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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2056: Der Zerfall des neoliberalen Konsenses


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8 Juli/August 2016
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Der Zerfall des neoliberalen Konsenses...
und warum die AfD mehr davon profitiert als Die LINKE

Von Ingo Schmidt


"Das Geld erklärt dem ganzen Menschengeschlecht den Krieg"
(Pierre de Boisguillebert, 1704)  


Anderswo war Krise, in Deutschland Wirtschaftsaufschwung XXL. Die Illusion, sich von den Unbilden des Weltmarkts und der Weltpolitik abkoppeln zu können, ist mittlerweile verflogen. Zeitweise verdrängte Ängste vor dem sozialen Abstieg kommen wieder zum Vorschein. Von der AfD werden sie aufgegriffen, verstärkt und treiben den Politikbetrieb vor sich her. Der neoliberale Konsens, der kurzzeitig nach der Großen Rezession noch einmal wiederhergestellt werden konnte, zerbröselt. Dass die AfD hieraus ihre Stärke ziehen kann, liegt auch daran, dass weder Die LINKE noch soziale Bewegungen es verstanden haben, das grassierende Unbehagen am Neoliberalismus in eine mobilisierungsfähige Alternative für marginalisierte und von Abstiegsängsten geplagte Bevölkerungsschichten zu übersetzen.


Weltwirtschaft und -politik

Im November 2008 verständigten sich die Regierungen der G20-Staaten auf öffentliche Ausgabenprogramme, um den Absturz der Weltwirtschaft abzubremsen. Diese Kooperation zwischen alten kapitalistischen Zentren und aufstrebenden Wirtschaftsmächten markierte einen Bruch mit der exklusiven Politik von G7 bzw. manchmal G8, IWF und Weltbank. Sie setzte sich auch beherzt über das Dogma ausgeglichener Staatshaushalte hinweg, dass von vielen Kritikern der neoliberalen Globalisierung als Auslöser der Krise angesehen wurde.

Eine Wende zu einem international abgestimmten Keynesianismus fand allerdings nicht statt. Kaum dass die öffentlichen Ausgabenprogramme Wirkung zeigten, brach in den USA ein lähmender Streit zwischen Regierung und Weißem Haus über die weitere Ausrichtung der Haushaltspolitik aus. An dessen Ende wurde das Dogma des Haushaltsausgleichs wieder inthronisiert, unbeschadet der Tatsache, dass Versuche seiner Befolgung die Staatsverschuldung seit Jahrzehnten in die Höhe treiben.

In Ost- und Südeuropa führte die im Verlauf der Krise stark gestiegene Staatsverschuldung zu Kapitalflucht und einem neuerlichen Wirtschaftseinbruch. Anstelle eines fiskalpolitischen Gegensteuerns setzten die Gläubigerstaaten, angeführt von der deutschen Regierung, Sparprogramme durch, die in den Schuldnerstaaten krisenverschärfend wirkten.


Fragmentierung

Zugleich unterstützten die tonangebenden Kräfte in der EU Massenproteste gegen die Oligarchenherrschaft des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch zur Stärkung proeuropäischer Fraktionen der Oligarchie und brachen einen Konflikt mit der russischen, mit Janukowitsch verbündeten, Regierung vom Zaun. Dieser Konflikt fügt sich in das Bild der zunehmenden Fragmentierung des kapitalistischen Weltsystems.

Die Doha-Runde der WTO war daran gescheitert, dass eine Reihe aufstrebender Wirtschaftsmächte, insbesondere Brasilien, einer weiteren Öffnung ihrer Märkte nur im Gegenzug zur Aufgabe des Agrarprotektionismus der alten imperialistischen Zentren zustimmen wollten. Letztere starteten daraufhin Verhandlungen über transatlantische bzw. transpazifische Freihandelsabkommen. Russland und China sind von diesen Verhandlungen allerdings ausgeschlossen.

Die Tage der neoliberalen Globalisierung, in denen Russland sich als achtes Mitglied zu den erlauchten G7-Staaten zählen durfte und China in die WTO aufgenommen wurde, scheinen ihrem Ende zuzugehen. Was darauf folgt, sieht weniger nach einer kooperativen, auf den Abbau von Entwicklungsunterschieden ausgerichteten Weltordnung aus als nach der Ausweitung von Konflikten zwischen Staaten und Staatengruppen. Damit dürften auch die Konflikte in Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten samt der hiervon ausgehenden Fluchtbewegungen auf Dauer gestellt sein.

Der Weltmarkt, aus Sicht des Exportstandorts Deutschland vor allem dazu gedacht, im Inland nicht absetzbare Waren aufzunehmen, zeigt sein Doppelgesicht. In der Schuldenfalle gefangene Länder sind ökonomisch und politisch instabil. Strukturanpassungsmaßnahmen, Freihandelsverträge aber auch Krieg und Bürgerkrieg reißen beständig Menschen aus ihren sozialen Beziehungen und schaffen eine globale Reservearmee, die in den Exportzonen des Südens oder als Arbeitsmigranten im Norden ein Auskommen suchen.

Die Große Rezession wurde allerdings nicht durch die Konkurrenz verursacht, die von den Peripherien des kapitalistischen Weltsystems ausgeht, sondern im Herzen des Systems, dem US-Finanzsystem. Das "Wir-sind-die-Wirtschaftsstarken"-Gefühl wird zunehmend von der Angst angefressen, für die Schwächlinge in anderen Ländern aufkommen zu müssen. Da war zuerst die Sorge, deutsche Steuergelder würden in Griechenland verschleudert, dann die Angst, von Flüchtlingswellen überrollt zu werden. Der neoliberale Konsens zerbricht an dem Widerspruch, eigene Exportüberschüsse als Ausweis überlegener Leistungsfähigkeit anzusehen, sich aber gleichzeitig von der Konkurrenz, die von Flüchtlingen, Arbeitsmigranten und neuen Industriestandorten ausgeht, bedroht zu fühlen.


Verkehrte Welt

Im Parteiensystem war die FDP das erste Opfer des Zerfalls des neoliberalen Konsenses. Seit der Wende von der sozial-liberalen zur konservativ-liberalen Koalition 1982 hatte sie den neoliberalen Takt in Deutschland vorgegeben, es aber anderen überlassen, den entsprechenden Konsens zu organisieren. Dies gelang Kohls CDU, zuerst im Namen der "geistig moralischen Wende", und nach der deutschen Einheit mit dem Versprechen "blühender Landschaften". Nachdem diese sich im Osten als de-industrialisierte Brachen und gesamtdeutsch als Schuldenberge erwiesen, blieb es Rot-Grün überlassen, dem neoliberalen Konsens neue Kleider zu verpassen.

"New Economy" und "Neue Mitte" waren die Schlagworte, die sich allerdings schnell als ebenso hohl erwiesen wie Kohls blühende Landschaften. Nach dem Dot.com-Crash kam der neoliberale Kern der rot-grünen Koalition schnell zum Vorschein. Mit Hartz IV verprellte die SPD die treuesten ihrer Anhänger und verhalf damit der weitgehend auf Ostdeutschland beschränkten PDS zu Akivisten und Wählern, die ihr die Neugründung als gesamtdeutsche LINKE erlaubten. Die FDP blieb auch nach dem Ende der rot-grünen Koalition in der Opposition und erreichte ausgerechnet auf dem Höhe-, oder besser: Tiefpunkt der Großen Rezession Rekordwerte in Wählerumfragen. Doch mit dem Ausbruch der Euro-Krise und den damit verbundenen Ängsten erfolgte ihr Absturz von 16% im März 2009 auf 3% im März 2012. 2013 verpasste sie den Einzug in den Bundestag.

Die SPD blieb auch in Zeiten zunehmender Unsicherheit und Abstiegsängste mit dem Hartz-IV-Makel belastet. Selbst die Rente mit 67 galt eher als SPD- denn als CDU-Projekt, obwohl die SPD zu damaligen Zeitpunkt Juniorpartner im Kabinett Merkel war. Zu sehr hatte Fraktionschef und Vizekanzler Müntefering für die Erhöhung des Renteneintrittsalters getrommelt. Merkel verstand es hingegen, sich als Modernisiererin des Sozialstaats zu präsentieren, Stichwort Mindestlohn. Nachdem Hartz IV eine massive Absenkung der Lohnkosten, insbesondere für die zunehmende Zahl prekär Beschäftigter, bewirkt hatte, waren die wirtschaftlichen Kosten der Einführung eines Mindestlohns überschaubar, der politische Gewinn aber immens.


Das Dilemma der LINKEN

Mit der von der Parteirechten viel bemäkelten Sozialdemokratisierung der CDU konnte Merkel Versuche der LINKEN unterlaufen, sich als die neue Sozialstaatspartei zu präsentieren. Ob diese Versuche ohne Merkels Vereinnahmungspolitik größere Erfolge gehabt hätten, darf allerdings bezweifelt werden. Aus der Protestbewegung gegen die Hartz-IV-Gesetze hervorgegangen und frühe Unterstützerin eines Mindestlohns hat Die LINKE zwar allen Grund, sich als Sozialstaatspartei zu präsentieren. Sie steht aber vor einem strategischen Dilemma, was die Durchsetzung ihrer Politik angeht. Parlamentarische Mehrheiten für einen substanziellen Politikwechsel sind, wie die Parteirechte nicht müde wird zu betonen, auf ein rot-rot-grünes Bündnis angewiesen. Doch ist unklar, weshalb sich SPD und Grüne auf einen solchen Politikwechsel verpflichten lassen sollten, haben sie doch unter der Regierung Schröder/Fischer gerade umgekehrt den Wechsel von einer sozial-ökologischen Programmatik zur neoliberalen Sparpolitik vollzogen.

In Zeiten, in denen soziale Reformen von den besitzenden Klassen als systemgefährdende Herausforderung betrachtet werden, braucht es mehr als ausgehandelte Regierungskoalitionen, wie der linke Flügel der LINKEN nicht müde wird zu betonen. Es braucht eine soziale Bewegung, bei der die Besitzenden sich ausrechnen können, dass sie soziale Reformen weniger kosten als fortgesetzte Massenproteste oder gar Streiks.

Zwar haben sich die Gewerkschaften, insbesondere Ver.di, in den letzten Jahren wieder etwas streikfreudiger gegeben, aber gleichzeitig alles daran gesetzt, die in der Großen Rezession zu neuem Leben erweckte Kooperation mit Unternehmen und Regierung nicht herauszufordern. Diese Kooperation und die unter Rot-Grün durchgesetzten Sparmaßnahmen haben zu den Exportüberschüssen beigetragen, durch die ein erheblicher Teil der Euro-Krise auf andere Länder abgewälzt wurde. Entsprechend schwach waren Proteste gegen die Austeritätspolitik seit 2010 in Deutschland. Zwar gab es recht beachtliche Mobilisierungen gegen TTIP, diesen gelingt aber kaum die Verbindung zu den Nöten und Ängsten jener Bevölkerungskreise, die am meisten von Armut und Abstieg bedroht sind.


Integrierte Partei?

Ohne den Druck der Straße erscheint Die LINKE in der Tat als eine in das politische System der Bundesrepublik integrierte Partei. Dies erleichtert es der AfD, sich als einzig wahre Opposition darzustellen. Der Oppositionsgestus wird noch dadurch verstärkt, dass die Abschottungsforderungen der AfD auf Ablehnung bei der überwiegenden Mehrheit der Unternehmer stoßen, die nichts gegen eine zuwanderungsbedingte Ausweitung des Arbeitsangebots haben und vor allem um die Bedeutung des Exports für ihre Profite wissen.

Dass die Umdeutung sozialer Probleme in solche der Nationalität und des Glaubensbekenntnisses soziale Probleme nicht lösen kann, schadet der AfD nicht, solange sie nichts als ein Sammelbecken der Unzufriedenen ist. Dies stellt Die LINKE vor eine neue Herausforderung: Sich entweder in eine Volksfront gegen die AfD einzureihen, die es letzterer erst recht erlauben würde, sich als einzige Oppositionspartei und Stimme der vom System Ausgeschlossenen auszugeben, oder einen Weg zu finden, eine mobilisierungsfähige Antwort auf die soziale Fragen unserer Tage zu finden.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, 31. Jg., Juli/August 2016, S. 6
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2016

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