


In den Lagern

Anfang dieses Jahres kam es zu einer Verhaftungswelle "illegaler" Migranten, mehrere tausend wurden in Abschiebegefängnisse gesteckt. Von dort werden sie aber nicht unbedingt in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt, sondern oft auf unbestimmte Dauer festgehalten.

Libyen wendet weder die Genfer Flüchtlingskonvention an, noch kennt es eine gesetzliche Regelung über die Höchstdauer einer Abschiebehaft. Es herrscht reine Willkür. Das libysche Innenministerium kontrolliert offiziell 19 solcher Haftzentren. Doch eine Reihe weiterer, weniger offizieller Abschiebegefängnisse, werden von Milizen und Banden kontrolliert. Laut Berichten von Human Rights Watch oder der französischen Migrantensolidaritätsgruppe Cimade gibt es dort oft schwere Misshandlungen.

Gleichzeitig hindern die amtierenden Machthaber nicht alle Migranten an der Ausreise, denn sie ringen hauptsächlich um institutionelle und internationale Anerkennung. Die Pariser Abendzeitung Le Monde verdächtigt etwa die Westlibyen kontrollierenden Milizen, ihre eigenen Möglichkeiten zur Migrationsregulierung gegenüber den EU-Staaten herunterzuspielen, da sie damit argumentierten, es mangele ihnen an diplomatischer Anerkennung und finanziellen Mitteln. Die Zeitung zitiert Angehörige der Küstenwache, die aussagen, sie verfügten angeblich nur über vier Boote für die Kontrolle eines Küstenabschnitts von 600 Kilometern. Dabei wurden tatsächliche oder vermeintliche Angehörige der libyschen Küstenwache in den letzten Wochen unweit der italienischen Küsten angetroffen, wo sie die Rückgabe von aus Libyen ausgelaufenen Schiffen forderten.


Auf Beutejagd

Die Migranten bleiben kommerziellen Netzwerken ausgeliefert, die ihrerseits offensichtlich in Kontakt mit den örtlichen politischen Machthabern stehen. Können sie nicht ausreichend zahlen, werden sie im falschen Moment ertappt oder stehen sie aus anderen Gründen im Konflikt mit "ihren" Transportunternehmen, drohen ihnen Inhaftierung auf unbestimmte Zeit, Misshandlung und Freiheitsberaubung mit offizieller Billigung.

Die dabei zu beobachtende Entmenschlichung wird von den lokalen Machthabern nicht eingedämmt. Ein Beispiel: Wie erstmals im August 2013 bekannt wurde, nutzen Milizen in Libyens Hauptstadt Tripolis den örtlichen Zoo, um Migranten dort vorübergehend einzusperren. Der Zoo ist seit dem Bürgerkrieg für den Publikumsverkehr geschlossen, doch er wird noch immer von Tieren bewohnt.

Hier hält die Miliz von Abdel Rezag meist subsaharische Migranten fest. In den ersten 72 Stunden werden dort ihre Reisedokumente überprüft, aber auch Bluttests vorgenommen. Personen, bei denen eine Krankheit wie AIDS oder Hepatitis festgestellt wird, werden umgehend aus Libyen ausgewiesen. Die übrigen werden aufgeteilt in solche, die in Libyen Arbeit suchen dürfen, und solche, die in Abschiebezentren außerhalb von Tripolis gebracht werden. Über diese Zustände berichtete damals erstmals die Zeitung Libya Herald. Ein Jahr später wurde der Tiergarten jedenfalls immer noch auf dieselbe Weise genutzt.

Im Oktober 2013 wurde bekannt, dass ein am 10. des Monats unweit von Malta gesunkenes Flüchtlingsboot von libyschen Milizen auf hoher See beschossen worden war. Der Schiffbruch forderte 36 Todesopfer, über 200 Insassen konnten dank frühzeitigen Seenotrufs gerettet werden. Mit Schnellbooten und - glaubt man der tunesischen Seite Webdo.tn - auch mit Kriegsschiffen der Marine aus der Gaddafi-Ära hatten Milizionäre das mehrheitlich mit syrischen Kriegsflüchtlingen besetzte Boot fünf Stunden lang verfolgt.

Die französische Tageszeitung La Dépêche meinte dazu, die Schlepper, die das Flüchtlingsboot angeheuert hätten, und die Angreifer hätten zu unterschiedlichen, rivalisierenden kriminellen Netzwerken gehört. Die Angreifenden hätten Geld oder, laut Aussagen einer syrischen Flüchtlingsfrau, "Leber oder Nieren" für den Organhandel erbeuten wollen.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 30. Jg., Juni 2015, Seite 13
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2015

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