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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1961: Der "soziale Frieden" in Deutschland bröckelt


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, September 2015
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Der "soziale Frieden" in Deutschland bröckelt
Gewerkschaften in ungewohnter Rolle

Von Helmut Born


Die Verteilungskämpfe sind auch hierzulande heftiger geworden. 2014 und 2015 haben Streiks in der Bundesrepublik erheblich zugenommen - in ganz unterschiedlichen Branchen. In manchen Bereichen gab es Bestrebungen der Gewerkschaften, in die Offensive zu kommen, in anderen wehren sie sich gegen die Angriffe des Kapitals, um Schlimmeres zu verhindern. Eine wichtige Rolle spielen die Angriffe der Geschäftsleitungen ehemals staatlicher Unternehmen im Zuge der Privatisierungen und ihrer Folgen. Im folgenden sollen die wichtigsten Kämpfe und ihre Ergebnisse bzw. Zwischenergebnisse - denn längst nicht alle sind abgeschlossen - bilanziert werden.


Der Kampf der GDL

Die Auseinandersetzungen bei der Bahn, die von Mitte 2014 bis Juli 2015 andauerten, wurden durch die verschlechterten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten hervorgerufen: eine Unmenge an Überstunden und häufige Schichtwechsel sind dort an der Tagesordnung. Zentral ging es zudem um den Anspruch der GDL, für alle Mitglieder Tarifverträge abschließen zu können, also nicht nur für die Lokomotivführer. Das Forderungspaket der GDL enthielt außer einer Lohnerhöhung von 5,5% auch qualitative Forderungen, um den verschlechterten Arbeitsbedingungen entgegenzutreten. Vor allem die Forderung nach Neueinstellungen, Begrenzung von Überstunden und einer Arbeitszeitverkürzung um zwei Stunden sprach den Beschäftigten aus der Seele, traf aber zugleich die wunde Stelle des Bahnvorstands.

Tatsächlich hat die teilprivatisierte Bahn ihre Profite hauptsächlich durch permanenten Personalabbau realisiert. Nach mehreren Streiks schloss die GDL im Dezember letzten Jahres deshalb ein Zwischenabkommen mit dem Bahnvorstand, das eine Einmalzahlung vorsah und die Zusicherung enthielt, von nun an könne die GDL für alle ihre Mitglieder Tarifverträge abschließen.

Im neuen Jahr trieb die Bundesregierung die Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes voran. Der Zeitplan sah vor, dass das Gesetz im Mai verabschiedet werden sollte. Dies fasste der Bahnvorstand als Steilvorlage auf, um die GDL hinzuhalten. Aktuelle Verhandlungsstände wurden wieder in Frage gestellt oder ganz zurückgenommen. Dadurch war die GDL geradezu gezwungen, mehr Druck zu machen, was sich dann in verlängerten Streikphasen bemerkbar machte. Aber erst der unbefristete Streik im Mai öffnete die Tür zu einer für die GDL akzeptablen Lösung.


Das Ergebnis bei der Bahn

In einer Vereinbarung wurde der GDL daraufhin zugesichert, dass sie für alle ihre Mitglieder Tarifverträge abschließen könne. Die Verhandlungen über weitere Einzelheiten sollten jedoch im Rahmen einer Schlichtung mit zwei Schlichtern, dem ehemaligen Ministerpräsidenten und SPD-Mitglied Matthias Platzeck für den Bahnvorstand und dem amtierenden Ministerpräsidenten von Thüringen, Bodo Ramelow von der Linkspartei für die GDL, geführt werden. Für die Zeit der Schlichtung durfte die GDL nicht zu weiteren Streiks aufrufen (das gehört zum Schlichtungsverfahren).

Am 1. Juli wurde das Schlichtungsergebnis dann der Öffentlichkeit vorgestellt. Im einzelnen sieht es folgende Regelungen vor:

  • die Arbeitszeit wird ab dem 1. Januar 2016 um eine Stunde verkürzt;
  • die Anzahl der Überstunden wird auf 80 pro Jahr begrenzt;
  • 300 Lokomotivführer und 100 Zugbegleiter werden neu eingestellt;
  • Lokrangierführer werden genauso behandelt wie Lokomotivführer;
  • die Einkommen werden zum 1.7. um 3,5% erhöht und am 1.5.2016 nochmals um 1,6% - jeweils mit Mindestbeträgen.

Vor allem bei den Einkommenserhöhungen musste sich die GDL mit den Ergebnissen zufriedengeben, die der Bahnvorstand schon vorher mit der konkurrierenden DGB-Gewerkschaft EVG (Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft) erzielt hatte. Bei den Arbeitsbedingungen konnte die GDL aber wichtige Verbesserungen durchsetzen. Die Strategie des Bahnvorstands, die Zuständigkeit der GDL auf die Vertretung der Lokomotivführer zu begrenzen, ging nicht auf. Ganz im Gegenteil. Es wurde vereinbart, dass bei der Bahn in den nächsten fünf Jahren das Tarifeinheitsgesetz, das eigentlich am 1.7. in Kraft treten sollte, nicht angewendet wird. Pikanterweise wurde das Gesetz erst am 6.7. vom Bundespräsidenten unterzeichnet. In fünf Jahren dürfte das Bundesverfassungsgericht geklärt haben, ob das Gesetz überhaupt der Verfassung entspricht, was viele Juristen und die Rechtsstelle des Bundestags bezweifeln.

Mit diesem Abschluss konnte die GDL einen großen Erfolg feiern. Sie hat ihn gegen die geballte Macht der Bundesregierung, aller Unternehmerverbände, sogar des DGB und eines Medienkartells durchgesetzt, das vor offener und aggressiver Hetze gegen den GDL-Vorsitzenden Weselsky nicht zurückscheute.


Die Post steigert Profite

Ende dieses Jahres laufen mehrere Vereinbarungen bei der Deutschen Post aus - etwa der Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen, vor Begrenzung der Fremdvergabe usw. Der Postvorstand will das Unternehmen umkrempeln und hat im April die Gründung von 49 regionalen Gesellschaften, der DHL Delivery, bekanntgegeben. In diesen Gesellschaften soll nicht mehr der mit Ver.di für die Post abgeschlossene Tarifvertrag gelten, sondern der viel schlechtere Tarifvertrag für die Speditions- und Logistikbranche. Das bedeutet, dass Paketzusteller, die in diesen ausgegliederten Gesellschaften arbeiten, 20% weniger Lohn bekommen als die Beschäftigten bei der DHL. Um einen Grundstock an Beschäftigten dafür zu bekommen, wurde allen Paketzustellern mit einem befristetem Vertrag bei der DHL ein unbefristeter Vertrag bei DHL Delivery angeboten.

Der offene Tarifbruch war eine richtige Kampfansage an Ver.di, die bei der Post sehr gut organisiert ist. Um auf diese Konfrontation eine schnelle Antwort zu geben, beschloss Ver.di, den Ende April auslaufenden Tarifvertrag zur Arbeitszeit zu kündigen und eine Arbeitszeitverkürzung von 2,5 Stunden, von 38,5 auf 36 Stunden, zu fordern. Ende Mai lief auch der Lohntarifvertrag bei der Post aus, Ver.di forderte eine Lohnerhöhung von 5,5%. Trotz einer größeren Warnstreikwelle lehnte der Postvorstand aber sogar das Angebot von Ver.di ab, praktisch auf alle Forderungen zu verzichten, wenn er bereit wäre, die Delivery-Beschäftigten nach dem Tarifvertrag für die Post zu bezahlen.

Daraufhin erklärte die Ver.di-Fachbereichsleiterin Andrea Kocsis die Verhandlungen für gescheitert und rief einen unbefristeten Streik ab dem 10. Juni aus. An alldem waren die Mitglieder so gut wie nicht beteiligt. Weder gab es Diskussionsmöglichkeiten noch wurde eine Urabstimmung organisiert. Der ganze Arbeitskampf lag in der Hand von wenigen, meist hauptamtlichen Funktionären. So kam es, wie es kommen musste. Anfang Juli gab es erneut Verhandlungen, und das Ergebnis ist miserabel:

  • die ausgegliederten Gesellschaften bleiben bestehen und werden auf eine Personalstärke von insgesamt 20000 Beschäftigten ausgebaut;
  • die 6750 DHL-Paketzusteller behalten ihre Verträge und damit die Bezahlung nach dem Post-Tarifvertrag, die Beschäftigten in den ausgegliederten Gesellschaften werden deutlich schlechter bezahlt;
  • weitere Ausgliederungen wird es bis 2018 nicht geben;
  • der Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen wird bis 2019 verlängert;
  • es gibt minimale Lohnerhöhungen (400 Euro Einmalzahlung; 2016: 2,0% und 2017: 1,7%);
  • die Arbeitszeit bleibt unverändert bei 38,5 Stunden.

Ein Sieg sieht anders aus! Trotzdem sprach die Fachbereichsvorsitzende A. Kocsis von einem großen Erfolg. Für sie und die anderen hauptamtlichen Funktionäre scheint es wichtiger zu sein, "sozialpartnerschaftlich" zusammenarbeiten zu können, als die Interessen der Beschäftigten zu vertreten. Mit diesem Abschluss wird der Postvorstand sein öffentlich verkündetes Ziel, die Profite bis 2020 von jetzt 3 Milliarden auf 5 Milliarden Euro zu steigern, sehr gut weiterverfolgen können.


Cockpit

Der Konflikt zwischen der Lufthansa und der Pilotengewerkschaft Cockpit läuft noch. Hier wäre die Öffentlichkeit gut beraten, ihre Vorurteile über die ach so privilegierten Beschäftigten mit ihren Sonderinteressen mal hinten anzustellen und sich den Hintergrund des Konflikts näher vor Augen zu führen.

Die Lufthansa will mit der Gründung der Billigairline Eurowings den anderen Billigairlines Konkurrenz machen. Wie das geht? Ganz einfach, die Beschäftigten sollen weniger verdienen und mehr arbeiten. Das trifft auch die Piloten, aber eben nicht nur sie, sondern auch die Flugbegleiter. Ein Sprecher von Lufthansa hat es vor laufenden Kameras gegenüber Cockpit arrogant abgelehnt, das als Verhandlungsgegenstand in der Tarifrunde überhaupt zuzulassen. Das betreffe die Unternehmenspolitik, und die sei allein Sache der Geschäftsleitung.

Deshalb sah es zunächst nach neuen Streikaktionen in den Sommermonaten aus. Ende Juli legte Cockpit jedoch einen neuen Vorschlag vor. Demnach ist die Gewerkschaft laut Angaben der Lufthansa bereit, im Interesse eines gemeinsamen Bündnisses für Wachstum und Beschäftigung das durchschnittliche Renteneintrittsalter anzuheben und Forderungen nach einem neuen Vergütungstarifvertrag zunächst auszusetzen. Im Gegenzug verlangt die Gewerkschaft von der Airline, alle in Deutschland bei der Lufthansa angestellten Piloten Arbeitsplatzperspektiven zu garantieren und die "Vorbereitungen zum Ausflaggen der heutigen Cockpitarbeitsplätze" umgehend zu stoppen.


Mündige oder entmündigte Mitglieder?

Wenn wir den Verlauf der angeführten Konflikte Revue passieren lassen, dann fällt auf, dass das schlechte Ergebnis bei der Post unmittelbar damit zusammenhängt, wie sehr dort alles von wenigen Verantwortlichen von oben gesteuert worden ist.

Bei der kleinen GDL war das anders, die ist zwar vom politischen Verständnis her eher konservativ, aber die Mitglieder bestimmen sehr weitgehend was läuft. Im Gegensatz zur medial geschürten Legende vom selbstherrlichen "Gewerkschaftsboss" Weselsky, der seine Macht ausbauen will, sind die Mitglieder der GDL in Ortsgruppen organisiert, treffen sich oft und besprechen die Kampziele und Aktionsformen. Das hat auch damit zu tun, dass die GDL nur einen sehr kleinen hauptamtlichen Apparat hat und auf das aktive Engagement ihrer Mitglieder angewiesen ist.

Aber selbst bei der großen Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di gibt es auch andere Entwicklungen als die im Fachbereich der Post. Das hat der Streik in den Sozial- und Erziehungsdiensten gezeigt. Hier entscheiden die Delegiertenversammlungen der Streikenden über die Forderungen, die Arbeitskampfstrategie und das weitere Vorgehen. Eine aktive Basis, die sich nicht von oben herab regieren und leithammeln lässt, ist dafür entscheidend. Dass dieses Modell auch in Zukunft erfolgreicher sein wird als das bei der Post oder in den Industriegewerkschaften, dürfte unbestreitbar sein. Wir brauchen deshalb Gewerkschaftsführungen, die die Basis in jeder Hinsicht zu einer aktiven Kampfführung ermutigen und ihnen das letzte Wort geben.

Innergewerkschaftliche Demokratie und aktive Kampfführung sind ganz wichtige Bestandteile der Orientierung, die die gewerkschaftliche Linke als Alternative zur Sozialpartnerschaft und zur Selbstherrlichkeit von Leithammeln vorschlägt.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, 30. Jg., September 2015, S. 6
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2015

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