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STREIFZÜGE/018: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 45, April 2009


Streifzüge Nummer 45 / April 2009

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALT

Franz Schandl: Einlauf

Franz Schandl: Vom Schöpfen
Einwürfe jenseits des Bilderverbots

Tomasz Konicz: Kapitalismus am Abgrund

Julian Bierwirth: Ungleiche Gleichheit

2000 Zeichen abwärts
Gruppe 180°: Leere Kassen - volle Supermärkte

Peter Samol: Kreislaufprobleme
Warum Dienstleistungen als tragender Wirtschaftszweig nicht in Frage kommen

2000 Zeichen abwärts
Maria Wölflingseder (M.Wö.): Verschrottungsprämie oder Mercedes Benz?

KOLUMNE
Immaterial World
Stefan Meretz: Commons - Gemeingüter

Kai Ehlers: Kapitalismus oder Entwicklungsland?
Anmerkungen zur Typologie des nachsowjetischen Russlands

2000 Zeichen abwärts
Peter Samol (P.S.): Wir basteln eine Blase -
Eine Geschäftsidee

Andreas Exner: Chinas zweideutiger Aufstieg

Massimo Maggini: Rebellen gegen die Zukunft
Für eine Kritik der industriellen Vernunft

2000 Zeichen abwärts
Ulrich Enderwitz (U.E.): Markt

KOLUMNE
Dead Men Working
Maria Wölflingseder: Im Puff & im Krieg

Lorenz Glatz: Transformation statt Demokratie
Krise, Mitbestimmen und der Schnee der Inuits

Markus Pühringer: Kapitalismus
Das neue Opium des Volkes?

Franz Schandl: "Es ist der Glaube, der selig macht"
Insistierende Fragmente über kapitalistische Realhalluzinationen - Hypothesen

Martin Scheuringer: Ohne kritische Theorie schmeckt's besser! Replik

Ilse Bindseil: Kieslowski und die Frage der Ethik

KOLUMNE
Rückkopplungen
Roger Behrens: Motor Town

Franz Schandl: Auslauf
Das gute Leben

Raute

Einlauf

von Franz Schandl

Wenn wir vom Kapitalismus reden, wovon sprechen wir? In den letzten Monaten ist er ja in Verruf gekommen. Von links bis rechts gibt man sich ganz antikapitalistisch. Die Vorstellungen über ihn sind freilich mehr vage als präzis, mehr vulgär als analytisch. Da kann es schon vorkommen, dass hierzulande satte 90 Prozent vehement gegen den Kapitalismus sind, aber ebenso 90 Prozent die Marktwirtschaft frenetisch befürworten.

Ach, wäre sie nur gefesselt, die Marktwirtschaft, dann würde nie ein böser Kapitalismus daraus werden. So einfach könnte man das antikapitalistische Ressentiment auf seinen primitivsten Nenner bringen. Und dann treten sie auf die Gendarmen von Kapital und Arbeit, Geld und Gerechtigkeit. Stets stellen sie die Folgen, aber nie die Ursachen des Systems in Frage. Im Gegenteil, nicht nur den Wert himmeln sie an, auch ihre ideellen Werte beziehen sie aus dem bürgerlichen Universum. Sie gleichen Gefangenen einer Fiktion, sie vermögen deswegen nicht anders denken, weil sie ihrer Konstitution unkritisch gegenüberstehen.

Indes, der Kapitalismus ist nicht analysiert, wenn Wert und Ware, Arbeit und Konkurrenz bestimmt sind. Es gilt daher auch aufzupassen, dass die konzentrierte Wesensschau der Abstraktionen nicht zu einer rein scholastischen Veranstaltung verkommt. Die kategoriale Sichtung ist zwar unbedingt notwendig, sie ersetzt jedoch keine konkreten Untersuchungen der jeweiligen Lagen und Situationen. Die Verunreinigungen machen die Sache erst so richtig spannend. Diesen Herausforderungen möchten wir zukünftig mehr Aufmerksamkeit schenken. Das ist auch praktisch geboten.

Sollte der Kapitalismus zusammenbrechen, dann ist das aktuell kein Grund zum Feiern. Ohne Alternative ist das schlichtweg ein Horrorszenario. Die Entwicklung von Perspektiven ist dringlicher denn je. Ohne gesellschaftliche Transformation, die eine bewusste Transvolution sein muss, droht eine rasche Barbarisierung der Verhältnisse. Wir wollen dem Kapitalismus jedenfalls keinen Kredit geben. Wir wollen ihn nicht. Nicht Kapitalismus 2.0, sondern Kapitalismus Omega heißt der Schwerpunkt dieser Nummer. Das ist durchaus programmatisch gemeint. In diesem Sinne wünschen wir eine anregende Lektüre mit tatkräftigen Folgen.

Raute

Vom Schöpfen

Einwürfe jenseits des Bilderverbots

von Franz Schandl

In folgendem Beitrag soll das Schöpfen im Sinne von Schaffen wie Entnehmen der heutigen Praxis des Kaufens und Verkaufens gegenübergestellt werden. Wie ist direkte Vergesellschaftung denkbar? Wie können wir uns in Stoffen und Diensten aufeinander beziehen, ohne auf ein Medium, also Geld als entwickeltes Tauschmittel angewiesen zu sein? Wie kommt uns zu, was wir brauchen, ohne dafür zu zahlen?


Die Frage nach dem Jenseits des Kapitalismus ist eine brandaktuelle, keine, die irgendwo in ferner Zukunft liegt, sondern eine, die jetzt, hier und heute gestellt werden muss, um geschichtsmächtig werden zu können. Sie garantiert nichts, aber ohne sie geht gar nichts, ohne sie regiert eine fahle Illusionslosigkeit, die sich dann noch als Realismus abfeiert und doch nichts anderes darstellt als passive Affirmation.

Über Perspektive zu reden, ist freilich schwierig, begibt man sich doch auf ein Terrain, das mehr Unsicherheiten birgt als die Denkerstube. Perspektive, das hat immer etwas Handfestes und Konkretes. Als Theoretiker sollte man sich davor hüten. So muss gar nicht erst verboten werden, was wir uns selbst verbieten. Der leidige Theoretiker erscheint so des Öfteren als das bloß kritisierende Subjekt. Als fensterloses Wesen, das laut schimpft, aber eigentlich schwarzsieht, schwarzmalt und schwarze Bücher schreibt. Es übersetzt die Skepsis des Denkens in einen Pessimismus des Handelns, praktisch hält es sich nicht nur zurück, sondern gänzlich raus. Da sowieso nichts geht, ist jedes Probieren ein Griff daneben. Experimente? Da ist die Unlust größer als die Lust. So korrespondiert das kategorische Nein durch den selbstverordneten Attentismus in eigenartiger Weise mit dem Vorgefundenen, das es zu überwinden versucht.

Dass man das Denken nicht einfach herunterbrechen darf, gilt gemeinhin als Grundsatz kritischer Theorie. Indes, das zeichnet sie nicht aus, sondern enthebt sie jedweder Verantwortung. Umgekehrt, die Aufgabe besteht darin, sie herunterzubrechen, sie nicht zu belassen auf den Türmen der Erkenntnis in der Verwaltung mönchischer Orden, sondern jene als Geschenk den "Niederungen" anzubieten. Erkenntnis wird nur angenommen werden, wenn sie nicht als Besserwisserei daherkommt. Ideen haben nur dann Kraft, wenn sie viele Köpfe ergreifen und mehr noch, wenn sie Teil des Gefühls werden.

Zweifellos ist es eine zwänglerische Überforderung der Kritik, jedes Mal von ihr stante pede eine Alternative einzufordern. Es ist aber genauso eine Unterforderung, sie und sich von diesem Anspruch gänzlich zu befreien. Im Gegenteil. Zuletzt muss Kritik sagen können, was sie will, und nicht bloß, was sie nicht will. Nur aus dieser Transformation lässt sich emanzipatorische Praxis, die notwendige Energie und Kraft für den Umsturz gewinnen.

Nun denn, machen wir uns schmutzig. Malen wir aus. Das Bilderverbot ist hiermit aufgehoben. Wobei dieses Sehen keine Beschau oder gar Weltanschauung sein kann, sondern der bewusste Versuch, sich mittels Perspektive in Bewegung zu setzen und Dynamik zu erzeugen.


Äquivalenzen

Geben und Nehmen sind überhistorische Konstanten, quasi ontische Größen der menschlichen Entwicklung. Da sie allerdings heute primär als Tausch von realen oder vermeintlichen Äquivalenten erscheinen, gelten das Tauschen und mit ihm das Kaufen und Verkaufen als unwiderrufliche Tatsachen. Doch dieser Schluss ist ein Trugschluss. Geben und Nehmen sind vielmehr vom vermeintlichen Nenner des Tauschens zu befreien. Der Tausch und noch deutlicher das Geschäft beschreiben lediglich geschichtsmächtige Verknüpfungen, die sich in arroganter Weise als unhintergehbare Selbstverständlichkeit behaupten. Gerade der gesunde Menschenverstand halluziniert sich so manche Besonderheit als Allgemeinheit.

Von Tausch sprechen wir hier, wenn Geben und Nehmen als äquivalenter Stoffwechsel fungieren, wenn Reziprozität eingefordert wird. Wenn sie als feste Beziehung gleicher Werte in Erscheinung treten und ehern aneinandergeknüpft sind. Nicht jede gegenseitige Transaktion ist daher ein Tausch, sondern nur solche, wo beide Seiten als gleichwertige und gleichgültige aufeinandertreffen und den Platz wechseln. Im Akt des Tausches wird von seinen Inhalten abstrahiert und auf ein gemeinsames Quantum geronnener Arbeit, also Wert geschlossen. Ob diese Rechnung heute noch stimmig ist und aufgehen kann, ist da schon eine andere Frage. Tatsächlich orientieren wir uns aber nach wie vor krampfhaft an dieser Abstraktion.

Dass gegeben und genommen werden muss, ist eine platte Bestimmung menschlichen Daseins und Fortkommens. Es wird gegeben und genommen werden. Aber es soll nicht genommen werden, weil gegeben wird, und umgekehrt. Reziprozität ist zu überwinden. Geben und Nehmen sind aus ihrer gegenseitigen Aneinanderkettung zu befreien. Auf der Tagesordnung steht der Schritt von der negativen Vergesellschaftung der abstrakten Arbeit hin zu einer positiven Vergesellschaftung durch konkrete Tätigkeiten, die danach fragen, was gewünscht wird, und dementsprechend Güter und Leistungen bereitstellen. Das Bedürfnis gestaltete sich demnach jenseits einer heute allgegenwärtigen (wenn auch stets schwieriger zu bewerkstelligenden) In-Wert-Setzung, es wäre eine einfache Anforderung, nicht eine doppelt kodifizierte Angelegenheit. Der Wert hätte selbstredend als Prinzip ausgedient.


Entfetischisierung

In seiner Kritik am Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokraten hält Karl Marx eindeutig fest: "Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebensowenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren." (MEW 19:19-20) Es gilt: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" (MEW 19:21)

Eines der hartnäckigsten Vorurteile ist, dass Geld die Leute zu den Waren führt. Das Gegenteil ist wahr: Geld hindert am Zugriff. Die gesamte Geldwirtschaft ist schwerfällig, weil sie die Menschen von ihren Lebensmitteln trennt: "Der größte Teil der heute verrichteten gesellschaftlichen Arbeit hat keinen anderen Zweck als den abstrusen, allen Gesellschaftsmitgliedern den direkten Zugang zum stofflichen Reichtum zu versperren", schreibt Gaston Valdiva. (Zeitverschwendung Marktwirtschaft, in: Dead Men Working, S. 232) Der Kapitalismus setzt nicht auf Zuwendung, sondern auf Verknappung. Diese kann bloß mit Geld durchbrochen werden. Allen Waren ist eine Geldsperre eingebaut, wo nur solche Zugang finden, die den entsprechenden Preis entrichten können. Aneignung setzt Zahlung voraus.

Worum es in einer zukünftigen Gesellschaft geht, das ist die Aufhebung der Zirkulation als eigenständige Sphäre, ihre Rücknahme in eine profane und sinnliche Distribution von Gütern. "Die tatsächliche Abschaffung der Zirkulation müsste logischerweise identisch sein mit der Abschaffung des Geldes und der Institutionen des Marktes überhaupt, schreibt Robert Kurz. (Der Kollaps der Modernisierung, Frankfurt am Main 1991, S. 78)

Das Zeitalter bewusster Entschlüsse, das steht erst bevor. Was brauchen die Leute? Was möchten sie? Was könnte notwendig sein? Was sinnvoll? Jedem und jeder nach seinen und ihren Bedürfnissen hieße dann, dass ich etwas bekomme, ohne unmittelbar etwas Äquivalentes dafür aufbieten zu müssen. Meine Eingabe wird nicht an meiner Herausnahme gemessen. Menschen werden als soziale Wesen anerkannt, die von den anderen ihrer Gattung zu schützen und zu hegen sind, auf dass sie sich entfalten und so ebenfalls adäquate und gesellige Beiträge einbringen können. Und wollen. Ohne Zwang. Der "Umweg" (Marx) über die Abstraktifizierung von Arbeit würde verschwinden. Denn die Frage nach der Leistbarkeit, also der Zwang zur freiheitlichen Kostenfrage, müsste in einer emanzipierten Assoziation durch Ergänzungsfragen ersetzt sein: "Was will ich?" "Was noch?" Dies wird dann bei den Entnahmestellen geholt oder zugestellt. Unvorstellbar? Warum?

Was ansteht, ist eine Entfetischisierung des Stoffwechsels, was heißt: zu Gütern zu kommen, ohne sie kaufen zu müssen. Nicht Geld gilt es aufzustellen, sondern einzig und allein die Produkte und Leistungen, Geräte und Zusprüche zur Verfügung zu stellen, um ein Leben in Wohlversorgtheit führen zu können. Nichts hätte mehr rentabel oder geschäftsfähig zu sein, alles stünde für sich. Man stelle sich nur vor: Nahrung um des Essens willen, Bücher um des Lesens willen, Bauten um des Wohnens willen. Kein Gedanke würde mehr verschwendet werden, ob ein Produkt oder eine Leistung am Markt bestehen kann, das wäre kein Kriterium. Insbesondre hätten Menschen sich nicht mehr zu verdingen, um sich auf etwas zu beziehen.

Aufbauend auf einer kooperativen und solidarischen Grundstimmung, haben wir es sodann mit Menschen zu tun, die nicht als Konkurrenten gegeneinander antreten. Zuversicht, die auf sozialer Geborgenheit aufbaut, lässt Versorgung wie Verantwortung nie abreißen. Sie besagt, dass es selbstverständlich ist, beizutragen wie zu entnehmen. Ich bin abhängig, aber ich werde nie abgehängt. Erst hier und so kann wahre Souveränität entstehen. "Nur der ist froh, der geben mag", singt der Bettler in Goethes Faust. (Vers 857, Werke, Band 3, München 1986, S. 34) Geben kann freilich nur der, dem auch gegeben wird. Produziert wird für die konkrete Allgemeinheit, nicht für eine abstrakte des anonymen Geldes.


Abschaffungen

Geldverrichtung meint Zeitvernichtung. Der Unnötigkeiten sind viele: Zahlung, Rechnung, Kontrolle, Kontoführung, Buchhaltung, Besteuerung, Bezuschussung, Bewerbung - wir stecken im Geldverkehr, er ist der eigentliche Stoffwechsel, obwohl er diesem doch nur dienen soll. Die Zeit, in der wir Angebote vergleichen und selbst Angebote legen, nicht zu vergessen. Und Geld muss gehütet werden. Zu seiner Sicherheit benötigt es Wachpersonal, Tresore, Panzerwägen, Überwachungskameras, Geldautomaten, Alarmanlagen u.v.m. Nichts scheint schützenswürdiger.

Der Großteil der heutigen Arbeiten besteht aus Tätigkeiten, die unmittelbar mit dem Verrechnungswesen zu tun haben und somit an einer von Kapital (Zahlung) und Staat (Besteuerung, Bezuschussung) geschaffenen Notwendigkeit hängen. Dieser Teil dehnt sich nach wie vor aus, denken wir etwa an die rasante und voluminöse In-Preis-Setzung von Gesprächen durch Mobiltelefone. Während Kosten und Arbeitsverausgabung zur Herstellung der Produkte sinken, steigen die Aufwendungen, sie zu bewerben, zu verkaufen, zu besteuern - materiell wie finanziell! Nicht nur, dass eine Unzahl von Berufen sich ausschließlich damit beschäftigt, auch alle anderen Kopf- und Handarbeiter sind permanent am Kalkulieren und Rechnen. Es ist uns obligat. Nicht nur beim Ein- und Verkaufen, die ganze "Lebensplanung" veranstaltet sich als Kette von Kostenrechnungen. Immer wieder gilt es die bange Unfrage zu stellen: Können wir uns das leisten?

Viele Institutionen fungieren hauptsächlich oder zumindest partiell für den Geldfetisch: Banken und Versicherungen, Steuerberatungskanzleien und Mietervereinigungen, Gewerkschaften und Unternehmerverbände. Interessensvertretungen geht es in erster Linie um das Geld ihrer Klientel. Auch die Mehrzahl der staatlichen und öffentlichen Verwaltungstätigkeiten dient direkt dem Geldverkehr. Bei den Bürokratien handelt es sich um Geldumleitungsbehörden, geschuldet dem seltsamen Umstand, dass, ließe man den Markt alleine fuhrwerken, die unsichtbare Hand die Gesellschaft schon erschlagen hätte. Kurzum: Nicht nur die Produktion und Zirkulation, auch die Verwaltung ist zu demonetarisieren. Viele Sektoren des Sozial- und Rechtsstaats wären zu streichen.

Schon Marx bemerkte, dass unter der Herrschaft des Kapitals eine "Überzahl jetzt unentbehrlicher, aber an und für sich überflüssiger Funktionen" (MEW 23:552) gegeben ist. Alles, was mit sekundärem, also monetärem Rechnungswesen zu tun hat, d.h. mit geschäftlicher Tätigkeit im engeren Sinn, wird fallen, ganze Berufe und Sparten sind abzuschaffen und man sollte diese auch beim Namen nennen: die Steuerberater, die Verkäufer, die Bankangestellten, die Versicherungsagenten, die Geldtransporteure, die Werbefritzen, die Schuldeneintreiber, die Mahnverrechner. Etc., etc., etc.

Rechnungen der Zukunft haben Rechnungen über Materialien und Dienste zu sein, nicht über Kosten derselben. "Denken wir uns die Gesellschaft nicht kapitalistisch, sondern kommunistisch, so fällt zunächst das Geldkapital ganz fort, also auch die Verkleidungen der Transaktionen, die durch es hineinkommen. Die Sache reduziert sich einfach darauf, dass die Gesellschaft im voraus berechnen muss, wie viel Arbeit, Produktionsmittel und Lebensmittel sie ohne irgendwelchen Abbruch auf Geschäftszweige verwenden kann, die, wie Bau von Eisenbahnen z.B. für längere Zeit, ein Jahr oder mehr, weder Produktionsmittel noch Lebensmittel, noch irgendeinen Nutzeffekt liefern, aber wohl Arbeit, Produktionsmittel und Lebensmittel der jährlichen Gesamtproduktion entziehn. In der kapitalistischen Gesellschaft dagegen, wo der gesellschaftliche Verstand sich immer erst post festum geltend macht, können und müssen so beständig große Schwierigkeiten eintreten."(MEW 24:316-317)

Die Liste fulminanter Abschaffungen und Reduzierungen wäre jedenfalls eine lange. Das hätte weitreichende Folgen: Exemplarisch würde der Energieverbrauch (Erdöl/Erdgas/Strom) sinken, ebenso der Konsum an Pharmazeutika. Und wenn der Mobilitätszwang fiele, gingen die Verkehrsunfälle sukzessive zurück, das hieße wiederum weniger Chirurgen und weniger Rehabilitationen. Weniger Flugkilometer bedeuten weniger Lärm, weniger Abgase, weniger Klimaerwärmung. Und so weiter und so fort. Selbst im Produktionsbereich würde sich viel Arbeit verflüchtigen. Man brauchte nicht nur kein Geld mehr zu drucken, auch das Reklamematerial (das einige Tage nach der Produktion im Papiercontainer landet) wäre überflüssig. Selbst die selige Autoindustrie würde in überschaubaren Kooperativen einen Bruchteil der Fahrzeuge ausstoßen, die aber zweifellos um vieles besser wären als die heutigen Gefährte.

Wir wollen also die Leute um ihre Jobs bringen? Genau das!! Durch ein Transformationsprogramm eminenter Abschaffungen könnten in einigen Durchgängen wahrscheinlich mehr als drei Viertel der Arbeiten einfach eingespart und entsorgt werden, ohne dass wir etwas verlieren. Einerseits würde viel Kraft und Energie für die Individuen frei werden, andererseits würden die Belastungen von Mensch und Umwelt abnehmen. Der von diversen Schwachsinnigkeiten befreite Alltag wäre dann tatsächlich ein anderer. Es wäre ein Aufatmen, zweifelsfrei.

Emanzipation setzt eine Unzahl von Abschaffungen voraus, die vor allem eins gewährleisten sollen: disponible Zeit, die nicht unter dem Druck der existenziellen Absicherung steht. Jene ist geradezu die Bedingung des Kommunismus. Er kann seine Dynamik und Möglichkeiten erst entfalten, wenn die Notwendigkeiten und Pflichten bloß einen unbeträchtlichen Aufwand erfordern, das Leben somit nicht unter dem Diktat des Überlebens steht. "Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. (...) Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann." (MEW 25:828)

Die Freiheit kann nur so groß sein, wie die Notwendigkeit klein ist. Darin besteht die Aufgabe der Emanzipation, in der Befreiung von Notwendigkeiten, nicht in der Einsicht in diese, wie Hegel (Enzyklopädie, Werke 8, Frankfurt am Main 1986, S. 288 ff.) und nach ihm auch Engels (MEW 20:106) es noch nahelegten. Freilich werden die Notwendigkeiten nie ganz verschwinden und es werden auch in Zukunft Regelungen, ja sogar Verpflichtungen auszuhandeln sein.


Formlose Form

Das Herstellen, Weiterreichen und Bekommen von Gütern (materiellen wie immateriellen) ist in formloser Form zu bewerkstelligen. Das Hin und Her hat keine äußeren Zweckbestimmungen, schon gar nicht welche in Wert und Tausch. Freiheit meint Freiheit vom Markt. "Wir machen keine Ware, wir machen nur Geschenke", sagte Bertolt Brecht (Baal). Das Geben und Nehmen ist von jeder fetischistischen Halluzination äquivalenter Arbeitsquanta zu befreien. Vielmehr geht es um ein gemeinsames Schöpfen, ein Begriff der beides, Geben und Nehmen, in sich zusammenfasst.

Bruch mit dem Fetischismus als dominierende Größe des Lebens heißt, dass kreative Individuen die Götzendiener (sei es für Gott oder Geld) als menschlichen Grundtypus ablösen. Schöpfung wird nicht länger ausgelagert, in ein Jenseits oder in einen Starkult projiziert. Sie wird reingeholt ins Leben. Der künstlerische Akzent des Terminus ist hier durchaus mehr als eine aromatische Duftnote. Tatsächlich werden sich die kreativen Aspekte der Tätigkeiten erhöhen. Auch die Produkte wären dann mehr individueller als serieller Natur. Da der Zwang zum Geldverdienen, zu Effizienz und Rationalisierung Geschichte ist, wird der Druck auf die Menschen schwinden.

Schöpfen wird verstanden als Kreieren und Schaffen, als Weitergeben und Entnehmen, Gebrauchen und Verzehren. Diese Vieldeutigkeit soll festhalten, dass Schöpfen als Aktion und Transaktion, als Habe und Konsumtion in einem zu verstehen ist. Geben und Nehmen wären in einem Gesamtprozess des Schöpfens aufgehoben. Schöpfen wäre somit ein unendlicher Prozess der Selbstschöpfung, die sich verändernd stets sich neu erschafft. Sie kennt individuelle wie kollektive Momente. Schöpfen funktioniert nicht auf der Ebene von Gleichungen und Messungen, sondern auf qualitativen Zueignungen. Als große Schenkung.

Schöpfung hat zweifelsfrei was von einer ultimativen Anmaßung, sie ist der Superlativ der Selbstermächtigung. Wobei der englische Begriff Empowerment hier günstiger wäre, da er nicht nach Selbstherrschaft und Ausnahmezustand riecht. Schöpfung ist auch nicht mit Verfügungsgewalt zu übersetzen. Fügung und Gewalt sind nicht Ziele emanzipatorischen Lebens, im Gegenteil, es soll nicht besessen, befohlen und verfügt, sondern solidarisch kooperiert werden. Voraussetzung dieser Selbstbestimmung sind Bedürfnis und Motivation. Verträglichkeit ist apriorisch gegeben, muss nicht durch gesonderte Rechtsakte extra konstituiert werden.

Bisher galt: "Was der Käufer einer Ware mit derselben anfangen will, ist dem Verkäufer durchaus gleichgültig." (MEW 24:219) Als Käufer und Verkäufer, als Geld- und Warenbesitzer sind sich die Menschen einander herzlich egal. Diese Gleichgültigkeit ist Folge der Verdinglichung und Verhältnisse. Eben weil wir uns sachlich und nicht freundschaftlich in Beziehung setzen und quantifizierende Abgleichungen (Geschäfte) uns leiten. Eigennutz ist als Vor- und Nachteil codiert und wird auch so akzeptiert. Dieser unerträgliche Egoismus der Gleichgemachten sollte freilich nicht mit Individualismus verwechselt werden. Schon Oscar Wilde, und der war wohl der Prototyp eines Individualisten, hat diese Differenz treffend herausgearbeitet: "Der Individualismus wird ferner uneigennützig und ungeziert sein", schrieb er 1891 in "Der Sozialismus und die Seele der Menschen". (Zürich 1982, S. 65)

Künftig soll daher gelten: Die, die den Mantel geschneidert und genäht haben, wollen, dass denen, die den Mantel tragen, warm ist, das Kleidungsstück gefällt, es bequem sitzt und ganz einfach Freude macht. Was sonst? Die, die einen Apfelbaum pflanzen, wollen, dass die geernteten Früchte den anderen schmecken, dass sie gelobt werden für die Pflege. Was denn sonst? Der, der den Artikel schreibt, will, dass die Leser Genuss finden und Erkenntnisse gewinnen. Was denn sonst? Diese Aspekte können sich erst ungebrochen entfalten, wenn kein Geschäft ansteht, das Produkt nicht als Ware beworben und verkauft werden muss, und die Frage der Erzeugung keine der Kosten ist. Nicht das Geschäftskalkül entscheidet über Herstellung und Anschaffung eines Lebensmittels, sondern Güte und Begehren. Mit dieser Banalität kann die Komplexität der bürgerlichen Ökonomie nicht mithalten. Jene ist wahrlich banaler, als es der Hausverstand in seiner vertrackten Beschränktheit erlaubt.

Geben und Nehmen sind im Schöpfen nicht mehr bedingt, sondern unbedingt. Brauchen wir dafür nicht andere Menschen? Zweifellos, wen denn sonst. Die Leute können gar nicht so bleiben, wenn sie wollen, dass Menschen bleiben oder noch besser: werden sollen. Sollen wir ernsthaft keine anderen wollen als die formatierten Sorten und konformierten Typen, die wir haben? Sollen diese Konkurrenzidioten und Charaktermasken der Menschheit letzter Schluss sein? Wir, die Ultimaten?!? Das wäre doch fatal und nichts anderes als die Einladung zum kollektiven Selbstmord. "Mit den Verhältnissen wird aufgeräumt werden, und die Natur des Menschen wird aufgeräumt werden und die Natur des Menschen wird sich ändern. Das einzige, was man von der Natur des Menschen wirklich weiß, ist, dass sie sich ändert." (Oscar Wilde, ebenda, S. 63) Das erst in die Geschichte eintretende Individuum ist weder ein Formatiertes noch ein Entformatiertes, es ist Ein-sich-selbst-Gestaltendes, somit der Schritt vom Es zum Ich.


Freie Assoziation

Nicht nur bei den Ressourcen, sondern auch bei allen Produktions- und Distributionsmitteln sollte es sich um Commons, also gesellschaftliche Güter handeln. Nichts soll Ware sein! Dass reziproke System von Leistung und Gegenleistung müsste auf allen Ebenen durchbrochen werden, es sollte ganz selbstverständlich werden, dass im einzelnen Fall Letztere nicht als Bedingung für Erstere genannt wird. Sich Beitrag und Entnahme abseits von Neid und Gier, Interesse und Konkurrenz vorzustellen, da tun wir uns heute schwer. Wie soll das funktionieren, schreit der gesunde Menschenverstand. Dass solch unkomplexe Handhabung möglich sein könnte, muss dem bürgerlichen Subjekt als vollendete Verrücktheit erscheinen. Wo kämen wir denn da hin? Der Mensch ist nicht so! Außerdem, das hat es doch noch nie gegeben. Einwände auf diesem Niveau gibt es hunderte. Indes wird uns gar nichts anderes übrig bleiben, wollen wir nicht mehr so leben, wie wir uns zwingen, zu existieren. Erst mit diesem wirklich radikalen Inventar an Gedanken lässt sich der paradigmatische Bruch vorstellen. Und anstellen.

Privateigentum und Ware sollen durch Hab und Gut abgelöst werden. Habe ist nicht unbedingt als Eigentum und Recht denkbar, sondern als Vermögen und Gestaltungsfreiheit, die ihre Ausschließlichkeit inhaltlich ("Was ich esse, kann kein anderer essen") und nicht formal begründet, in etwa: "Es gehört mir, daher kannst du es nicht haben, egal ob dich hungert oder friert, denn ich verfüge über einen gültigen Rechtstitel, den du mir nur durch Zahlung ablösen kannst." Wie irre! Wichtig ist doch, ob jemand gut zu essen, zu trinken, zu wohnen und sich zu erfreuen hat, nicht ob ihm Speise, Getränk, Wohnung oder gar Lustbarkeiten gehören. Wie armselig sind wir, dass wir unsere Anliegen bloß via Rechtsanspruch befriedigen können, nicht als spontane Lebensäußerung. Das sagt eigentlich alles über das bescheidene Niveau unserer Sozietät. Tatsächlich, wir leben in der Vorgeschichte.

Heute sind Geben und Nehmen Konsequenzen der Auslöse einer Ware durch Geld. Im Kommunismus werden jedoch das Brauchen und das Zustehen als pragmatische Motive ausschlaggebend, einzig in Sondersituationen und bei Mangelprodukten werden begründete Ausnahmen (etwa Partizipationsscheine) unumgänglich sein. Nur hier wird ein spezifisches Aufteilen stattfinden. In den meisten Fällen ist es völlig überflüssig. Was zur Genüge vorhanden ist, muss nicht geteilt, sondern lediglich verteilt werden. Vorhandenheit und Bedürfnis sind die Kriterien der Versorgung. Man wird dann etwas mehr Brot backen als gegessen und verfüttert wird. Mehr deswegen, damit es zu keinen Engpässen kommt. Nicht viel mehr deswegen, damit nicht zu viel im Abfall landet. Güterfülle meint nicht Urassen. Grob wird diese Regel für alle Mittel des Lebens gelten. Reserven sind obligat. Das Volle oder Erfüllte ist nicht mit der Verschwendung zu verwechseln. Stoffliche Sparsamkeit und inhaltlicher Reichtum schließen einander nicht aus. Der wichtigste Reichtum ist sowieso ideeller Schatz: Liebe, Freundschaft, Geselligkeit, Müßiggang, Kreativität, Spiel.


Das gute Leben

Das Problem ist nicht, dass das gute Leben nicht herstellbar oder leistbar wäre, es ist nicht finanzierbar. Woraus in der irrationalen Rationalität gefolgert wird, dass man sich das gute Leben abschminken soll, keineswegs aber Zahlungsfähigkeit und Kaufkraft verwerfen darf. "Ohne Geld geht gar nichts", das ist dieser heillose Konsens, aus dem beschränkte Subjekte, die sich freie Bürger schimpfen, ihre grobschlächtigen Vorurteile speisen.

Halten wir doch kurz inne: Die Maschinen sind da, die Rohstoffe sind da, die Kenntnisse sind da, ebenso die Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Produkte sind herstellbar, die Leistungen machbar, die Güter verteilbar. Dies alles wäre schaffbar, nur zwängt es sich nicht durch das Nadelöhr des Marktes. Wir sind so an unseren monetären Schranken angelangt - zweifelsfrei; aber nie und nimmer an den Grenzen des Machbaren - im Gegenteil, diese gehen erst auf. Objektiv steht der Kommunismus an, ob er wirklich werden kann, hängt allerdings von uns ab.

Nicht über unsere Verhältnisse haben wir gelebt, sondern unter unseren Verhältnissen leben wir. Die soziale Degradierung durch die Krise ist nicht Ergebnis davon, dass unsere Möglichkeiten sinken, jene ist Konsequenz daraus, dass die Güter als Waren nicht mehr bezahlt und die aufgenommenen Kredite nicht mehr bedient werden können. Im Prinzip ist das kein Malheur, ein Unglück ist es nur in einer Gesellschaft, wo der Wert und das Geld, wo Kaufen und Verkaufen sakrosankt sind. Solange wir dieses Paradigma nicht verlassen, sind wir den Gesetzlichkeiten und Zerstörungen von Markt und Staat ausgesetzt.

Nun denn, wenn es mit dem Geld nicht geht, warum probieren wir es eigentlich nicht ohne? Was fesselt uns so an den Fetisch, dass wir lieber mit ihm untergehen, als dass wir uns ihm verweigern? Warum jagen wir ihm nach, anstatt ihn zu verjagen? Warum vermögen wir uns kein Jenseits davon auszudenken? "Wir kommen deshalb nicht dazu, die Welt ohne Geld zu denken, weil wir alles mit ihm denken", sagt Eske Bockelmann. "Kein Gedanke entkommt dem Geld, weil es jeder schon fest in sich trägt." (Die Abschaffung des Geldes, Streifzüge 36, S. 6 und 7)

Es wäre doch einfach, die Fragen so zu stellen: Wie versorgen wir die Leute, wie produzieren und verteilen wir Güter und Leistungen? Die fetischistische Frage von rechts bis links, von oben bis unten, und das in aller Herren Länder, jedoch lautet: Wie stellen wir das Geld auf, dass Staaten und Unternehmungen, Banken und Versicherungen und zuletzt auch die Konsumenten zahlungsfähig sein können? Geht es in erster Frage um die Menschen, so in der zweiten Frage um die Wirtschaft. Das Grundproblem ist, wir denken die Frage 1 automatisch als Frage 2. Und auch wenn wir jetzt mit dem Geld ein ganz praktisches Umsetzungsproblem haben, ein Übersetzungsproblem haben wir deswegen (noch immer) nicht, eben weil die Grundsetzung dieser Reflexion so in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass sie als organisch erscheint.

Wie bringen wir also das Geld aus unseren Köpfen? Denn raus muss es. Mangel an Phantasie kann es ja nicht sein, der uns davon abhält. So gibt es ja kaum eine Absurdität, die wir uns nicht vorstellen können. Wir glauben Schauermärchen und sitzen den dümmsten Mythen auf. Wir nehmen kommerzielle Schrägheiten als bare Münze, wir folgen bereitwillig jeder abgedrehten Esoterik, der Zahlenmystik, den Horoskopen, den Latrinengerüchten oder gar den gefährlichen Mythen der Religionen. Uns kann man jeden Schwachsinn einreden, aber eine Welt ohne Geld zu denken, das kann nicht sein, das soll nicht sein, das darf nicht sein. Wir, die wir kein jenseitiges Diesseits auslassen, vermögen uns ein diesseitiges Jenseits nie und nimmer vorzustellen. Doch gerade dieser Schritt der Umschaltung setzt Emanzipation in Gang. Wir müssen lernen, uns und unsere Verhältnisse nicht über Geld zu synthetisieren.

Was meint freie Assoziation, was gutes Leben, was Genuss? Jene ist ja keine mit festen Strukturmerkmalen ausgestattete Ordnung im Sinn einer Gesellschaftsformation. Keine Formatierung, sondern eine Entformatierung, keine Normierung, sondern eine Enormisierung der Vielfalt. Da gibt es auch keine neuen Werte, sondern gar keine. Man kann nicht sagen, was im Kommunismus normal ist. Vielleicht dieses: dass die Menschen (und auch die anderen Geschöpfe) den Menschen nicht egal sind und dass soziale Not überwunden ist. Dass die großen Zumutungen wie Hungern, Dursten, Frieren, Bekriegen, Konkurrieren, Arbeiten, Vereinsamen und Verblöden der Vergangenheit angehören. Insgesamt werden die Komponenten des Spiels in ihrer gesamten Varianz an Platz im Leben gewinnen. Darüber hinaus wird es eine Vielzahl an Problemen, Schwierigkeiten und Aufgaben geben. Es wird nicht nur bequem sein.

Im Kommunismus wird viel Zeit dafür verwendet, sich um sich und seinesgleichen zu kümmern. Um Freudenschaffung geht es und um Freundschaftspflege. Da ist einiges aufzuholen und vieles zu tun, was heute unterlassen werden muss. Und wenn das alles einem zu viel ist, kann eins zwischenzeitlich aussteigen, ohne sich selbst versorgen zu müssen. Die Momente des Glücks werden nicht so selten sein und die Phasen der Zufriedenheit werden größere Dauer kennen. Individuelle Disposition ist dafür die Grundbedingung. Gutes Leben heißt aus dem Vollen zu schöpfen, um selbst schöpferisch tätig zu werden.

Der Kommunismus hat nichts anderes vor, als dass die Menschen gut zueinander sind, weil sie es können und weil sie es wollen. Er hat nichts zu verwirklichen, er will nichts vorschreiben, er hat keine letzten Ziele, keine hehren Ideale und keinen tieferen Sinn. Freude will er ermöglichen, das schon. Er möchte, dass Menschen froh sind und genießen können. Wozu sonst soll man auf der Welt sein? Materiell setzt der Kommunismus auf Zukömmlichkeit. Und emotionell auf Bekömmlichkeit. Kurzum, es soll schmecken. Nur, wie bringen wir die Leute auf den Geschmack?

Raute

Kapitalismus am Abgrund

von Tomasz Konicz

Angesichts der im atemlosen Tempo voranschreitenden Implosion des in den letzten drei Dekaden errichteten internationalen Finanzsystems ist allenthalben eine hektische Suche nach den Ursachen dieses Zusammenbruchs ausgebrochen, die oftmals in der mit neoliberaler Deregulierung und Liberalisierung einhergehenden Expansion der Finanzmärkte verortet werden. Der vorliegende Text sieht hingegen bereits die Genese des Neoliberalismus - mitsamt der von den Finanzmärkten dominierten Ökonomie - als die Folge einer fundamentalen Krise der Kapitalreproduktion in der realen, warenproduzierenden Wirtschaft.

Der Aufstieg des neoliberalen, durch die Dominanz des Finanzkapitals geprägten Weltwirtschaftssystems - dessen Finanzüberbau gerade über uns zusammenbricht - resultierte aus der tiefgreifenden ökonomischen Krise der frühen 70er Jahre, die nahezu alle westlichen Industrieländer erfasst hatte. Diese Krise beendete eine seit den frühen Fünfzigern anhaltende Periode wirtschaftlicher Prosperität. Die führenden westlichen Wirtschaftsnationen verbuchten zwischen 1950 und 1970 ein rasantes ökonomisches Wachstum, das wesentlich zur Vollbeschäftigung, ja zum Arbeitskräftemangel in etlichen Industrieländern beitrug.

Dieses "Goldene Zeitalter" (Hobsbawm) des Kapitalismus fußte auf einer "inneren Kapitalexpansion" in den avancierten kapitalistischen Ökonomien, innerhalb derer zuvor ausgeklammerte Gesellschafts- und Lebensbereiche für die Kapitalverwertung erschlossen wurden. Durch die stürmisch voranschreitende wissenschaftlich-technische Entwicklung der Produktionsmittel boomten zwischen 1950 und 1970 beispielsweise die Haushaltsgeräteindustrie, die Nahrungsmittelbranche, die Unterhaltungselektronik und der zivile Flugzeugbau. Zudem erlebten die ersten Einzelhandelskonzerne und der Massentourismus ihren wirtschaftlichen Durchbruch. Neue Werkstoffe wie Kunstfasern oder Plastik führten zu einer weiteren Umwälzung bereits etablierter Industriezweige.

Im Zentrum dieses langanhaltenden, stürmischen Wachstums stand die Massenmotorisierung. Von der Autobranche ging der größte Impuls für die Massenbeschäftigung bis in die 70er Jahre aus. Das vorherrschende Produktionsprinzip bei den Fahrzeugherstellern wie auch in vielen anderen Gewerbezweigen war der Fordismus: Mittels Fließbandproduktion und unter massivem, intensiviertem Einsatz von Arbeitskraft und Maschinen (Taylor-System) wurden Massengüter hergestellt, die - dank relativ hoher Löhne - in ihren Produzenten zugleich ihre Konsumenten fanden. Begleitet wurde diese Expansionsbewegung des Industriekapitals auf den sich neu formierenden Märkten von der - zurzeit eine scheinbare Renaissance feiernden - keynesianistischen Wirtschaftspolitik. Im Kern handelte es sich hierbei um einen nachfrageorientierten Politikansatz, der dafür Sorge zu tragen hatte, dass die massenhaft hergestellten Güter auch auf eine massenhafte kaufkräftige (staatliche wie private) Nachfrage trafen.


Tendenzieller Fall der Profitrate

Für die nahezu alle westlichen Industrieländer spätestens seit 1973 erfassenden wirtschaftlichen Verwerfungen etablierte sich der Begriff der Stagflation - einer überhandnehmenden Inflation, die mit einer stagnierenden Ökonomie einherging. Die besagte Phase der "inneren Expansion" war ab den 70er Jahren abgeschlossen, sodass sich das rasante Wirtschaftswachstum des "Goldenen Zeitalters" angesichts erschlossener Märkte erschöpfte. Zudem erwies sich der immer enger mit der Industrie verzahnte wissenschaftlich-technische Fortschritt der Produktionsmittel als ein zweischneidiges Schwert: Konnten Produktivitätssteigerungen und neue Technologien bis in die 70er Jahre zur Erschließung neuartiger Märkte beitragen und immer mehr Arbeitsplätze schaffen, als durch Rationalisierungen in älteren Industrien wegfielen, so kippte diese Entwicklung ab 1973.

Ab diesem Zeitpunkt - dem letzten Jahr mit Vollbeschäftigung innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) - kehrte die seit Jahrzehnten in den Industrieländern nicht mehr gekannte Massenarbeitslosigkeit zurück. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führte dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden konnten. Neue Industriezweige wie die Mikroelektronik und die Informationstechnik beschleunigten diese Tendenz in den kommenden Dekaden noch weiter, da die neuen Technologien weitaus weniger Arbeitsplätze schufen, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden.

Dieser qualitative Sprung innerhalb der Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Massenbeschäftigung - die ab den 70er Jahren beständig erodierende Verausgabung "abstrakter Arbeit" (Marx) innerhalb der industriellen Kapitalverwertung - ließ die der kapitalistischen Wirtschaftsweise immanenten Widersprüche voll aufbrechen. Der Neoliberalismus trat ab den 80er Jahren gerade mit dem Anspruch an, diese Krisentendenzen zu "überwinden". Zentral war hierbei der tendenzielle Fall der Profitrate, der sich vollends durchsetzte, als die besagte Phase stürmischer Marktexpansion abgeschlossen war und sich die kapitalistische Konkurrenz auf den gesättigten Märkten voll entfaltete.

Wie von Marx im "Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate" (MEW 25, S. 221 ff.) dargelegt, lässt die beständige Produktivitätssteigerung durch den Einsatz neuartiger Produktionsmittel (Automatisierung) den Anteil des konstanten Kapitals (Maschinerie) im Verwertungsprozess steigen und den des variablen Kapitals (Arbeitskraft) sinken. Ein Unternehmen, das durch die Einführung neuer Produktionstechniken mehr Waren in kürzerer Zeit mit weniger Arbeitskräften herstellen kann, erwirtschaftet Extraprofite, da es für seine Produktion weniger als die durchschnittliche gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit aufwenden muss, die ja die tatsächliche Wertgröße einer Ware bestimmt (siehe MEW 23, S. 49 ff.). Sobald aber der Einsatz der neuartigen Produktionsmittel sich gesamtwirtschaftlich durchgesetzt hat, sinkt die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die zur Herstellung der betreffenden Ware aufgewendet werden muss. Die Extraprofite unseres "innovativen" Unternehmens schmelzen also mit der Zeit dahin.

Da im Produktionsprozess verausgabte Lohnarbeit (variables Kapital) die Quelle des Mehrwerts bildet, geht diese "Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals" (Marx) bei gleichbleibenden Aufwendungen für das besagte variable Kapital mit einem Fall der Profitrate einher. Der (nun geschrumpfte) Anteil des variablen Kapitals innerhalb des Produktionsprozesses teilt sich bekanntlich in notwendige Arbeitszeit (Lohn) und Mehrarbeit (Mehrwert) auf - die Relation zwischen diesen beiden Elementen des variablen Kapitals konstituiert die Mehrwertrate.


Kapital wandert in Finanzmärkte

Hier setzten die neoliberalen "Reformen" der "Reaganomics" von US-Präsident Ronald Reagan (1981-1988) und des "Thatcherism" der englischen Regierungschefin Margaret Thatcher (1979-1990) an. Sie zielten darauf ab, die sinkende Profitrate durch die Erhöhung der Mehrwertrate zu sanieren. Durch das Absenken der Kosten für die "Ware Arbeitskraft" konnte der Anteil der notwendigen Arbeitszeit am variablen Kapital verkürzt, derjenige der Mehrarbeit erhöht werden. Die Profitraten in den USA konnten sich tatsächlich merklich erholen, wobei dies auf Kosten der amerikanischen Arbeiterklasse geschah. So stagnieren seit der Reagan-Ära die realen, inflationsbereinigten Löhne der US-Bevölkerung. Heute verdienen die Lohnabhängigen der USA faktisch weniger als 1973.

In dieser objektiv gegebenen Krise des Verwertungsprozesses des Kapitals in den 70er Jahren findet sich auch eine wichtige Ursache für die überhandnehmende Inflation jener Zeit: Konfrontiert mit weiterhin erhobenen Gewerkschaftsforderungen nach substantiellen Lohnerhöhungen, gingen die Unternehmen dazu über, die Mehrausgaben für die Gehälter auf die Preise ihrer Waren draufzuschlagen. Eine Art lohnpolitischer, die Inflation antreibender Wettlauf setzte ein, in dem Gewerkschaften ihre Lohnforderungen an die immer schneller galoppierende Inflation anzupassen trachteten. Erst die neoliberalen Regierungen brachen den Gewerkschaften im angelsächsischen Raum das Rückgrat und setzten fortan auf den Monetarismus.

In unserem Zusammenhang sind vor allem die Folgen dieser mit Lohndumping, Sozialabbau und Outsourcing einhergehenden neoliberalen Politik von Relevanz. Die von den Neoliberalen eingeleiteten Reformen brachten bald die ihnen immanenten, unüberwindlichen Widersprüche zum Vorschein. Die stagnierenden Löhne, die Steuergeschenke an Wohlhabende und der Sozialabbau ließen tatsächlich bald die Profite und die Vermögen kräftig wachsen, doch zugleich sank die Massennachfrage. Zu den Warenbergen, die keine Käufer fanden, gesellten sich Berge von Kapital, das kaum in der weiteren Warenproduktion profitable Investitionsmöglichkeiten finden konnte. Es drohten somit klassische Überproduktions- und Überakkumulationskrisen. Abhilfe schuf hier der seit den 80er Jahren immer weiter expandierende und fortwährend deregulierte Finanzsektor, der zu einer regelrechten finanziellen Explosion ansetzte, für die sich im angelsächsischen Raum schnell der Begriff "Financialisation of capitalism", Finanzialisierung des Kapitalismus, etablierte.

Auf scheinbar magische Weise löst die Finanzialisierung dieses spätkapitalistische Dilemma. Die wild wuchernden Finanzmärkte nehmen das überschüssige Kapital auf, die während der Boomphasen diverser Spekulationsblasen generierten Gewinne sorgen hingegen für kaufkräftige - aber auch fiktive, kreditfinanzierte - Nachfrage, die stimulierend auf die Warenproduktion wirkt. Es sind also gerade die im spekulativen Fieber verfangenen Finanzmärkte, die der schwindsüchtigen realen Wirtschaft vermittels Nachfrage auf die Sprünge helfen. Dies ist auch das "Geheimnis" der anscheinend so stürmisch wachsenden US-Konjunktur in den 90ern: Die anhaltende Hightech-Spekulation ermöglichte den langen Aufschwung in der Regierungszeit von Bill Clinton (1993-2001). Die Vorstellung von einem zersetzenden Finanzkapital, das das kerngesunde produzierende Gewerbe mit in den Abgrund der Rezession reißt, stellt somit die Realität geradezu auf den Kopf.


Schwarzes Loch USA

Anhand der letzten Immobilienspekulationen können wir diesen Effekt im Rahmen einer regelrechten "Blasenökonomie" besonders gut studieren. Nach dem US-amerikanischen Ökonomieprofessor Rick Wolff können zwei Drittel des US-Aufschwungs der letzten fünf Jahre auf den wild wuchernden Immobiliensektor der USA zurückgeführt werden, sogar drei Viertel aller neugeschaffenen Arbeitsplätze in diesem Zeitraum sind aufgrund der Immobilienblase entstanden! Der Soziologe John Bellamy Foster fasste diesen Prozess folgendermaßen zusammen: "Die Wahrheit ist, dass das avancierte kapitalistische System von dem Prozess der Finanzialisierung (dem Anwachsen der finanziellen Struktur in Relation zur 'realen Ökonomie') abhängig war, der sich als das wichtigste Mittel erwiesen hat, die Stagnation in der Produktion und der Investitionstätigkeit in den vergangenen Dekaden zu bekämpfen - beginnend in den 60er Jahren, aber beschleunigend in den 80ern und nochmals zusätzliche Fahrt aufnehmend in den 90ern. Das war es, was vorwiegend das ökonomische Wachstum in den Vereinigten Staaten und anderswo im Zentrum des Systems anspornte - unter Berücksichtigung der Stagnation bei den Investitionen in neue Produktionskapazitäten (die wegen existierender Überkapazitäten niedrig blieben)."

Die gute globale Konjunktur der letzten Jahre lebte, wie dargelegt, als Anhängsel der explosionsartig wachsenden Finanzmärkte, sie bildete sozusagen deren Wurmfortsatz. Dieses oberflächlich betrachtet unwahrscheinliche Verhältnis zwischen der globalen, realen Wirtschaft und der Finanzsphäre war nur aufgrund der astronomischen Größenordnung möglich, in welche die permanent wuchernden und mutierenden Finanzmärkte vorstießen. Es scheint geboten, die eigentlich unvorstellbaren Dimensionen des Finanzsektors am besten in Relation zur realen Ökonomie zu erhellen. Das Verhältnis zwischen dem Gesamtumsatz der US-Finanzmärkte und dem Bruttonationaleinkommen der Vereinigten Staaten ist in diesem Zusammenhang besonders erhellend für diese in den letzten Dekaden voranschreitende "finanzielle Explosion". So entsprach das amerikanische BSP 1960 noch 66,2 Prozent aller Umsätze der US-Finanzmärkte. In 1970 fiel dieser Anteil auf 37,8 Prozent, in 1980 auf 15,7 und ein Jahrzehnt später waren es nur noch 2,6 Prozent. Im Jahr 2000 betrug die Summe aller in einem Jahr hergestellten Güter und Dienstleistungen der größten Volkswirtschaft der Welt gerade einmal 1,9 Prozent der Umsätze der US-Finanzmärkte! Weit über 90 Prozent aller globalen Devisentransaktionen sollen zur Hochzeit der Finanzialisierung des Kapitalismus rein spekulativen Zwecken gedient haben. Symptomatisch ist auch das explosionsartige Wachstum der Märkte für Derivate, wie John Bellamy Foster erläuterte: "Der durchschnittliche tägliche Umsatz bei Devisentransaktionen stieg von 570 Milliarden Dollar in 1989 auf 2,7 Billionen in 2006. Seit 2001 wuchs der globale Markt für Derivate (der globale Markt für Instrumente zum Risikotransfer) um über 100 Prozent jährlich. Von relativ geringer Bedeutung zu Beginn des Millenniums, blähte sich der totale Nennwert der global gehandelten Kreditderivate auf 26 Billionen im ersten Halbjahr 2006 auf." Nicht anders sieht es bei den im Finanzsektor und in der realen Ökonomie realisierten Gewinnen aus. Auch hier sind die Profite des Finanzkapitals mit drei Prozent des BSP längst höher als im produzierenden Gewerbe, dessen Gewinne bei zwei Prozent des BSP liegen. Der Anteil der im Finanzsektor erzielten Gewinne an den Gesamtprofiten in den USA ist langfristig angestiegen: von ca. 17 Prozent in 1985 auf nahezu 40 Prozent.

Diese Finanzialisierung erreichte globale Dimensionen, indem sich mit der Zeit Defizitkreisläufe mit den USA als deren Mittelpunkt ausbildeten, die als eine Art globaler Konjunkturmotor fungierten: Die exportorientierten Länder wie China, Japan oder Deutschland lieferten ihre Waren in die USA und investierten das Geld dort sogleich wieder - vornehmlich in deren Finanzsektor. Somit fließen in dem größten pazifischen Defizitkreislauf die chinesischen Waren in Richtung USA und auf dem Rückweg strömt ein geisterhafter Fluss von amerikanischen "Wertpapieren", oder grün bedruckten Papierzetteln, die liebevoll "Greenback" genannt werden, in Richtung China zurück.

Die Vereinigten Staaten bildeten sozusagen ein "schwarzes Loch der Weltkonjunktur" aus, in dem die Überschussproduktion der exportorientierten Volkswirtschaften verschwand. An die 20 Milliarden US-Dollar müssen monatlich in den Finanzsektor der USA fließen, um deren gigantische Defizite auffangen zu können. Das Handelsdefizit zwischen den USA und China betrug beispielsweise 2007 über 250 Milliarden US-Dollar. Die Chinesen leihen den USA somit das Geld, damit diese weiter ihre Produkte kaufen können. Es ist klar, dass die gute Konjunktur der letzten Jahre einfach auf Pump realisiert wurde, insbesondere durch die Verschuldung innerhalb der Vereinigten Staaten.

Inzwischen ist die Gesamtverschuldung der USA in wahnwitzige Dimensionen vorgerückt, die absolut keine Parallelen in der Geschichte dieser größten Volkswirtschaft der Welt aufweist. Ende März 2008 standen die Vereinigten Staaten mit einer Summe, die 350 Prozent ihrer jährlichen Gesamtwirtschaftsleistung entspricht, in der Kreide! Man könnte dieses System auch als eine Art "privatisierter Keynesianismus" bezeichnen, in dem US-Bürger mit ihrem "deficit spending" (Defizitfinanzierung) die Konjunktur stützen. Dasselbe tut im Endeffekt der amerikanische Staat, dessen Verschuldung - jüngst verstärkt durch die diversen, billionenschweren Rettungsmaßnahmen für den Finanzsektor und das Konjunkturprogramm von nahezu 800 Milliarden Dollar - ebenfalls längst astronomische Höhen erreicht hat. Global ist dieses System deswegen, weil dieser schuldenfinanzierte Nachfrageboom im Zentrum der globalen Defizitkreisläufe steht, die auch die Volkswirtschaften in Südostasien und Europa über Wasser hielten. Es ist dieses auf Pump betriebene weltwirtschaftliche Perpetuum mobile, das das Herzstück der globalen "Finanzblasenökonomie" bildete und nun im Zuge der Finanzkrise zum Stillstand kommt. Die Industrie des "Exportweltmeisters Deutschland" profitierte übrigens von der globalen Defizitkonjunktur im besonderen Maß. Die vermittels Hartz-IV-Gesetzen durchgesetzte Verelendung in der BRD dient der Zurichtung der deutschen Gesellschaft auf die Interessen des exportorientierten, "schaffenden" deutschen Kapitals, dessen Exportoffensive im Rahmen der globalen Defizitkreisläufe eine komplementäre Funktion zum steigenden Handelsdefizit der USA einnahm.


Lohnarbeit verflüchtigt sich

Der Zusammenbruch dieser nahezu drei Jahrzehnte andauernden Ära der Finanzialisierung des Kapitalismus lässt nun die der spätkapitalistischen Produktionsweise innewohnende Krisendynamik erneut voll ausbrechen. Die zum Wesen des Kapitalismus zählende beständige Revolution der Produktivkräfte und die permanenten Produktivitätssteigerungen führen nun zu einer regelrechten "Krise der Arbeitsgesellschaft", wie sie unter anderem der linksliberale bürgerliche Ökonom Jeremy Rifkin thematisierte. Laut Rifkin gingen zwischen 1995 und 2002 über 31 Millionen Industriearbeitsplätze in den 20 größten Volkswirtschaften verloren, wobei jede Region der Welt einen Rückgang der Beschäftigtenzahl in der Industrie verbuchte - und das in einem Zeitraum, in dem die globale Industrieproduktion um 30 Prozent anstieg. Ähnliche Entwicklungen prognostiziert Rifkin für den Dienstleistungssektor, in dem "intelligente Technologien" ebenfalls menschliche Arbeitskraft zusehends überflüssig werden lassen. Die bereits angedeutete, seit den 80er Jahren mit den Umwälzungen der Mikroelektronik und IT-Technik einhergehende "dritte industrielle Revolution" macht Lohnarbeit innerhalb des Reproduktionsprozesses des Kapitals in nie zuvor erlebtem Ausmaß überflüssig.

Das über Jahre mit zweistelligen Zuwachsraten beim BSP im Dauerboom befindliche China, die neue "Werkstatt der Welt", bildet hier keine Ausnahme. Zwischen 1995 und 2002 verlor das Reich der Mitte 15 Millionen Arbeitsplätze in der Produktion, das waren 15 Prozent der gesamten Industriearbeiterschaft. Die Wirtschaftsfakultät der University of Michigan bemühte sich 2004 in Kooperation mit der chinesischen Akademie der Wissenschaften, die wahre Arbeitslosenquote im Reich der Mitte zu ermitteln (die offiziellen Zahlen Chinas haben in etwa denselben Wahrheitsgehalt wie die deutschen oder amerikanischen Statistiken). In den Jahren des stürmischen chinesischen Wirtschaftsaufschwungs, zwischen 1996 und 2002, stieg laut der Studie die Arbeitslosenquote in ganz China von 6,1 auf 11,1 Prozent bei den angemeldeten Stadtbewohnern und von 4,0 auf 7,3 Prozent bei den Arbeitsmigranten.

Da nun die globalen, kreditfinanzierten Defizitkreisläufe zusammenbrechen, explodiert die Arbeitslosigkeit weltweit. In China waren bereits im Januar 2009 ca. 15 Prozent der 130 Millionen Wanderarbeiter des Landes ohne Arbeit. Das sind 20 Millionen Menschen, die, aus ländlichen Gebieten kommend, in den zahllosen Fabriken der Küstenregionen meist prekäre Beschäftigung fanden. Im Dezember 2008 wurde die Zahl der arbeitslosen Wanderarbeiter von der chinesischen Statistikbehörde noch mit sechs Millionen angegeben. Dabei muss beachtet werden, dass die Wirtschaft im vierten Quartal 2008 immer noch um 6,8 Prozent gewachsen war! Ähnlich dramatisch ist die Lage in den Vereinigten Staaten, wo die reelle Arbeitslosenquote im Februar bei 17 bis 18 Prozent liegen dürfte. In der EU, insbesondere in Großbritannien, Spanien, Irland und weiten Teilen Mittelosteuropas, schießt die Erwerbslosenquote rasant in die Höhe und dürfte bald den zweistelligen Bereich erreichen. Die nun millionenfach aus dem Prozess der Kapitalreproduktion herausgeschleuderten Menschen, das rasch wachsende Millionenheer der Arbeitslosen illustriert vor allem die ungeheuere, zeitweilig stabilisierende ökonomische Wirkung, die der nun kollabierende Prozess der Finanzialisierung des Kapitalismus in den vergangenen drei Dekaden ausgeübt hat. Die reale Wirtschaft, das von reaktionären Kapitalismuskritikern fetischisierte "schaffende Kapital", bricht an seinen eigenen Widersprüchen zusammen, sobald die über Kreditvergabe und spekulative Blasenbildung vom Finanzsystem erzeugte Nachfrage wegbricht.

Es ist kein Zufall, dass sich ausgerechnet der Fahrzeugbau im Zentrum der Wirtschaftskrise befindet. Dietmar H. Lamparter schrieb am 16.10.2008 in der Zeit über die Auswirkungen erhöhter Produktivität auf die deutsche Autowirtschaft: "Die Crux an der Situation: Selbst wenn die deutschen Hersteller die Verkäufe ihrer Fahrzeuge konstant halten können, wächst mit jedem neuen Modell der Druck auf die Arbeitsplätze. Die Produktivität beim Wechsel von Golf V auf Golf VI sei in Wolfsburg um mehr als 10 Prozent und in Zwickau sogar um mehr als 15 Prozent gestiegen, verriet ein stolzer VW-Chef Winterkorn bei der Präsentation der Neuauflage des wichtigsten Konzernfahrzeugs. Das bedeutet, dass für die Montage der gleichen Zahl von Autos 15 Prozent weniger Leute nötig sind. Wenn also vom Golf VI nicht entsprechend mehr abgesetzt wird, sind Jobs in Gefahr. Genauso läuft es bei neuen Modellen von BMW, Mercedes oder Opel. Teilweise werden dort Produktivitätssprünge von 20 Prozent erzielt."

Die Lohnarbeit, letzten Endes die Substanz der Kapitalverwertung, "verflüchtigt" sich also aufgrund dieser ureigensten kapitalistischen Dynamik aus dem Akkumulationsprozess. Der tendenzielle Fall der Profitrate - wie auch die damit einhergehende, von Rifkin konstatierte "Krise der Arbeitsgesellschaft" - scheinen auf eine innere Schranke des kapitalistischen Systems hinzuweisen. Obwohl Lohnarbeit seine Substanz bildet, ist das Kapital als "prozessierender Widerspruch" (Karl Marx) gesetzmäßig bestrebt, den Anteil der Lohnarbeit an seiner Reproduktion immer weiter zu senken. Die Finanzialisierung des Kapitalismus hat diese Krisentendenzen vermittels Defizitkonjunktur, Blasenbildung und Verschuldung für einige Dekaden absorbiert, doch nun brechen sie verstärkt hervor: "Die einzige wirkliche Barriere der kapitalistischen Produktion", prognostizierte bereits Marx, "ist das Kapital selbst". Wir befinden uns somit am Vorabend einer veritablen Systemkrise des kapitalistischen Weltsystems. Die sich im Schoße der kapitalistischen Produktionsweise beständig revolutionierenden Produktivkräfte geraten immer weiter in einen fundamentalen Widerspruch mit denselben kapitalistischen Produktionsverhältnissen, die inzwischen als deren Fesseln fungieren. Wollte man das Wesen dieser nun alle Weltregionen erfassenden Krise auf einen kurzen, prägnanten Nenner bringen, so wäre es wohl dieser: Die Produktivkräfte sprengen gerade die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Es ist dies die klassische revolutionäre Situation, wie sie Marx im Vorwort "Zur Kritik der politischen Ökonomie" vor 150 Jahren dargelegt hat: "Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. (...) Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um." (MEW 13, S. 9)

Die Tragik unserer Epoche besteht nur darin, dass weit und breit keine revolutionäre Klasse, kein revolutionäres Subjekt auszumachen ist. Der ideologische Sieg des Kapitalismus scheint gerade in seiner Niederlage absolut zu sein, für breiteste Bevölkerungsschichten sind Alternativen zur kapitalistischen Vergesellschaftung schlicht undenkbar. Sollte keine breite, progressive, antikapitalistische Bewegung innerhalb des einsetzenden Krisenprozesses entstehen, droht uns der zivilisatorische Zusammenbruch. Die Aufgabe der revolutionären, antikapitalistischen Linken besteht zuvorderst darin, das öffentliche Bewusstsein über diese höchst gefährliche Situation - die jederzeit in Barbarei umschlagen kann - zu verbreitern und postkapitalistische, jenseits der uferlosen, fetischisierten Kapitalreproduktion angesiedelte gesellschaftliche Alternativen zu diesem autodestruktiven, spätkapitalistischen System zu diskutieren und aufzuzeigen. Wir müssen - in den konkreten Kämpfen vor Ort - zuerst revolutionäres Bewusstsein schaffen; also das Bewusstsein darüber, dass wir uns in einer revolutionären Situation befinden, dass das kapitalistische System an seine Entwicklungsgrenzen gestoßen ist. Die konkrete Aktion, der Abwehrkampf vor Ort, der Streik, die Betriebsbesetzung, die Straßenblockade, die Demonstration - diese vor uns liegenden Kämpfe müssen bereits als Teil des Ringens um eine postkapitalistische Gesellschaft aufgefasst und propagiert werden. Wir müssten ja an konkreten Kämpfen ansetzen âê` mit den Menschen streiten, die in dieser Krise unterzugehen drohen, diese konkreten Kämpfe zusammenführen zu ihrem gemeinsamen, objektiven, um des Überlebens der menschlichen Zivilisation willen absolut notwendigen, scheinbar so "abstrakten" Ziel: der Überwindung dieses über uns zusammenbrechenden kapitalistischen Systems.

Das Räsonieren über Konjunkturprogramme - die ohnehin nur die mit der Finanzialisierung untergegangene Defizitkonjunktur in staatlicher Regie bis zum Staatsbankrott fortführen werden - können wir getrost der CDU und SPD überlassen. Ein "Zurück" zum bereits in den 70ern in der Krise befindlichen Keynesianismus, zu massiven Konjunkturprogrammen, wird ebenso wirkungslos bleiben wie eine erneute Regulierung der Finanzmärkte. Genauso könnte man einen Krebskranken mit Hustenbonbons zu heilen versuchen.

Raute

Ungleiche Gleichheit

von Julian Bierwirth

Im postmodernen Kapitalismus soll alles vergleichbar sein. Neue Konzernstrategien wie etwa bei VW zielen darauf ab, die konzerninterne Arbeitsteilung dahingehend zu revolutionieren, dass ein steter Vergleich der Rahmendaten zwischen unterschiedlichen Produktionsstandorten möglich ist. Warenhausketten lagern mehr und mehr Vertriebssegmente an Tochterunternehmen oder Fremdanbieterinnen aus, falls die firmeninterne Statistik entsprechende Werte ausspuckt. Kennzahlenvergleiche und Budgetierung wurden in den letzten Jahren auch in kommunalen Verwaltungen und staatlichen Behörden eingeführt. Hier soll sich ebenfalls alles vor der Messlatte des Durchschnitts bewähren. Auch vor den Universitäten macht dieser Trend nicht Halt. Rankings zwischen einzelnen Universitätsstandorten gehören mittlerweile ebenso zum Alltag wie solche zwischen einzelnen Fachbereichen oder den Studierenden. Alles soll vergleichbar werden, doch das heißt nicht, dass alles gleicher würde.

Ganz im Gegenteil nehmen als Ergebnis dieser Prozesse die quantitativen Unterschiede zwischen den bewerteten Einheiten für gewöhnlich zu. Die Einkommensungleichheit wächst, die profitträchtigeren Unternehmensbereiche werden mehr und mehr gegenüber den weniger rentablen gestärkt und durch staatliche Förderprogramme werden die im Ranking erfolgreicheren Universitäten gegenüber den weniger erfolgreichen ökonomisch bevorteilt. Das ist kein Wunder: Denn dass ein Maßstab zum Vergleich existiert, ist eben nicht identisch damit, dass die Verglichenen gleicher würden. Das Vergleichbarmachen geht vielmehr mit einer verschärften Konkurrenz einher und beschleunigt die Sortierung zwischen denen, die mit den Spielregeln besser und jenen, die mit ihnen schlechter klarkommen.

Wie ist nun aber die Tendenz zum steten Installieren von Vergleichen zu erklären? Eine erste Antwort könnte im Ergebnis gesucht werden: Durch das Initiieren von zunehmender Konkurrenz soll eine Umverteilung hin zu den gesellschaftlichen Institutionen organisiert werden, die für gewöhnlich als besonders leistungsstark gelten. Kurz, es handelt sich um eine Umverteilung von unten nach oben.

So sehr das im Ergebnis richtig ist, so wenig erklärt es den Verlauf dieser Umverteilung. Warum wird sie gerade über den Weg des Vergleichbarmachens organisiert? Der Grund scheint mir in einer fundamentalen Krise von Gleichheit und Vergleichbarkeit als solchen zu liegen, die mittels politischen Gegenfeuers nun gerettet werden sollen. Da mit der Krise der Wertverwertung die Formprinzipien des Kapitalismus wegbrechen, gerät auch die Gleichheit in die Krise. Denn die Gleichheit, das können wir bereits bei Marx nachlesen, reflektiert in letzter Instanz lediglich die Gleichheit im Tausch. Menschen tauschen Äquivalent gegen Äquivalent und schließen von ihrem Tun auf die Existenz einer scheinbar gesellschaftsübergreifenden Vorstellung von "Gleichheit".


Unkalkulierbar

Nun wird dies Tun aber prekär, weil durch rasante Technisierung immer mehr Arbeit aus dem Produktionsprozess verdrängt wird und es daher zunehmend schwerer fällt, die Gleichheit von Arbeitszeiten auszudrücken, die im realen Produktionsprozess doch kaum noch eine Rolle spielen. Trotz allem müssen die Arbeitsleistungen sich aber weiterhin als Wert ausdrücken. Dieser bleibt trotz seiner zunehmenden Irrelevanz weiter die Grundlage des kapitalistischen Prozesses.

Dieses Phänomen spiegelt sich auch in den Wahrnehmungen der MarktteilnehmerInnen wieder. Immer weniger und immer offensichtlicher haben die geleistete Arbeit und der individuelle Lebensstandard miteinander zu tun. Dieser hängt heute mehr an Erbschaften, Börsengewinnen, staatlichen Transferleistungen und dergleichen mehr. Ebenso fallen auch der Marktpreis einer Ware und die zu ihrer Produktion verausgabte Arbeitszeit immer mehr auseinander. Die zunehmende Bedeutung von Werbung und Kulturindustrie trägt ihr Scherflein dazu bei, dass die am Markt erzielbaren Preise geradezu beliebig zu werden scheinen. Das gilt in gewisser Weise auch für die Unternehmensgewinne. Nachdem bis in die 70er Jahre ein schier endlos aufnahmefähiger Markt zur Verfügung stand, der langfristig planbare und relativ gleichmäßige Wachstumsmargen ermöglichte, werden die Kalkulationen in den Vorstandsetagen seitdem immer vorsichtiger. Auf einen Rekordgewinn im einen kann ein desaströser Absturz im anderen Jahr folgen. Es gibt keine solide Basis mehr, auf der sich irgendwie aufbauen ließe.

Die Vergleichbarmachung durch überall anzulegende Maßstäbe der Rentabilität und Effektivität jedenfalls kann als Versuch dechiffriert werden, die gesellschaftliche Form trotz ihrer zunehmenden Dysfunktionalität (selbst nach kapitalistischen Kriterien) zu erhalten. Das zunehmende Bemühen um Vergleichbarkeit ist also nicht Ursache der zunehmenden Konkurrenz, sondern nur ihre Verlaufsform: Je weniger die hinter dem Rücken der Menschen vor sich gehende Vergesellschaftung in der Lage ist, soziale Synthese herzustellen, umso stärker organisiert sie sich entlang "rationaler" Maßstäbe.


Prekär

Die Krise der Gleichheit ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu beobachten. Sie lässt sich etwa an der schwindenden Kampfkraft der Gewerkschaften ablesen, die mehr und mehr in Ständevertretungen zerfallen und den solidarischen Kampf der Lohnabhängigen längst einem Gegeneinander unterschiedlicher Statusgruppen geopfert haben. Überhaupt lässt sich vor diesem Hintergrund von einer Krise der Solidarität sprechen. Eigenverantwortung und Unabhängigkeit gelten laut der letzten Shell-Studie der jungen Generation als besonders wichtig. Politische Aktivität im unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld gilt als en vogue, solidarisches Engagement über den privaten Horizont hinaus, etwa im Rahmen von sozialen Bewegungen, wird zunehmend unbeliebt. Diese Schwerpunktsetzungen gehen einher mit einer breiten politischen Offensive, die in den letzten Jahren für ein verstärktes Wahrnehmen von Eigenverantwortung und für Selbstmanagement in einem ganz umfassenden Sinn eingetreten ist. Das Ich rückt mehr und mehr in den Mittelpunkt, seine Beziehungen zu anderen erscheinen zunehmend prekär.

Die Krise etabliert so ein umkämpftes politisches Terrain, aber nicht nur das. Sie wirkt sich auch nachhaltig auf die Subjektivierung der postmodernen Sozialcharaktere aus. Das Ich ist nämlich im Rahmen der Krisenverwaltung mit sich stets ändernden Regeln konfrontiert. Egal ob Arbeitsabläufe, Anspruchsregelungen für die Sozialleistungen oder Prüfungsanforderungen im Studium - alle diese Dinge unterliegen einem steten Wandel und machen mit dieser Wandelbarkeit auch unmissverständlich auf ihre Beliebigkeit aufmerksam. Bei den prototypischen postmodernen Individuen handelt es sich also um "Menschen, die einem Fluss stets austauschbarer Möglichkeiten ausgesetzt sind, sich dem Großteil dieser Möglichkeiten gegenüber verfügbar halten und die nächstbeste, die sich ihnen bietet, auch ergreifen, um diese dann ohne Zögern zugunsten der einen oder anderen weiteren Gelegenheit fallen zu lassen", schreibt Paolo Virno in seiner "Grammatik der Multitude". Was für das Verhältnis des Individuums zu den gesellschaftlichen Verhältnissen gilt, ist auch für sein Verhältnis zu anderen Individuen gültig. Die abgefederte Konkurrenz des prosperierenden Kapitalismus wird abgelöst von einer "umso brutaleren und arroganteren, kurz gesagt zynischen Selbstbehauptung, je mehr man sich illusionslos (...) derjenigen Regeln bedient, deren konventionellen und veränderbaren Charakter man zuvor festgestellt hat".


Berechnend

Diese Verhaltensweisen werden nicht nur durch die Beziehungen der Menschen zueinander nahegelegt, sie haben bereits Eingang in die Ausbildung zukünftiger LohnarbeiterInnen gefunden. Nehmen wir die Einführung von Kopfnoten an den Schulen. Hier lernen die Youngster bereits frühzeitig, soziale Interaktion als Bedingung für gute Noten - und damit für beruflichen Erfolg - zu begreifen. Nett sind wir gemäß dieser Doktrin nicht länger, weil uns das Gegenüber sympathisch wäre, sondern ausschließlich, um es zu instrumentalisieren. Etwa wegen der guten Note oder weil es die Vorbedingung ist, um Hausaufgaben abschreiben zu können. Kommunikation wird vollends zur berechenbaren und berechnenden Ressource im alltäglichen Daseinskampf. Alle Sozialität, die über das tägliche Gegeneinander hinausginge, verdampft.

Eine ähnliche Wirkung hat die mit einer mittlerweile fast flächendeckenden Erhebung von Studiengebühren verbundene Einführung von Bachelor-Master-Studiengängen an den deutschen Universitäten. Da Lernstress und Arbeitsdruck der Studierenden in erheblichem Maße angestiegen sind, ihnen also keine Zeit mehr bleibt, im interaktiven Austausch mit ihren KommilitonInnen soziale Kompetenzen zu erlernen, werden diese nun als Soft-Skills standardisierten Fähigkeiten in gesonderten Seminaren vermittelt. Hier lernen die angehenden HochschulabsolventInnen, sich in hohem Maße opportunistisch zueinander zu verhalten. Welche Handbewegung und welche Mimik wann angebracht sind und wann nicht, wird mühsam einstudiert.

Mehr und mehr nimmt so die Neigung der Individuen zu, sich als voneinander unabhängige Monaden zu imaginieren. Jede Form einer emanzipativen Aufhebung des Kapitalismus hat jedoch einen kollektiven und selbstbewussten Akt zur Voraussetzung. Die mit der Krise der Gleichheit einhergehende Barbarisierung untergräbt so Tag für Tag eine der Bedingungen von Emanzipation, rückt damit aber zugleich auch die Beliebigkeit gesellschaftlicher Regeln ins Bewusstsein. Es ist daher durchaus nicht auszuschließen, dass damit auch die Naturalisierung sozialer Prozesse einen ernst zu nehmenden Knacks erhält und damit die neue gesellschaftliche Situation mit neuen Widersprüchen auch neue Angriffspunkte für das emanzipatorische Bemühen hervorbringt.


Literatur

Shell Deutschland Holding (Hrsg.): Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. Frankfurt am Main 2006.

Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellect. Verlag Turia und Kant, Wien 2005.

Detlef Hartmann/Gerald Geppert: Cluster. Die neue Etappe des Kapitalismus. Berlin/Hamburg 2008.

Marco Revelli: Die gesellschaftliche Linke. Jenseits der Zivilisation der Arbeit. Münster 1999.

Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Arbeit. Zur Neuinterpreation der kritischen Theorie von Marx. Freiburg 2003.

Raute

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Leere Kassen - volle Supermärkte

Komische Welt ist das! Stand letztens in der Zeitung, "wir" hätten in den letzten Jahren über "unsere" Verhältnisse gelebt. Außerdem irgendwas von Anspruchsdenken, das in Deutschland zu ausgeprägt sei. Dann kam in den Nachrichten, dass Deutschland wieder Exportweltmeister ist. Das heißt: Niemand überhäuft andere Länder so mit seinem Zeug wie Deutschland. Nicht mal "die Chinesen" - und das sind viel mehr. Wieso schafft Deutschland denn Sachen außer Landes, wenn es doch scheinbar viel zu wenig gibt? Aber stimmt das überhaupt? Immer wenn ich in den Supermarkt komme, ist der völlig überfüllt. Und jedesmal, wenn ich durch die Innenstadt laufe, macht da ein neues Geschäft auf, um mir irgendwas zu verkaufen. Und der Einzelhandel erzählt immer, er bleibe auf den Sachen sitzen.

Das heißt: Alles, was die da rumstehen haben, werden die gar nicht los. Warum eigentlich? Wenn es doch den Leuten an immer mehr fehlt, warum nehmen sie sich das nicht einfach? Ja richtig: Weil sie dafür bezahlen müssen. Aber warum hat denn nicht einfach jedeR genug Geld? Weil mensch dafür ja arbeiten muss. Kann aber nicht jedeR, weil schon viel zu viel produziert wird. Um all das herzustellen, was da im Regal steht, werden nämlich immer weniger Menschen gebraucht. Ist das nicht gut? Dann können die Nicht-Arbeitenden ja die Zeit damit verbringen, all das zu verbrauchen, was die anderen produziert haben, damit die auch weiter Arbeit haben. Geht aber nicht. Weil erstens fehlt den Arbeitslosen ja das Geld, zweitens fänden das die Arbeitenden doof, weil sie das mit der Arbeit auch nicht freiwillig machen. Aber wenn die das Arbeiten doof finden, warum produzieren sie dann so viel, dass sie damit auch noch andere Länder zuschütten? Sollten wir nicht eher alle viel weniger arbeiten und dafür mehr konsumieren?

Geht nicht. Weil ohne Arbeit kein Geld, ohne Geld kein Konsum, und das, obwohl alles da ist. Nennt sich Kapitalismus, der Scheiß. Den könnte auch mal jemand abschaffen.

180°

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Kreislaufprobleme

Warum Dienstleistungen als tragender Wirtschaftszweig nicht in Frage kommen

von Peter Samol

Die Krise ist noch gar nicht richtig eingetreten, da wird bereits bekundet, ihr Ende sei in Sicht. So äußerte etwa der gerade zurückgetretene deutsche Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) kurz vor seinem Ausscheiden, es stünde zwar ein heftiger, aber nur kurzer Abschwung bevor und der nächste Aufschwung werde binnen Jahresfrist kommen. Seine schlichte Begründung: "Zum Optimismus gibt es keine Alternative"(1). Ähnlich klingt der neue BDI-Chef Hans-Peter Keitel: "Der Aufschwung muss kommen, um uns aus der Krise zu holen."(2) Sie und andere Gesundbeter übersehen wissentlich oder unwissentlich, dass es sich um eine tiefe strukturelle Krise handelt und keineswegs nur um ein vorübergehendes Konjunkturtief. Seit den frühen 1970er Jahren machen Rationalisierung und Automatisierung auf der Grundlage immer effizienterer Technologien große Mengen lebendiger Arbeit bei der Herstellung von Gütern schlichtweg überflüssig, während gleichzeitig viel weniger neue Arbeitsmöglichkeiten entstehen. In der Bilanz bedeutet das einen Ausschlussprozess der Arbeitskraft, der noch lange nicht an sein Ende gelangt ist. Das schlug sich so lange nicht in Form einer Krise nieder, wie die Finanzmärkte den Anlegern ein Anwachsen ihrer Vermögenswerte suggerieren konnten, während das angelegte Geld faktisch in den Warenkonsum umgeleitet wurde und die schrumpfende Nachfrage der Beschäftigten bzw. Arbeitslosen ersetzte. Nach dem Platzen der Finanzblase bleibt jedoch die absatz- und damit auch produktions- und investitionsstimulierende Wirkung der Finanzblasen aus. Die Kombination aus Überproduktions- und Unterbeschäftigungskrise wird damit virulent.

Eine echte langfristige Überwindung dieser Krise könnte nur auf der Grundlage eines arbeitsintensiven Wirtschaftszweiges auf Höhe des aktuellen Produktivitätsniveaus geschehen. Nur dann würden viele Menschen ausreichend bezahlte Arbeit finden, genügend gesamtgesellschaftliche Wertmasse erzeugen und als zahlungskräftige Kunden für die produzierten Warenberge auftreten können. Aber welcher Wirtschaftszweig könnte diese Schlüsselstellung einnehmen? Typische Industrieprodukte können mit immer geringerem Arbeitsaufwand hergestellt werden. Das dürfte über kurz oder lang auch für die Etablierung von Umwelttechnologien gelten, die sich zur Zeit einer wachsenden Beliebtheit als Kandidaten für eine neue "Schlüsselindustrie" erfreuen. Es ist fraglich, ob Umwelttechnologien nicht bestenfalls eine kurze Atempause für die kapitalistische Wertverwertung verschaffen könnten. Man erinnere sich nur an die großen Verheißungen, die das Aufkommen des Mobiltelefons mit sich brachte. Innerhalb von etwa zehn Jahren ist es vom großen Hoffnungsträger zu einem Ramschartikel verkommen, der bei jedem Discounter für kleines Geld feilgeboten wird.(3)


Letzte Hoffnung "Dienstleistungsgesellschaft"?

Mehr als eine solche Gnadenfrist verspricht sich manch einer vom Heraufziehen einer neuen "Dienstleistungsgesellschaft". Könnte die gesellschaftliche Gesamtarbeitszeit durch einen Ausbau dieses Wirtschaftszweiges gesteigert und damit Konsum, Produktion und Investitionen auf der Grundlage echter Werthaltigkeit des gesellschaftlichen Gesamtprodukts gewährleistet werden? Schon im Jahr 1949 äußerte der französische Ökonom Jean Fourastié die Hoffnung, dass sich in den Industrieländern eine umfangreiche "Dienstleistungsgesellschaft" etablieren würde, in der massenhaft Arbeitsplätze vorhanden wären.(4) Bei genauem Hinsehen muss man allerdings feststellen, dass die Potenziale in den meisten Dienstleistungsbereichen entweder erschöpft sind (Finanzwirtschaft, Staatsdienst) oder durch ihre arbeitsplatzvernichtende Wirkung eher kontraproduktiv wirken (Informations- und Kommunikationstechnologie, Outsourcing).(5)

Was übrig bleibt, sind die so genannten "personennahen Dienstleistungen". Von ihnen soll im Folgenden die Rede sein. Beim ersten Hinsehen scheinen hier besonders arbeitsintensive Tätigkeitsbereiche einer weiteren Erschließung durch die Arbeitsgesellschaft zu harren. Um jedoch als tragender Wirtschaftszweig der kapitalistischen Verwertungsbewegung fungieren zu können, müssen die entsprechenden Arbeiten dem Zweck aus Geld mehr Geld zu machen unterworfen werden. Denn nur, wenn es durch das Nadelöhr der Wertverwertung hindurch geht, fungiert das eingesetzte Geld als Kapital und erzeugt die notwendige Wertmasse, die ja zur Finanzierung der restlichen kapitalistischen Produktion dienen soll. Bei den "personennahen Dienstleistungen" sind es nun vor allem in die Bereiche Pflege, Gesundheit, Erziehung und Bildung, bei denen es von der reinen Bedarfslage her betrachtet tatsächlich viel zu tun gäbe. Daher könnte man auf den ersten Blick meinen, hier gäbe es enorme Beschäftigungspotenziale.(6) Allerdings weisen die genannten Bereiche eine ganz spezifische Besonderheit auf. Sie besteht darin, dass der Großteil der Leistungsempfänger in eben jener Lebenslage, die sie zu Empfängern der betreffenden Dienstleistung macht, selbst nicht arbeitsfähig ist. Wer gerade die Leistungen des Erziehungs- und Bildungssystems in Anspruch nimmt, ist in der Regel zu jung um arbeiten zu gehen.(7) Am anderen Ende der individuellen Lebenszeit steht das Pflege- und Gesundheitssystem. Hier ist das Gros der Leistungsempfänger bereits altersbedingt aus dem Beschäftigungssystem ausgeschieden. Hinzu kommt, dass die entsprechenden Dienstleistungen dann nicht mehr - wie bisher zum größten Teil - über staatliche Transfers (sprich Steuern und Sozialversicherungsleistungen) finanziert werden können, wenn sie gesamtkapitalistisch rentabel wirtschaften sollen. Dadurch lägen sie nämlich anderen Sektoren der kapitalistischen Gesamtproduktion auf der Tasche anstatt sie noch einmal durch eigene Wertschöpfung zu befeuern. Sollen Gesundheit und Bildung wirklich zu einer tragenden Säule der Wertschöpfung werden, dann muss für sie das Motto "Keine Leistung ohne Gegenleistung!" in Kraft gesetzt werden. Das ist ein basales Credo kapitalistischer Gesellschaften, häufig verkürzt auf das Grobe: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!" Da jedoch die Empfänger die Kosten lebenslagebedingt nicht durch Arbeit bestreiten können, fallen mindestens zwei Drittel der Bevölkerung in einer forcierten Dienstleistungsgesellschaft als zahlende Kunden aus, weil sie über kein eigenes Vermögen verfügen.(8) Dieser Umstand steht einer "Dienstleistungsrevolution" im personennahen Bereich diametral entgegen. Um es mit Marx zu sagen: Im Kapitalismus entscheidet der Profit über Ausdehnung oder Beschränkung der Produktion. "Sie kommt zum Stillstand, nicht wo die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern wo die Produktion und Realisierung von Profit diesen Stillstand gebietet".(9) Selbst das schrumpfende Drittel vermögender Menschen ist letztlich darauf angewiesen, dass ihre Guthaben auf der Grundlage gelingender Wertverwertung anwachsen bzw. überhaupt erst entstehen können - und genau diese Wertverwertung funktioniert immer weniger. In Folge dessen wird langfristig auch hier Substanz aus vergangenen Zeiten aufgezehrt und die Wertverwertungsbewegung kommt spätestens dann zum Stillstand, wenn gesellschaftsweit der letzte Spargroschen aufgezehrt ist. Auch ein angedachtes Perpetuum Mobile nach dem Motto "heutige Pflegekräfte, Lehrerinnen usw. sparen für später" würde allenfalls auf Downcycling hinaus laufen. Letztlich sind die genannten Dienstleistungen also auf eine anderswo gelingende Wertverwertung angewiesen und können folglich keineswegs selber eine tragende Rolle in diesem basalen kapitalistischen Prozess einnehmen.


Zentralisierung des kapitalistischen Kreislaufs

Im Prozess der allgemeinen Schrumpfung der kapitalistischen Verwertungsbewegung wird jede Form von Konsum in Frage gestellt, die nicht unmittelbar der kapitalistischen Reproduktion dient. Betrachten wir in diesem Zusammenhang den Begriff "Konsum" ein wenig näher. Jeder Konsum ist zunächst einmal Wertvernichtung. Wenn ein Mensch ein Brot isst, dann ist nicht nur der Gebrauchswert, sondern auch der Tauschwert dieses Nahrungsmittels aufgezehrt. Gleiches gilt auch für Bildungs- und Pflegedienstleistungen.(10) Diese Regel hat aber eine wichtige Ausnahme, die für das System der Wertverwertung von entscheidender Bedeutung ist: Die produktive Konsumtion. Wenn etwa im Zuge der Herstellung eines industriellen Produktes Rohstoffe verbraucht werden, so wird deren Wert auf das hergestellte Produkt übertragen. Das Produkt kann weiterverarbeitet und dabei verbraucht werden, wodurch sein Wert wiederum auf das daraus hervorgegangene Produkt übertragen wird usw. Erst der Verzehr durch den Endkonsumenten bereitet dem darin enthaltenen Wert ein Ende. Selbst dann gibt es jedoch noch eine Möglichkeit, wie dieser Wert noch weiter existieren kann. Und zwar, wenn der besagte Endkonsument seine durch den Warenkonsum (wieder-)hergestellte Leistungsfähigkeit dafür einsetzt, neue Waren zu produzieren, sprich wenn er arbeitet. In diesem Fall wird selbst der finale Konsum zur Wertübertragung genutzt und der Wert der konsumierten Güter kehrt wieder in den Kreislauf der Wertproduktion zurück.(11) Aber der Wert von Waren und auch Dienstleistungen, die nicht von solchen Arbeitern konsumiert werden, erlischt nun wirklich endgültig mit ihrem Konsum. Genau das ist der Fall, wenn Menschen, die für den kapitalistischen Verwertungsprozess bereits zu alt oder noch zu jung sind, konsumieren. Ihr Konsum dient nicht dazu, als Arbeitskraft wieder in den Prozess der Kapitalreproduktion einzutreten.(12) In der gegenwärtigen Phase des allgemeinen Rückgangs der Verwertungsbewegung gibt es nun eine wachsende Tendenz, die Geld- bzw. Warenströme auf die zur Warenproduktion nützlichen Gesellschaftsmitglieder (sprich auf die produktiven Konsumenten) zu konzentrieren. Auf diese Weise tritt das kapitalistische System in eine forciert sozialdarwinistische Phase ein und versucht sich durch fortschreitenden Ausschluss von immer mehr Menschen, die im Sinne der Wertverwertung überflüssig sind, über die Runden zu retten. Wer nichts zur Wertschöpfung beitragen kann, wird an den Rand gedrängt und auf eine immer magerer ausfallende Armenspeisung umgestellt. Dadurch fallen allerdings auch nach und nach immer mehr Absatzmöglichkeiten und dadurch wiederum ursprünglich rentable Arbeitsmöglichkeiten weg. Wenn nämlich immer mehr Menschen keine Waren mehr kaufen können, dann werden sukzessive auch zuvor "produktive Konsumenten" arbeitslos und damit zu unproduktiven Konsumenten. So wie ein Blutkreislauf im Falle von kritischen Situation (z.B. bei extremer Kälte) zentralisiert wird und nur noch die lebenswichtigen Organe im Körperkern versorgt werden (wobei es durchaus passieren kann, dass periphere Körperteile absterben), so geschieht dann Ähnliches mit dem Kreislauf von Arbeit, Ware und Geld. Immer mehr Bereiche der Gesellschaft fallen nach und nach heraus. Nun ist aber gerade der Großteil der medizinischen Versorgung, Pflege, Bildung etc. in einem Bereich der Wertverwertung angesiedelt, der besonders früh von diesem Ausschlussprozess betroffen ist. Auf der Erscheinungsebene zeigt sich das seit einiger Zeit daran, dass diese Dienste tendenziell kostenpflichtig werden und sich eine wachsende Zahl von Menschen diese Dienste nicht leisten kann. So werden die Gesundheitsleistungen für einen zunehmenden Teil der Bevölkerung unerschwinglich und in Folge dessen zurückgefahren. Ähnliches ereignet sich auf dem Sektor der Bildung; hier wurden Studiengebühren eingeführt sowie Eliteuniversitäten eingerichtet bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Breitenbildung. Sowohl im Bildungs- wie auch im Gesundheitsbereich schrumpft also die Zahl der Menschen, die die betreffenden Leistungen bei entsprechender Qualität in Anspruch nehmen können. Beide Bereiche werden künftig keinen nennenswerten Beitrag zur Akkumulation des Gesamtkapitals leisten. Die "Dienstleistungsgesellschaft" kommt nicht - auch nicht auf Basis der personennahen Leistungen.


Anmerkungen

(1) Frankfurter Rundschau, 22.01.2009, S. 7.

(2) Deutschland-Radio Berlin, 24.01.2009, 11:10 Uhr.

(3) Zu weiteren Argumenten über die (Un-)Möglichkeit eines ökologischen Umbaus innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung siehe Exner, Andreas; Lauk, Christian: Die ökologische Krise des Kapitals. In: Streifzüge Nr. 44 / November 2008, S. 8-9.

(4) Fourastié, Jean: Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts, Köln-Deutz 1954 [frz. Orig. 1949].

(5) Was das so genannte "Outsourcing" - die Auslagerung von Firmentätigkeiten auf externe "Dienstleister" - angeht, so handelt es sich hinsichtlich des Beschäftigungseffektes bestenfalls um Nullsummenspiele, da keine neuen Arbeitsmöglichkeiten entstehen, sondern lediglich alte verlagert werden. Nicht selten wird das betreffende Arbeitsvolumen aufgrund höherer Effizienz sogar verringert. In den drei zuvor genannten Tätigkeitsfeldern (Finanzwirtschaft, Staatsdienst und Informations-/Kommunikationstechnologie) wird noch dazu vor allem unproduktive Arbeit geleistet, also Arbeit, bei der kein Wert im kapitalistischen Sinne geschöpft wird. Siehe dazu die einschlägigen Aufsätze von Ernst Lohoff, Stefan Meretz und mir in krisis Nr. 31. Kurzfassungen dieser Aufsätze in Form einer Vortragsmitschrift finden sich unter
http://www.balzix.de/sm%200810%20Crashkurs%20Krise.html.

(6) Vertreter der "Theorie der langen Wellen" vertreten übrigens seit den 1990er Jahren die Auffassung, dass der sog. "sechste Kondratieffzyklus" sich auf den Bereich der Gesundheitsdienstleistungen stützen werde. Allerdings hat sich dieser Theoriestrang in jüngster Zeit bereits dadurch blamiert, dass der sog. "fünfte Kondratieff-Zyklus" (Computer, Internet, Telekommunikation) ein ziemlicher Rohrkrepierer war - sieht man einmal von der Dot.com-Blase ab. Ferner wird zur Zeit vielmehr krampfhaft an einer uralten Trägertechnologie, nämlich dem Auto ("Basistechnologie" des "vierten Kondratieff-Zyklus") festgehalten. Man denke nur an die Verschrottungsprämie für Altautos in Deutschland, die derzeit einen kleinen Boom bei den Autohändlern auszulösen scheint.

(7) Im Spätkapitalismus wird Bildung immer mehr zur conditio sine qua non, um sich überhaupt noch als Arbeitskraft verdingen zu können. Junge Menschen müssen daher erst eine lange Bildungsstrecke zurücklegen, bevor sie akzeptable Arbeitseinkommen erzielen können. Außerdem entspricht die umfangreiche tägliche Bildungszeit zunehmend selbst einen kompletten Arbeitstag.

(8) Zwei Drittel der Deutschen Bevölkerung verfügen über kein oder nur ein sehr geringes Sach- bzw. Geldvermögen. Hinzu kommen im Falle von Gesundheitsleistungen die strengen Regelungen der Vermögensanrechnung bei Hartz IV-Bezug, der wiederum vor allem älteren Menschen droht (Stichwort Altersarbeitslosigkeit). Die führen dazu, dass bei Bezug von Arbeitslosengeld II erst ein Großteil der Vermögensbestände aufgezehrt werden muss, bevor ein berechtigter Anspruch auf Leistungen besteht. Dieses Vermögen steht dann nicht mehr zur Zahlung entsprechender Dienstleistungen im Fall von späterer Pflege- bzw. medizinischer Behandlungsbedürftigkeit zur Verfügung.

(9) MEW 25, S. 269.

(10) Dass solche Dienstleistungen - anders als ein Brot - nicht aufbewahrt werden können, sondern bereits im Moment ihrer Herstellung "verzehrt" werden, muss uns nicht weiter irritieren.

(11) In seinem Text "Die Himmelfahrt des Geldes" (krisis Nr. 16/17, 1995, S. 34f.) erliegt Robert Kurz der Versuchung, die Marxsche Kategorie des produktiven Konsums zur Bestimmung des (für die Theoriebildung äußerst wichtigen) Unterschiedes zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit heranzuziehen. Laut Kurz kann eine klare Begriffstrennung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit "kreislauftheoretisch" gewonnen werden, indem Produkte nur dann Resultate produktiver Arbeit seien, wenn sie von produktiven Arbeitern verzehrt werden. Aber welche Arbeiter sind produktive Arbeiter? Wenn sie produktive Arbeit leisten? Die wiederum ist Arbeit, deren Produkte von produktiven Arbeitern verzehrt wird ... Es ist leicht zu erkennen, dass sich diese Argumentation nicht halten lässt, weil sie den Charakter eines Zirkelschlusses hat. Dieser Fehlschluss steht bei Kurz im Kontext der Beschreibung eines gesellschaftlichen Prozesses, den man als Zentralisierung der Waren- und Geldkreisläufe bezeichnen könnte (siehe hierzu im Haupttext weiter unten). Diese Beschreibung taugt allerdings in keinster Weise zur Bestimmung des Begriffs der "produktiven Arbeit". Aufgrund eines überschießenden Vereinfachungsbedürfnisses definiert Kurz misslingende Wertrealisierung (sprich misslingenden Warenabsatz), die sich aufgrund misslingender Akkumulation ergibt, in der Weise um, dass die in den nicht abzusetzenden Waren steckende Arbeit unproduktive Arbeit sei. Das ist sehr verführerisch, vor allem jedoch hochproblematisch.
1) Zum einen gibt es eindeutig unproduktive Arbeiten (etwa in der Zirkulationssphäre), die beim besten Willen nicht auf Kurz' Kreislauftheorem reduzierbar sind: Arbeit, die (noch) im Zentrum des Verwertungsgeschehens steht, ist nicht gleich produktive Arbeit. Denn dort werden sich immer auch Arbeiten befinden, die nicht produktiv, aber für das Funktionieren des Kapitalismus unersetzbar sind - z.B. eben solche der Zirkulation. 2) Zum anderen kann man nach Kurz erst im Nachhinein wissen, ob eine Arbeit unproduktiv gewesen sein wird. Daraus ergeben sich weitere gravierende theoretische Probleme. Kurzum: Der zirkuläre Schluss von der Zentralisierung der Kreisläufe auf die Definition von produktiver Arbeit führt in die Irre. Die Kreislauftheorie ist auf einer anderen analytischen Ebene angesiedelt. Sie trägt zur Klärung der Frage nach dem kategorialen Unterschied von produktiver und unproduktiver Arbeit nichts bei und durch die Kurzsche Argumentation wird nichts klarer.

(12) Das gilt im Kapitalismus natürlich generell für Menschen, die nicht am allgemeinen Produktionsprozess beteiligt sind, z.B. auch für Arbeitslose.

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Verschrottungsprämie oder Mercedes Benz?

Ich war noch fast ein Kind, da wollten mir diese widersinnigen Aufforderungen, die ständig durch die Medien geisterten, schon nicht einleuchten. Einerseits sollen wir uns ökologisch verhalten, die Umwelt tunlichst nicht belasten, sie mit möglichst wenig CO2 verschmutzen und andererseits müssen wir die Wirtschaft ankurbeln, also kaufen, kaufen, kaufen - egal wie sinnlos, egal welchen Schrott, egal wie unökologisch!

Die Autoindustrie, seit Jahrzehnten eine der wichtigsten und gleichzeitig klima-, mensch- und naturschädigendsten Säulen der Wirtschaft, ist in großer Not. Und das, obwohl das Auto ideologisch eigentlich noch nicht im Geringsten angekränkelt ist. Fast jeder ist überzeugt, ohne geht es nicht. Erst kürzlich erlebte ich, wie selbst sonst gescheite Kritiker vor dem Heiligtum auf die Knie fielen. Da es zum Autoverkehr keine adäquate Alternative durch öffentliche Verkehrsmittel gibt, wird er einfach bedenkenlos gutgeheißen. Dennoch hat sich in den USA der Autoabsatz im letzten Jahr halbiert; kann man darüber nicht froh sein, wo doch mit einem weltweiten Anstieg des Individualverkehrs ein ökologischer Kollaps droht?

Um der Wirtschaft auf die Beine und der Autoindustrie auf die Reifen zu helfen, haben Politiker die glorreiche Idee einer Verschrottungsprämie für über 13 Jahre alte Autos ersonnen. Wird es bald auch eine Verschrottungsprämie für alle alten Hüte geben: für 3 Jahre alte Handys, für 5 Jahre alte Computer und für 7 Jahre alte Klodeckel? - Klingt da die Erkenntnis des Polen Andrzej Stasiuk in seinem neuen, höchst amüsanten "Dojczland"-Road-Movie in Buchform nicht wesentlich sympathischer? Angesichts von Mercedes, dem (zumindest mental) ganz Stuttgart gehört, philosophiert er: "Die Mercedes fahren bis zum Schluss und leben von allen Autos am längsten. Die meisten sterben fern der Heimat: auf der Krim, in Anatolien, in Afrika. Das war eine gute Idee: etwas zu bauen, was auch noch nützlich ist, wenn es eigentlich schon unbrauchbar ist ..."

M.Wö.

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KOLUMNE Immaterial World

Commons - Gemeingüter

von Stefan Meretz

Ein neuer alter Begriff ist dabei, den politischen Diskurs zu erobern: Die Commons kommen. Erst jüngst wurde vom Weltsozialforum ein "Manifest zur Wiederaneignung der Gemeingüter" verabschiedet. Gemeingüter werden als strategische Widerstandsperspektive entdeckt. Warum aber ist das so, sind Gemeingüter nicht bloß eine vorkapitalistische Eigentumsform, die nur noch in Resten überlebt hat? Weit gefehlt.

Zunächst einmal ist es richtig, dass vor der Durchsetzung des kapitalistischen Privateigentums gemeinschaftliche Besitzverhältnisse vorherrschten. Hierbei ist es wichtig, zwischen Besitz und Eigentum zu unterscheiden. Besitz beschreibt ein konkretes Nutzungsverhältnis, während Eigentum ein abstraktes Rechtsverhältnis in Bezug auf ein Gut festlegt. In meinem Besitz ist das, was ich nutze; nutze ich es nicht mehr, ist es nicht mehr in meinem Besitz. Das Eigentum hingegen ist nicht an die Nutzung, den Besitz, gebunden, und kann folglich auch übertragen, also verkauft werden. Der Eigentümer einer Wohnung kann diese verkaufen, ohne je einen Fuß in sie gesetzt zu haben. Das ist dem Besitzer, dem Mieter, nicht möglich, obwohl er sie tagtäglich durchschreitet.

Das konkrete Nutzungsverhältnis des Besitzes unterscheidet sich also vom abstrakten Rechtsverhältnis des Eigentums, obwohl beide Begriffe meist synonym verwendet werden. Besitz ist ein soziales Verhältnis von Personen und Sachen. Besitz kennt folglich nur die konkret-sinnliche soziale Regulation der Nutzung, jedoch keine abstrakte. Historisch waren die meisten Commons Besitz. Mit Commons jedoch war kein Kapitalismus zu machen.

Die Commons mussten in Eigentum umgewandelt werden. Die "Schließung der Commons" (enclosure of the commons) war ein blutiger Prozess, Marx beschreibt ihn ausführlich im "Kapital" im Abschnitt über die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation". Die Nutzerinnen und Nutzer der Wälder und Felder wurden von ihrem Besitz vertrieben, sie wurden vom Zugriff auf Ressourcen ausgeschlossen und mussten fortan ihre Arbeitskraft verkaufen, da sie nichts anderes mehr hatten.

Dieser Prozess der Vereigentümlichung von Besitz wurde damit gerechtfertigt, dass nur der Ausschluss von der Nutzung eine wirtschaftliche Tätigkeit möglich macht, denn Wirtschaft sei im Kern der Umgang mit knappen Gütern. Würden die Güter nicht knapp gehalten, hätten also alle Zugriff, dann käme es zur Übernutzung der Güter, und am Ende würden alle leer ausgehen. Dieser Zusammenhang ist als "Tragik der Commons" (Garrett Hardin) in die Geschichte eingegangen. Sie basiert auf einer Verwechslung von "Niemandsland" (Ressourcen im unregulierten freien Zugriff) und Commons.

Zur Übernutzung von Gütern kommt es nur, wenn sie unreguliert erfolgt. Die historischen Commons jedoch basierten auf Besitz und schlossen eine soziale Regulation der Nutzung der Güter mit ein. Existierten solche Regulationen nicht, dann wurden die Güter oftmals nicht als Commons, sondern wie Raubgüter behandelt. So brachte der antike Holzraubbau der Römer den Waldbestand rund um das Mittelmeer weitgehend zum Verschwinden.

Die fehlende soziale Regulation kann jedoch auch das Gegenteil bewirken. Zur Unternutzung kann es kommen, wenn es keine Commoners gibt, die sich um ihre Commons kümmern können, weil sie davon ausgeschlossen wurden. Ein Beispiel für die "Tragik der Anti-Commons" sind Patente, die eingereicht wurden, um Konkurrenten am Einsatz von Forschungsergebnissen zu hindern. Ganz generell fallen alle wegen mangelnder Verwertung brachliegenden Ressourcen in privater, exkludierender Verfügung unter "Anti-Commons".

Weil soziale Regulation von Gütern dem Selbstzweck des Kapitalismus - der Verwertung von Wert - entgegensteht, mussten die historischen Commons zerschlagen werden. Gleichzeitig jedoch mussten sie in jenen Bereichen erhalten bleiben, in welche die Warenform noch nicht vorgedrungen war. Teilweise trat hier der Staat als Regulator auf, teilweise war es Angelegenheit der "Zivilgesellschaft", sich um die unverwertbaren Angelegenheiten des alltäglichen Lebens zu kümmern. Die neoliberale Privatisierungswelle hatte das Ziel, auch mit diesen Resten Schluss zu machen.

Commons können daher heute in ganz unterschiedlichen Rechtsformen erscheinen. Zwei Kurzschlüsse sind dringend zu vermeiden: Commons sind öffentliche (staatliche) Güter, und Commons sind freie Güter. Beides kann so sein, meistens treffen beide Eigenschaften jedoch nicht zu. Richtig dagegen ist: Commons sind immer auch Besitz, selbst wenn sie Eigentum sind. Commons und Commoning, Gemeingüter und ihre soziale Nutzung, gehören zusammen.

So sind etwa freie Kulturgüter wie Freie Software gemäß Rechtsform Eigentum des Urhebers. Dieser hat jedoch per Lizenz alle Nutzungsrechte an die Allgemeinheit übertragen, so dass ein Ausschluss von der Nutzung ausgeschlossen ist. Nicht-stoffliche Commons unterliegen in der Regel einem freien Zugriff, bei stofflichen Commons gibt es hingegen klare Nutzungsregeln. Ziel ist in allen Fällen, die Commons zu schützen und sie den künftigen Generationen besser und reicher zu übergeben.

Die soziale Bindung der Commons und die abstrakte, über menschliche Bedürfnisse hinweggehende Verwertungslogik des Kapitalismus sind unvereinbar. Commons und Kapitalismus sind in einen globalen Kampf eingetreten. Wo konkrete soziale Nutzungsweisen von Gütern gesichert werden können, kann der Kapitalismus sich nicht ausbreiten. Wo es jedoch gelingt, die sozialen Strukturen zu zerstören, hat der Kapitalismus freies Feld und hinterlässt nicht selten nach "getaner Arbeit" verbrannte Erde.

Mit den freien Software- und Kulturbewegungen sind Commons produzierende Bewegungen auf den Plan getreten. Sie können und sollten sich strategisch mit den Commons bewahrenden Bewegungen in den Bereichen von Saatgut, Wasser, Boden, Ernährung, Biodiversität, Klima, indigene Lebensweisen usw. verbinden, denn beide Strömungen verbindet das gleiche Ziel: die Commons jenseits von Markt und Staat zu erhalten, auszubauen und neu aufzubauen.

Der Commons-Begriff hat die Potenz, zu einer langfristigen Konvergenz der sonst sehr heterogenen Bewegungen zu führen. Eine Bewegung zur Wiederaneignung der Commons stellt die Machtfrage von unten, aus den konkreten sozialen Prozessen und Kämpfen um ein gutes Leben.

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Kapitalismus oder Entwicklungsland

Anmerkungen zur Typologie des nachsowjetischen Russlands

von Kai Ehlers

Experten aller Richtungen sind uneins, ob das, was in Russland aus der Auflösung der sowjetischen Verhältnisse entstanden ist, Kapitalismus zu nennen sei oder nicht; einig ist man sich am Ende jedoch in einem: Was da in Russland heute entsteht, ist irgendwie anders, irgendwie russisch und irgendwie nicht prognostizierbar. Optimisten sahen Russland unter Putin auf gutem Wege zur Marktwirtschaft, wenn auch zunächst unter autoritären Vorzeichen, und erwarten von Medwedew die Fortsetzung dieses Kurses, nur in leicht liberalerer Variante. Skeptiker stoßen sich an dem nach wie vor herrschenden Chaos, in dem die rechte Hand nicht wisse, was die linke tue. Pessimisten erwarten angesichts der globalen Krise wachsende soziale Spannungen, die einer Explosion zutreiben könnten. Für Russlands Gegenspieler wie den unversöhnlichen Russlandhasser Zbigniew Brzezinski befindet sich Putins Land auf dem Weg in einen faschistischen Öl-Staat.

Unterschiedlicher können Einschätzungen kaum sein und hier liegt schon eine erste Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage. Sie lautet: Die russische Entwicklung von heute entzieht sich den Kategorien der klassischen "Kritik der politischen Ökonomie", wenn man darunter das fasst, was sich seit Karl Marx in Zustimmung oder auch in Ablehnung an polit-ökonomischen und soziologischen Sichtweisen zur Klassifizierung ökonomischer Modelle im Westen entwickelt hat.

Es beginnt schon bei der Definition des Ausgangspunktes: War die Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft? Hatte sie den Kapitalismus überwunden? Hat die Perestroika eine "Rolle rückwärts zum Kapitalismus" eingeschlagen oder umgekehrt eine Rolle vorwärts? Ist das, was sich seit Einleitung der Perestroika in Russland abspielte, eine nachgeholte ursprüngliche Akkumulation, wie viele noch heute meinen, durch die Russland nunmehr im Kreise der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ankommt?

Fragen über Fragen, eine schwerer als die andere zu beantworten: Werfen wir einen Blick zurück auf die innersowjetischen Diskussionen der Jahre 1970 und folgende, dann treffen wir an vorderster Stelle auf die Analyse der Nowosibirsker Schule, damals geleitet von Tatjana Saslawskaja: Sie bezeichnet die Sowjetunion der 70er und 80er Jahre als einen "Hybrid", nicht sozialistisch, aber auch nicht kapitalistisch, wenn man unter kapitalistisch eine Gesellschaft versteht, die auf der Selbstverwertungsdynamik des Kapitals aufgebaut und von ihr vollkommen durchdrungen ist und unter sozialistisch eine Gesellschaft, die diese Dynamik aufgehoben und durch gesellschaftliche Kontrolle und gemeinschaftliche Produktion ersetzt hat.

Saslawskaja kam damals zu dem Schluss, dass keine der beiden Beschreibungen auf die Sowjetunion vor der Perestroika zutreffe; andererseits verwarf sie aber auch deren Charakterisierung als "Kommandowirtschaft". Sie wählte stattdessen die Bezeichnung "Verhandlungswirtschaft", das heißt, eine Gesellschaft, in der nicht nur Kapital, sondern auch Beziehungen des gegenseitigen Nutzens akkumuliert und der Verwertung zugeführt werden. Einfach gesagt: Geld und ein über Geld regulierter Markt war nicht das allein bestimmende Äquivalent des gesellschaftlichen Austausches und der offene Markt nicht die einzige Ebene, auf der der Austausch vor sich ging. Die Phänomene dieser Beziehungswirtschaft sind Selbstversorgung, Tausch, Privilegienhandel nicht statt, aber in Ergänzung zur Geldwirtschaft, wenn nicht gar Geldwirtschaft in Ergänzung zur Gunstwirtschaft, in der nicht der sachliche, sondern der moralische Wert das Äquivalent ist. Anders gesagt: Du hast mir einen Gefallen getan, ich tue Dir einen; das vergleicht sich nicht vorrangig in Geld- oder Sachwert, sondern in der Tatsache der gegenseitigen Hilfe.

Mit dem Stichwort der Akkumulation sind wir bei dem nächsten Problemkreis: Selbstverständlich handelte es sich bei der durch die Privatisierung eingeleiteten Entwicklung in den 90ern nicht um eine ursprüngliche Akkumulation, sondern um das genaue Gegenteil, die Umverteilung bereits akkumulierten Kapitals bzw. Volksvermögens in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Zugriffe auf die Ressourcen. Das galt zunächst für die wilde Privatisierung in den 80er Jahren, nach 1991 dann für die von Boris Jelzin eingeleitete Schocktherapie und die gesetzliche Privatisierung.

Karl Marx, um daran zu erinnern, verstand unter ursprünglicher Akkumulation die Ansammlung von Geld vor dessen Verwandlung in Kapital. Bestandteile der ursprünglichen Akkumulation sind nach Marx das Bauernlegen, die Sprengung der Zünfte, die Überwindung des Feudalismus sowie ein "wertschaffender Kolonialismus" und schließlich noch der "stückweise Verkauf" des so geschaffenen Staatswesens in der Form der Staatsanleihe bei privaten Geldgebern, durch welche dem Volk das Ergebnis der eigenen Ausbeutung verkauft und die Ausbeutung so noch einmal verdoppelt werde.(1)

All dies konnte man in Ansätzen, variiert durch Besonderheiten der zaristischen Verhältnisse, vom Ende des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland beobachten, bis die Gewalt der einsetzenden Akkumulation den Zarismus wegspülte. Die bolschewistische Revolution überführte die einsetzende kapitalistische Akkumulation jedoch in den planmäßigen, zumindest geplanten "Aufbau des Sozialismus"; Stalin steigerte die Akkumulation des staatlich kontrollierten Kapitals mit Polizei- und Militärgewalt.

Nichts dergleichen geschah im nachsowjetischen Russland: Schon in den 60er und 70er Jahren lebte die Sowjetunion vom Speck; mit der Perestroika ging man zu dessen Verteilung über. Von Akkumulation, gar von ursprünglicher, konnte keine Rede sein: Weder wurde die Bauernschaft weiter in den Verwertungsprozess des Kapitals gezogen noch das kleine Handwerk: Die Bauern und sogar die große Masse der Städter wurden Anfang der 90er im Gegenteil wieder in vorindustrielle Produktions- und Versorgungsweisen getrieben. Handwerksbetriebe, Zünfte, die zu sprengen gewesen wären, gab es nicht, nicht einmal einen auch nur ansatzweise entwickelten handwerklich oder an Dienstleistungen orientierten Mittelstand, stattdessen wurde vergeblich versucht, einen Mittelstand künstlich zu schaffen. Dieser Versuch ist bis heute nicht gelungen. Hieraus erklärt sich u.a. das Programm des gegenwärtigen russischen Präsidenten Medwedew, mehr Initiative für mittleres Kapital durch Eindämmung der Bürokratie schaffen zu wollen.

Von einer Überwindung des Feudalismus war ebenfalls nicht zu reden, im Gegenteil zerlegte der Prozess der Privatisierung die bereits zentralisierten Kapitalien in feudale Teilstücke unter der privaten Verfügungsgewalt der später so genannten Oligarchen, die sich den künstlich geschaffenen Mittelstand zudem noch als von ihnen abhängige persönliche Zuarbeiter unterwarfen. Auch von einem "wertschaffenden Kolonialismus" kann nicht die Rede sein; im Gegenteil löste Boris Jelzin den kolonialen Verband der UdSSR auf und entließ auch die russischen Republiken noch in die Eigenständigkeit.

Noch weniger gab es einen "stückweisen Verkauf" des akkumulierten Kapitals in Form von Staatsanleihen; stattdessen wurde das akkumulierte Staats- und Gemeineigentum zu Dumpingpreisen verschleudert. Das betrifft sowohl das allgemeine Staatseigentum an Ressourcen und Produktionsmitteln wie auch kommunales oder agrarisches Gemeineigentum in den Regionen, das über Beziehungen an Privatpersonen überging. Was Russland auf diese Weise erlebte, war keine ursprüngliche Akkumulation von Kapital, sondern die Umverteilung des bereits akkumulierten gesellschaftlichen Vermögens. Akkumuliert wurde, wenn man denn schon von Akkumulation reden möchte, nicht Kapital, sondern Verfügungsgewalt, Macht. Innerhalb dieser Verhältnisse spielen persönliche und politische Beziehungen eine größere Rolle als die Mechanismen der Selbstverwertung des Kapitals. Dem entsprechen auch die Methoden, mit denen Wladimir Putin dem weiteren Abbau des gesellschaftlichen Reichtums entgegenarbeitete. Das war nun mit Sicherheit nicht mehr eine ursprüngliche, sondern, wenn überhaupt, dann eine restaurative Akkumulation, die darauf gerichtet war und immer noch ist, verlorenes Kapital wieder einzusammeln - aber dies eben auch nicht mit marktwirtschaftlichen Methoden, sondern durch politische Macht. Der Aufstieg und Fall Michail Chodorkowskis sind das anschaulichste Beispiel für diese russische Realität: Nicht wirtschaftliche Macht, sondern das Geflecht gesellschaftlicher und politischer Beziehungen entschied über das Schicksal des Ölkönigs von Yukos.

Damit sind wir zur Beschreibung der heutigen Situation vorgedrungen: Weder vorwärts noch rückwärts zum Kapitalismus ist Russland gerollt; die Perestroika hat den sowjetischen Hybriden weder zum Sozialismus veredelt, wie Michail Gorbatschow und die mit ihm anfangs zusammenarbeitende Tatjana Saslawskaja das bei Einleitung der Reformen hofften, noch ihn zu einer "funktionierenden Marktwirtschaft" werden lassen. Vielmehr entstanden neue Varianten des von ihr beschriebenen Hybrids unter neuen Bedingungen, in denen Privat- und Staatswirtschaft eine noch ungeklärte Symbiose miteinander eingingen. Viele Analytiker sprachen deswegen von einer "Drittweltisierung" Russlands, ein schreckliches Wort, das einen noch schrecklicheren Zustand des Landes beschrieb. Russland sei auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit klassischer Kolonialwirtschaft reduziert worden, das vom Export seiner Ressourcen und dem Import von Fertigwaren lebe. Ende der 90er charakterisierte Tatjana Saslawskaja die so entstandene Gesellschaft als "undefinierbares Monstrum", das sich den Kriterien von "sozialistisch" oder "kapitalistisch" entziehe. Putin hat - gestützt durch die hohen Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt - diesem Monstrum ein neues staatliches Rückgrat eingezogen, das ausländische Investoren ermutigte und inländische zum Bleiben bewegte; Prinzipielles hat er an der hergebrachten Symbiose von Markt- und Staats- bzw. Kollektivwirtschaft nicht geändert. Tatsache ist: Teile der russischen Wirtschaft funktionieren heute nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage, auch nach den Mechanismen der im Westen üblichen Profitmaximierung, andere Teile entziehen sich diesen Kriterien. Die Industrieproduktion fiel im Verlauf der Reformen um gut die Hälfte, die industrielle Agrarproduktion noch stärker, die bäuerliche und familienwirtschaftliche Selbstversorgung stieg im gleichen Zeitraum in einem Maße, das die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln heute zu 60 Prozent abdeckt. Wenn es in der extremen Krise nach 1991 nicht zu Hungerkatastrophen kam, dann deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur auf die traditionell gewachsenen Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung zurückgreifen konnte, sondern diese Strukturen sich in dieser Zeit darüber hinaus zur Grundlage des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung ausweiteten. Man sprach in Russland deshalb von einer das ganze Land erfassenden Datschaisierung. Das beinhaltete: Hofgarten auf dem Dorf, Schrebergarten und kleine Parzellen für die Städter und dies alles verbunden durch ein Netz der nachbarschaftlichen Grundversorgung. In der Aktivierung dieser Struktur der gemeinschaftlich organisierten familiären Zusatzwirtschaft lag ein von den Reformern gänzlich unerwartetes Ergebnis der Privatisierung, das mindestens genau so tiefe Auswirkungen auf die soziale Struktur der russischen Gesellschaft hatte wie die Umverteilung des Staatseigentums an wenige oligarchische Nutznießer.

Theodor Schanin, russischer Agrarökonom, Lektor einer halbstaatlich geführten "Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales" und zugleich Professor an der Universität von Manchester, fand für die heutigen russischen Verhältnisse den Begriff einer "expolaren Wirtschaft". Er versteht darunter, ähnlich wie Tatjana Saslawskaja, aber weniger entsetzt als sie, Ansätze einer Mischwirtschaft, die über die bisherigen Modelle von "Sozialismus" oder "Kapitalismus", "Dirigismus" oder "Liberalismus" hinausgehe. Andere russische und auch ausländische Analytiker/innen bestätigen nur diese Sicht, wenn sie stattdessen von Unübersichtlichkeit, Clanwirtschaft, Korruption, von Nomenklatur-, Schatten- oder Mafiawirtschaft oder auch nur von einer Quasi-Rückkehr zur Beziehungswirtschaft sowjetischen Typs sprechen. Es meint immer dasselbe: Kein Sowjetismus, kein Kapitalismus, irgendetwas dazwischen. Das hat auch Putin nicht geändert; er schaffte es lediglich, den Ausverkauf der Ressourcen des Landes zu stoppen bzw. in für Russland nützliche Bahnen zu lenken, so den allgemeinen Wohlstand des Landes zu heben und eine Rationalisierung der überalterten Industriestruktur einzuleiten.

In der Ergänzung von rationalisierter Industrieproduktion, Verkauf der Ressourcen und ausgedehnter Natural- bzw. Selbstversorgung durch familiäre und gemeinschaftliche Zusatzwirtschaft liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird auch ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nur partiell - und auch nur solange die Ölgelder fließen. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung auf der Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also tendenziell auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend aus der Sicht neo-liberaler Wachstumsorientierung, fördernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation, die über die bisherigen Modelle von "Sozialismus" oder "Kapitalismus" hinausgehen.

Voraussetzung für die Weiterentwicklung der in Russland zu beobachtenden Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion weiter intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, dass die Selbstversorgung nicht nur als individueller Ausweg verstanden, sondern bewusst und kollektiv organisiert und gefördert wird, dass die Ressourcen nicht nur verkauft, sondern die Förderungsmethoden und -wege modernisiert und der Gewinn in die Modernisierung der allgemeinen technischen und sozialen Infrastruktur des Landes eingebracht wird.

Unter solchen Umständen bekäme der Terminus "Entwicklungsland" eine neue Bedeutung: Darin hieße Entwicklung nicht mehr, den so genannten entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin wäre die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Zu sprechen wäre dann von einem Entwicklungsland neuen Typs, in dem Ansätze einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung hervortreten, welche eine neue Beziehung von Lohnarbeit und anderen, durch die Lohnarbeit freigesetzten Formen der Arbeit beinhaltet. Eine solche Entwicklung wäre auch über Russland hinaus von Bedeutung. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.(2) In Russlands Reichtum, gerade in der Stärke seiner Selbstversorgungsstrukturen, liegt allerdings auch seine Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung der russischen Bevölkerung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: "Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug - unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen." Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich gerade darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren, in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet bzw. ereignen muss - und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert. Siehe noch einmal den Fall Chodorkowski.

Und hier stellen sich selbstverständlich auch Fragen an die künftige Politik Russlands: Sind die Nachfolger Putins - Medwedew, aber auch Putin selbst in neuer Funktion und die ganze neue herrschende Schicht Russlands - bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neoliberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?

In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein "Kommando" sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der im Sommer 2004 eingeleitete Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür.(3) Seit dem 1. Januar 2005 ist ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das die unentgeltlichen Vergünstigungen nach westlichem Muster in antragspflichtige Sozialleistungen verwandeln soll. Dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher aber nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Dagegen entwickelte sich ein breiter Widerstand an der Basis und in den Peripherien der Gesellschaft. Putin reagierte mit einem breit angelegten Programm der so genannten "Nationalen Projekte", die das Versprechen enthielten, die aus den Öl- und Gasverkäufen resultierenden Einnahmen ergänzend zur Modernisierung der Industrieanlagen in den Wiederaufbau der sozialen Strukturen des Landes zu führen, konkret in eine Sanierung des Gesundheits-, des Wohnungs- und des Bildungswesens wie auch der niedergegangenen Agrarwirtschaft sowie in spezielle regionale Aufbauprogramme in besonders armen Regionen. Dimitri Medwedew übernahm diese Stafette mit seinem Amtsantritt als Regierungsprogramm. Er orientierte auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7-Prozent-Marke noch übersteigen sollte. Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die "vier großen I" konzentrieren - Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier "nationalen Projekte" verwirklichen. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. Freiheit sei besser als Unfreiheit, erklärte Medwedew. Es gehe um "Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung." Praktisch und im Kern zielte dieser Ansatz darauf, der Privatisierung der Produktion nunmehr die Privatisierung des sozialen und kommunalen, also des gesamten reproduktiven Sektors folgen zu lassen, die unter Putin noch am Widerstand der Bevölkerung gescheitert war. Im russischen Sprachgebrauch wird dieser Prozess als Monetarisierung bezeichnet.

Das Aufbrechen der weltweiten Finanz- und Spekulationskrise, die den Öl- und in seiner Folge den Gaspreis auf einen Bruchteil der Höhe fallen ließ, die er vor Ausbruch der Krise hatte, ließ dieses Programm zunächst weitgehend auf Absichtserklärungen zurückschrumpfen. Mehr noch, die bisher noch nicht angetasteten kollektiven Versorgungsstrukturen erweisen sich ein weiteres Mal, wie schon so oft in der russischen Geschichte und wie zum letzten Mal 1998, als der IWF sich weigerte, Russland aus seiner akuten Krise zu helfen, als Rückversicherung für das Überleben der russischen Volkswirtschaft. Die Möglichkeit der Selbstversorgung durch Datscha und Hofgarten ebenso wie die kommunalen Versorgungsstrukturen, von denen manch einer glaubte, sie gehörten schon der Vergangenheit an, erhalten eine neue Aktualität.

Das heißt nicht etwa, dass Russland jetzt doch auf den Stand einer agrarischen Subsistenzwirtschaft zurückfiele; es zeigt aber, dass Russland sich dem Zwang der nackten Selbstverwertungsspirale des Kapitals noch entziehen kann. Die globale Finanzkrise, so paradox es klingt, rettet Russland im letzten Moment vor einer Zerstörung seiner gewachsenen Entwicklungskräfte durch die schon geplante Total-Monetarisierung und erneuert seine Fähigkeit zur Autarkie, die aus einer bewussten Weiterentwicklung seiner Hybridstrukturen zu einer Wirtschaftsform resultiert, in der marktwirtschaftlich orientierte Industrieproduktion, kontrollierte Ressourcennutzung und gemeinschaftliche Selbstversorgung bewusst miteinander verbunden werden. Mit solch einer Entwicklung könnte Russland über die herrschenden neo-liberalen Modelle von Kapitalismus hinauswachsen - gewissermaßen exemplarisch.


Literatur

(1) Siehe dazu: Kai Ehlers, Herausforderung Russland. Vom Zwangskollektiv zur selbstbestimmten Gemeinschaft? Eine Bilanz der Privatisierung; dort das Kapitel: Das Missverständnis vom Kapitalismus - Umverteilung statt ursprünglicher Akkumulation; Schmetterlingverlag, Stuttgart, 1997.

(2) Siehe dazu: Kai Ehlers, Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation; edition 8, Zürich, Mai 2004.

(3) Siehe dazu: Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung Gespräche und Impressionen; Verlag Pforte/ Entwürfe, April 2005.

Raute

2000 Zeichen abwärts

Wir basteln eine Blase - Eine Geschäftsidee

Im Kern besteht eine Finanzblase darin, dass angelegtes Geld scheinbar in Vermögenswerten anwächst, während es faktisch in den Warenkonsum geht. Der wiederum führt zu Investitionen und Beschäftigung und hält so den maroden Kapitalismus einige Jahre am Halbleben. Dass dabei das angelegte Geld verbraucht wird, ist leider ein unvermeidlicher Nebeneffekt. Daher ist der Schein wachsender Vermögenswerte so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Am unvermeidlichen Ende sind dann alle entsetzt über den "großen Betrug", dem sie vorher so willig aufgesessen sind, und fordern vehement strengere Regeln. Zugleich werden faktisch schon wieder Möglichkeiten für neue Blasen eröffnet.

So auch dieses Mal. Banken und Versicherungen stehen schlecht da, weil sie erworbene Wertpapiere zum derzeit schlechten Marktpreis verbuchen müssen. Der liegt weit unter dem Einkaufspreis. Um gigantische Milliardenabschreibungen zu verhindern, wurden im Oktober 2008 in den führenden Ländern die Bilanzregeln geändert. Nun dürfen Wertpapiere nach Einkaufspreis verbucht werden. Das schönt die Bilanzen und eröffnet zugleich die Möglichkeit einer neuen Finanzblase: Es könnte ein neuer Unternehmenstyp entstehen, nennen wir ihn "Bubble Saviour Enterprise" (kurz BSE). Dieser gibt Papiere zu z.B. 100 Euro an Banken etc. aus, zahlt kurz darauf 90 Euro pro Papier unter einem Vorwand ("Beratung" kommt immer gut an) zurück und senkt ihren Wert entsprechend auf 10 Euro pro Stück. Alle gewinnen: Das BSE nimmt 10 Euro pro Papier ein, der Käufer hat für 10 Euro einen Buchungswert von 100 Euro eingekauft. Wenn nun diese Papiere verbrieft und Ansprüche darauf weiterverkauft werden, dehnt sich zumindest ein Bläschen. Die Anleger sind gewarnt? Ja, aber vergesslich sind sie auch.

P.S.

Raute

Chinas zweideutiger Aufstieg

von Andreas Exner

"The Rise of China and the Demise of the Capitalist World-Economy", so lautet der Titel von Minqi Li's Erstlingswerk, das im November 2008 bei Pluto Press erschienen ist, übersetzt "Der Aufstieg Chinas und der Niedergang der kapitalistischen Welt-Ökonomie". Li vereint darin zwei Qualitäten, die einzeln häufig, in Kombination jedoch selten sind: einen marxistischen Zugriff auf Gesellschaft und einen breiten ökologischen Horizont. Derart ausgestattet wagt er, was bis dato selten jemand tut: das Ende des Kapitalismus zu denken.

Das Buch untersucht die Dynamik des kapitalistischen Welt-Systems und analysiert, welche Rolle der Aufstieg Chinas in diesem Kontext spielt. Minqi Li befasst sich mit dieser Frage schon geraume Zeit und resümiert seine Ergebnisse gleich zu Beginn: "Ich argumentierte, dass der ökonomische Aufstieg Chinas das kapitalistische Welt-System in der Tat auf verschiedene Weise stark destabilisieren und damit zu seinem endgültigen Niedergang beitragen würde." Dies ist auch die Kernthese von "The Rise of China".


Systemische Akkumulationszyklen

In den ersten beiden Kapiteln rollt Li im Schnellschritt die chinesische Geschichte auf, um Chinas industrielle Expansion in die Hegemonie- und Akkumulationszyklen einordnen zu können, die das Welt-System seit seinem Beginn vor rund 500 Jahren bestimmen.

Die Theorie der systemischen Akkumulationszyklen wurde von der Weltsystemschule entwickelt; vor allem in den 1990er Jahren. Ihre Grundidee findet sich bei Karl Marx, der im ersten Band des "Kapital" schreibt: "Mit den Staatsschulden entstand ein internationales Kreditsystem, das häufig eine der Quellen der ursprünglichen Akkumulation bei diesem oder jenem Volk versteckt. So bilden die Gemeinheiten des venetianischen Raubsystems eine solche verborgne Grundlage des Kapitalreichtums von Holland, dem das verfallende Venedig große Geldsummen lieh. Ebenso verhält es sich zwischen Holland und England. Schon im Anfang des 18. Jahrhunderts sind die Manufakturen Hollands weit überflügelt und hat es aufgehört, herrschende Handels- und Industrienation zu sein. Eins seiner Hauptgeschäfte von 1701-1776 wird daher das Ausleihen ungeheurer Kapitalien, speziell an seinen mächtigen Konkurrenten England. Ähnliches gilt heute zwischen England und den Vereinigten Staaten."

Fernand Braudel hatte in den 1980ern mit Blick auf den Kulminationspunkt einer spezifischen kapitalistischen Epoche die allgemeine These präzisiert, dass "jede kapitalistische Entwicklung dieser Größenordnung, wenn sie die Phase der finanziellen Expansion erreicht, ihre eigene Reife angekündigt hat: es ist dies ein Zeichen des Herbstes". Giovanni Arrighi schließlich ordnete die Ausdehnung der Finanzmärkte, die sich seit den 1980er Jahren entwickelte, in dieses langfristige Muster ein und analysierte sie als jüngste Phase "finanzieller Expansion" des kapitalistischen Welt-Systems.

Arrighi zufolge verläuft die Akkumulation nicht nur auf der Ebene des Einzelkapitals, sondern auch im Weltmaßstab als ein Zyklus G-W-G', also von Geld-Ware-Mehrgeld. Den ersten Teil des Zyklus, die materielle Expansion G-W, zeichne aus, dass Profite vorrangig in der Warenproduktion generiert werden. Die materielle Expansion führt zu Überakkumulation, verschärfter Konkurrenz und zunehmender politischer Instabilität. Sie geht daher über in eine finanzielle Expansion W-G', in der die Kapitalisten Profite vor allem durch finanzielle Anlagen und Finanzspekulation lukrieren; in der Form G-G'. Die finanzielle Expansion ergibt sich zum einen aus bestimmten "Angebotsbedingungen" - die etablierten Handels- und Produktionskanäle können die Profite nicht mehr in vollem Umfang aufnehmen; zum anderen aus der zunehmenden Geldnachfrage und Konkurrenz um Geldkapital seitens der Staaten, die damit auf Finanzierungsschwierigkeiten aufgrund der nachlassenden Realakkumulation reagieren.

Die finanzielle Expansion ist in allen Akkumulationszyklen bisher Begleiterscheinung einer sich erschöpfenden hegemonialen Macht. Der absteigende Hegemon kann seine Vorrangstellung auf diesem Weg ein letztes Mal über die Runden retten, indem er seine finanzielle Macht ausbaut und sich damit noch eine Zeit lang trotz abnehmenden technologischen und produktiven Vorsprungs gegenüber der Konkurrenz behauptet.

Die Phase der finanziellen Expansion bricht zusammen, sobald die Möglichkeiten der Realwirtschaft offenkundig überdehnt sind und der Abstieg des Hegemons aufgrund seiner nachlassenden Fähigkeit, das Welt-System zu seinen Gunsten zu regulieren, unabwendbar ist. Es folgt eine Phase, die Arrighi "systemisches Chaos" nennt, in deren gewalttätigem Verlauf der Aufstieg eines neuen, mächtigeren Hegemons ansetzt.

Marx gegenüber betont Arrighi, dass die Reihe der Hegemonialmächte nicht eine schlichte Abfolge führender Staaten, also keine "Wiederkehr des Immergleichen" darstellt, sondern durch immer größere Ausdehnung, Ressourcenausstattung und Weltmacht des jeweiligen Hegemons charakterisiert ist.


China im Zyklus

Vor Beginn des kapitalistischen Welt-Systems war China die größte ökonomische Macht. Seit 1500 begann China im Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gemessen hinter Westeuropa zurückzufallen; wie Li zeigt, stellte es allerdings noch bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts "die weltweit größte territoriale Ökonomie unter einer einzigen politischen Jurisdiktion, die für ein ganzes Drittel des globalen Bruttoprodukts aufkam", dar. Im Verlauf desselben Jahrhunderts sank China aber in die Semiperipherie des kapitalistischen Welt-Systems ab.

Die sozialistische Revolution in China kehrte diesen Abstieg um. Und die Akkumulation der 1950er, 1960er und 1970er Jahre machte schließlich das "Wachstumswunder" Chinas seit den 1980er Jahren möglich. Li betont die Erfolge der maoistischen Ära beim Kapitalaufbau und in der Entwicklung technischer Kompetenz. Die zusehends eigenzentrierte Entwicklung äußerte sich schon früh in sinkenden Importquoten maschineller Ausrüstungsgüter, aber auch in einem hohen Grad von wirtschaftlicher Diversifikation. Noch beachtlicher waren die Erfolge in den Bereichen Gesundheit und Bildung.

In den 1980er Jahren wurde China ein Stützpfeiler des Neoliberalismus. Seine riesige industrielle Reservearmee erlaubte es, Löhne durch Produktionsverlagerung zu senken und noch mehr wurde diese als eine Drohung gegen die ArbeiterInnen der Zentren eingesetzt. Chinas Niedriglohnsektoren versorgten das Zentrum mit billigen Industriegütern, was positiv auf die Profitraten der dort engagierten Kapitalien wirkte. Li begründet dies mit dem Theorem des "ungleichen Tauschs": Durch diesen Mechanismus hätten sich die Zentren einen Teil des Mehrwerts, den die lebendige Arbeit in China produzierte, angeeignet. Der vierte für den Neoliberalismus positive Beitrag Chinas war sein rasches BIP-Wachstum, wodurch sich das globale Wirtschaftswachstum deutlich beschleunigte. Schließlich wäre ohne China auch das Zahlungsbilanzdefizit der USA nicht denkbar; und ohne dieses Defizit nicht die neoliberale globale Ökonomie.

Den Neoliberalismus bestimmten ein hohes Zinsniveau, finanzielle Krisen und eine teilweise Absenkung der Reallöhne. Dazu kam, dass viele Staaten ihre Ausgaben reduzierten, um für Geldkapital attraktiv zu bleiben. Damit wurden alle drei Komponenten der effektiven Nachfrage angegriffen: öffentliche Ausgaben, produktive Investitionen und der Massenkonsum. Die finanzielle Instabilität führte viele Staaten dazu, mittels Handelsbilanzüberschüssen ausländische Währungsreserven aufzubauen.

Diese Strategie erforderte ebenso wie das Wachstum der Weltwirtschaft bei gleichzeitiger Stagnation der Nachfrage einen "Schuldner und Konsumenten letzter Ordnung" - und das waren die USA, die 2001 bis 2005 mehr als 90 Prozent der weltweiten Ersparnisse an sich zogen. 2006 stieg China zum weltweit größten Gläubiger auf und die Welt wurde im Ganzen gesehen sogar zu einem kleinen "Schuldner", wie Li zeigt.


Schuldenberge und Überkapazitäten

Li hält in seinem Buch, das im November 2008 erschienen ist, deutlich fest: Die Instabilität dieses schuldenbasierten Regimes muss in den Abstieg der USA einmünden: "Wenn der Konsum einbricht, ist es äußerst wahrscheinlich, dass die US-Ökonomie in eine tiefe Rezession mit einer anschließenden dauerhaften Stagnation fällt, wenn man sich das überproportionale Gewicht des Konsums in der US-Ökonomie vor Augen hält." Diese Prognose erhärtet sich inzwischen mit jedem Monat ein Stück mehr.

Die Möglichkeit einer neuen finanziellen Blase nach dem Muster von dot.com oder der vor 2008 expandierenden Immobilienspekulation verneint er. Dass der Dollar in Form eines Crashs abwertet, hält er für wahrscheinlich. Li ist deshalb überzeugt, dass die USA die hegemoniale Stellung verlieren werden.

Die Frage freilich ist, ob China die niedergehenden USA nach dem Muster bisheriger hegemonialer Transitionen beerben können oder nicht. Li ist skeptisch. China hing nämlich bis zum Sommer 2008 vor allem vom US-Konsum ab. Dazu kam, dass sein exzessives Investitionsniveau die Rohstoff- und Energienachfrage massiv in die Höhe trieb - eine wesentliche Ursache der steigenden Rohstoff- und Energiepreise in den Jahren vor 2008. Hätte China seinen Investitionsgalopp aufrechterhalten - so muss man im Anschluss an Li, jedoch bereits im Konditional formulieren - wären massive Überkapazitäten die Folge gewesen (die jetzt aufgrund einbrechender Nachfrage wachsen). Dazu kommt, dass Chinas Pool ungenutzter Arbeitskräfte vor dem Sommer 2008 rapide abschmolz, was bereits zu rascher steigenden Löhnen geführt hatte.

Festzuhalten bleibt, dass ein etwaiger Aufschwung - der unwahrscheinlich ist - diese Tendenzen erneut in Gang setzen würde.


Ein Dreischichten-Modell

Um die Frage zu klären, ob China der kommende Hegemon des kapitalistischen Welt-Systems werden könnte, orientiert sich Li an einem Dreischichten-Modell des internationalen Staatensystems: Zentrum, Peripherie und Semiperipherie: "Chinas innere soziale Transformation und sein Aufstieg im Welt-System drohen die Stabilität der Semi-Peripherie zu unterminieren und aus diesem Grund die ganze dreischichtige Struktur", denn: das kapitalistische Welt-System kann Li folgend nur existieren, wenn eine mittlere Schicht das Zentrum von den sozialen Spannungen und Ansprüchen der Peripherie abschirmt.

"Das mittlere Stratum ist zugleich Ausbeuter und ausgebeutet. Indem die herrschenden Eliten dem mittleren Stratum Zugang zu einem Teil des Surplusprodukts ermöglichen, kaufen sie sich die potenzielle politische Führung der ausgebeuteten Masse". Mit dem Wechsel Chinas in die Kategorie der "Wohlstands-Semiperipherie" würden, so Li, die globalen Machtverhältnisse massiv verändert - zum Nachteil des Zentrums, das nun einen immer größeren Teil des globalen Surplus mit der drastisch gewachsenen oberen Hälfte des mittleren Stratums teilen muss; und zu Ungunsten der Stabilität des Welt-Systems, da die addierten Ansprüche von Zentrum und erweiterter Semiperipherie immer schwerer auf der Peripherie lasten. Auch in einem "Szenario der Angleichung nach unten", wonach Chinas industrieller Aufstieg die "Wohlstands-Semiperipherie" unter Konkurrenzdruck und zum ökonomischen Abstieg bringt, wäre der Effekt destabilisierend, "nachdem die Staaten des Zentrums an der Spitze sich möglicherweise vereintem Widerstand und Rebellion der Peripherie und der Armuts-Semiperipherie gegenübersehen."

Li hält im Anschluss an Wallerstein deshalb fest, dass das Welt-System durch seine inneren Tendenzen über die Grenzen seiner Selbstregulationsfähigkeit hinausgetrieben wird, mit anderen Worten, "das existierende Welt-System sich seiner Endkrise nähert." Das Welt-System hängt von billigen Löhnen, niedrigen Steuern und geringen Umweltkosten ab. Alle drei Parameter zeigen jedoch eine steigende Tendenz, die sich durch den Aufstieg Chinas noch beschleunigt. Damit verringert sich der Profit, und die Akkumulation lässt nach.

Bisher konnten Akkumulationskrisen durch den Übergang der Hegemonie auf eine jeweils mächtigere Herrschaftsstruktur, geeignet die wachsende Komplexität des Systems zu regulieren gelöst werden - vom genuesisch-spanischen Machtkomplex auf Holland, anschließend auf das englische Empire, und von dort auf die USA. "Allerdings hat im Verlauf des Niedergangs der US-Hegemonie keine der großen Mächte (inklusive China) eine glaubhafte Chance die USA zu ersetzen und die nächste Hegemonialmacht zu werden. In dem Ausmaß, worin das existierende Welt-System seine Fähigkeit, sich durch eine neue hegemoniale Macht zu erneuern und zu restrukturieren, erschöpft, hat es seine eigene historische Grenze erreicht", meint Li.


Die ökologischen Grenzen der Akkumulation

Chinas hegemoniale Potenziale sieht Li in mehrfacher Hinsicht beschränkt: Erstens ist der technologische Abstand gegenüber den Zentren zu groß, zweitens verfügt China nicht über ausreichende militärische Kapazitäten, drittens weist China ein ungünstiges Verhältnis von natürlichen Ressourcen und Einwohnendenzahl auf.

Sieht man sich den vor Ausbruch der Krise projektierten Energieverbrauch Chinas bis 2035 an, ist leicht zu erkennen, dass es China grundsätzlich nicht gelingen kann, mit den USA auf konsumtiver Ebene gleichzuziehen - "im Jahr 2035 wäre praktisch kaum noch Energie übrig für die Welt außerhalb von China, Indien, die USA und die Eurozone. Es ist sicherlich unmöglich, dass ein solches Szenario Wirklichkeit wird."

Li widmet sich eingehend den verschiedenen Aspekten dieses unmöglichen Szenarios: die Verknappung fossiler Ressourcen, aber auch die begrenzten Vorräte an Uran sowie von technologisch wichtigen Metallen zeigen klar, dass die Kapitalakkumulation an innere Grenzen stößt. (Die Ökologie ist für das Kapital in seiner doppelten Eigenschaft, Stoff und Wert zu sein, keine äußere Beschränkung. Sie bildet vielmehr eine innere Grenze der Akkumulation - die Ware ist eben nicht nur Wert, sondern auch Gebrauchswert.)

Windkraft und Solarenergie könnten Li zufolge physisch gesehen zwar rund 75 Prozent des weltweiten Endenergieverbrauchs des Jahres 2005 (in Form von Elektrizität) decken, doch überfordert der dafür notwendige Ausbau und der Unterhalt dieser Technologien das System finanziell; jedenfalls solange man gleiches Konsumniveau wie vor der Krise unterstellt.

Würde der gesamte Endenergieverbrauch der Welt durch Erdöl gedeckt, so kalkuliert Minqi Li, beliefen sich die Kosten auf 4 Prozent des Weltbruttoprodukts. Schon die Produktion von Elektrizität erhöht die Kosten der Energiebereitstellung jedoch deutlich. Würde der gesamte Endenergieverbrauch durch Elektrizität gedeckt, stiegen die Kosten deshalb auf 12 Prozent des Weltbruttoprodukts.

Die Kosten eines Umbaus des Energiesystems bei heutigem Konsumniveau sind freilich in Beziehung zur Weltersparnis zu setzen, das heißt zu jener Summe, die für Investitionen zur Verfügung steht. Die globale Bruttoersparnis beträgt rund 20 bis 25 Prozent des Weltbruttoprodukts, netto beläuft sie sich auf 10 bis 15 Prozent. Würde nun der weltweite Endenergiebedarf mittels Windenergie gedeckt, so betragen die Ausgaben für die Energiebereitstellung 26 Prozent des Weltbruttoprodukts. Ein Viertel der weltweiten Wertschöpfung müsste also direkt oder indirekt der Energiebereitstellung gewidmet werden.

Die hohen Kosten der Elektrizitätsspeicherung und der nötigen Back-up-Kapazitäten sind in diesem Anteil noch nicht eingerechnet. Ein Kostenanteil in Höhe von einem Viertel der globalen Wertschöpfung entspräche einem Rohölpreis von 180 US-Dollar pro Fass. Die gesamte Weltnettoersparnis wäre in diesem Fall aufgebraucht. Ein solcher Ausbau ist folglich nur denkbar, wenn andere Ausgaben, vor allem jene für den Konsum, eingestellt werden. Dieselbe Kalkulation für Solarthermie schließlich ergibt Summen, die nicht mehr aufzubringen sind, von anderen Solartechnologien gar nicht zu reden; die sind laut Li kostenmäßig und auf den heutigen Energiebedarf bezogen "ganz einfach keine Option".

Dabei betont Minqi Li, dass "zusätzlich zu diesen Problemen herauszustellen ist, dass die Produktion erneuerbarer Energien gegenwärtig auf fossile Brennstoffe angewiesen ist sowie auf nicht erneuerbare Mineralien als materielle Inputs. Das bedeutet, dass die Expansion erneuerbarer Energien durch das limitierte Angebot nicht erneuerbarer Ressourcen behindert werden könnte." Diesen Hinweis bekräftigt Li, indem er die Grenzen von Effizienzsteigerungen und der Biomasseproduktion analysiert.

Die Folgerung, die Li daraus zieht, ist eindeutig: "Nach 2050, während die fossilen Ressourcen weiter abnehmen, überalterte Nuklear- und Wasserkraftanlagen nicht mehr vollständig ersetzt werden können und das Potenzial der Ausweitung erneuerbarer Energien sich erschöpft hat, wird die kapitalistische Welt-Ökonomie (falls sie dann noch existiert) in einen permanenten Niedergang einmünden."


Resümee

So zeichnet Li das Bild eines gesellschaftlichen Systems, das aufgrund begrenzter natürlicher Produktionsgrundlagen und einer Überdehnung seiner hegemonialen Struktur in die Endkrise eingetreten ist. Für Li ist das freilich weder ein Grund zur Resignation noch dafür, schlicht abzuwarten, sondern ganz im Gegenteil das Argument, den Kapitalismus mit größter Geschwindigkeit in bewusster Aktion aus der Welt zu schaffen: "Allem voran muss sich die Menschheit dafür einsetzen, das globale kapitalistische System so rasch wie möglich abzuschaffen. Um die totale Selbstzerstörung der Menschheit zu vermeiden, wäre - von diesem Standpunkt aus gesehen - sogar der Feudalismus besser als der Kapitalismus; klarerweise wäre irgendeine Art von Sozialismus zu bevorzugen. Wenn dieser Versuch scheitert, so wird die kapitalistische Welt-Ökonomie aufgrund ihrer eigenen Bewegungsgesetze auseinander fallen, wie ich im Buch argumentiere; und zwar nicht später als in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Allerdings wäre zu diesem Zeitpunkt schon zu viel Zeit verloren um globale Katastrophen zu verhindern. Es wird Mitte des 21. Jahrhunderts auf der ganzen Welt wahrscheinlich sozialistische Regierungen geben. Aber die Aufgabe zukünftiger sozialistischer Regierungen bestünde nicht mehr länger darin, Katastrophen zu verhindern, sondern im Versuch, diese zu überleben, während sie stattfinden."

Problematisch ist, dass Li ein Weiterbestehen des Staates voraussetzt. Auch bleibt sein Bild der sozialistischen Alternative vage. Ein nachgerade gefährliches Terrain ist schließlich die Bevölkerungsdebatte, auf die Li peripher Bezug nimmt. Zwar wäre es offenkundiger Unsinn zu behaupten, die Anzahl der Erdbewohnenden spiele für die Möglichkeit ihres auskömmlichen Lebens keine Rolle, doch scheint mir die Annahme, eine drastische Reduktion der Bevölkerungszahl sei vonnöten, ebenso problematisch. Li jedenfalls stützt sich unkritisch, wie mir scheint, auf Quellen, die davon ausgehen, dass die Weltbevölkerung dramatisch sinken muss, um unter veränderten natürlichen Bedingungen einen annehmbaren Lebensstandard für alle gewährleisten zu können.

Die Generallinie der Argumentation von Li beeinträchtigen diese Einwände freilich nicht. Und so ist ihm - mit Ausnahme der Hoffnung auf eine "Welt-Regierung" - darin beizupflichten: "Wenn die katastrophischen Folgen des Klimawandels nicht verhindert werden können, so wird die ganze Menschheit um das Überleben kämpfen müssen. Sofern der Überlebenskampf allerdings unsere besten intellektuellen und moralischen Potenziale mobilisiert, dann könnte die Menschheit unter einer sozialistischen Weltregierung die Krise in einer relativ geordneten Weise überleben, während sie die wichtigsten Errungenschaften der kapitalistischen Zivilisation, nicht zuletzt jene der modernen Wissenschaft und Technologie, bewahrt."


Minqi Li: Rise of China and the Demise of the Capitalist World-Economy,
Pluto Press 2008, 192 Seiten, ca. 25 Euro (Taschenbuchausgabe 2009 bei Monthly Review Pr, ca. 15 Euro)

Raute

Rebellen gegen die Zukunft(*)

Für eine Kritik der industriellen Vernunft

von Massimo Maggini

Das Buch von Kirkpatric Sale über die Bewegung der Ludditen (Rebels Against the Future. The Luddites and Their War on the Industrial Revolution, 1996) bietet eine gute Gelegenheit, über Themen nachzudenken, die gerade heute auf der Tagesordnung stehen: die Arbeit, das Industriesystem und unsere Beziehung zur Technologie beispielsweise.

Der Text ist auch insofern brennend aktuell, als hinter dem Vorhaben, die sich in Zentralengland um 1800 entwickelnde Bewegung der Ludditen nicht in der üblichen Banalität aufzufassen, der Anspruch steht, eine radikale Kritik des kapitalistischen Industriesystems wiederaufzunehmen, die heute dringender und wichtiger denn je ist.

Entstanden in den Anfängen der und in Gegnerschaft zur ersten industriellen Revolution verbreitete sich die Ludditenbewegung zunächst in Nottinghamshire, dem Land der Sage von Robin Hood (auch Ned Ludd selbst, die Leitfigur der Bewegung, war kaum mehr als eine Legende), und griff bald auf die benachbarten Grafschaften im Herzen des alten Britannien über. Diese traditionsreiche Region mit ihren sehr alten und kohärenten Gemeinschaften hat als erste die zerstörerische Wirkung der kapitalistischen Modernisierung zu spüren bekommen. Die auf dem Weberhandwerk beruhende Wirtschaft wurde in wenigen Jahren umgewälzt. Mechanische Webstühle nahmen den Betrieb auf, die Prototypen jener technologisch fortgeschrittenen Industrie, die nur zu bald in der ganzen Welt auf tragische Weise bekannt werden sollte.

Die Konsequenzen dieses schnellen und gewaltsam erzwungenen Wandels waren für die lokale Bevölkerung dramatisch und können als Paradigma für die Erfahrungen genommen werden, die nach den Engländern weltweit Menschen als kapitalistische Modernisierung leidvoll betroffen haben:

• Arbeitslosigkeit und wachsende wie dauerhafte materielle und moralische Verelendung,
• Traditionsbruch mit dem Ende der herkömmlichen sozialen Sicherheiten,
• exponentielles Bevölkerungswachstum,
• schwerwiegende Umweltzerstörung,
• Landflucht in unlebbare Städte,
• intensive Ausbeutung der neuen "hands", vor allem der Frauen und Kinder.

Um sich eine Vorstellung von den Auswirkungen der industriellen Mechanisierung der Arbeit zu machen, braucht man nur daran denken, dass binnen eines Jahrzehnts die frühere Leistung von 200 Arbeitern von einem einzelnen Menschen erbracht wurde.

Das alles führte zum Aufstand der Ludditen, der jedoch bald in Blut erstickt wurde - vom englischen Staat, der sich stets durch seinen Eifer auszeichnete, den industriellen Kapitalismus und seine Propheten zu schützen. Zum Beweis, wie sehr der Luddismus die entstehende Unternehmerklasse geängstigt hatte, wurde ihm nach seiner Niederwerfung eine Spezialbehandlung zuteil. Nicht nur die Bewegung sollte besiegt werden, sondern auch noch ihr Andenken - indem ihre Taten lächerlich gemacht und ihre Bedeutung heruntergespielt wurde.

Dazu musste, wie man heute sagen würde, wirksame "Medienarbeit" geleistet werden: Ein Propagandaapparat setzte sich also in Bewegung mit ausgesuchten Informationsexperten und Medienprofis, alle vereint in dem heißen Bemühen, ein despektierliches und entstelltes Bild des Luddismus zu schaffen. Auch die klassische Linke, durchaus die progressive, tat mit und trug vor allem unter der Industriearbeiterschaft entscheidend zur Verbreitung der Vorstellung bei, dass die Ludditenbewegung nichts als eine engstirnige, rückständige Gruppe verzweifelter "Maschinenstürmer" gewesen ist, Leute, die unfähig waren, das Positive am Neuen zu erkennen und die Veränderungen gutzuheißen, die dieser Fortschritt für alle früher oder später notwendigerweise in der Form von wachsendem Wohlstand bringen würde.


Kritik noch aktuell

Dieses Bild der Ludditen als einer Bewegung von der Vergangenheit verhafteten Obskuranten, die überwunden werden musste, ist bis in unsere Tage wirksam geblieben. Allerdings nicht in dem Ausmaß, wie es sich die siegreichen Kapitalisten jener Epoche wohl gewünscht haben. Nach Kirkpatric hat der Luddismus nämlich unter den Leuten bis heute immer wieder Interesse, Attraktivität, ja Faszination erregt, was klar macht, wie sehr die Kritik dieser ersten "Rebellen gegen die Zukunft" zugetroffen hat.

Welches sind nun die Punkte, die diese Kritik immer noch aktuell machen?

Kritik des Begriffs Fortschritt: Zunächst gewissermaßen instinktiv, doch dann zunehmend elaboriert bestritten die Ludditen die Berechtigung des Begriffs von einem abstrakten "Fortschritt", dem sich alle beugen und ihre Existenz und ihr Land opfern müssten.

Kritik der abstrakten Arbeit und des Systems der Lohnarbeit: Sie widersetzten sich leidenschaftlich einem Arbeitsregime, das von Rhythmen und Erfordernissen reguliert wurde, die den ihnen vertrauten entgegengesetzt waren, welche noch auf einem nicht objektivierenden Naturverhältnis beruhten, das wir heute als "nachhaltig" bezeichnen würden, und auf einer "Conviviality", in der die Arbeit und die ihr gewidmete Zeit zwar angemessene Bedeutung hatten, aber nicht im Leben des Individuums wie auch in dem der Gemeinschaft absolut vorherrschten.

Kritik der Privatisierung der Natur: Die Ludditen übten diese in voller Schärfe, angefangen von den berüchtigten enclosures (Einhegungen), die der Commune das Recht zum gemeinschaftlichen Gebrauch der Naturgüter nahmen. Die enclosures waren der entscheidende Übergang nicht nur zur raschen Verelendung der Bevölkerung, sondern auch zur Etablierung jener Aneignung und Privatisierung der Natur, ohne die der Kapitalismus nie hätte entstehen können.

Diesen Kritikpunkten könnten wir noch weitere hinzufügen: die Entfremdung der Individuen, die mit der industriellen Revolution und Gleichschaltung völlig ihre Identität verloren; den im kapitalistischen Sinn verstandenen Reichtum, der sich stark von dem bis dahin noch bekannten unterschied, der sich nicht einfach in Geld, sondern in menschlichen Beziehungen bemaß; die Beschleunigung, die den langsamen und ruhigen Abläufen einer Gesellschaft der geschickten Handarbeit unbekannt war, die sich auf die eigenen Bedürfnisse ausrichtete, ohne dabei auf die Freuden des Lebens zu verzichten. - Alle diese Anklagen sind nicht bloß berechtigt und einer aufmerksamen Lektüre wert, sondern sie sind heute vielfach aktueller als seinerzeit.


Möglichkeiten ganz anderer Art?

In der sich heute entfaltenden kapitalistischen Krise, die in der Epoche der mikroelektronischen Revolution für das System sogar endgültig sein könnte, sind die Kämpfe und Parolen der englischen Ludditen für uns durchaus lehrreich. Heute fragen sich viele, wohin man weitergehen soll, welche Perspektiven der Befreiung möglich sind, wenn der Kapitalismus verfällt. Die meisten, vor allem in der Linken, befürchten Krieg und Zerstörung (als ob wir vom Entstehen des Kapitalismus bis heute so viel anderes gesehen hätten) oder im "besten" Fall Massenelend und Bandenkriege in einer sich auflösenden Gesellschaft, welche die Verfallserscheinungen nicht mehr kontrollieren kann, die sich nach der Meinung vieler unweigerlich einstellen würden, vor allem wenn der Verfall des Kapitalismus zugleich den Niedergang der Nationalstaaten bedeutet.

Muss das aber unbedingt so ablaufen? Ist dieses Schicksal wie ein göttliches Diktat über uns verhängt oder können sich unerwartete Szenarien auftun, Möglichkeiten ganz anderer Art? Verschließt sich mit dem Verfall der Nationalstaaten wirklich jede Perspektive eines sozialen Lebens oder könnte es im Gegenteil nicht so sein, dass sich eigentlich erst dann die Möglichkeit neuer nicht von Herrschaft bestimmter Gemeinschaftlichkeit eröffnet, die erst da endlich entstehen kann?

Das müssen für jetzt Fragen bleiben, aber Fragen immerhin zum Nachdenken, auch anhand der Erfahrung der Ludditen. Das heißt auch, wir sollten ganz positiv über die Möglichkeit nachdenken, dass wir vielleicht bald eine Welt aufzubauen oder besser wiederaufzubauen haben, ohne dafür bei Null beginnen zu müssen. Ein "Zurück in die Vergangenheit" ist streng genommen weder erstrebenswert noch wirklich möglich. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, welche Art von Beziehung wir zur Technologie haben sollten, ob sie einfach "umorientiert" werden soll, um einen Ausdruck des Theoretikers der "décroissance" (Wachstumsrücknahme), Serge Latouche, aufzunehmen, oder ob sie radikal neu durchdacht werden muss, zusammen mit der Produktionsweise und ihren Zielen - damit wir nicht wiederum einen absurden Golem zum Leben erwecken. Vor allem aber geht es darum, von einem selbstbezüglichen System, das auf der verrückten Anhäufung von Wert zum bloßen Zweck immer weiterer Anhäufung beruht, zu einer solidarischen, schlichten und konvivialen Lebensweise überzugehen. Ein Übergang mit Schwierigkeiten, der eine Entgiftung von den Dämpfen des Kapitalismus erfordert, aber nichts Unmögliches. Eine Herausforderung, die wir jedenfalls annehmen sollten, und durchaus mit Vergnügen.

* Aus dem Italienischen übersetzt von Lorenz Glatz.

Raute

2000 Zeichen abwärts

Markt

Als ein Geschöpf sich arbeitsteilig reproduzierender Gesellschaften dient formell oder aus Sicht derer, die er versorgt, der Markt der Distribution von Gütern und der Befriedigung der auf diese Güter gerichteten Bedürfnisse. Reell hingegen oder in der Perspektive derer, die ihn betreiben, bezweckt der Markt die Produktion von Gütern um des in ihnen verkörperten Wertes willen. Wert ist der mittels Produktion von Gütern für den Markt, mittels Arbeit, etablierte Anspruch auf entsprechende Bedürfnisbefriedigung durch den Markt. Diesen Anspruch, den als Geld eine eigene, abstrakte Repräsentanz gewinnenden Wert, treten die Betreiber des Marktes an die Produzenten ab, sofern diese ihnen dafür mehr in Gütern verkörperten Wert, mehr Anspruch auf Güter des Marktes, liefern. Es entsteht so ein unendlicher Zirkel zwischen der Schöpfung von Wertverkörperungen für den Markt und der Investition des geschaffenen Werts in die Schöpfung neuer Verkörperungen, dem die Tatsache, dass es dabei jeweils um Wertvermehrung, Akkumulation des Werts, geht, Spiralform verleiht. Praktische Konsequenz dieser Spirale ist die Entfaltung der Produktionssphäre, die sich in der doppelten Gestalt einer immer extensiveren Einbeziehung menschlicher Arbeit in und einer immer intensiveren Nutzung menschlicher Arbeitskraft für die marktförmig organisierte Wertschöpfung vollzieht. Offen bleibt, was der letzte Zweck dieser vom Markt qua Wertakkumulation verfolgten spiraligen Entwicklung ist beziehungsweise ob ein solch letzter Zweck überhaupt existiert - ob es dabei mit anderen Worten um die Entfaltung der menschlichen Produktion und Produktivität oder um die Wertbildung als solche geht, darum also, den durch Arbeit, die Produktion von Gütern, begründeten Anspruch auf Letztere systematisch in die Verfügung über weitere, durch ihre Güterproduktion noch mehr Anspruch begründende Arbeit zu transformieren, nur um diesen vermehrten Anspruch wiederum in ein Mehr an Verfügung umzusetzen.

Sicher ist jedenfalls, dass für diese schlecht unendliche Spirale die erwähnte formelle Funktion des Markts, die Distribution von materialen Bedürfnisbefriedigungsmitteln, keine konstitutive Rolle spielt.

U.E.

Raute

KOLUMNE Dead Men Working

Im Puff & im Krieg

von Maria Wölflingseder

Viel wird über die Wirtschaftskrise berichtet - überwiegend Nonsens, selten Richtiges. Vor dem Hintergrund der medialen Gesundbetmühle lässt die Feststellung eines Psychologen aufhorchen: Nachrichten über eine Katastrophe werden zuerst vehement verdrängt und viel später erst leidvoll wahrgenommen - oft verbunden mit aggressivem Verhalten. - Auch vor dem zu erwartenden starken Ansteigen der Arbeitslosigkeit wurden bis dato die Augen verschlossen. Aber angesichts der Zahlen der offiziellen österreichischen Februar-Statistik (die wie stets eine geschönte ist) wird weiteres Verdrängen schwer fallen: in Oberösterreich Erhöhung um 44 Prozent im Vergleich zu Februar 2008, 30 Prozent in der Steiermark, ca. 24 Prozent im Bundesdurchschnitt. - Nichtsdestotrotz dürfen Langzeitarbeitslose weiterhin ungestraft von KursleiterInnen beschuldigt werden, mit ihren Bewerbungsschreiben und -strategien stimme etwas nicht; sonst wären sie ja nicht so lange ohne Job. Auch AMS-Chef Johannes Kopf persönlich sondert auf die Frage, warum AkademikerInnen zum wiederholten Mal zu einem (meist fünfwöchigen) Bewerbungskurs oder IT-Fachleute zur Absolvierung des PC-Führerscheins gezwungen werden, dieselbe dümmliche Worthülse ab (Radiokolleg Ö1, 3.3.2009, Thema: Lebenslanges Lernen). Würden Arbeitslose als vollwertige Subjekte gelten, könnten dann hier nicht mehrere Tatbestände des ABGB ins Auge springen? Etwa üble Nachrede, Ehrenbeleidigung, Ruf- und Kreditschädigung?

In das Konzept der Verdrängung passt auch folgende Sendung des bei der mainstream-kritischen Intelligenzia so beliebten Radios Ö1. Petra Bock aus Berlin durfte ausgiebig PR für sich und ihr neues Finanzcoaching-Buch machen: Nimm das Geld und freu Dich dran. Wie Sie ein gutes Verhältnis zu Geld bekommen. Insbesondere Frauen stünden sich finanziell meist selbst im Weg, denn ob man wenig oder viel Geld hat, sei angeblich vor allem auch eine Frage der eigenen "Denkmuster". Bock verrät "den Weg zu einem authentischen Wohlstand". Dieser fängt bei einem "guten, tabulosen und entspannten Verhältnis zu Geld" an, führt über unser "Selbstwertgefühl und unsere Haltung der Welt und dem Leben gegenüber" zu einem ganz persönlichen, neuen "Geldbewusstsein". Dass das nichts mit Esoterik zu tun habe, muss bei einem Buch des Kösel-Verlags - spezialisiert auf Ratgeber, Spiritualität und Religion - schon extra im Klappentext vermerkt werden.

Was würde wohl die Unzahl der neuerdings von Armut Betroffenen zu dieser angebotenen Heils(irr)lehre sagen? Oder umgekehrt gefragt: Glaubt die gute Frau Bock-Gärtnerin wirklich, dass, wenn alle ihre Ratschläge befolgen würden, das Geld wieder flächendeckend üppig zu spießen begänne?

Welche Tricks würde Finanzcoach Bock jenen jungen Frauen verraten, die sich in immer größer Zahl - nicht mehr nur in den so genannten unterentwickelten Ländern und in Osteuropa, sondern immer mehr auch in Westeuropa oder den USA - gezwungen sehen, sich als Prostituierte zu verding(lich)en, um überleben zu können? Oder all jenen jungen Männern - etwa in der südliche Hälfte Italiens -, denen als einzig legaler Job (Stichwort: Mafia und Camorra) nur der Militär-, sprich der Kriegsdienst bleibt? Die allgemeine Verdrängungsleistung gegenüber der sich immer durchgeknallter gebärdenden "Arbeitswelt", sprich: Lebensmöglichkeit, scheint sich aus einem unerschöpflichen Reservoir an Pferdestärken zu speisen. Sogar weite Teile der feministischen Bewegung fordern ja lediglich, "Sexarbeit" als "normale" Arbeit anzuerkennen und "gerecht" zu entlohnen! Ganz nach dem Motto: Dem Arbeitsgott opfern wir unseren Körper, unsere Seele, und wenn's sein muss auch unser Leben.

Zwei Studentinnen, aus Deutschland bzw. Frankreich, und eine Akademikerin aus den USA haben ihre Erfahrungen, ihren "Werdegang" als Hure in Büchern veröffentlicht. In Frankreich verdienen etwa 40.000 Studentinnen (und in geringerer Zahl Studenten) ihren Unterhalt im Escort Service, als Callgirls und -boys und im Puff. Auch in Deutschland und Österreich scheint diese Art von Studentenjob immer öfter zum Rettungsanker zu werden. Die Scham der Betroffenen und die Verdrängung dieses Themas in der Öffentlichkeit sind eine ideale Kombination für die Simulation des Business as usual.

Erste Einblicke gewähren folgende drei Bücher: Meine lukrative Exkursion in das älteste Gewerbe der Welt (Goldmann Verlag 2004). Jeannette Angell konnte mit ihrer Teilzeitstelle als College-Lehrerin weder ihren Lebensunterhalt bestreiten noch ihre Schulden abstottern - dies gelang nur mittels Zweitjob als Callgirl. - Die Französin Laura D. geriet über ein Internet-Angebot eines "reifen Mannes", das sie als einmalige Verdienstmöglichkeit wahrnehmen wollte, in die einschlägige Branche (Mein teures Studium: Studentin, 19 Jahre, Nebenjob: Prostituierte, C. Bertelsmann Verlag 2008). - Sonia Rossi, Italienerin aus "gutem Hause", sah sich genötigt, ihr Mathematik-Studium in Berlin via Sex-Chat, nackt vor der Webcam, im Massagesalon und schließlich im Puff zu finanzieren (Fucking Berlin, Ullstein Verlag 2008).

Eine geradezu mörderische (sic!) Verdrängungsleistung wird - vor allem in den USA - von Staats wegen verordnet, wenn es darum geht, die hohe Zahl an getöteten, verkrüppelten und schwer traumatisierten SoldatInnen ja nur nicht aufs Tapet zu bringen. Das Ausladen der 5000 Särge mit den Gefallenen aus dem Irak und aus Afghanistan durfte bis dato nicht gefilmt oder fotografiert werden. Jetzt erst wurde dieses Verbot aufgehoben. - Dass den meisten jungen Süditalienern keine andere legale Geldquelle bleibt als an den blutigen Fronten der westlichen "Friedensmissionen", ist weder in Norditalien geschweige denn anderswo bekannt. Roberto Saviano beschreibt in seinem schmalen, aber umso eindrucksvolleren und wunderbar poetischen Band Das Gegenteil von Tod (Hanser 2009) die "Gegend, die voll ist mit Kriegsheimkehrern" aus "vielen Schichten" von Kriegen; über Soldaten, die aus Bosnien, aus Mosambik, aus Somalia, aus dem Kosovo, dem Irak und aus Afghanistan heimgekehrt sind oder die schon im Libanon waren; über "Soldaten, von denen nur ihr Körper heimgekehrt ist, verbrannt, verstümmelt, zerstückelt", heim zu den jungen Frauen, die oft vor der Hochzeit schon zu Witwen geworden sind.

Wahrlich ein glorreiches Wirtschaftssystem, in dem immer mehr junge Leute nur noch im Puff oder im Krieg ihren Lebensunterhalt verdienen können!

Raute

Transformation statt Demokratie

Krise, Mitbestimmen und der Schnee der Inuits

von Lorenz Glatz

Von der sich jetzt entfaltenden Weltwirtschaftskrise habe ich schon in den sechziger Jahren in der Schule gelernt, nämlich, dass es sie nicht geben wird. Und in den Achtzigern hat mir ein hochgebildeter Kommunist (ML) gestanden, dass er es nunmehr auch glaube, dass der Kapitalismus seine Krisen einigermaßen im Griff hat. Und dass dann ein paar Jahre später überall die KPs zerknirscht vor der Marktwirtschaft das Knie gebeugt haben, weiß sowieso jeder. Es war also sehr angebracht, dass sich unlängst in Davos beim Weltwirtschaftsforum einer aus der Chefetage ganz formell dafür entschuldigt hat, dass jetzt alle so enttäuscht sind. Bloß, die Krise selber ist schon gegessen, sie war nicht einmal das Thema der illustren Runde. Die wollten lieber gleich "die Welt nach der Krise gestalten", mit mehr Regulation, versteht sich, damit sowas wirklich nimmer vorkommt.

Auch im Unterhaus redet man in erster Linie davon, wie wir uns für den nächsten Aufschwung "aufstellen" und dann dafür sorgen, dass uns so eine Krise wieder "nie wieder" unterkommt. Bis dahin muss, da sind sich Lohnarbeit und Kapital ganz einig, der Staat "Geld in die Hand nehmen" - und mit der Bevölkerung als Milliarden- wenn nicht Billionen-Bürgen den ultimativen Bubble aufblasen. An dessen absehbares Platzen denkt lieber keiner. Und Meinungsverschiedenheiten gibt es nur darüber, wie viel "Erhalt der Kaufkraft" zwischen den Riesenbrocken Bankenrettung und Betriebs"sanierung" reinpasst. Dabei haben die Gewerkschaften so wie bei der anrollenden Kündigungswelle nicht gerade gute Karten.


Ein Passepartout...

Am meisten wird an den Rändern, so öffentlich es eben geht, davon geredet, wie die Krise zu überstehen und zu überwinden ist. Freilich interessieren mich da nicht die Angstbeißer vom Schulterschluss der "Heimat" gegen die drohende Fremde. Ich schaue auf die Leute, die von einem Ausweg reden zu einem guten Leben für alle Menschen im Norden wie im Süden, solidarisch und mit Bedacht auf die Natur. Denn zwischen einem Bemühen, das "die Anderen" als meinesgleichen ansieht, und dem entsetzlichen Aufmarsch gegen Asylanten, Migranten, Ausländer, Heuschrecken, Zocker und immer wieder Juden für Heimat, Nation, Rasse, Standort und dergleichen Katastrophen verläuft die Scheidelinie zwischen einer möglichen besseren Zukunft und den letzten Tagen der Menschheit. Wenn ich mich da jedoch nach einem Weg umsehe im Spektrum von Attac, diversen Kirchen- und Gewerkschaftsleuten, Linksparteien und all den kleineren mehr oder weniger radikalen Initiativen und Gruppen, dann stolpere ich gleich zu Beginn über "demokratisch". Eine solche "Wende" brauche es, so müsse umgebaut, kontrolliert, reguliert und ausgerichtet werden. Was? - Das Geld, die Arbeit, die Märkte, die Wirtschaft und die Politik. Und das demokratisch? - Demokratie als Kampf um die Mehrheit bei den Wählern und die Macht im Staat und seinen Institutionen ist ein Passepartout, in das nicht nur Reform wie Revolution reinpasst, sondern mehr noch: Sie ist in der Politik von links bis rechts zum Troubleshooter avanciert für alles und das Gegenteil, woran die Gesellschaft nach jeweiliger Meinung leidet. Wer Demokratie nicht mag, der grenzt sich aus, hat bei den etablierten Rechten so wenig Platz wie bei den Christen, Sozis, Alternativen und den Linken. Und wo immer man sich dazu bekennt, dass das Recht vom Volke ausgeht, behaupten jederzeit zur selben Zeit die einen, dass sie dieses Recht verteidigen, die anderen, dass sie es erkämpfen und die einen es verraten. Das Wort ist leer und sagt nicht mehr, als dass der Staat die Hand drauf haben soll. Wofür es in diesen schlechten Zeiten von links bis rechts eine recht große Mehrheit gibt. Bloß dafür nicht, dass unsere wohlmeinenden Demokraten die Regierung stellen.


 ... für die Rettung der Essentials der alten Ordnung

Die Demokratie dem Regime von modernem Staat, Geld, Kapital, Markt und Lohnarbeit feindlich entgegenzustellen, tut letzterem Unrecht. Freilich hat es dafür schon einer gewissen staatsbürgerlichen Reife des Proletariats bedurft. Erst als die Proleten auch ihre Arbeit für Profit und Geldvermehrung meinten, wenn sie das Preis-"Lied der hohen Braut" anstimmten, und den "Volksstaat" als ihr Ziel ansahen, zog mit ihnen die neue Zeit.

Auf diesem Boden von Staat und (abstrakter) Arbeit konnten sie die Demokratie erringen, denn diese bedeutete dann selbst in der Wirtschaftsdemokratie einer Arbeiterselbstverwaltung nicht mehr als Selbstbeherrschung nach den Regeln eines Weltsystems von Staat, Arbeit und Profit. Ja, "ein guter Arbeiter" sein zu müssen, ist heute für die Putzfrau so selbstverständlich wie für den Herrn Direktor.

Das angesprochene "Lied der Arbeit" ist auch weiter aufschlussreich. Es definiert auch schon das Weltverhältnis dieser Arbeit: Sie hat "die Erde sich zum Knecht gemacht" und "alle Elemente (ge)spannt ins harte Eisenjoch". Dieses liberale Glücksversprechen von Reichtum und Wohlstand durch die so genannte Zähmung der Natur hat sich - heute unschwer für jeden, der hinschaut, erkennbar - im Zeichen der Kapitalverwertung schwungvoll als blinde Weltzerstörung entwickelt.

Welt ist jedoch nicht bloß "das Andere", das sich die Menschen durch Arbeit "untertan zu machen" haben, wie aus der Bibel vorgelesen wird. Sie besteht ganz wesentlich auch aus "den Anderen". Nicht nur für wilde Tiere, auch für diese gab die besungene Arbeit "Bogen, Pfeil und Spieß". Und als da noch die Kanonen, Granaten und Gewehre dazu kamen, profitierten auch die europäischen Arbeiter bald ganz von der Unterdrückung der Kolonien. Die "vaterlandslosen Gesellen" zogen als die besten Soldaten der Weltgeschichte in die Kriege ihrer Nationen und schließlich gerierte sich auch das mittlerweile verblichene "sozialistische Lager" in seinen Pakten und Kriegen genau so wie sein angebliches Gegenteil.

So ist die historische kapitalistische Dreieinigkeit (selbst im realsozialistischen Staatskapitalismus erkennbar) nun einmal verfasst: aus Anlage suchendem Geld, Geld suchender Arbeitskraft und dem von beiden mit Geld ausgehaltenen Organisator, Regulator und Standort Staat. Dieser Komplex entwickelt sich in einem erbarmungslosen Wettlauf um Profitabilität, um die optimale Vermehrung investierten Kapitals, um das endlose Wachstum des Gelds. Und das muss man der Demokratie lassen: Sie ist nirgends stärker und angesehener als dort, wo dieser Prozess am längsten, effektivsten und erfolgreichsten war, ja sie ist noch in der tiefsten Krise die Trumpfkarte der Alteingesessenen in dieser globalen Verdrängungskonkurrenz. Schließlich ist Demokratie realiter der Ausdruck davon, dass alle Beteiligten von den Verhältnissen nicht bloß mitgezogen werden, sondern sich von dem Kakao, durch den man sie zieht, auch noch satt zu trinken versuchen (müssen).

Es liegt eben an der Konstitution dieser Demokratie: Solidarität und Kooperation kommen im Getriebe der Verwertung nie den Menschen zugute, sondern (wenn überhaupt) den einen gegen die anderen. Bei den Rechten steht das schon länger im Programm. Die Linken mausern sich meist erst dann, wenn sie mit Hilfe der Demokratie in Vertretungskörperschaften und in staatliche Schaltstellen kommen, zu Realpolitikern. Die Fundis sind dagegen, sie wollen Konkurrenz wie auch die Klassen abschaffen. Das halte ich für völlig richtig, bloß ist es hilflos, von Verrat an der wahren Demokratie zu reden; denn Konkurrenz gehört wesenhaft zur Demokratie, die als Staatsform jene zu verwalten und zu regulieren hat.


Demokratie und Mitbestimmen

Wo wir Schnee wahrnehmen, sehen Inuits mehr als ein Dutzend ganz verschiedener Dinge. Ohne diese Unterscheidungen könnten sie in ihrer Umwelt gar nicht existieren. Es empfiehlt sich aus demselben Grund, auf Demokratie und Mitbestimmen wie jene Nordländer auf den Schnee zu schauen. Vermutlich meinen die meisten Leute mit Demokratie schlicht, dass wir was mitzureden und zu bestimmen haben, wenn es um unser Leben geht. Was da aber ganz demokratisch so herauskommt in den vorgesehenen Bahnen von Arbeit, Geld und Konkurrenz siehe oben. Das haben die Leute aber kaum gemeint.

Mitreden, Mitbestimmen ist vielleicht eben eine ganz andere Sorte Schnee. Das Konkurrenzsubjekt, der Nutzenmaximierer homo oeconomicus ist kleiner als das Individuum, das sich in diese Rollen zwängt. Wir können und tun täglich auch anderes. Ja, die meisten Menschen würden wohl ihre Geburt nicht überleben, wenn sie nicht einfach gepflegt würden, weil sie wer mag, sich ihnen verbunden fühlt und nicht nach Interesse und Nutzen kalkuliert oder durch Recht, Strafe und sozialen Druck dazu gezwungen werden muss. Nur so ist in Wahrheit auch unser Alltag aushaltbar, denn die Menschheit kommuniziert gewissermaßen "artgemäß" nicht bloß als Arbeits- und Geld-Zusammenhang, sondern darunter, darüber, darinnen und vor allem daneben auch als ein Gewebe sozialer Verbundenheit. Das Institut der Herrschaft von der Entstehung des Patriarchats bis zur unpersönlichen Diktatur des Werts hat dieses Gewebe immens strapaziert, völlig versachlichen aber kann es unsere Beziehungen aber höchstens mit der Ausrottung der Menschheit. Was die Herrschaft freilich auch nicht überlebte.

Mitreden, Mitbestimmen darüber, wie wir aus der grassierenden Weltkrise unserer Lebensweise herauskommen, kann und soll daher auch den Bruch mit dieser meinen, dass wir nach einer Gestaltung der Beziehungen unter unsresgleichen suchen, die mit den Zwängen der siamesischen Zwillinge Staat und Wirtschaft brechen: Absprache und gegenseitige Hilfe statt Markt und Kapital, Solidarität und Kooperation statt der, nicht für die Konkurrenz (Vorstellungen übrigens, die in nuce schon im Widerstand gegen den Frühkapitalismus auftauchten und zum Fundus dessen gehören, woran heute angeknüpft werden kann). Die Elemente eines nicht geld- und warenförmigen, sondern mitmenschlich freundschaftlichen Umgangs sind unter uns aufzufinden, sie sind fragmentiert, in ihrer Reichweite oft beschränkt, sie werden zerstört, entstehen aber hier und da immer wieder neu. Sie organisieren sich auch, von der Freien Software über Solidargenossenschaften bis zu egalitären communities und vermutlich manchem anderen, von dem ich gar nichts weiß. So winzig diese Dinge auch sind, nur sie können uns eine Vorstellung geben von dem, was möglich ist.


Es wird Zeit

Wir Menschen sind - als Art wenigstens - ziemlich flexibel und kommen auch mit den trüben Verhältnissen, die wir uns eingebrockt haben, viel länger, als uns gut tut, irgendwie zurecht, indem wir diese und uns selber so weit verrenken, wie es nur möglich ist. Im historisch anstehenden Fall allerdings wird der Spielraum dafür umso enger, je mehr sich die totalitäre Logik der kapitalistischen Verwertung in die Realität entfaltet und alle Bereiche von Natur und Mensch sich einzuverleiben zu nehmen versucht.

Die kapitalistischen Krisen haben ihre tiefste Grundlage immer schon im Gegensatz zwischen der Unendlichkeit der Kapitalbewegung und der Endlichkeit des Menschen und seiner Welt. Mit den sich vertiefenden Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals, den sich anbahnenden ökologischen Katastrophen und der sich abzeichnenden Rohstofferschöpfung bekommt die jetzt anlaufende Krise unserer Lebens- und Wirtschaftsweise einen Hauch von Endgültigkeit.

Die Reaktion der Menschen tendiert bei übermäßigem Druck zu den Polen deprimiert und ausgerastet. Der gewalttätige Kern der Konkurrenzverfassung unserer Gesellschaft drängt jetzt auch in den Metropolen an die brüchige Oberfläche. Auf den gegebenen Grundlagen folgt hier logisch "Rette sich, wer kann" und "Jeder ist sich selbst der Nächste", Fremdenhass, Rassismus, Antisemitismus. Die Krawalle in vielen Ländern und der Vormarsch jener Gesinnung in der Politik sind da bloß ein Anfang. Da lässt sich nichts mehr demokratisch umbauen, kontrollieren, regulieren und ausrichten, dieses Ding von Gesellschaft muss demontiert werden, damit Menschen Platz haben und gut leben können.

Natürlich heißt das auch noch, Wirtschaft und Politik zu machen, vor allem gegen die ungeheuren Zumutungen, die zur Rettung des Systems unternommen werden. Aber auch hier werden wirkliche Erfolge nur erreicht werden, wenn wir einer Perspektive der Abschaffung alles dessen, was uns und der Mitwelt schadet, der Stilllegung und der Beseitigung aller Grundlagen des Systems folgen. Es geht um nichts Geringeres als die Abwicklung des Kapitalismus. In uns selber im Denken und im Fühlen, in den Vorstellungen davon, was gutes Leben heißt. Und im Streit um den Zugang zu den Ressourcen, die wir dazu brauchen. Transformation!

Raute

Kapitalismus: Das neue Opium des Volkes?

von Markus Pühringer

In seinem Fragment "Kapitalismus als Religion" stellt Walter Benjamin im Jahr 1921 auf gut drei Seiten die These auf, dass im "Kapitalismus eine Religion zu erblicken sei". Er diene essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen und Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben. (Benjamin 1991, S. 100) - In diesem Aufsatz will ich nun der Frage nachgehen, welche religiösen Züge der Kapitalismus in unserer Zeit entwickelt hat.


Stellen Sie sich vor: Eine Gruppe von außerirdischen SoziologInnen landet dieser Tage irgendwo in Mitteleuropa und beginnt die dort ansässige Gesellschaft zu studieren. Sie würden beobachten, wie die Menschen ihre Zeit verbringen und nach welchen Kriterien sie ihr Leben ausrichten. Nehmen wir also an, sie machen eine soziologische Studie: Sie würden bald feststellen, dass die Menschen in diesem mitteleuropäischen Land jeden Tag zur selben Zeit zur Arbeit aufbrechen und dort den längsten Teil des Tages an den so genannten Arbeitsplätzen verbringen. Interessanterweise würden die meisten von ihnen ihre Zeit nicht gerne in der Arbeit verbringen, aber trotzdem sehr viel arbeiten. Sie müssen arbeiten, weil sie Geld brauchen, sagen sie. Erstaunlich wird für die Außerirdischen sein, dass die Menschen - ab einem bescheidenen Konsumniveau - mit mehr Arbeit (= Geld = Konsum) nicht mehr glücklicher und zufriedener werden. Aber sie arbeiten und arbeiten und schreien immerzu nach neuen Arbeitsplätzen.

Sie produzieren in ihrer Arbeit irgendwelche Dinge und Dienstleistungen und erhalten dafür Geld. Um dieses Geld können sie sich alle Dinge dieser Erde kaufen. Diesen Lohn erhalten sie aber nur, weil die Unternehmer die produzierten Dinge wieder gegen Geld verkaufen können. Es ist also den Menschen völlig egal, was sie produzieren; wichtig ist nur, dass es sich verkaufen lässt. Und verkauft kann nur etwas werden, wenn es die entsprechende Geld-Nachfrage dazu gibt.

Die Außerirdischen würden also bald feststellen, dass sich alles um Geld dreht. Da Geld nur investiert wird, wenn es Gewinn bringt, muss das Geld immer mehr werden. Die Wirtschaft muss immerzu wachsen. Unsere außerirdischen SoziologInnen würden wohl die These aufstellen, dass der Glaube an das Geld und das damit verbundene Wirtschaftssystem die Religion dieser Gesellschaft sei. Aus früheren Studien wissen sie vielleicht, dass Religionen essentiell zum Mensch-Sein dazugehören: Jedenfalls legen es die Kenntnisse aus der frühen Menschheitsgeschichte nahe, dass es in allen Kulturen Vorstellungen von Gott/Göttern und religiöse Kulte gab. Es gab noch kein Volk, keinen Stamm und noch kein Gemeinwesen, das ohne Religion und religiöse Vorstellungen auskam. (Vgl. Vollmer 2007, S. 17ff.)


Kapitalismus als Religion

In der Regel versuchen Religionen Antwort zu geben auf die großen Fragen des Lebens: Woher kommen wir? Warum sind wir hier? Wohin gehen wir? Wie sollen wir leben?

Auf den ersten Blick scheint manches gegen die Annahme zu sprechen, der Kapitalismus sei eine Religion: Denn er lässt wesentliche Fragen einer Religion unbeantwortet: Er ist ignorant gegenüber der Herkunft des Menschen, dem Sinn des Lebens und einem allfälligen Weiterleben nach dem Tode. Der Kapitalismus ist rein diesseitig ausgerichtet. Es fehlt ihm jegliche Transzendenz oder Spiritualität. Außerdem verstehen sich die Menschen im Land als säkulare Gesellschaft. Die alten Religionen spielen in der Lebenspraxis der Menschen kaum noch eine Rolle.

Die außerirdischen SoziologInnen könnten aber noch untersuchen, ob sich - wie Walter Benjamin schreibt - der Kapitalismus als Religion etabliert hat, die ihren Gott verheimlicht? (Benjamin 1991, S. 101) Denn auffällig ist schon, dass der Kapitalismus eine Frage sehr eindeutig beantwortet; nämlich die Frage nach dem Wie: Wie soll der Mensch leben? Er gibt eine konkrete, unbedingte Antwort: Der einzelne Mensch soll sich in den Dienst der Kapitalakkumulation stellen: Geld (G) wird in Waren (W) transformiert. Bei der Rücktransformation muss es dann mehr Geld (G') werden; also: G-W-G'. Es gibt nur diese eine Formel. Sie "kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie".
(Benjamin 1991, S. 100)

Die Formel G-W-G' beantwortet in dieser Gesellschaft die Frage nach dem richtigen Leben: Ein richtiges Leben ist ein solches, das das höchstmögliche Wachstum des Kapitals befördert. Und was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für die gesamte Gesellschaft: Eine gute Politik ist eine Politik, die das maximale Wachstum der Wirtschaft ermöglicht. Wissenschaft muss zu einer Magd der Wirtschaft werden. Bildungsinstitutionen wie Schulen und Universitäten beziehen ihre Legitimation daher, dass sie Menschen für den Arbeitsprozess zurichten. Gesundheitspolitik soll die Menschen -im Rahmen der unverrückbaren kapitalistischen Verhältnisse - fit für den Arbeitsprozess erhalten usw.

In einer Gesellschaft, die die Formel G-W-G' zur einzig gültigen Handlungsprämisse erklärt, nimmt Geld den Platz von Gott ein. Schon vor vielen Jahren hat auch Karl Marx diesen unbedingten Zug des Kapitalismus beschrieben. Er charakterisierte die moderne Gesellschaft als ein System, "dessen Struktur und Dynamik durch die Vermögensnatur des Geldes beherrscht wird. In einer Gesellschaft, die nicht nur Güter und Dienstleistungen, sondern auch die Voraussetzung zu ihrer Herstellung - Arbeit, Boden, Produktionsmittel - und mit ihnen die Grundlagen menschlicher Existenz in Waren verwandelt, avanciert Geld zum universellen Vermittler und zum höchsten Gut. Wie Gott kann es keinen anderen Zweck kennen als sich selbst." (Nach: Deutschmann 2003, S. 157)


Opfer

Aus ihren früheren Studien wissen die Außerirdischen, dass die Erbringung von Opfern zum Wesen einer Religion gehört. Also werden sie ihre Gesellschaft danach untersuchen: Sehr bald würden sie erkennen, dass das Opfer im Kapitalismus eine zentrale Rolle einnimmt: Zum Wohle der Kapitalakkumulation muss die Umwelt geplündert werden. Die Ressourcen dieser Erde werden bis zur Neige ausgeschöpft. (Vgl. Exner, Lauk, Kulterer 2008) Man schreckt vor Kriegen nicht zurück, wenn es dem Kapital dienlich ist. Man ist auch zu Menschenopfern - in Form von unwürdigen Arbeitsbedingungen und schlichtem Verhungern-Lassen - bereit. Oder mit Walter Benjamin gesprochen: "Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, dass Religion nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist." (Benjamin 1991, S. 101)

Wie die Außerirdischen aber schon am Beginn ihrer Studien erkannt haben, ist das zentrale Opfer, das die Menschen in der kapitalistischen Religion erbringen müssen, die Arbeit. Dies hat Karl Marx bereits erkannt: Ohne die Arbeit und die Ausbeutung der Arbeitskraft gäbe es keinen Mehrwert. Und ohne Mehrwert gäbe es keine Kapitalakkumulation.

In der Sprache der Religion bedeutet dies: Das Opfer (= Ausbeutung der Arbeitskraft) hält Gott (= Kapital) erst am Leben. Es ist also nicht so wie bei den alten Religionen, dass es die Menschen bzw. die Gemeinschaft sind, die das Opfer brauchen, sondern Gott braucht das Opfer, um zu überleben. Es liegt in der Logik des Systems, dass es im Kapitalismus - im Gegensatz zu den alten Weltreligionen - keine Opferkritik geben kann. Denn die Existenz Gottes ist vom Opfer abhängig. Ohne das Opfer geht Gott zugrunde.


Die Gläubigen

Bis jetzt haben unsere SoziologInnen nur die Struktur der Religion erfasst. Aber zu einer Religion gehören doch ganz wesentlich die Gläubigen: Eine Religion existiert nur, wenn es Wesen gibt, die an Gott glauben. Wenn der Kapitalismus als religiöses Phänomen gedeutet wird, muss es dazu einen entsprechenden Glauben und eine Glaubensgemeinschaft geben. Die Gläubigen müssen glauben, dass Gott ihnen Heil(ung) gibt, wenn sie sich an seine Gebote halten. Der Kapitalismus-Gläubige muss glauben, dass es gut ist, wenn er den kapitalistischen Verhaltenskodex befolgt.

Eine plastische Schilderung des typischen Kapitalismus-Gläubigen finden unsere Außerirdischen in der Beschreibung des homo oeconomicus. Demnach funktioniert der Mensch wie eine rationale Verrechnungsmaschine, die allen Dingen und Handlungen positiven wie negativen Nutzen zusprechen kann und diesen Nutzen jederzeit maximiert. (Vgl. Woll 1993, S. 311) Der im homo oeconomicus beschriebene Gläubige muss fest daran glauben, dass ihm eine wachsende Geld- und Warenansammlung Heil bringt und ihn glücklicher macht. Zudem muss er glauben, dass Glück nur von außen zugeführt werden kann. Er ist wie ein Süchtiger, der sein Glück in Form von Konsum von außen zuführt und immer höhere Dosen davon will. Es gibt in der Beschreibung des homo oeconomicus keine Idee davon, dass Glück zum Beispiel aus der Entfaltung der eigenen Potenziale erwachsen kann. Interessanterweise hat John Stuart Mill, auf den dieses Konzept zurückgeht, nicht versucht, den homo oeconomicus in der Realität zu testen. Er ist also keine Ist-Beschreibung, sondern eine Soll-Beschreibung des Menschen.

Die moderne Glücksforschung belegt heute eindeutig, dass ab einem bestimmten Konsumniveau das Glück eines Menschen mit zunehmendem Konsum nicht mehr ansteigt. (Vgl. Kollmann 2007) Wenn dem so ist, dann hätte der homo oeconomicus eigentlich ausgedient. Sein Konzept wäre wissenschaftlich widerlegt. Unsere wissenschaftlich-rationale Welt nimmt diesen Befund jedoch nicht zur Kenntnis und hält weiterhin in allen ökonomischen Lehrbüchern an diesem Konzept fest. Die Außerirdischen würden wohl sagen: Wenn die Formel G-W-G' die heilige Formel dieser Gesellschaft ist, dann braucht sie ihre Entsprechung ja in einem kompatiblen Menschenbild. Die neue Religion verlangt, dass die Menschen im Wesentlichen so wie der homo oeconomicus sind, weil anderenfalls Gott selbst in existenzielle Gefahr käme.


Religionskritik

Wenn der Kapitalismus als neue Religion gedeutet wird, dann ist es zur Religionskritik nicht mehr weit: In seiner Religionskritik hat Karl Marx u.a. geschrieben: "Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, (...) Sie ist das Opium des Volks." Marx hat diese Kritik an die Adresse der alten Religionen, v.a. an die Adresse des real existierenden Christentums gerichtet. Was für die alten Religionen gilt, muss dann auch für die neue gelten, zumal die Institutionen der alten Religionen denen der neuen Kapitalismus-Religion sehr ähnlich sind: Opfer, Gottes Strafe und Gottes Lohn spielen hier wie dort eine zentrale Rolle. Nach Marx ist die Religion als "illusorisches Glück des Volkes" zu verstehen. Diese Illusion müsse aufgegeben werden für das wirkliche Glück: "Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist." (MEW, Bd. 1, 378f.)

Ich plädiere also dafür, den Kapitalismus als religiöses Phänomen zu deuten, das für die Menschen ein "illusorisches Glück" bereithält. Unsere moderne Gesellschaft bedarf der Illusion, dass eine ständig wachsende Geld- und Warenmenge das (kollektive) Glück der Menschen nährt. Die Gesellschaft hat panische Angst davor, dass diese Illusion zerstört werden könnte und verkrampft sich daher in religiösem Wahn und großer Opferbereitschaft. Das wirkliche Glück kann es aber nach Marx nur dann geben, wenn in einem ersten Schritt diese Illusion aufgegeben wird.

Paradoxerweise könnte dann gerade wieder die Stunde der alten Religionen schlagen; nämlich die Stunde jener revolutionären Elemente in den Religionen, die die Menschen aus dem Jammertal ihrer Illusionen befreien wollen. Es braucht im Widerstand gegen die kapitalistische Religion vielleicht eine "Theologie der Befreiung", die sich jeglichem Opfergedanken verweigert und einen Weg zu den wahren Quellen des Glücks im eigenen Ich weist.


Literatur

Benjamin Walter: Kapitalismus als Religion (Fragment), in: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1991, Bd.VI, S. 100-102.

Deutschmann Christoph: Die Verheißung absoluten Reichtums: Kapitalismus als Religion, in: Baecker Dirk: Kapitalismus als Religion, Berlin 2003.

Exner Andreas, Lauk Christian, Kulterer Konstantin: Die Grenzen des Kapitalismus, Wien 2008.

Kollmann Karl: Glück und Geld ..., in: Arbeit&Wirtschaft, Ausgabe Juli/August 2007.

Marx Karl, Engels Friedrich: Werke, Bd. 1, Berlin 1956.

Vollmer Antje: Gott im Kommen, München 2007.

Woll Artur: Wirtschaftslexikon, München-Wien 1993.

Raute

"Es ist der Glaube, der selig macht"

Insistierende Fragmente über kapitalistische Realhalluzinationen - Hypothesen

von Franz Schandl

Wir haben gelernt, zu glauben. Warum sollte es mit dem Kapital anders sein. Es ist sogar zu vermuten, dass viele Keime unserer Imaginationen in der Ökonomie des Alltags stecken. Dass die dort erforderliche Sicht von Tausch und Täuschung alle anderen Phänomene zumindest prägt, wenn nicht dominiert. Fiktiv ist gar vieles. Fiktionen sind nicht Folge des Kapitals, sondern Bestandteil seiner rationalen und rationellen Grundkonstitution.


Bereits Karl Marx schrieb im dritten Band des "Kapital": "Als Papier hat das Gelddasein der Waren ein nur gesellschaftliches Dasein. Es ist der Glaube, der selig macht. Der Glaube in den Geldwert als immanenten Geist der Waren, der Glaube in die Produktionsweise und ihre prädestinierte Ordnung, der Glaube in die einzelnen Agenten der Produktion als bloße Personifikation des sich selbst verwertenden Kapitals." (MEW 25:606) Die Ökonomie selbst spricht eine deutliche Sprache, sogar vordergründig. Nicht zu Unrecht redet sie vom Schein, wenn sie vom Geldschein spricht. Und der wird allgemein akzeptiert, genauso wie Münzen oder Kreditkarten. Diese Einbildung verbindet die Leute und verwirklicht sich in Geschäften, wo man ja tatsächlich mit solchen Scheinen reale Dinge wie Bananen oder Brötchen, Gewehre oder Windschutzscheiben erstehen kann. Hier herrscht (insbesondere was Hartwährungen wie Euro und Dollar, Yen und Franken betrifft) eine Übereinkunft, die zum Ziel, den Gebrauchswerten, führt.

An Gebrauchswerten kann nie mehr konsumiert werden als produziert worden ist. Wohl aber kann mehr produziert als konsumiert werden. Das Stoffliche kennt also Mucken, die das Geld wenig scheren. Geld kann nämlich in Unmengen vorhanden sein, egal ob es real gedeckt ist oder nicht. Das sieht man dem Geld auch nicht an. Wert und Erscheinung fallen unmittelbar zusammen. So will es der herrschende Glaube. Denn der Waren sind nicht zu wenige (im Gegenteil), sie können aber nicht gekauft werden, weil den Leuten das Geld fehlt. Schon jetzt regiert der virtuelle Vorgriff. Mittels Kredit (insbesondere auch Kreditkarte) verschafft man sich durch imaginierte zukünftige Einkommen realen Zugang zu gegenwärtigen Produkten und Leistungen.


Realisierte Banken

Gehandelt wird nicht nur mit Waren, sondern auch mit Geld selbst. "Das Borgen und Verleihen von Geld wird zu einem besonderen Geschäft." (MEW 25:416) Zentral sind die Geldhändler oder deren System, die Banken. Spätestens hier sieht man, dass Geld nicht als bloßes Instrument zu fassen ist, sondern als Geldkapital. Die Bank, das ist vielen Sparern nicht klar, ist auch keine Aufbewahrungsanstalt von Geldern, sondern eine Verflüssigungsanstalt derselben. Geld als Kapital gibt es nur flüssig, nicht als Schatz. Diese Wirtschaft ist nur in einer fieberhaften und ausdauernden Dynamik der Zirkulation am Leben zu erhalten.

Man könnte das Bankkapital ja auf die Probe stellen, indem alle Leute auf einmal ihre Einlagen abheben. Das Finanzsystems würde augenblicklich kollabieren, was aber auch heißt, dass die Realität der Gelder auch unter besten Bedingungen nur im Konjunktiv gegeben ist und eine Realisierung derselben nur gewährleistet werden kann, wenn lediglich ein Bruchteil der den Banken Geld Gebenden es auch wieder haben will. Die tatsächlich verbrieften Optionen können also gar nicht auf einmal in Anspruch genommen werden. Auch hier handelt es sich im besten Fall um pure Fiktion, die aber ihren Zweck erfüllt. Wirkung und Wirklichkeit haben wenig miteinander zu tun.

Diese Realität ist nur möglich, weil sie nicht realisiert wird. Und den Satz sollte man in seiner vollen Bedeutung erfassen. Also still sitzen, reflektieren, pausieren, spazieren gehen. - Und dann noch einmal: Diese Realität ist nur möglich, weil sie nicht realisiert wird. Realisieren meint einlösen und begreifen. Die Aussetzung nicht nur des Denkens, sondern auch des Verwirklichens ist Voraussetzung der Funktion. Würde die Realität realisiert werden, wäre es um sie geschehen. Realisieren meinte liquidieren. Das Geld, das wir besitzen, das gibt es nur unter bestimmten Konditionen. Es ist nicht einfach da. Das gilt es wahrzunehmen.


Kredit als Credo

Via Kredit nimmt man Geld zu einem Preis auf, der über dem liegt, was die erhaltene Summe ausmacht. Ein Kredit ist nichts anderes als Vorschuss oder Vorwegnahme auf noch zu produzierenden Wert. "Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise", schreibt Karl Marx (25:457). Inzwischen ist der Großteil der wirtschaftlichen Tätigkeit auf Kredit gebaut, und somit der Dynamik des Finanzmarkts ausgeliefert. Ohne ihn würde der Warenmarkt gar nicht erst funktionieren, er ermöglicht die notwendige Bewegung.

Wichtigste Basis für die Vergabe von Krediten ist das Vertrauen der Kreditgeber in die Kreditnehmer. Das Versprechen hält nur so lange es geglaubt wird. Glaubwürdigkeit ist also ihr wahres "Kapital". Viele Finanzgeschäfte funktionieren wie Pyramidenspiele. Solange sich Mitspieler finden, kann das Spiel laufen, sobald jedoch die Kette unterbrochen wird, droht der Kollaps. Können die Schulden nicht gedeckt oder zumindest umgeschuldet werden, dann entpuppt sich die Struktur als nicht tragfähiges Kartenhaus.

Fiktives Kapital ist Folge des Kreditwesens. Sein Auftritt auf dem Finanzmarkt scheint unabhängig von der Produktion, der so genannten Realwirtschaft, Zinsen gebären, also G in G' verwandeln zu können. "Die Bildung des fiktiven Kapitals nennt man kapitalisieren. Man kapitalisiert jede regelmäßig sich wiederholende Einnahme, indem man sie nach dem Durchschnittszinsfuß berechnet, als Ertrag, den ein Kapital zu diesem Zinsfuß ausgeliehen, abwerfen würde (...) Aller Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozess des Kapitals geht so bis auf die letzte Spur verloren, und die Vorstellung vom Kapital als einem sich durch sich selbst verwertenden Automaten befestigt sich." (MEW 25:484) Geld scheint hier wirklich für sich zu arbeiten.

Fiktives Kapital ist nicht gedeckt, aber es "existiert" trotzdem. Es ist ein reelles Trugbild, an das geglaubt wird, weil andere ebenfalls daran glauben. Dieser kollektive Glaube trägt so lange, bis das Spiel auft, die Blasen platzen, und fiktives Kapital sich als Luftnummer herausstellt. Solange die Blase aber nicht geplatzt ist und die kapitale Frömmigkeit sie als ein Füllhorn betrachtet, vermag dieses sich durchaus real im Wirtschaftsprozess einbringen, kann Waren und Dienstleistungen kaufen, Geschäfte in Gang setzen und die Produktion ankurbeln. Man sieht dem Geld nicht unmittelbar an, ob es Substanz hat oder nicht. Der Schein kann tragen, aber auch trügen. Das fiktive Kapital ist die Hochstapelei des Realkapitals. Früher oder später wird jenes auf dieses zurückgeworfen werden. Aber dazwischen gibt es Zeitfenster.


Im Himmelreich

Die Zirkulation von fiktivem Kapital ist eine im Himmel des Geldfetischs. Geld ist scheinbar nur noch sich selbst verpflichtet und selbstschöpferisch tätig. Wenn A dem B 100 borgt und B dem C auch 100, sodann C dem D wieder 100, auf dass dieser dem A 100 borgt, dass dieser es B borgen kann, wie viel haben sie? 0, 100, 400, 500, 700, 8.000, 90.000, 1 Million? Das ist wahrlich ein philosophisches Problem. Aber ganz ähnlich funktionieren viele Hochrechnungen des Kapitals. Zwar nicht so primitiv wie das angeführte Beispiel, sie sind komplexerer Architektur. Da werden fensterlose Pyramiden mit versteckten Kammern, dunklen Kanälen, Labyrinthen, Schlupflöchern, Falltüren und Spiegelkabinetten gebaut. Glänzende Postkarten besorgen die PR. Die tatsächlichen Konstruktionen sind also viel abgedrehter, so dass zum Schluss oft niemand mehr durchblickt. Glasperlenspieler sitzen um eine Illusionsmaschine, deren Betätigung aber Waren und Dienste bewegt und somit selbst real sein muss, denn sonst könnte sie das doch nicht bewerkstelligen. Oder? Das mag tautologisch sein, aber nicht anders ist die Logik eines sich entrückenden Kapitals.

Im bürgerlichen Himmel fortwährender Geldzirkulation ist der Phantasie keine Grenze gezogen. Sich vorzustellen, dass hier zukünftig irgendwelche weltlichen Aufsichtsbehörden gleich Fetischbeschwörungspolizisten den Ton angeben und sagen, was erlaubt ist und was nicht, ist töricht. Das wird es nicht spielen, weil es das gar nicht spielen kann. Transparenz und Kontrolle sind dem Kapital wesensfremd. Es kann nur bestehen und sich entwickeln als private "Black Box", wo Geschäftsergebnisse, also nackte Zahlen interessieren, nicht deren Zustandekommen und deren Ingredienzien, also die lebendigen Prozesse. Wir haben auch nicht zu wissen, wir haben selbst so zu handeln und zu kaufen. Und wenn wir dann doch was erfahren, was wir nicht wissen sollten, dann haben wir aufgeregt "Skandal!" zu schreien, um in aller Ohnmacht das Ideelle gegen das Reelle anzuflehen.

Die mentale Basis des fiktiven Kapitals ist Realhalluzination. Nichtvorhandenes Geld kauft real vorhandene Ware. Der Kapitalismus ist in ein autosuggestives Stadium getreten. Aber selbst die, die das spüren, misstrauen dem und verdrängen das, weil sie, obwohl sie nicht mehr glauben können, glauben müssen. Woran sollen sie sonst glauben? Diesen Glauben in Frage zu stellen, hieße, unsere ganze Konstitution über den Haufen zu werfen. Das Dogma kapitalistischer Metaphysik lautet: Die Leute müssen daran glauben! Sie tun das, in doppeltem Sinne. Gegenwärtig ist zwar vieles erschüttert, aber der schiere Glaube an das Geld als Form gesellschaftlichen Stoffwechsels, der ist selbst in Zeiten der großen Verunsicherungen, vorerst unangefochten geblieben. Alle versuchen sich nicht vom Geld zu retten, sondern ins Geld. Jedes Kind meint zu wissen, dass Geld nur dann eine Bedrohung ist, wenn eins zu wenig davon hat.

Im fiktiven Kapital träumt das Kapital seinen ureigenen Traum. Völlig unabhängig von seinen Produktionsgrundlagen agiert es losgelöst von seinen stofflichen Resten, wird Geist, dass es geistlicher gar nicht mehr geht. Das Kapital hat sich von der Arbeit "befreit", ist zu sich selbst gekommen, ist reine Geldbewegung. Losigkeit in Zahlen und Kurven. Eine Hochschaubahn, die erst während der Fahrt ihre Schienen plant und baut. Vor allem in der Wirtschaftsstatistik - und das betrifft auch Aktienkurse - stellt Ökonomie nichts anderes dar als hochgefahrene Daten fiktiver Ketten: Attrappenkapital. Indes, wenn viele glauben, da seien keine Attrappen, dann sind da keine Attrappen, auch wenn es Attrappen sind. Wiederum wird durch synthetische Übereinkunft Nicht-Existierendes existent. Wahrlich, der Glaube kann Zwerge versetzen.

Es ist wie beim Fernsehen: Auch da vermögen wir in den gelieferten Bildern reale Gebäude von Kulissen in keiner Weise zu unterscheiden. Es ist naheliegend, das fiktive Kapital mit den Fiktionen in Televison und Unterhaltung, Werbung und Alltag kurz zu schließen, d.h. die mentalen Beschaffenheiten mit den ökonomischen Grundlagen in Verbindung zu setzen. Es sind wohl mehr als zufällige Parallelen, die sich da in den diversen Sphären auftun. Kritik der politischen Ökonomie heißt mehr denn je den ideologischen Charakter einer irren Kommunikationsform offen zu legen. Der Ökonomie ist nicht ökonomisch zu begegnen bzw. beizukommen.


Schulden und Schuldige

Schulden entstehen durch Kauf ohne Zahlung oder wenn eine Zahlung zwar geleistet, aber mit fremdem Geld bedient wird. In der Ökonomie meinen Schulden das Noch-nicht-Bezahlte. Kauf und Zahlung fallen auseinander. Entschuldung erfolgt durch Zahlung. Die Fiktion besteht darin, dass beide Seiten von der Kreditwürdigkeit des Schuldners ausgehen, insbesondere freilich der Gläubiger. Er muss darauf spekulieren, nur so kann er selbst Geschäfte tätigen und Gewinne lukrieren. Ohne Schulden läuft heute gar nichts. Sie sind das Treibmittel der Ökonomie.

Es ist bezeichnend, dass der Schuldige in der politischen Ökonomie als Schuldner erscheint. Schuld ist verbunden mit einer Personalisierung von Defiziten, schnell wird man vom Zahlungsunfähigen zum Zahlungsunwilligen und so zum Bösen und Üblen. Und da sind sie sich einig von links bis rechts, auch wenn sie stets verschiedene Schuldige finden und unterschiedliche Gerechtigkeiten einfordern. Die Begriffe Schuld, Schulden, Schuldige treiben nun schon Jahrhunderte ein Verwesen, das stark nach Leichen riecht, weil es fortwährend welche produziert. Die aktuelle Dynamik der globalisierten Wirtschaft spitzt das noch zu: Mächtige Konzerne, mittlere Betriebe und auch immer mehr Einzelpersonen schlittern in den Konkurs. Dies noch produktive Zerstörung zu nennen gleicht einem Euphemismus.

Zweifellos, der Schuldner ist ein Schuldiger, er hat zu zahlen. Kann er nicht mehr, ist sein Status als Wirtschaftssubjekt in Frage gestellt. Wenn allerdings nicht nur kleine Fische, sondern Unternehmen, Banken, Versicherungen oder gar Staaten zahlungsunfähig werden, dann wird es gefährlich für die herrschende Ordnung, denn als gesamtgesellschaftliches Aggregat, als Wirtschaftsobjekt ist es auf Zahlungsfähigkeit aufgebaut, und kann diese nicht ewig durch Hin- und Herschieben, durch Umgruppieren oder noch gewagtere fiskalische Machenschaften, also Täuschungs- und Ablenkungsmanöver mannigfaltiger Art, substituieren. Die Zeitstreckungen sind begrenzt und die Raumplatzierungen ebenso.

Das Versprechen der fälligen Abdeckung ist inzwischen an zu vielen Stellen porös geworden. Liquidität ist oft nicht mehr gegeben, sodass ein System der Umschuldung jenes der Entschuldung abgelöst hat. Umschuldung meint nichts anderes als die Schulden A durch die Schulden B zu ersetzen, etwa die Außenstände auf der Kreditkarte C mit der neu besorgten D abzugelten. Nicht mehr herstellbare Zahlungsfähigkeit simuliert sich in diversen Rechenkünsten und Versteckspielen. Umschuldung ist aber nichts anderes als Vertröstung auf Entschuldung, kann diese letztlich nicht ersetzen. Sie benennt die Verpflichtungen um und verlegt das, was morgen zu zahlen ist auf übermorgen, und das, was übermorgen gezahlt werden soll auf überübermorgen...


Betrug und Börse

Das Börsenspiel ist ein großes Monopoly. Alle spielen mit, nicht nur windige Börsenhaie und wendige Junghechte, alle tierischen Charaktere sind vertreten: Karpfen, Frösche, Rinder, Hirsche, Spatzen, Habichte, Krokodile, Eichkätzchen, Kreuzottern, Motten und viele viele Mäuse, die sich insgeheim für Ratten halten, aber das nicht laut sagen. Die zu Schaden gekommenen Kleinaktionäre, die Pensionsglücksritter und Lebensversicherungskünstler waren nichts anderes als Möchtegernmitspekulanten, die sich jetzt ärgern, dass das Spiel anders gelaufen ist, als die Berater ihnen und sie sich selbst versprochen haben.

Selten folgt Kritik der eigenen Beschränktheit, sondern meist das dumpfe Ressentiment gegen üble Mitspieler. Nicht das Spiel halten sie für übel, sondern nur, dass man ihnen übel mitgespielt hat. Die, die gerne Diebe gewesen wären, fühlen sich ausgeraubt. Nun schreien sie nach Gerechtigkeit. Fiktionen werden nicht verworfen, sondern neue gesucht. Denn mit dem Markt habe das alles nichts zu tun, fein säuberlich meinen sie edle Ritter von bösen Raubrittern auseinander halten zu können.

Zwischen Betrag und Betrug,da ist der Unterschied ein kleiner Selbstlaut und dem ist auch inhaltlich so. Beide sind Abpressungen, wenngleich der Betrag unter freiwillig firmiert, der Betrug aber unter unwillig. Wobei das Unwillige sich erst a posteriori als solches herausstellt, und somit sich auch diesbezüglich nicht fundamental von vielen anderen Fehlkäufen abhebt. Diese Differenz ist schon deswegen minimal, weil via Reklame man den Leuten stets etwas andrehen wird müssen. Zu kaufen, was man nicht braucht oder will, ist obligat. Jeder Trottel beherrscht diese Kunst. Das Angeschmiert-Sein, wie oft erleben wir es? Trügerische und betrügerische Komponenten sind beim Spiel mit Fiktionen, also bei allen ökonomischen Aktivitäten ehern vorhanden. Nicht wenige nennen das Geschäftstüchtigkeit und hätten gern mehr davon.


Krise und Animation

Kredite, das lehrt auch diese Krise, sind organischer Bestandteil des Kapitals und können daher zu faulen beginnen. Die Frage ist nur, fault der Kern oder ist er wie alle Apologeten behaupten, noch kerngesund. Es ist wohl so, dass nicht nur einige Kredite faul sind. Morsch sind die Balken und Stützen des Systems. Immer weniger überzeugt die vermeintliche Festigkeit. Der Kapitalismus bewegt sich wohl im Zustand einer modernden Moderne. Dagegen helfen nur neue Duftformate. Wir sind auf Blasensuche.

Geldeigner befinden sich zur Zeit in einer komischen Situation. Geben sie es auf der einen Seite aus, das Geld, kommt es möglicherweise auf der anderen nie wieder zurück. Halten sie es jedoch fest, fürchten sie (mehr instinktiv als bewusst), dass es gleich anderen Anlagen verfallen könnte. Wahrlich, die Geschäftsgrundlagen, die wanken. Aufgabe der ideologischen Apparate ist es, die Verunsicherung zu eskamotieren. Da helfen nur noch Fürbitten in der Art: "Mehr Stimmung bitte! Auf das richtige 'mindset' kommt es an." (Die Presse, 15. März 2009, Karrieren Beilage) Im autosuggestiven Stadium geht Innovation in Animation über. Das aktuelle Beispiel etwa sind die Verschrottungsprämien für Altautos und Anreize verschiedenster Art,nur um das Geld ja zirkulieren zu lassen. Politik und Medien sind fieberhaft auf Blasensuche.

So will das bürgerliche Gemüt die Blasenstörungen auch nicht als Platzen von Organen wahrnehmen, sondern bloß als zeitweiligen Blasenkatarrh. Es mag zwar brennen, einiges Kapital sogar verbrennen, aber morgen, nach der Kur mit Blasentee Marke Earl Keynes wird alles wieder ganz normal laufen. "Das Weltfinanzsystem - vom Absturz zum Neuanfang. Ist ethisches Investment ein Ausweg aus der Krise?", lautet eines dieser typischen Symposien, wie sie jetzt laufend abgehalten werden. Und es ist auch nicht gänzlich auszuschließen, dass staatlich oder gar überstaatlich organisierte Megablasen entstehen und ein Stück weit die Menschen mit neuem Kredit erfüllen können. In der Wirtschaft sei vieles Psychologie, sagen die Vertreter der ersteren. Dem ist noch viel mehr so. Eifrig wird diskutiert, welche Narkose noch wirken könnte. An welche Blasen gedenken wir noch zu glauben?

Am Wichtigsten ist jetzt die Rekonsolidierung der Kreditwürdigkeit. Daher tritt die öffentliche Hand auf den Plan, um die unsichtbaren Hände des Markts wieder zum Handeln zu bringen. Der viel gescholtene Staat hat jetzt Vertrauen zu schaffen mit Bürgschaften und Unterstützungen, also einer Sicherung durch Geld, das er zwar nicht hat, aber von dessen Verzinsung er sich sogar Gewinne einredet. Dann, wenn die Krise vorbei ist und alles brav retourniert wird. Notfalls wird Geld gedruckt und gehofft, dass es sich am Finanzmarkt doch noch einmal rechnet. Blasen wir uns nochmals auf.

Dass hingegen die Steuerzahler einspringen könnten, um die drohenden Verluste zu decken, ist unwahrscheinlich, denn woher sollen sie das viele Geld nehmen. Zu Hause drucken? Trotz allem Privatisierungswahn, hat das noch niemand vorgeschlagen. Es ist somit die Frage zu stellen, ob Verluste dieser Dimension überhaupt noch sozialisierbar sind. Ob "Wir zahlen eure Krise nicht" nicht eher ein Faktum als eine Forderung ist, weil die staatlichen Garantien durch die Steuerzahler nicht mehr aufgebracht werden können. Aber selbst wenn es ginge und man tatsächlich den Leuten das Letzte weg nähme - womit sollen sie dann die Autos und Lebensversicherungen bezahlen? Die Melkkuh ist erschöpft, was also kann man ihr wegschneiden, auf dass die Schulden gedeckt werden und Staat und Wirtschaft florieren? Brust oder Keule? Der ehemalige österreichische Finanzminister und jetzige Unternehmer Hannes Androsch hat vorgeschlagen mit dem Helikopter über das Land zu fliegen und Geld abzuwerfen. Das ist keineswegs verrückter als das, was sonst läuft. Blasen wir das Geld doch einfach aus den Hubschraubern...

Ein staunendes Publikum sitzt vor der Glotze und sieht wie astronomische Summen verschwinden, andererseits aber immer wieder solche eingefordert und versprochen werden. Geld ist genug da, sagen unbeeindruckt viele Traditionslinke. Aber ob genug oder nicht genug, warum wollen wir (wer auch immer) die Krise eigentlich ausfinanzieren? Warum soll es Opfer geben? Wozu? Was versprechen wir uns davon, wenn alles wieder in geordnete Kostenrechnungen mündet? Einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz?

Raute

Ohne kritische Theorie schmeckt's besser!

Replik

von Martin Scheuringer

Zur Einstimmung zwei Texte zur Lebensart des kritischen Theoretikers:

"Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen.

Es war nasskalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht - und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump.

Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte." (Georg Büchner) Der kritische Theoretiker hat Lenzens Wunsch verwirklicht. Er geht am Kopf durch die schöne Welt. Die zweite Weisheit:

"Ach Theodor!
Hättest du doch mal ein Glas oder fünf Gläser zu viel geleert. Hättest du doch mal auf LSD zu Jazz-Musik getanzt. Hättest du doch mal mit Hilfe von Marihuana die Reon über deine Reon blockiert und dein Denken sich selbst überlassen, um über seine Irrwege zu lachen!

Ach Theodor!
Hättest du doch mal so lange und intensiv gevögelt, dass ein Orgasmus dein Denken für Minuten lahm gelegt hätte!

Ach Theodor!
Einen Marathon hättest du laufen sollen, um das Glücksgefühl nach der Ziellinie zu erleben, fünfzig Längen im Schwimmbad schwimmen, um danach mit geschwellter Brust aus dem Schwimmbecken zu steigen. Die Blicke der Frauen hättest du auf dich gezogen. Mit dem Fahrrad den Berg hinauf- und wieder runterfahren - das wäre dir ein lehrreiches Erlebnis gewesen! Da hättest du ja wirklich mal deinen Körper wahrgenommen, vor allem die schönen Minuten, die er dir nach einer Anstrengung bereitet, das erleichternde Gefühl, sich aus dem Korsett des Denkens in die Körperlichkeit hinein befreit zu haben.

Ach Theodor!
Hast du denn nie voller Hingabe einen Schubert am Klavier interpretiert, sodass du und die Musik eine Einheit waren, sodass du dein Denken hinter dir gelassen und dich für das Musische geöffnet hast? Dieser traurige Verdacht drängt sich auf, wenn man manches von dir liest, so reflektiert, so durchdacht, so klärend wirkt deine Sprache.

Doch welch Glück! Ich habe eine Stelle gefunden, die zeigt, dass das alles nicht so ernst ist. Theorie ist für dich zweitrangig, Ziel ist es, dem Genuss der Objekte wieder unverdorben frönen zu können.

Denn du hast genossen, du warst nicht der reine Theoretiker, den viele in dir sehen: Man solle sich 'bis zur Selbstpreisgabe' in die Objekte versenken und 'in angstloser Passivität der eigenen Erfahrung' vertrauen. So steht's geschrieben in den Minima Moralia.

Ach Theodor!
Nun geht's mir besser. Ich will in deinem Sinne weitermachen." (Volksweisheit)


Liebe Reflexions-Polizei!

So nicht. So wie ihr das plant, so wird das nichts. Ja gut, theoretisch betrachtet habt ihr ja recht - ihr sprecht Wahres, wenn ihr die Totalität der Verwertung erklärt und gar den Rausch als funktional denunziert. Diese Einsicht müsse schließlich verbreitet werden. Wahrheit sei zumutbar. Aufklärung Pflicht. Nicht wahr?

Ja, ist wahr. Und ja, es ist traurig, dass die Welt und wir verdorben sind. Das Problem mit dieser ernüchternden Wahrheit ist, dass sie in sich nicht den geringsten Ansatzpunkt zur positiven Veränderung birgt. Je öfter ihr Theoretiker diese Wahrheit unserem Tun vorhaltet, desto weniger wollen wir mit euch zu tun haben. Diese Wahrheit ist abstoßend, und wir identifizieren euch mit dieser Wahrheit, ob ihr das wollt oder nicht. Wir werden euch bald nicht mehr hören wollen.

Ich selbst habe jahrelang mit solchem Denken mein Gehirn trainiert und meine Sinnlichkeit und Gefühle verkümmern lassen. Am Ende bin ich nirgends angekommen außer in der negativen Utopie, bald ein emotionaler Krüppel zu sein, der seine freundschaftlichen Beziehungen an diesem "Nein zum Kapitalismus" ausrichtet, weil er allen Menschen ihre Funktionalität unter die Nase reiben muss und so keine tiefgehende Freundschaft mehr zu Stande bringt. Was hätte es für einen Sinn, mit einem verdorbenen Subjekt Freundschaft zu schließen, wenn dieses nicht einmal für meine Aufklärungsversuche empfänglich ist? So oder noch komplizierter dachte ich und verpasste dadurch Wesentliches, Schönes und Gutes.

Für mich ist dieser Weg abgeschlossen, ich will über das Nein, das diese Theorie setzt, hinaus zu einem sinnlich greifbaren Ziel. Ich will etwas erlebbar machen, das motivieren kann. Das bloße "Nein" motiviert nur Denker, und die verändern die Welt nicht.

Einem Theoretiker, der wieder ins Leben zurück will, wirft man also nicht vor, nicht mehr reflektieren zu wollen, weil ich diesen Schritt aus einer Reflexion über die permanente Reflexion heraus gesetzt habe. Ich will nicht mehr als Gespenst durch die Welt flanieren in geistiger Distanz zum Inhalt.

Die Beziehung zu mir als sinnlichem und emotionalem Menschen hatte ich als Theoretiker in unbefriedigender Weise geknüpft. Inhalt diente mir als Anstoß zum theoretischen Beweis seiner kapitalistischen Überformung. Freundschaften dienten zum Beweis, dass Beziehungen im Kapitalismus sowieso nicht gut und schön sein können - eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Sinnliches durfte sich in meinem Bewusstsein nie voll entfalten, mich in seiner Fülle und Verschiedenheit nie befriedigen, weil ich es immer, so schnell es ging, in eine begriffliche Schublade packte und dann in den Kasten "Vom Kapitalismus Verdorbenes" schob, der bald voll war mit allem Schönen, das die Welt zu bieten hat. Ständig nötigte mich meine intellektuelle Aufgabe zur Distanzierung vom Sinnlichen: von mir, meinen Mitmenschen und meiner Welt.


Raus aus dem Denken, rein in die Welt!

Mit einem Rausch will ich wieder rein ins Schöne - ich will es in allen Facetten auskosten, ich will mein kritisches Denken für diese Momente ausschalten und mich der Welt der Objekte hingeben wie ein ins Spiel vertiefte Kind.

Diese Einstellung zur sinnlichen Welt sei eine emanzipatorische Forderung ersten Ranges, deklarierte ich, und schon - so schnell kann ich gar nicht berauscht sein - werde ich von der Reflexions-Polizei im Adorno-Gewand zurückgepfiffen: "Du handelst affirmativ, wenn du nicht alles Tun mit kapitalismuskritischer Reflexion begleitest. Nota bene: Du bist immer und überall funktional unter das automatische Subjekt subsumiert." So wird einem, bevor er noch trinken kann, das gefüllte Glas aus der Hand gerissen: "Emanzipation gibt's vorerst nur in der kritischen Theorie." Wisst ihr Theoretiker, was ihr uns Menschen antun wollt? Ist euch klar, dass ihr mit euren Analysen unseres Verhaltens keine Hilfe leistet?

Und dennoch seid ihr so dreist und stellt Regeln für unser Tun auf. Ihr setzt das Verbot: "Handelt nicht kapitalistisch!" Gut, sagt der Mensch, dann eben nicht, ich suche mir Nischen und Ecken und entfalte mich dort. "Haha!" schreit ihr ewigen Besserwisser dann, "der Kapitalismus, der ist so total; auch wenn du meinst nicht-kapitalistisch gehandelt zu haben, so war dies im Großen und Ganzen - ähm, auf einer höheren Abstraktionsstufe sozusagen - ich weiß jetzt nicht, ob du das verstehst, aber lies mal Hegel, Marx, Adorno, Kurz und ein wenig Kant, dann verstehst du es vielleicht - funktional: Es gibt kein Entkommen!" Selbst wenn diese Praxis aus einem emanzipatorischen Impetus gestartet wurde, ihr erbringt den furchtbaren Beweis ihrer Konformität.

Die einzige Praxis, die ihr als potentiell frei duldet, ist die des kritischen Theoretikers. Ich lade euch daher zu einem Gedankenexperiment ein, um kurz zu zeigen, wohin das führt: Nach jahrzehntelangen Bildungsoffensiven seitens der internationalen Linken haben alle Menschen Marx, Adorno und Kurz verstanden, sie haben theoretische Einsicht in sich und ihre Umwelt erlangt. Was tun diese Menschen? Nichts Entscheidendes. Alle haben sich im Denken auf die Suche nach der Wirklichkeit gemacht, alle haben aufgehört praktisch zu sein. Alle sind Geister geworden. Alle sind voller Hoffnung, dass irgendwoher die Erlösung kommt, doch theoretisch wissen alle, dass sie jeglichen Ansatz als affirmativ denunzieren werden. Niemand weiß ein Ziel, niemand kennt ein sinnliches Leben. Niemand weiß, wozu er Theorie betreibt, außer für ein nicht mehr greifbares Ziel, das ein leerer Begriff wurde, den alle wie einen Gott heiligen: Emanzipation - nimmt einer diesen Begriff in den Mund, so ergreift die versammelte Theoretikergemeinschaft ehrfurchtsvolles Erschaudern. Manche knien voller Demut vor dem Intellekt des Denkers, der sich traut, diesen Begriff in den Mund zu nehmen, nieder und kauen seine analytischen Brocken wieder und wieder und wieder.

Um aus diesem Dilemma hinauszukommen, schlage ich eine andere Perspektive auf die Welt vor. Diese setzt sich folgenden Ausgangspunkt: Ich handle im Moment des Rausches, der liebevollen Berührung oder der freundschaftlichen Bewirtung eines Gastes nicht kapitalistisch. Diesen Moment des guten und schönen Lebens lasse ich mir von der Reflexions-Polizei nicht aus deren Perspektive betrachten, nicht ins schale Licht der Funktionalität tauchen. Nein, dieser Moment ist meiner, nicht der der Verwertung. Die Erstellung einer kausalen Zeitlinie, die diese Ereignisse unter dem Banner der Funktionalität mit der Bewegung des automatischen Subjekts in Verbindung bringt, ist zwar am Schreibtisch des Theoretikers angebracht, niemals aber im Moment des Genusses. Diese kausale Zeitlinie ist der garantierte Frust für jegliche Lust.

Emanzipation setzt voraus, diese Momente wieder als meine wahrzunehmen, um sie zu genießen. So kann ich sinnlich spüren, was Ziel sein könnte einer Bewegung weg vom Kapitalismus.

Auch nach so einem Moment brauche ich keinen übergescheiten Theoretiker, der mir nachweist, wie funktional ich da war und dort sein werde. Keinen, der Folgendes sagt: "Dieses ist doch nicht emanzipativ, und jenes führt auch nur in den Sozialismus, und der war auch kein Honigschlecken. Wenn du lustvollen Sex genossen hast - das war nur, um deine Ware Arbeitskraft in Schuss zu halten. Denke immer daran, wenn du vögelst: Du tust es für die Verwertung des Werts - auf der notwendigen Abstraktionsstufe betrachtet freilich."

Kritisches Wissen verdirbt dir nicht nur die Erektion, sie richtet ihn auch nicht wieder auf, und wenn du glaubst, mit deinen intellektuellen Spielereien kannst du eine Frau... lassen wir das.


Übe Folgendes

Ich formuliere folgenden Imperativ: "Handle so, dass dein Tun, von einem Betrachter als nicht-kapitalistisch interpretiert werden kann!" Und umgekehrt: "Interpretiere so, dass das Handeln als nicht-kapitalistisch erscheint."

Lerne in dieser Art und Weise wahrzunehmen, mach es dir zur Gewohnheit, nicht in jegliches Tun Tausch und Wert-form hineinzudenken. Was wir wahr-nehmen, entscheiden wir auf Grund unserer Urteile. Die Theorie im Hintergrund bestimmt unsere Perspektive auf die Oberfläche und unseren Umgang mit ihr. Sie muss geändert werden. Wenn wir unser Handeln als nicht-kapitalistisch erkennen, dann sehen wir die Bruchstücke, die es zu kohärenten Teilen in Form einer emanzipativen Bewegung zusammenzubauen gilt.

Noch mehr Übungen: Wenn du etwas schenkst, so warte nicht auf das Gegengeschenk, wenn du empfängst, fühle dich nicht von irgendeinem Gerechtigkeitssinn zur Gegengabe gedrängt. Denke, dass Schenken dir Freude bereitet - doch denke dies nicht als Gerechtigkeitsersatz, weil du ja etwas gibst.

Du darfst auch tauschen, aber versuche dabei nicht gerecht zu sein. Das heißt nicht, sei ungerecht, sondern: sei nicht gerecht! Denke in die Objekte keinen Wert hinein, dem gemäß du sie der anderen Person gibst.

Du wirst erkennen, wie sich das kapitalistische Denken deinem Denken aufdrängt, identifiziere es als feindlich und handle nach deinen schönen Maximen. Du sollst freilich nicht im Kapitalismus scheitern, denke daran, auch affirmativ sein zu müssen. Reflektiere über das Maß deiner Affirmation: Wie viel ist für dich notwendig? In welchen Lebensbereichen mehr, in welchen Situationen weniger? Wie gehe ich mit der Affirmation um? Leugne ich sie, stelle ich mich darauf ein, plane ich bewusste Rituale, um mich davon wieder zu befreien?

Denke nicht daran, dass der Rausch deine Funktionalität wiederherstellt! Genieße ihn in vollen Zügen! Sei dabei gerade kein Theoretiker und auch kein Marktmensch, der sich damit optimieren will!

Liebe Theoretiker! Probiert das mal aus! Vielleicht wollt ihr ja hier einmal davon berichten.

Raute

Kieslowski und die Frage der Ethik

von Ilse Bindseil

Man könnte behaupten, dass es ethisches Verhalten nicht gibt; entweder es ist Verhalten, oder es ist Ethik. Demnach gäbe es Ethik nur als Gedankengebilde, ausgerechnet der praktischen Philosophie fehlte es prinzipiell am Transfer zur Praxis.

Tun übersetzt sich der Ethik in Geltung. Je näher sie ans Tun heran möchte, desto schärfer formuliert sie die Geltung. So als würde, sobald Rigorosität, die absolute Schärfe, erreicht ist, der Funke überspringen.

Rigorosität wird im Theoretischen angepeilt, man bewegt sich hier im Bereich der Zustimmungspflicht. Dass jeder andere meinen Handlungen beziehungsweise ihren Gründen so zustimmen können soll, dass er in vergleichbarer Situation dann nicht anders kann, als genauso zu handeln wie ich, verlegt die Auseinandersetzung ganz weit ins Hinterland der Praxis. Sofern Letztere der Vordergrund ist, wird in ihm lediglich ausgeführt, was woanders bewirkt wurde. Diese Ausführung läuft in einem trostlosen Sinn auf Verdoppelung hinaus, die einer eigenen, frischen Erklärung bedürfte, nach dem Motto "wenn es so klar ist, warum macht er es dann noch". Was in der Theorie bereits ausgereizt wurde, braucht in der Praxis nicht eigens noch stattzufinden, hat es doch woanders bereits stattgefunden, wenn auch auf eigene Art. Wenn die Theorie sich nicht zurückhält, wird die Praxis überflüssig oder, wie es in einem Ausdruck heißt, der gewissermaßen auf ein Universum der Unverständlichkeit anspielt, kontingent. Denn nichts ist so rätselhaft wie das, was bereits restlos erklärt ist und dennoch passiert.

Noch aus einem andern Grund kann man davon ausgehen, dass es Ethik als praxisorientierte Wissenschaft nicht gibt oder dass von ihr auf die Praxis kein Druck ausgeübt wird; kein realer Druck, der über die Absicht hinausginge. "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!", die Kinderfassung des moralischen Imperativs, schränkt die Zahl möglicher Taten so außerordentlich ein, dass schließlich überhaupt nicht mehr gehandelt werden kann. Man kann diesen Grund als eine Variante des ersten betrachten: dass von der ethischen Theorie, die sich mit dem beschäftigt, was getan werden soll, kein Weg zum Tun führt. Es wäre eine Formulierung auf der psychologischen Ebene. Alles, was mir getan wird, empfände ich auf dieser Ebene als Gewalt, ich würde vorziehen, dass es mir nicht geschähe. Allein dass sie mir zugefügt wird, diskreditierte die Handlung; dass nicht ich es bin, der sie tut, oder dass der andere sie nicht gefälligst auf sich beschränkt, stellte ein nicht wiedergutzumachendes Unrecht dar. "Ich will nicht", "nein", wäre die Formel, die tendenziell auch jegliche eigene Handlung unmöglich machen würde. Es geschähe überhaupt nichts mehr. Kein Wunder, also, dass das Tun ersatzweise in der Theorie stattfindet.


Begehren

"Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns jedem andern zur Maxime seines eigenen Handelns dienen kann", so ähnlich und jedenfalls an der Begründung orientiert formuliert Kant. "Dekalog", die "Charakterstudien" des polnischen Filmregisseurs Krzyszof Kieslowski, in denen er die biblischen Gebote exemplifiziert, sein ethisches Werk also, legt eine anders, eher auf die Folgen ausgerichtete Auffassung dar, formuliert eine Ethik, die man sich folgendermaßen übersetzen könnte: Handle so, dass deine Handlungen nicht zu unlösbaren Widersprüchen führen. Obwohl sein Werk eine moderne Antwort auf die alte Frage gibt, wirkt es auf eine altmodische Art beklemmend.

Bei der siebten Episode, die hier als Grundlage dienen soll, geht es um das Gebot: Du sollst nicht begehren, was dir nicht gehört; nicht nur die Frau des andern, sondern gar nichts. Man könnte auch sagen: Nichts sollst du, was dir nicht zukommt, du darfst einfach nicht. Oder: Nur was dir zukommt, Punkt. Oder: Du (und sonst nichts). Niemand und nichts.

Eine Frau eignet sich das Kind ihrer sechzehnjährigen Tochter an und zieht es auf als ihr eigenes; liebt es wie ihr eigenes. Die vermutlich zur großen Schwester herabgestufte Mutter des Kindes wendet sich mit zweiundzwanzig Jahren gegen die ihr seinerzeit aufgedrungene Lösung und eignet sich - ihr eigenes Kind an, entführt es der Großmutter, beschwört es vergeblich, Mama zu ihr zu sagen. Als sie feststellt, dass sie durch ihre Geschichte zu kaputt ist, um ihrem Kind eine Mutter zu sein, und es zurückgibt, ist dieses nicht nur überwältigt von der Freude über das Wiedersehen mit der gewohnten Mutter, die Wiederherstellung seiner Welt, sondern spürt, in einem Moment quasi vorweggenommener Adoleszenz, zugleich, was es verliert: die im naturrechtlichen Sinn, der den umfassenden Bezug zum gesellschaftlichen Sinn abgibt, "echte" oder "richtige" Mutter, in der sich die Jugend der großen Schwester und die Autorität der Großmutter vereinen.

Indem die Großmutter die Familienschande abwendete und das Kind ihrer minderjährigen Tochter als ihr eigenes ausgab, eignete sie sich etwas an, was ihr nicht gehörte. Die mütterliche Liebe, die sie empfand, die hätte ihre Tochter empfinden dürfen müssen. Die Kindesliebe ihrer Enkelin stand ihr nicht zu, wie überhaupt der unmittelbare Bezug zur übernächsten Generation. Als die Tochter sich das Kind zurückholt, tut sie es nicht, um es glücklich zu machen - wie könnte sie auch, wo es, von nächtlichen Verstörungen abgesehen, doch glücklich ist -, vielmehr um das an ihr verübte Unrecht rückgängig zu machen. Die Wiedergutmachung zielt nicht auf die Betrogene, sondern auf die Zukurzgekommene. Betrogen wäre das Kind; dass es auch zu kurz gekommen ist, spürt es noch nicht. Seine Mutter ist nicht formal, sondern materiell betrogen; betrogen um ein Gut. Die Wiedergutmachung, auf die sie zielt, ist Rache; ihre eigene Mutter soll bestraft, wie es wörtlich heißt, "gequält" werden. Das Kind bräuchte zuallererst Schonung, als Wiedergutmachung bräuchte es Trost. Stattdessen wird es zum Instrument der Rache; das ist wie im echten Leben. Es bekommt dabei Züge eines Scheinsubjekts, wird zum Herrn über Gefühle. Die Wirklichkeit auszuforschen und die eigene Macht auszuprobieren - Kieslowski deutet es nur an - wird für es ein und dasselbe. Auf eine kindgerechte Formel gebracht, es übernimmt sich.


Wilde Tatsachen

Zu dem Zeitpunkt, an dem die betrogene Mutter ihr Recht geltend macht, haben Fakten sich längst gegen Normen durchgesetzt. Eigentlich ein Produkt der Willkür, eines Eingriffs in die natürliche Ordnung, haben sie eine eigene Ordnung hervorgebracht, die über das gesellschaftliche Interesse, das an ihrem Beginn steht - eine irreguläre Beziehung und Schwangerschaft ungeschehen zu machen -, weit hinausgeht und zu eigener naturgeschichtlicher Schwerkraft gelangt. Ein Sühneversuch im Sinn des Naturrechts, wie ihn die enteignete Mutter unternimmt, kann sich nur mehr auf die abstrakten biologischen Verhältnisse stützen, nicht auf gelebtes Recht; das wird von der Großmutter gelebt. Prompt zerstört er gewachsene Verhältnisse. Alles andere als die Frucht dürrer Paragraphen, berufen sie sich auf ihr vitales Sein, ihre unschuldige Natur; wer dem Gesetz zum Recht verhilft, tut dies in der Regel gegen ein anderes Gesetz, denn es hat sich geteilt. Die Folgen sind fatal. Kieslowski, der sich weniger für die Macht des Rechts als für die Schwerkraft der Handlungen interessiert, zeigt, dass von purer Wiederherstellung nie und unter keinen Umständen die Rede sein kann. Diesen formalen Akt gibt es nicht. Nicht nur zerstört die unglückliche Mutter mit ihrem Restitutionsanspruch bestehendes Glück. Der Rücktritt von diesem Anspruch, der Verzicht zugunsten der heilen falschen Welt findet diese schon nicht mehr vor; sie ist nur noch falsch. Eine unstillbare Sehnsucht nach der "richtigen" Mutter wird das Familienleben fortan verderben, ihm den Anschein jener Normalität nehmen, mit der die Großmutter, über sich hinauswachsend, das Kind zu umgeben wusste. Mit dem Rückzug der ephemeren Mutter ist auch die Jugend, in der konkreten Gestalt der vermeintlichen großen Schwester, aus der Familie verschwunden, das Kind den alten Leuten überlassen; die böse Tat ist zu sich selbst gekommen. Hier wird niemand mehr seines Lebens froh werden.

Tatsachen, das haben sie mit den ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen gemein, schließen einander nie aus, sie existieren auch als sich ausschließende, so ist es dann eben. Der Ausschluss, den - im Gegensatz zur grenzenlosen Koexistenz des bloß Möglichen in einem Subjekt - ihre Tatsächlichkeit erfordert, geschieht zu Lasten der Beteiligten, sowohl derer, die sie angerichtet haben, als auch jener, die sie ausbaden müssen.

Gerade die Subjekte der zweiten Generation - und das sind, wenn man es genealogisch betrachtet, natürlich alle -, sind auf eine vertrackte Weise mit den Tatsachen verkoppelt, so als wären diese produktiv und sie aus ihnen hervorgegangen, und nicht, wie jeder Beteiligte glaubt, aus den Subjekten der ersten Stunde. In Kieslowskis Film spielt die Großmutter sich als Protagonistin der machenden Umstände auf. Für die eigentliche Mutter bleibt nicht mehr als dieser Inbegriff. Beide wirken sie monströs, seltsamerweise mehr nach der Seite dessen, was sie aushalten, als was sie zufügen. Prompt richtet sich die Erwartung auf das Kind, wann es endlich zu erkennen gibt, dass es ein Golem ist, etwas Fabriziertes in der trügerischen Gestalt eines Kindes.

Dass ein ethischer Verstoß zugrunde liegt, wird durch die Fakten ans Licht gebracht, oder vielmehr sie, als Fakten, sind der eigentliche Verstoß. Kurz, sie hätten nie geschehen dürfen. Allein schon dank der ihnen innewohnenden Tatsächlichkeit sind sie eine Strafe für die, die sich noch an ihre Zweifel erinnern und davon ausgingen, dass ihr Handeln nicht schwerer wiegen würde als ihre Gefühle; dass die Widersprüche Facetten bleiben würden, die sich aufblättern, oder Optionen, mit denen sich spielen ließe, kurz dass sie einander ergänzten. Indem sie sich entschlossen, aus den begleitenden Empfindungen, dem trüben Bodensatz der rationalisierten Entscheidungen, das vorwärtstreibende Moment ihres wirren Lebens, auf eine beklemmend "schräge" Art also Nägel mit Köpfen zu machen - dem Hass auf die Mutter Geltung zu verschaffen, beispielsweise, der Verachtung der Tochter die Wegnahme von deren Kind, aus der Liebe zum Enkelkind dessen Besitz folgen zu lassen -, haben sie sie ermächtigt bis zum Umschlag. Überhaupt ist die Komplexität der "widerstreitenden Empfindungen" an die Realität abgetreten. Da finden sich die "zwei Seelen", die sonst "ach, in meiner Brust" hausten, als verselbständigte Fakten wieder, beklemmend vergegenständlicht; das Ich dagegen, in dem die Fäden vermeintlich zusammenlaufen, ist nur noch eine Figur in einem komplexen Drama. Sie stellt die herrschsüchtige Großmutter dar, die durchgeknallte junge Frau oder das mutterlose Kind.


Verworrene Verhältnisse

Gedanken, Gefühle, was immer sie auch enthalten mögen, sind ihrer Form nach ein Leichtgewicht, etwas, wovon man sich jederzeit wieder verabschieden, was man im nächsten Moment anders fassen, was man überhaupt nur in seiner Gemeinschaft mit ihren ureigenen Alternativen begreifen kann, anderen Gedanken, konträren Gefühlen. Je enger dabei das Zusammenleben, desto konträrer die Gefühle. Hat nicht zum Beispiel jede Großmutter sich schon in eine Rettungsphantasie hineingesteigert, wie sie am Kind ihres Kindes die Mutterstelle vertreten wird? Ist der düstere Stoff von Kieslowskis siebter Episode, in der es um die Ursünde der Anmaßung und Aneignung, des Übergriffs, überhaupt des illegitimen Begehrens geht, nicht zugleich die gängigste Münze innerhalb des kitschigen Dramas Familie? Ist es einen beklemmenden Augenblick lang - und er durchzieht den Film - nicht so, als hätte das Kind sich die Verhältnisse zugerichtet, als wäre die richtige Perspektive auf die Verhältnisse die vom Ende her, vom Ergebnis, als wäre der Abgrund an Monstrosität nur ein Reflex der abgrundtiefen Kontingenz des Phänomens Kind?

Haben sich die Vorstellungen zu Tatsachen sedimentiert, geben sie nicht nur zu allen möglichen Gedanken und Gefühlen Anlass, wollen nicht länger umspielt werden, sondern verlangen Anpassung, im Grunde also Aufgabe. Kein Gedanke, kein noch so mächtiges Gefühl kann an ihnen vorbei oder hinter sie zurück, es sei denn um den Preis, dass sie sich von der Wirklichkeit abkoppeln. Sind sie, ihrer Herkunft aus der unzensierten Vorstellungswelt entsprechend, widersprüchlich zusammengesetzt und haben es bereits zu einer stabilen Tatsächlichkeit gebracht, dann reduziert die Möglichkeit, nichts ernstlich falsch zu machen, sich gegen Null. Fakten werden gekränkt, was immer man tut, selbst wenn man sich aufs Nichtstun kapriziert wie in Kieslowskis Film der Vater, der in seiner strafwürdigen Gutartigkeit ein Musterbeispiel für gelebte Verantwortungslosigkeit ist. Das Kind, zum Beispiel, das seine Großmutter für seine Mutter hält und mit dieser Verwechslung lebt, kann durch Richtigstellung nur verlieren; ihm zerfällt die Welt. Nicht nur die Lüge bricht unter dem Ansturm der Wahrheit zusammen. Ebenso bricht das Kind zusammen; dies gleichsam als Reverenz gegenüber der unbesiegbaren Tatsächlichkeit jener Verhältnisse, die dem formal gebrochenen Rechts- und Rachegedanken nur als Betrug gelten, als bloßer Schein. Denn natürlich ist es einfach ein Kind; es will seine Welt. Auch wenn es, wie sollte es anders sein, dunkle Seiten hat und im Schlaf schreit, ist es zumindest seiner Tagesform nach ein Gegenbild zu den verworrenen Verhältnissen, in denen es lebt. Für es sind es die einfachsten Verhältnisse von der Welt.


Verbrauchte Affekte

Die Vermeidung unverträglicher Tatsachen, der Respekt vor ihrer Unverträglichkeit, spiegelt den historisch, erkenntnistheoretisch und moralisch unendlich mühsamen Prozess wider, als dessen fortlaufendes Ergebnis die Gesellschaft zu bezeichnen ist. Zwar gibt der Einzelne noch gelegentlich der materiellen Ähnlichkeit den Vorzug vor der formalen Abscheidung. Aber obwohl er sich damit eigentlich des Tabubruchs, der Sünde wider die Gesellschaft schuldig macht, kann er immer nur gegen einen Paragraphen verstoßen, wie er da lautet: Inzest, Nötigung, Betrug. Der Preis für den souveränen Relativismus ist freilich die unüberschreitbare Immanenz eines Systems, das zugleich bei allem, was geschieht, auf der Kippe steht.

Eine Ausnutzung der Immanenz bis hin zur Manipulation stellt übrigens der postmoderne politische Hang zum Tatsachenentscheid dar. Wie in primitiver Anwendung aufklärerischer Staatstheorie werden barbarische Tatsachen an den Anfang gestellt - als Simulation gleichsam des barbarischen Anfangs der Geschichte. Die Gesellschaft soll daraus Recht machen; was bleibt ihr anderes übrig. Mühseligkeit ist freilich der Preis, ein unendliches Zerlegen und Zerreden, an dessen Ende, wenn der Affekt verbraucht und die Erinnerung getrübt ist, auch die Betrogenen sich identifizieren können.

Raute

KOLUMNE Rückkopplungen

Motor Town

von Roger Behrens

Vor fünfzig Jahren(*) wurde in Detroit ein Schallplattenlabel gegründet, das Musikgeschichte, mehr noch Musikkulturgeschichte, ja Sozialgeschichte geschrieben hat: Motown - der Name war Programm und ist noch immer als Programm zu verstehen, auf das sich eine materialistische Kritik der Popkultur ebenso einlassen kann wie die idealistische Begeisterung für die mit diesem Namen verbundene Musik: Motown ist vom Wort her eine Verkürzung von "Motor" und "Town", als Anspielung auf die Detroit maßgeblich prägende Automobilindustrie. Die Musik indes, die unter diesem Label vertreten wurde, rangierte allerdings nicht zufällig unter dem Etikett, das der automobilen Techno-Urbanität genau entgegengesetzt war: Soul. Und das ist wörtlich zu nehmen: Musik, die von der Seele handelt, die die Seele berührt, die Seele hat und Seele ist - es ist eine Seele, die bisher nur als psychischer Apparat, als Wunschmaschine bei einem Industrieproletariat zu funktionieren hatte, dessen Leben ohnehin zwischen der Unmittelbarkeit von Sein und Bewusstsein eingespannt war. Nun reklamierten diese Menschen eine Gefühlswelt, in der zu leben bisher nur dem Bürgertum und seinem Klassenderivat, den Angestellten, vorbehalten war. Jenseits der Nöte und Notwendigkeiten des alltäglichen Elends in der Fabrik ging es jetzt um Liebesverhältnisse, um sexuelles Begehren, um Sehnsüchte und Verlangen, womit wenigstens auf emotionaler Ebene erstmals eine Form autonomer Subjektivität und Individualität beansprucht werden konnte: "Your Heart Belongs to Me", "Who's Lovin' You", "Baby Don't Go", "Buttered Popcorn" und "I Want a Guy" heißen die Songs der A-Seite des ersten Albums der Supremes: das war die 1959 zunächst unter dem Namen The Primettes gegründete, erfolgreiche Motown-Band der schwarzen Sängerinnen Diana Ross, Florence Ballard, Mary Wilson und Betty McGlown.

Der Motown-Soul übernahm wesentliche Prinzipien der Kulturindustrie: Ähnlich wie die arbeitsteilige Produktion der Hollywood-Filmstudios war auch die Musikproduktion von Motown organisiert; Vorbild war das Fließband der Automobilindustrie. Zwar hat es solche arbeitsteiligen Produktionsverhältnisse schon vorher in der Musik gegeben, eigentlich nämlich bereits im Orchester des neunzehnten Jahrhunderts, spätestens aber mit der so genannten Sheet Music der NewYorker Tin Pan Alley; doch Motown schaffte es, ähnlich wie Hollywood in Bezug auf den Film, die Musik als eigenständige Kunstform, ja schließlich sogar als Leitkunst zu etablieren - und zwar gerade in der offenen Gestalt fortgeschrittener Massenproduktion als arbeitsteilig hergestellte Kulturware: The Supremes gingen aus einem Talentewettbewerb hervor; und ihre künstlerische Qualität war das Talent, singen zu können; ganz selbstverständlich wurde das Arrangieren, Instrumentieren und Produzieren anderen überlassen: Nur so war gewährleistet, dass Talent und Erfolg zusammenfallen, dass also die Qualität durch den Profit begründet wird.

Zu diesem Verfahren, das in der Kulturindustrie noch Strategie war und in der Popkultur dann schließlich Prinzip wurde, gehört zudem die paradox anmutende Bindung und Entbindung von Ort und Kultur: So wie man im Hollywood-Film Hollywood erkennt, zugleich aber nichts über Hollywood als Stadt oder Stadtteil, als sozialen Raum, erfährt, so ist Motown untrennbar mit dem Sound der Industriestädte Nordamerikas verbunden, gleichwohl nicht mit einem Ton erkennbar wird, was diese Industriestädte zu Industriestädten macht; anders gesagt: Gerade hier, wo die Musik insgesamt von den Produktionsverhältnissen durchdrungen und bestimmt ist, ist über diese Produktionsverhältnisse in der Musik nicht das Leiseste zu erfahren.

Und dennoch bleibt das Bild der Motor Town das Image von Motown, obwohl das Label 1972 nach Los Angeles umzog und schließlich, nach Firmenverkauf, in New York seine Büros eröffnete.

In Los Angeles - Hollywood liegt vor der Tür - erweiterte die Motown Company ihr Tätigkeitsfeld um Filmproduktionen: Ein großer Erfolg war der für mehrere Oscars nominierte "Lady Sings the Blues" mit Diana Ross in der Hauptrolle. Wenn auch kein großer Erfolg und von den echten Fans keineswegs sonderlich geschätzt, so doch bemerkenswert für Motown ist schließlich der 1978 erschienene Film "The Wiz", Regie: Sidney Lumet. Es ist eine Adaption von L. Frank Baums Beststeller-Buch "The Wonderful Wizard of Oz", das schon 1900 erschien. "The Wiz", bereits 1975 ein einträgliches Broadway-Musical, versetzt die Handlung, die Baum ursprünglich in Kansas verortete, nach New York: Hier hatte übrigens 1939 die dann weltberühmt gewordene Verfilmung der "Oz"-Geschichte - mit Judy Garland als Dorothy Gale in der Hauptrolle - Kinopremiere; zur selben Zeit fand in New York eine "Weltausstellung statt: deren Gelände wiederum, der Flushing Meadows Corona Park, dient dann in "The Wiz" als Kulisse: Es ist das so genannte Munchkinland, wo sich Dorothy, die noch nie zuvor Harlem verlassen hat, nach einem Schneetreiben plötzlich wiederfindet. Dorothy (Diana Ross) trifft hier ihre neuen Freunde: Vogelscheuche (Michael Jackson), Löwe (Ted Ross) und Blechmann (Nipsey Russell). Gemeinsam geht es auf der Yellow Brick Lane, die im Film über die Brooklyn Bridge führt, nach Emerald City, für die die beiden Türmen des New Yorker World Trade Centers als Kulisse dienen: Eine imaginäre Stadt, die, passend zur Popkultur der späten siebziger Jahre, als eine einzige Diskothek erscheint - ein gewaltiger Lautsprecher zwischen den Türmen beschallt eine riesige Tanzfläche, auf der es zugeht wie damals im Studio 54. Der Zauberer (Richard Pryor), der hier als DJ dieser Party auftritt, entpuppt sich wie in der Buchvorlage als freundlicher Betrüger, ein Glücksversprecher, der tatsächlich nicht mehr ist als ein gescheiterter Politiker.

Mitnichten ist der Film das Beste, was je im Namen von Motown entstanden wäre: die Adaption der Oz-Geschichte ist recht dürftig, die Musik nett und brav, die Botschaft billig, fast haarsträubend. Interessant ist allerdings, gerade in Bezug auf Motown, wie hier die Soul-Musik wieder zur Stadt zurückkommt, wie Großstadt und Geistesleben hier wieder eine ideologische Einheit bilden, wie die Menschen einmal mehr emotional dort abgeholt werden, wo sie in der gefühllosen Wirklichkeit der kapitalistischen Motor Town zurückgelassen wurden.

(*) 1959 gründete Barry Gordy Jr. das Label Tamia Records, das dann ab April 1960 unter dem Namen Motown Record Corporation firmierte.

Raute

Auslauf

Das gute Leben

von Franz Schandl

Das Problem ist nicht, dass das gute Leben nicht herstellbar oder leistbar wäre, es ist nicht finanzierbar. Woraus in der irrationalen Rationalität gefolgert wird, dass man sich das gute Leben abschminken soll, keineswegs aber Zahlungsfähigkeit und Kaufkraft verwerfen darf. "Ohne Geld geht gar nichts", das ist dieser heillose Konsens, aus dem beschränkte Subjekte, die sich freie Bürger schimpfen, ihre grobschlächtigen Vorurteile speisen.

Halten wir doch kurz inne: Die Maschinen sind da, die Rohstoffe sind da, die Kenntnisse sind da, ebenso die Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Produkte sind herstellbar, die Leistungen machbar, die Güter verteilbar. Dies alles wäre schaffbar, nur zwängt es sich nicht durch das Nadelöhr des Marktes. Wir sind so an unseren monetären Schranken angelangt - zweifelsfrei; aber nie und nimmer an den Grenzen des Machbaren - im Gegenteil, diese gehen erst auf. Objektiv steht der Kommunismus an, ob er wirklich werden kann, hängt allerdings von uns ab.

Nicht über unsere Verhältnisse haben wir gelebt, sondern unter unseren Verhältnissen leben wir. Die soziale Degradierung durch die Krise ist nicht Ergebnis davon, dass unsere Möglichkeiten sinken, jene ist Konsequenz daraus, dass die Güter als Waren nicht mehr bezahlt und die aufgenommenen Kredite nicht mehr bedient werden können. Im Prinzip ist das kein Malheur, ein Unglück ist es nur in einer Gesellschaft, wo der Wert und das Geld, wo Kaufen und Verkaufen sakrosankt sind. Solange wir dieses Paradigma nicht verlassen, sind wir den Gesetzlichkeiten und Zerstörungen von Markt und Staat ausgesetzt.

Nun denn, wenn es mit dem Geld nicht geht, warum probieren wir es eigentlich nicht ohne? Was fesselt uns so an den Fetisch, dass wir lieber mit ihm untergehen, als dass wir uns ihm verweigern? Warum jagen wir ihm nach, anstatt ihn zu verjagen? Warum vermögen wir uns kein Jenseits davon auszudenken? "Wir kommen deshalb nicht dazu, die Welt ohne Geld zu denken, weil wir alles mit ihm denken", sagt Eske Bockelmann. "Kein Gedanke entkommt dem Geld, weil es jeder schon fest in sich trägt." (Die Abschaffung des Geldes, Streifzüge 36, S. 6 und 7)

Es wäre doch einfach, die Fragen so zu stellen: Wie versorgen wir die Leute, wie produzieren und verteilen wir Güter und Leistungen? Die fetischistische Frage von rechts bis links, von oben bis unten, und das in aller Herren Länder, jedoch lautet: Wie stellen wir das Geld auf, dass Staaten und Unternehmungen, Banken und Versicherungen und zuletzt auch die Konsumenten zahlungsfähig sein können? Geht es in erster Frage um die Menschen, so in der zweiten Frage um die Wirtschaft. Das Grundproblem ist, wir denken die Frage 1 automatisch als Frage 2. Und auch wenn wir jetzt mit dem Geld ein ganz praktisches Umsetzungsproblem haben, ein Übersetzungsproblem haben wir deswegen (noch immer) nicht, eben weil die Grundsetzung dieser Reflexion so in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass sie als organisch erscheint. Wie bringen wir also das Geld aus unseren Köpfen? Denn raus muss es.

Was meint freie Assoziation, was gutes Leben, was Genuss? Jene ist ja keine mit festen Strukturmerkmalen ausgestattete Ordnung im Sinn einer Gesellschaftsformation. Keine Formatierung, sondern eine Entformatierung, keine Normierung, sondern eine Enormisierung der Vielfalt. Da gibt es auch keine neuen Werte, sondern gar keine. Man kann nicht sagen, was im Kommunismus normal ist. Vielleicht dieses: dass die Menschen (und auch die anderen Geschöpfe) den Menschen nicht egal sind und dass soziale Not überwunden ist. Dass die großen Zumutungen wie Hungern, Dursten, Frieren, Bekriegen, Konkurrieren, Arbeiten, Vereinsamen und Verblöden der Vergangenheit angehören. Insgesamt werden die Komponenten des Spiels in ihrer gesamten Varianz an Platz im Leben gewinnen. Darüber hinaus wird es eine Vielzahl an Problemen, Schwierigkeiten und Aufgaben geben. Es wird nicht nur bequem sein.

Im Kommunismus wird viel Zeit dafür verwendet, sich um sich und seinesgleichen zu kümmern. Um Freudenschaffung geht es und um Freundschaftspflege. Da ist einiges aufzuholen und vieles zu tun, was heute unterlassen werden muss. Und wenn das alles einem zu viel ist, kann eins zwischenzeitlich aussteigen, ohne sich selbst versorgen zu müssen. Die Momente des Glücks werden nicht so selten sein und die Phasen der Zufriedenheit werden größere Dauer kennen. Individuelle Disposition ist dafür die Grundbedingung. Gutes Leben heißt aus dem Vollen zu schöpfen, um selbst schöpferisch tätig zu werden.

Der Kommunismus hat nichts anderes vor, als dass die Menschen gut zueinander sind, weil sie es können und weil sie es wollen. Er hat nichts zu verwirklichen, er will nichts vorschreiben, er hat keine letzten Ziele, keine hehren Ideale und keinen tieferen Sinn. Freude will er ermöglichen, das schon. Er möchte, dass Menschen froh sind und genießen können. Wozu sonst soll man auf der Welt sein? Materiell setzt der Kommunismus auf Zukömmlichkeit. Und emotionell auf Bekömmlichkeit. Kurzum, es soll schmecken. Nur, wie bringen wir die Leute auf den Geschmack?

Raute

AutorInnen

Roger Behrens, geb. 1967, Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften, Mitherausgeber des Magazins testcard. beiträge zur popgeschichte und Redakteur der Zeitschrift für kritische Theorie. Lebt in Hamburg und Belo Horizonte.

Julian Bierwirth, geb. 1975, Studium der Sozialwissenschaften in Göttingen, engagiert in der Gruppe 180° - Für einen neuen Realismus, schreibt auf
emanzipationoderbarbarei.blogsport.de

Ilse Bindseil, geb. 1945, Lehrerin und freie Autorin in Berlin, arbeitet im Bereich der Gesellschaftstheorie und der "schönen" Literatur.

Kai Ehlers, geb. 1944, Publizist, Schriftsteller, Forscher und Organisator; beschäftigt sich vor allem mit der Entwicklung des post-sowjetischen Raumes; schreibt Reportagen, politische Kommentare und Bücher mit publizistischem, teils wissenschaftlichem, vereinzelt auch lyrischem Charakter; lebt in Hamburg.
www.kai-ehlers.de

Ulrich Enderwitz, geb. 1942, studierte Religionswissenschaft, lebt nahe Berlin, sitzt an einer siebenbändigen Studie: "Reichtum und Religion",
www.reichtum-und-religion.de

Andreas Exner, geb. 1973, Studium der Ökologie, gesellschaftskritischer Publizist in Klagenfurt, engagiert bei
www.social-innovation.org und www.grundeinkommen.at

Lorenz Glatz, geb. 1948, 32 Jahre Latein- und Griechischlehrer in Wien. Pensionist, Hausmann eines lieben Weibes, praktizierender Großvater, Leser, Schreiber und Webmaster.

Tomasz Konicz, geb. 1973 in Olsztyn/Polen, studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover sowie Wirtschaftsgeschichte in Poznan. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa. Lebt unweit der westpolnischen Stadt Poznan.

Stefan Meretz, geb. 1962, Studium und Promotion der Werkstoffwissenschaften, Studium und Abschluss der Informatik. Schwerpunkte: Freie Software, Informatik und Technikentwicklung. Lebt in Berlin.

Markus Pühringer, geb. 1970, Studium der Volkswirtschaft; arbeitet bei den oberösterreichischen Grünen in Linz. Schon viele Jahre in der Friedens-, Umwelt- und globalisierungskritischen Bewegung engagiert.

Peter Samol, geb. 1963, Studium der Philosophie und der Soziologie in Marburg; freier Journalist und "hauptberuflicher" Vater eines 3-jährigen Sohnes in Herford.

Franz Schandl, geb. 1960, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft; Historiker und Publizist; verdient seine Brötchen als Journalist wider Willen in Wien.

Martin Scheuringer, geb. 1980, Studium der Soziologie und Philosophie, lebt in Wien. Analytisches Interesse für Sozialtheorie und Ökologie.

Maria Wölflingseder, geb. 1958, Studium der Pädagogik & Psychologie; Publizistin in Wien. Schwerpunkte: Analyse & Kritik von Esoterik & Religion sowie Arbeit & Arbeitslosigkeit. Lyrik & Prosa.

AutorInnen aller Ausgaben siehe www.streifzuege.org unter "AutorInnen".

Raute

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Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche
Transformationskunde,
Margaretenstraße 71-73/23, 1050 Wien.
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Quelle:
Streifzüge Nr. 45, April 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April 2009