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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2042: Frankreich - Den Streik unterstützen heißt volltanken


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, Juni 2016
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Frankreich: Den Streik unterstützen heißt volltanken
So denken immer mehr Unterstützer der französischen Sozialproteste

Von Bernard Schmid


Ökologisch motivierte Bedenken gegen den motorisierten Individualverkehr hin oder her: Jetzt muss ein voller Autotank her und dazu noch ein paar Kanister. Denn der Streik, der am Ende der vorletzten Maiwoche in den französischen Raffinerien begonnen hat, soll möglichst schnell seine Wirkung zeigen.


Mit dem Arbeitskampf in der petrochemischen Industrie ziehen die Gewerkschaften und die sozialen Protestbewegungen nun andere Saiten auf. Er ist ein Ausweg aus dem wochenlangen Dilemma im März und April dieses Jahres, zwischen folgenlosen Latschdemos einerseits und militanten Kleingruppenaktionen und einer Orientierung auf Glasbruch andererseits wählen zu müssen.

Beide Optionen haben längst ihre engen Grenzen gezeigt. Auf Demonstrationen reagiert die Regierung von Manuel Valls ganz offensichtlich nicht, und die parlamentarische Opposition hat sie unter Rückgriff auf einen Verfassungstrick ausgeschaltet, indem sie die Vertrauensfrage gestellt hat. Andererseits kann die Militanz der Aktionen von kleinen Gruppen nicht mehr gesteigert werden, sowohl wegen der brachialen Antworten des Staatsapparats als auch wegen der Notwendigkeit, unvertretbare Gewaltübergriffe auf Personen zu vermeiden.

Am 18. Mai zündeten einige Individuen am Rande einer Spontandemonstration in Paris einen Streifenwagen an, der daraufhin ausbrannte. Eine Polizistin und ein schwarzer Beamter befanden sich zu dem Zeitpunkt an Bord. Der Polizist zückte zunächst seine Waffe, beherrschte sich jedoch und steckte sie wieder ein, obwohl er zum selben Zeitpunkt Schläge abbekam. Am 20. Mai wurde er, vor laufender Kamera zu Tränen gerührt, mit einer Auszeichnung versehen. Es ist unschwer zu erkennen, wer aus dieser mehr als fragwürdigen Aktion einiger Individuen als politischer und moralischer Sieger hervorging.

Umgekehrt spart der Staatsapparat nicht mit extrem gesteigerten Repressionsmitteln. Gegen eine Studentin, Manon, Mitglied der durchaus nicht übermäßig radikalen Jugendorganisation der PCF (Französische Kommunistische Partei), forderte die Staatsanwaltschaft Ende Mai eine fünfjährige Haftstrafe ohne Bewährung. Bei der Räumung eines besetzten Saals in Amiens hatte sie mit ansehen müssen, wie einer ihrer Freunde von Polizisten gewalttätig behandelt wurde, und spontan ein Saalmikrofon durch den Raum geworfen. Dieses fiel zu Boden, niemand wurde verletzt. Das irrsinnige Strafmaß, das die Staatsanwaltschaft forderte, führte zu Petitionen und Protestbriefen. Etliche Gewerkschaftsräume wurden polizeilich durchsucht, um im Anschluss an Demonstrationen Teilnehmer festzunehmen, so im April ein Lokal der anarcho-syndikalistischen CNT in Lille und im Mai eines der Studierendengewerkschaft SUD Etudiants in der Bretagne. Bislang hatte die Polizei die Unverletzlichkeit von Gewerkschaftsräumen noch faktisch respektiert.

Die Unterbrechung der Mehrwertproduktion, indem Transportmittel oder die Treibstoffversorgung beeinträchtigt werden, bietet nun einen geeigneten Ausweg aus dem Dilemma. Der Streik in der petrochemischen Industrie, zu dem die CGT und mancherorts auch die Basisgewerkschaft SUD-Chimie aufgerufen haben, erweist sich dabei am wirkungsvollsten. Am 24. Mai erklärte die CGT, alle acht französischen Großraffinerien würden inzwischen bestreikt. Die Staatsmacht könnte allerdings, aufgrund der strategischen Bedeutung der Petrochemie, Personal dort zur Arbeit verpflichten - wer sich dem entzieht, riskiert Haftstrafen. Deswegen werden die Raffinerien, aber auch gefüllte Treibstoffdepots, vielerorts außerdem von externen Unterstützern, Hafenarbeitern in Le Havre oder Mitgliedern der Platzbesetzerbewegung in mehreren Städten blockiert. Im Morgengrauen des 24. Mai löste die Polizei die Blockade im südfranzösischen Fos-sur-Mer auf. Gleichzeitig beschloss jedoch das Personal des Ölterminals im Hafen von Le Havre, über den 40% der Rohölimporte Frankreich laufen, mit einer Mehrheit von 95%, ebenfalls in den Streik zu treten.

Premierminister Manuel Valls ruft dazu auf, nicht "in Panik" zu verfallen und keine Hamsterkäufe zu tätigen. Genau dies zu tun, empfehlen nun mehrere Aufrufe aus der sozialen Opposition. Manche Apps für sogenannte Smartphones informieren die Öffentlichkeit darüber, wo Tankstellen noch Kraftstoff auf Vorrat haben. Im bretonischen Brest kam es zu einem Zwischenfall mit einem ebenso gereizten, wie sich selbst für den Mittelpunkt haltenden Autofahrer: Er griff am 22. Mai einen Tankstellenangestellten mit einem Baseballschläger an, um an den begehrten Stoff zu kommen. Wer von unseren Lesern nicht allzu weit von der französischen Grenze wohnt, sei also hiermit ausdrücklich eingeladen, das nächste Volltanken in Frankreich durchzuführen.

Schwerpunkte der Streikbewegung und des beginnenden Treibstoffmangels waren in der letzten Maiwoche vor allem die Bretagne und die Normandie, in Süd- und Südostfrankreich begann der Arbeitskampf da erst richtig. In Paris ist das Personal der Nahverkehrsbetriebe RATP (Bus und Metro) ab dem 2. Juni aufgerufen, die Arbeit niederzulegen.


Das Auf und Ab der Proteste

Frankreichs derzeitige massive Sozialproteste gehorchen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Diese mögen manchmal verwirrend oder schwer voraussagbar erscheinen, denn einige Besonderheiten charakterisieren diese Streik-, Sozialprotest- und Jugendbewegung im Vergleich zu früheren (1995, 2003, 2010). Dazu gehören ihre außergewöhnliche Dauer bei gleichzeitig lange Zeit ausbleibender "Zuspitzung" und ihr gemischter Charakter, was die beteiligten sozialen Gruppen betrifft. So spielten die Studierenden in der ersten Phase ab Ende Februar eine Schlüsselrolle und sind nun weitgehend von der Bildfläche der Proteste verschwunden, jedenfalls bilden sie nicht mehr den bestimmenden oder vorantreibenden Faktor wie zeitweilig im März.

Hinzu kommt die Unregelmäßigkeit ihrer Auf- und Abbewegungen. So schien die Situation zu Anfang der dritten Maiwoche von einem quantitativen Rückgang gekennzeichnet, die Bewegung schien gleichzeitig radikaler und minoritär zu werden. Doch einige Tage später nahm die Beteiligung plötzlich wieder sprunghaft zu, ohne jedoch das quantitative Niveau vom 31. März oder vom Herbst 2010 - den Demonstrationen gegen die damalige, mittlerweile vorvorletzte, Renten"reform", zu erreichen.

Am 17. Mai demonstrierten aus Anlass des sechsten gewerkschaftlichen Aktionstags in Folge in Paris laut realistischen Schätzungen zwischen 10.000 und 15.000 Menschen. Doch am 19. Mai bot sich zum siebten Aktionstag schon wieder ein anderes Bild. Die reale Teilnehmerzahl dürfte in Paris bei 25.000 Personen liegen, frankreichweit sprach die CGT zunächst von 200.000, dann von 400.000 Teilnehmenden.

Manche Beobachter vergleichen die Situation derzeit deshalb eher mit dem italienischen "schleichenden Mai" von 1969, der nach dem französischen Mai 1968 kam und sich weniger "eruptiv" entwickelte, sondern länger hinzog.


Polizeiauflauf in Paris

Eine andere Berufsgruppe wiederum demonstrierte am 18. Mai zur Mittagszeit in Paris. Allerdings nicht, um den Sozialprotest zu unterstützen...

Hierzu kamen, je nach Angaben der Polizeidienststellen einerseits, der Polizeigewerkschaften andererseits, zwischen 1.000 und 7.000 Polizisten in Paris. Auch in sechzig weiteren französischen Städten fanden Kundgebungen statt. Mehrere Polizeigewerkschaften, deren Einschätzungen und Forderungen nicht genau deckungsgleich sind, hatten dazu aufgerufen. Ihr Protest stand unter dem Motto "Contre la haine anti-flics", ungefähr: "Gegen den Bullenhass", und richtete sich gegen die militanten Auseinandersetzungen am Rande der Demonstrationen gegen das geplante "Arbeitsgesetz", die sich seit Mitte März dieses Jahres häufen.

Die Forderungskataloge wichen dabei voneinander ab. Die rechtsgerichtete, an ihrer Spitze der konservativen Partei Les Républicains (LR) nahestehende, stärkste Polizeigewerkschaft Alliance verlangte vor allem mehr Wasserwerfer und Gummigeschosse. Dagegen kritisierten die schwächere CGT-Police sowie die relativ linke, aber kleine Gewerkschaft SUD-Intérieur (SUD beim Innenministerium) die politischen Vorgaben, die dafür gesorgt hätten, dass die Ordnungskräfte eher gegen die friedliche Masse der Demonstranten statt gegen "Gewalttäter" vorgegangen seien. Diese habe man eher gewähren lassen, vielleicht auch, wie teilweise von der CGT-Police suggeriert wird, weil Agents provocateurs sich unter den "Gewalttätern" befinden könnten. Die Analysen weichen teilweise voneinander ab, wenngleich die Polizeigewerkschaften alle in mindestens einem Punkt übereinstimmen: in der Forderung nach einer auf die "Richtigen" zielenden, guten und (vermeintlich!) von politischen Hintergedanken freien Repression.

In Paris hatten die Polizisten die Place de la République, also den seit dem 31. März allabendlich eingenommenen Ort der Platzbesetzerbewegung "Nuits Debouts", symbolbewusst als Ausgangsort für ihre Demonstration am Mittwoch Mittag gewählt. Davon war vielfach ein erhebliches "Eskalationsrisiko" erwartet worden, zumal in den Banlieues verankerte Kollektive gegen Polizeigewalt dort eine Gegenkundgebung angemeldet hatten. Letztere wurde jedoch zwei Stunden vor ihrem geplanten Beginn per einstweiliger Verfügung verboten. Auf den Platz konnte nur, wer einen Polizei- oder einen gültigen Presseausweis vorweisen konnte.

Dieses Zugangsproblem zu dem Platz hatten die beiden Abgeordneten des FN in der französischen Nationalversammlung, Marion Maréchal-Le Pen und Gilbert Collard, jedoch nicht. Dank ihrer Parlamentsausweise können Abgeordnete überall Zutritt fordern, auch zu Haftanstalten. Auf dem Platz waren die beiden vielfach umworben: Auffällig viele Polizisten wollten sich für ein "Selfie" mit der jungblonden Marion Maréchal-Le Pen fotografieren lassen.

Im Vorfeld hatte der Front National auch Nichtpolizisten zur Teilnahme an der Demonstration aufgerufen, ebenso wie andere rechtsextreme Strukturen, darunter die "Jüdische Verteidigungsliga" (LDJ), die historische Verbindungen zu den rechtesten Segmenten der Polizeigewerkschaften aufweist. Auch die nationalkatholische rechtsextreme AGRIF oder "Allgemeine Allianz gegen Rassismus und für den Respekt der französischen Identität" unter Bernard Antony, ein ausgetretenes Ex-FN-Mitglied, rief dazu auf, "unsere Ordnungskräfte zu unterstützen". Letztendlich konnten jedoch keine Zivilisten auf den Platz der Auftaktkundgebung gelangen, da die uniformierten Kollegen der protestierenden Polizisten ihre Berufsausweise verlangten.


Zentrale Demo am 14. Juni

Die sieben Gewerkschafts- und Jugendverbände, die zu den Protesten aufrufen, planen mittlerweile eine frankreichweite zentrale Demonstration am 14. Juni. Dazu gibt es jedoch unter radikalen Gewerkschaftern auch kontroverse Diskussionen. Eine zentrale Demonstration, die ein Millionenpotenzial von Menschen anziehen könnte, ist natürlich ein wichtiges Datum. Sie muss auch gut vorbereitet sein. Andererseits sind manche Akteure der Auffassung, dass der Termin zu weit nach hinten gelegt sei, zumal man zwischen dem 10. Juni und dem 10. Juli massiv versuchen wird, die Bevölkerung mit der dann in Frankreich stattfindenden Fußballeuropameisterschaft zu verdummen und bei Laune zu halten. (Deswegen wurde inzwischen auch der Ausnahmezustand ein drittes Mal vom Parlament verlängert, diesmal bis zum 26. Juli.) Allerdings wird die konkrete Auswirkung natürlich davon abhängen, was bis dahin noch geschieht...

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 31. Jg., Juni 2016, S. 6
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2016

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