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STREIFZÜGE/039: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 66, Frühling 2015


Streifzüge Nummer 66, Frühling 2015
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde



INHALTSVERZEICHNIS

P. Ziegler & F. Schandl: Einlauf

Franz Schandl: Aus dem Ruder, an die Wand
Die Zeichen europäischer Flüchtlingspolitik stehen auf Verhärtung und Abschreckung

Arian Schiffer-Nasserie: Abweichende Überlegungen zu "Flüchtlingskrise" und "Willkommenskultur" in Deutschland

Home Stories. Aus den gezinkten Märchenbüchern der Streifzüge-Redaktion: mit Beiträgen von Maria Wölflingseder, Martin Scheuringer, Severin Heilmann, Ricky Trang, Lorenz Glatz, Petra Ziegler und Franz Schandl

Martin Taurer: Nichts gewonnen, nichts verloren
Der Kostnix-Laden Zentagasse bleibt unversöhnlich

Petra Ziegler: Was kommt an?
Über Kommunikationsprobleme - innerhalb wie außerhalb

Franz Schandl: Zur Kritik der Kritik
Überfällige Anmerkungen zum ideologiekritischen Reduktionismus

Erich Ribolits: Warum Bildung bei der Überwindung der Machtverhältnisse nicht hilft, zu deren Erhalt aber ganz wesentlich beiträgt - Teil I

Emmerich Nyikos: Die Notwendigkeit dessen, was unnötig ist

Hermann Engster: Heine und die Menschenware

Uwe von Bescherer: Symmetrische und asymmetrische Kriege.
Teil II - Von Merkel, Counterinsurgency und Dschihad

Franz Schandl: Das autoritäre Bedürfnis

Kolumnen Immaterial World: Review - Stefan Meretz Dead Men Working: Eine lang gesuchte Antwort - Maria Wölflingseder Rückkopplungen: Happy, Meta-Ware (I) - Roger Behrens

Rubrik 2000 Zeichen abwärts
Stephan Hochleithner: Licht im Tunnel

Rezension Lorenz Glatz (L.G.) zu Richard Schuberth: Bevor die Völker wussten, dass sie welche sind. Ethnizität, Nation, Kultur. Eine (antiessenzialistische) Einführung.

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Einlauf

von Petra Ziegler und Franz Schandl

Einfach war es diesmal nicht. Geplant war die Nummer als differenzierte und vielschichtige Rückschau auf das eigene Projekt, nennen wir es Streifzüge, nennen wir es Wertkritik, nennen wir es irgendwie. Ein ordentlicher Rücklauf an Vorschlägen oder gar Texten wollte sich aber nicht einstellen. Unsere Einladung ist ohne entsprechendes Echo geblieben.

So fehlt dem Heft etwas. Wenn die Streifzüge nach zwanzig Jahren zurück und auch nach vorne schauen, dann sollte sich das in den Beiträgen derer spiegeln die uns in diesen Jahren lange Zeit begleitet haben und denen wir Begleiterin waren. Aber diese gemeinsame Zwischenbilanz, die Einschätzungen zu Rezeption und Interventionsvermögen, Diagnosen zum wertkritischen Status quo, nicht zuletzt die Prognosen fallen weitgehend aus. Nun, vielleicht werden einige ja in der (No) Future-Nummer nachgeholt.

Kommen zu diesem Thema also hauptsächlich die Redakteurinnen und Redakteure zu Wort, bietet die Ausgabe mehr Raum für Kommentare und Analysen zur verschärften europäischen Flüchtlingspolitik. Dazu der erste Teil eines kleinen Bildungsschwerpunkts und ein etwas anderer Blick auf Heinrich Heine. Das Heft kann sich also durchaus sehen lassen.

Bedanken wollen wir uns übrigens einmal mehr bei unseren zahlreichen UnterstützerInnen, SpenderInnen und AbonnentInnen, TransformatorInnen und TranssponsorInnen. 2015 bilanzierten wir das erste Mal nach vielen Jahren knapp positiv, ohne irgendwelche Ausgaben einzuschränken. Natürlich können und sollen unsere Einnahmen, aber insbesondere auch anderweitige Stützungen noch mehr zulegen, auf dass unsere Möglichkeiten nicht so begrenzt sind.

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Aus dem Ruder, an die Wand
Die Zeichen europäischer Flüchtlingspolitik stehen auf Verhärtung und Abschreckung

von Franz Schandl

Innerhalb nur weniger Wochen hat sich in Österreich eine Law and Order-Politik, wie sie in dieser Schärfe wohl kaum jemand prognostiziert hätte, durchgesetzt. Eine "Wirklichkeitskultur" (ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner) hat binnen kürzester Frist die Willkommenskultur abgelöst. "Wir brauchen einen nationalen Schulterschluss", sagt Kanzler Werner Faymann (SPÖ). Die hiesige Regierung hat sich entschlossen, diesen ultimativ zu zelebrieren. Man staunt nur so. Die letzten Vorbehalte sind gefallen. Die viel beschworene zivile Gesellschaft hingegen wirkt wie paralysiert.

Vor allem Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP), Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) und der neue Verteidigungsminister, der ehemalige burgenländische Polizeidirektor Hans Peter Doskozil (SPÖ), agieren wie ein Frontkomitee zur Abwehr der "Ausländerflut". Die Sprache hat es in sich. "Hart" ist zum Lieblingsadjektiv aufgestiegen. Von "harten Maßnahmen" bis zum "harten Druchgreifen" reicht die Palette einer Politik, die "hart bleiben will" und auch permanent Härtefälle produziert. Natürlich gelte es eine "Festung zu bauen". Es ist wie der Rap einer Schlägerbande.

Im Wettbewerb der Restriktionen, in der Konkurrenz der Zurückweisungen und Obergrenzen, da ist man nun gut aufgestellt. Applaus von fast allen Seiten ist der Bundesregierung sicher. Politik und Medien sind sich hierzulande weitgehend einig, dass Kurs und Linie stimmen. Gegenstimmen gibt es kaum. Gewonnen hat vorerst ein Patriotismus, der zwischen Herzlosigkeit und Hinterfotzigkeit, Borniertheit und Peinlichkeit sein rot-weiß-rotes Lager aufgeschlagen hat.

Sozialdemokraten und Konservative haben sich glückselig auf der Linie der FPÖ eingefunden. Ab und zu wird Heinz-Christian Strache rechts überholt. Aber das wird diesen bloß stärken. Die Tage als der Wiener Bürgermeister Häupl Flagge zeigte oder Kanzler Faymann den Kompagnon von Angela Merkel machte, das alles scheint wie weggeblasen. Das gesamte Spektrum rückt nach rechts, selbst die Grünen liefern sich eine schiefe Debatte, wo einmal mehr ein sattsamer Realismus dem hehren Idealismus obsiegen wird.

Flüchtlings-Stopp

Mit der Westbalkan-Konferenz Mitte letzter Woche in Wien versuchte man vor allem hinsichtlich Brüssel und Athen vollendete Tatsachen zu schaffen. "Wiener Gipfel: Pakt stoppt Flüchtlinge", schreibt der Boulevard. Die Balkanroute soll verunmöglicht oder zumindest erschwert werden. Die Zeit des Durchwinkens ist somit zu Ende. Doch damit stopft man bestenfalls Löcher, die anderswo bald wieder aufreißen werden. Vorerst allerdings feiert man den Rückgang der Asylwerber als Erfolg.

War man bis gestern noch bereit, Griechenland zu entlasten, so sind jetzt immer schrillere Töne gegen das Mittelmeerland zu vernehmen. So pfiff der junge Außenminister auf alle diplomatischen Gepflogenheiten als er weder Griechenland noch Italien nach Wien einlud, was zu gröberen Verstimmungen führte, ja sogar den Abzug der griechischen Botschafterin aus Wien zur Konsequenz hatte. Hellas soll gefälligst einen gesamteuropäischen Grenzwächter spielen. Dass die nicht gewillt sind, subalterne Drecksarbeit für die Herrschaften in den Zentren zu leisten oder jene nur sehr widerwillig erfüllen, wird ihnen übel genommen. Die Griechen seien nicht gesprächsbereit, heißt es.

Indes wollen die Griechen nichts anderes als einen beträchtlichen Teil der nach Europa (nicht nach Griechenland!) flüchtenden Menschen an die reicheren Länder weiterreichen. Dies ihnen zu verdenken, zeigt die geballte Ignoranz der begüterten Geschwister, ihrer Medien, aber auch ihrer Bevölkerungen. Griechenland, das (geographisch) auf dem Weg liegt, soll sich also in den Weg stellen. Doch was heißt aufhalten? Boote bei der Überfahrt rammen? Menschen nicht mehr zu verpflegen? Illegale Grenzübertritte mit Gefängnis zu bestrafen? Die türkische Küste beschießen? In Wien ist gut gackern. Vorläufig hat das freilich zur Folge, dass Tausende Schutzsuchende in Griechenland unter erbärmlichen Bedingungen festsitzen und nicht weiterkönnen. Eskalationen werden sich häufen. Aber Hellas, so unisono die österreichische Regierung, braucht Druck, nicht Unterstützung.

Das mehr duldende als aktive Durchwinken mag ja etwas ratlos gewesen sein, aber es akzeptierte zumindest die Lage und die Anliegen der Flüchtlinge, akzeptierte zumindest den Grundsatz, dass es mehr darum gehe, Menschen als Grenzen zu schützen. Man wusste nicht, was zu tun ist und war aber (wenn auch mit ökonomischen Hintergedanken ausgestattet) freizügig. Damit ist es nun vorbei. Empathie war gestern. Antipathie ist heute. Wenn Faymann an Tsipras hemdsärmelig appelliert: "Hör auf, Flüchtlinge durchzuwinken", so müsste er seinem Amtskollegen erstens eine Alternative nennen und zweitens dürfte er nicht verschweigen, dass Österreich selbst Meister im Durchwinken gewesen ist. Nein zum Reinwinken, ja zum Rauswinken, war hier stets das geheime Motto.

Österreich versucht jedenfalls anderen EU-Staaten seine Politik aufzuzwingen. Da sind Faymann und Kurz nicht die Ersten und wohl auch nicht die Letzten. Dass ein solches Vorgehen letztlich das gesamteuropäische Projekt an die Wand fährt, wird wahrscheinlicher. Inkompetenz zeigt sich schon darin, dass es überhaupt so weit kommen konnte. Nicht nur das Flüchtlingsdesaster demonstriert elementare Schwächen Europas. Vor Monaten drohte ein Grexit, inzwischen droht ein Brexit, und gegenwärtig kollabiert die Flüchtlingspolitik. Es ist Krisenverwaltung ohne Perspektive. EU-Europa ist handlungsunfähig, den großen Herausforderungen der Zeit nicht gewachsen, daher blüht allenorts ein schräger Nationalismus auf. Selbst die Reisefreiheit fällt dem zum Opfer.

Der jüngste Abfall Österreichs offenbart, dass Europa nicht bloß gefordert, sondern restlos überfordert ist. Sich suggerieren, kleinere Einheiten wie Nationalstaaten könnten diese Causa befriedigend lösen, ist als Anmaßung getarnter Unsinn. Aber es ist nicht nur der Wille, der versagt oder die böse Absicht, die sich durchsetzt, es sollte auch klarer werden, dass die staatlichen und rechtlichen Instrumentarien nicht für solche Elementarereignisse konstruiert sind. Sich aber auf Stimmungen und Meinungsumfragen zurückzuziehen, ist fahrlässig und inakzeptabel. Wenn Kanzler Faymann argumentiert, dass er Rückhalt in der Bevölkerung spüre, dann spricht das weder für diese noch für ihn.

Globalisiert man ungeniert wirtschaftliche und militärische Interessen, so betreibt man, was das humane Potenzial betrifft, eine Abschottungspolitik. Frei sind Waren und Waffen, unfrei der Mensch. Eine zentrale Frage hätte zu sein, was denn mit den Menschen auf der Flucht jetzt geschehen soll? Wie es ihnen geht. Ob sie genug zu essen kriegen. Ob sie frieren. Ob die medizinische Versorgung hinreicht. Ob sie ein Dach über dem Kopf haben. Kurzum: Wie wir ihnen helfen können. Stattdessen geht es immer wieder um die vemeintlichen Kosten (und weniger um die aus der Migration entstehenden Gewinne) und um die letztlich völkischen Vorurteile eingebildeter Eingeborener. Diese werden hofiert wie aktiviert. Sollen jene doch bleiben, wo sie sind. Was gehen uns die an? Willkommen im Zeitalter der europäischen Dilemmata.

Gescheiterte Weltinnenpolitik

Das kopflose Agieren im Nahen Osten oder Nordafrika rächt sich bitter. Der ideelle Zündstoff und die reellen Waffen wurden und werden zum Großteil von westlichen Staaten, von Medien und Konzernen geliefert, gelegentliche Interventionen und regelmäßige Bombardements mitinbegriffen. Es ist die gescheiterte Weltinnenpolitik einer Globalisierung, die nun als Flüchtlingsstrom nach Europa zurückkehrt. Auch wenn man der Türkei Milliarden überweist, damit die Flüchtlinge dort zurückgehalten werden, weiß niemand, ob dieses Kalkül aufgehen kann. Denn die Rechnung wird ganz ohne die Betroffenen gemacht, sie erscheinen hier als Manövriermasse, die einfach zu gängeln ist. Wer sagt, dass sie sich gefallen lassen, worauf Erdogan und Merkel sich gegebenenfalls einigen? Warum sollten sie?

Die anstehenden Probleme werden nicht in ihrer Komplexität gesichtet, sondern als unliebsame Phänomene autoritären Lösungen zugeführt. Das begreift zwar nichts, findet aber Zuspruch. Indes verzögert es lediglich Entwicklungen, in mancher Hinsicht werden Schwierigkeiten dadurch multipliziert bzw. erst geschaffen. Die Dimension der Geschehnisse wird nur ansatzweise erkannt. Dass hier die Konvention selbst gesprengt werden könnte, bleibt außen vor. Erschwert man also noch einmal die Bedingungen für Flucht und Asyl, führt dies einerseits in humanitäre Katastrophen, andererseits lässt es die Preise für Fluchthilfe in die Höhe schnellen. Flüchtlinge und Schlepper sind jedenfalls am Zug, Routen und Kriterien werden sich ändern, das Spiel wird brutaler. Aus ist es keinesfalls.

Alles läuft aus dem Ruder: die Flüchtlingsboote, die Europäische Kommission, die Nationalstaaten, die Menschenrechte und, was wohl am Gefährlichsten ist, der sich als Volk verstehende Mob in diversen europäischen Ländern. Die Berechenbarkeit der Akteure nimmt ab. Vieles gerät durcheinander, kippt ins Maßlose oder entpuppt sich als das Schamlose. Man hat das Gefühl, alles läuft an die Wand, niemand habe mehr Lösungen parat. Sitzungen und Gipfel, die absolut nichts bringen, häufen sich. Das Drohpotenzial, das man gegenüber Griechenland in der Schuldenfrage noch einmal auffahren konnte, wird sich gegenüber den Völkerwanderungen als hilflos erweisen, aber es wird die Opferzahl erhöhen.

Die EU-Institutionen sind in diesem Realszenario mehr Kommentator als Akteur. Aber Rat- und Tatenlosigkeit sind noch allemal besser als diese in Gang gesetzte patriotische Kraftmeierei, die primär böses Blut macht, deren Affekte Effekte zeitigen, die nur noch jenseits sind. Es herrscht eine aufgeregte Performance einer politischen und medialen Wutkultur. Seriöse Beurteilungen und Folgeabschätzungen halten sich in engen Grenzen. Wir gegen die, heißt die barbarische Botschaft, und die versteht der letzte Trottel. Die Betrachtung wird kurzsichtig und die Handlung wird grobschlächtig. Falsche Politik gerät in den Malstrom ihres stetigen Komparativs: "Es wallet und siedet und brauset und zischt." (Schiller)

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2000 Zeichen abwärts

Licht im Tunnel

Liest eins sich durch die Publikationen des vergangenen Jahres, scheint es, als wäre alles, was es zu Flucht und Vertreibung zu sagen gäbe, bereits in allen zur Verfügung stehenden Darstellungsformen abgedeckt worden. Viele der Texte zeichnen Bilder individueller Odysseen, von Gewalt und Tod, von unerträglichen Zuständen, vom Weglaufen und seinen schrecklichen Seiten, von Gnadenlosigkeit, aber auch von Solidarität. Doch viel zu selten, meist nur als Adjektiv oder in einem Nebensatz, kommt die Hoffnung zur Sprache, die in der Flucht liegt.

Im Osten der Demokratischen Republik Kongo lernte ich Menschen kennen, für die Flucht zu einem Teil ihres Lebens geworden ist. Dies waren zum einen junge KongolesInnen, die seit ihrer Kindheit in den 1990er Jahren immer wieder vor unvorstellbar gewalttätigen Angriffen fliehen - sie konnten nie länger als ein paar Jahre an einem Ort bleiben, bevor sie abermals vertrieben wurden. Zum anderen waren es betagtere Menschen, die während der belgischen Kolonialherrschaft vor den brutalen Methoden der Force Publique flohen, dann vor den Wirren der "Unabhängigkeits"-Kriege, später vor den Schergen Mobutus, danach vor der Gewalt der Befreiungskämpfe und schließlich vor den noch heute aktiven Milizen. Die Geschichten, die sie erzählen, sind fast immer erschütternd. Doch sie sind auch Ausdruck eines unbedingten Lebenswillens.

Flucht ist Zeitpunkt und Zeitraum, sie ist Manifestation einer Entscheidung, dehnt sich aus, von einem Knall in die unendlichen Weiten menschlicher Biographien. Die Entscheidung zu flüchten kann plötzlich getroffen werden, als Reaktion auf ein lebensbedrohendes Ereignis, aber sie kann auch pragmatisch sein, Zwischenergebnis eines langen Kampfes um ein Leben in Würde. Flucht ist Schock und Liminalität, aber sie ist auch Licht, nicht am Ende, sondern inmitten des Tunnels. Zu flüchten bedeutet, sich nicht der drohenden physischen, psychischen, intellektuellen, wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen Vernichtung zu ergeben. Flucht bedeutet vor allem Weitermachen.

St.H.

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Überlegungen zu "Flüchtlingskrise" und "Willkommenskultur" in Deutschland

von Arian Schiffer-Nasserie

1. "Flüchtlingskrise" in Deutschland - Was ist das?

Menschen verlassen ihre Heimat aufgrund von materieller Existenznot, Umweltzerstörung und Krieg. Das ist ganz und gar kein neues Phänomen. "Flüchtlingskrise" in diesem brutalen Sinn herrscht vielmehr seit über 60 Jahren und gehört zur ökonomischen und politischen Verfassung der herrschenden Weltordnung offenbar systematisch dazu. Davon jedenfalls gehen die maßgeblichen Staaten ganz selbstverständlich aus, wenn sie - bereits kurz nach dem 2. Weltkrieg - in Form der Genfer Flüchtlingskonvention und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR - den künftigen zwischenstaatlichen Umgang mit dem menschlichen Elend ihrer internationalen Konkurrenz verabreden. Und daran hat sich 25 Jahre nach dem Kalten Krieg und dem Sieg über das realsozialistische "Reich des Bösen" nichts verbessert - im Gegenteil!


2. Die alte europäische Flüchtlingspolitik

Dass viele der Flüchtenden versuchen, Europa und besonders die wenigen erfolgreichen Staaten Deutschland, Frankreich, England und Schweden zu erreichen, ist ebenfalls seit Jahren so. Die Regierungen der Bundesrepublik begegneten der unerwünschten Zuwanderung seit den 1990er Jahren vor allem mit einem migrations- und asylpolitischen Maßnahmenbündel aus Abschreckung, Abwehr und Abschottung. Und sie setzten ihre flüchtlingspolitischen Ansprüche europaweit so kompromisslos durch, dass das Staatenbündnis seitdem auch den Beinamen "Festung" trägt.

Insbesondere mit der so genannten Dublin-Verordnung verpflichtet die Bundesrepublik die Länder an der Süd- und Ostgrenze der EU auf die Registrierung, Internierung und Rücknahme jener Flüchtenden, die dort zuerst das Hoheitsgebiet des Bündnisses betreten. Die beabsichtigte Folge: Deutschland wälzt erstens die humanitären Kosten seiner weltweiten Erfolge auf die europäischen "Partner" ab, umgibt sich zweitens mit "sicheren Drittsaaten" innerhalb und außerhalb der EU und stiftet so drittens bei diesen "Transitländern" das ureigene Interesse an einer möglichst effektiven Grenzsicherung gegen Flüchtende, die ja ursprünglich nicht zu ihnen, sondern nach Nord- oder Westeuropa wollten.

Die unvermeidliche Konsequenz sind über 30.000 Tote und hoffnungslos überfüllte Aufnahmelager an den EU-Außengrenzen in den letzten 20 Jahren. Das alles war und ist nach Auffassung deutscher Führungskräfte in Politik und Presse keine Flüchtlingskrise. Vielmehr gilt bis zum Spätsommer 2015 in der Bundesregierung die Sprachregelung, dass die Situation der Flüchtenden zwar bedauerlich, die Ursachen aber entweder bei "kriminellen Schleuserbanden", welche die Menschen "mit falschen Versprechen aufs Meer locken" oder aber in "Misswirtschaft, Korruption, Terror und Despotie" der Herkunftsländer zu suchen seien - jedenfalls nichts mit der westlichen Weltordnung, dem Weltmarkt und der deutschen Rolle darin zu tun haben. Außerdem gebe es "nun mal" europäische Regelungen beim Umgang mit den Flüchtenden (Stichwort Dublin-Verordnung) und daran habe sich jedes Land zu halten. Deutschland könne jedenfalls beim besten Willen nicht "für das Elend der gesamten Welt" die Verantwortung tragen.

Eine Flüchtlingskrise gibt es regierungsamtlich erst seit dem Spätsommer 2015. In diesem Jahr zeichnet sich nämlich immer stärker ab, dass die Flüchtenden es trotz aller Abwehrmaßnahmen in immer größerer Zahl schaffen, die EU lebend zu erreichen. Und nicht nur das: Sie kommen nach Zentraleuropa und wollen vorzugsweise nach Deutschland. Seitdem (!) spricht die Bundesregierung von einer Flüchtlingskrise und hat die Zahl von einer Million zu erwartenden Flüchtlingen für dieses Jahr in die Welt gesetzt. Die von der Kanzlerin ausgerufene "Flüchtlingskrise" ist also nicht mit dem Leid der Flüchtenden zu verwechseln - in ihr geht es nicht um die Probleme der Flüchtenden, sondern um die Probleme der BRD mit den Flüchtenden.


Warum die bisherige Flüchtlingspolitik der BRD als "gescheitert" gilt

Dass die Opfer der ökonomischen Weltmarkterfolge Deutschlands und der westlichen Weltordnung durch die EU-Außenstaaten und das Dublin-Verfahren bisher zuverlässig von der Mitte Europas (Deutschland, Frankreich) ferngehalten wurden bzw. schnell zurückgeschickt werden konnten, funktioniert offenbar nicht mehr. In diesem Sinne ist die bisherige Flüchtlingspolitik aus Sicht der deutschen Regierung "gescheitert" (Angela Merkel). Aber warum?

Zunächst einmal sind die vielen Flüchtenden weltweit Ausdruck der politischen und ökonomischen Weltlage. Immer neue Rekorde der Flüchtlingszahl (2014 waren es global 59,5 Millionen) zeugen von der zunehmenden Ruinierung weiter Weltgegenden.

Herkunftsländer:
In vielen Herkunftsstaaten Afrikas und Asiens hat der Einbezug der ehemaligen Kolonien in den Weltmarkt die Lebensgrundlagen großer Bevölkerungsteile zerstört. Weder die kleinbäuerliche Landwirtschaft oder Fischerei noch die wenigen Industrie-Unternehmen sind der Konkurrenz auf dem Weltmarkt dauerhaft gewachsen; oft werden die bisherigen Bewohner und Nutzer des Landes auch schlicht vertrieben, weil Plantagenwirtschaft, Rohstoffgewinnung oder Tourismusindustrie für ihre Regierungen lohnender ist als nur ihr Überleben. Im Afrika südlich der Sahara zählt die UNO gegenwärtig 206 Millionen Hungernde. Zu den ökonomischen Gründen für Flucht treten politische: Die in den Drittweltstaaten auftretenden Verteilungskämpfe um die wenigen Reichtumsquellen, die es in den Ländern gibt, machen Korruption und politische Machtkämpfe zu einem Dauerzustand; oft entspringen daraus andauernde Bürgerkriege, in denen die Menschen auf Grundlage ethnischer oder religiöser Zugehörigkeiten um die verbleibenden Ressourcen kämpfen. Korruption, Bürgerkriege und Vertreibungen in den ehemaligen Ländern der Dritten Welt sind also nicht Ursache, sondern Folge der alternativlosen Zurichtung der Dritten Welt für einen Weltmarkt, aus dem die westlichen Staaten ihren Nutzen ziehen. Ähnliches gilt für die meisten Länder des früheren Ostblocks.

Zusätzlich haben die Weltordnungskriege des Westens den Westbalkan, den Nahen und Mittleren Osten aufgemischt (Kosovo, Irak, Afghanistan). Die westlichen Interventionen während des "arabischen Frühlings" haben dazu geführt, dass in Staaten wie Libyen und Syrien das staatliche Gewaltmonopol zerfällt und die mit westlichen Waffen ausgerüsteten Islamisten die Lebensgrundlagen von Millionen zerstören.

Bei all dem war und ist Deutschland dabei. Und das nicht unter "ferner liefen", sondern als prominenter Nutznießer einer Weltordnung, welche die Freiheit des Geschäfts zum globalen Prinzip gemacht hat: Deutsche Unternehmen verkaufen ihre Waren in den EU-Staaten und in die ganze Welt, verschaffen sich die interessanten Rohstoffe (was viele Menschen von ihren Äckern verdrängt) und Arbeitskräfte für ihr Geschäft und bauen weltweit Fabriken, um die Billiglöhne und Märkte anderer Länder für sich auszunutzen.

Mit seinen Exporten, die unter anderem deshalb so konkurrenzfähig sind, weil die deutschen Löhne massiv gesenkt wurden (Hartz IV und Niedriglohnsektor!), schädigt Deutschland andere Staaten bis zum Ruin. Dafür braucht es die entsprechende Absicherung der nationalen Interessen - freie Handelswege, sichere Schiffsrouten, Bekämpfung widerspenstiger Staaten bzw. "Terroristen". Ob Deutschland dabei direkt agiert, ob es von seinen westlichen NATO-Partnern und ihren Weltordnungsaktionen profitiert oder ob es als drittgrößter Waffenexporteur der Welt genehme Kräfte vor Ort beliefert, die globalen Kräfteverhältnisse dadurch in seinem Sinne verändert und für sich schießen lässt (Bsp. Jemen) - all das sind die Mittel der deutschen Außenpolitik, die je nach Nutzenerwägung gewählt und dann politmoralisch begründet werden.

Anrainerstaaten und Transitländer:
Anrainerstaaten dieser Kriege wie Iran, Jordanien und Libanon tragen bisher die Hauptlast der menschlichen Folgekosten. Zusammen mit der Türkei, Pakistan, Äthiopien, nehmen sie etwa 46% aller weltweit Flüchtenden auf. Insgesamt finden 86% aller Menschen auf der Flucht Aufnahme in anderen so genannten Entwicklungsländern.

Libanon und Jordanien sind angesichts ihrer eigenen ökonomischen Ruinierung und aufgrund mangelnder finanzieller Unterstützung aus anderen Staaten immer weniger dazu in der Lage, die Flüchtlinge auch nur zu ernähren, geschweige denn, bessere Unterbringung zu organisieren, den Kindern Schulunterricht zu gewährleisten. Deshalb versuchen viele nach Europa weiter zu fliehen und vergrößern so zunächst einmal die Zahl jener, die über die Türkei in die EU wollen.

Türkei:
Über zwei Millionen Flüchtlinge aus Irak, Afghanistan und ganz besonders aus Syrien leben am Rande der Städte oder in Lagern der Türkei. Von dort aus werden Kämpfer für Armeen rekrutiert, mit denen die Türkei, die USA und andere Staaten die Kräfteverhältnisse im Irak und im syrischen Bürgerkrieg in ihrem Sinne beeinflussen. Vor allem aber sorgt die Türkei so dafür, dass die Vertriebenen "nah an ihrer Heimat" bleiben und nicht weiter nach Westen fliehen. Um diese Funktion sicher zu stellen hat die EU bereits im Frühjahr 2014 mit der Türkei ein Abkommen geschlossen, dass türkischen Bürgern (Visafreiheit) und Unternehmen (Zollerleichterungen) einen erleichterten Zugang zur Europäischen Union verspricht, wenn die Türkei im Gegenzug Flüchtlinge an der Weiterreise nach Westen hindert. Allerdings beobachtet die EU vom Standpunkt ihrer eigenen geostrategischen Interessen zugleich die regionale Eigenmächtigkeit der Türkei unter der AKP-Führung Erdogans mit großer Skepsis und handelt dementsprechend. Als Antwort auf bzw. als strategisches Instrument im diplomatischen Konflikt mit der EU instrumentalisiert die AKP-Regierung in Ankara die Flüchtenden und lässt sie seit Sommer 2015 ungehindert über die Ägäis weiterziehen. Die Opfer der weltweiten Konkurrenz um Geld und Gewalt bekommen darüber eine weitere Funktion. Sie werden zum Druckmittel im zwischenstaatlichen Machtkampf zwischen EU und Türkei. In der Folge schaffen es immer mehr Flüchtende über die Ägäis lebend in die EU, vor allem zunächst nach Griechenland.

Griechenland, Italien, Ungarn etc.:
Gemäß der Dublin-Verordnung (s.o.) hat Athen eigentlich die Aufgabe, jeden Flüchtling zu registrieren, ein Asylverfahren durchzuführen, ihn abzuschieben oder, sofern er aus humanitären Gründen nicht zurückgeschoben werden kann, ihn als "Geduldeten" zu behalten. Allerdings hat die ökonomische Konkurrenz innerhalb des europäischen Binnenmarktes bzw. hat Deutschland als dessen größter Nutznießer viele süd- und osteuropäische Länder ebenfalls weitgehend ökonomisch ruiniert. In der Folge der Euro-Krise und der Brüsseler Sparvorgaben zur Rettung der Gemeinschaftswährung sind einige dieser Staaten nicht mehr fähig oder willens, die Flüchtlinge, die immer massenhafter anlanden, im Sinne der von Deutschland gewünschten Dublin-Regelung zu verwalten. Besonders Griechenland. Nachdem die neu gewählte Syriza-Regierung bereits im Frühsommer 2015 erfolglos versucht hatte, gegen den Willen Deutschlands eine Neuverhandlung der Sparvorgaben zu erreichen, hat sie die Registrierung von Flüchtlingen weitgehend eingestellt und lässt diese ziehen. Damit wird ein Dominoeffekt auf der so entstandenen "Balkanroute" (Bulgarien, Mazedonien, Serbien, Ungarn...) in Gang gesetzt: Die betroffenen Staaten handeln dann jeweils ähnlich.

Auch für Italien gilt bereits seit 2012, als nach der Zerstörung des libyschen Staates immer mehr Flüchtende Lampedusa/Italien erreichten, Vergleichbares. So hat Rom schon im Herbst 2013 nach der allgemeinen Aufregung über die Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa versucht, in Form einer Quotenregelung eine Verteilung der Flüchtlinge in die europäischen Staaten anzuregen bzw. wenigstens finanzielle Unterstützung für seine Rolle bei der Flüchtlingsabwehr zu bekommen. Das wurde ihm verweigert, insbesondere durch die deutsche Regierung. Italien hatte damals aus Protest gegen die EU-Politik Deutschlands einige Flüchtlinge gewissermaßen als lebende Grußbotschaft mit Reisedokumenten und Fahrkarten nach Hamburg ausgestattet... (Vgl. "Lampedusa in Hamburg").

An der europäischen Flüchtlingskrise wird insofern deutlich, dass viele der beteiligten Staaten in der supranationalen Verfassung des Bündnisses und dem damit verbundenen Souveränitätsverzicht in Zeiten der Krise und unter den Bedingungen eines von Deutschland erzwungenen Sparprogramms keinen Nutzen mehr für sich erblicken und sich nicht weiter von der deutschen Hegemonialmacht zu einer Politik nötigen lassen wollen, die ihnen nur noch weitere Belastungen auferlegt. Die Flüchtenden werden darüber also auch noch zum Material eines innereuropäischen Machtkampfes und kommen ironischer Weise gerade dadurch dem wirtschaftlichen und politischen Zentrum der EU immer näher.

Schlussfolgerung: Die Bundesregierung ist nicht einfach "mit Flüchtenden konfrontiert", mit deren Zustandekommen sie nichts zu tun hat. Die Flüchtenden sind vielmehr Produkt der ökonomischen und politischen Interessen der erfolgreichen Staaten, nicht zuletzt der Bundesrepublik. Und sie werden zum Mittel in den zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen.


Warum ändert Deutschland seine flüchtlingspolitische Position?

Deutschland ist dadurch in bisher ungekannter Zahl mit Flüchtenden konfrontiert, die über Ungarn und Österreich die deutschen Grenzen erreichen. Zum allgemeinen Erstaunen ihrer Bürger vollzieht die Bundeskanzlerin in der Folge eine beachtliche Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik und nimmt seit Ende August 2015 die ungeliebten Elendsgestalten, die sie bisher an die EU-Außengrenzen verbannen wollte, auf. Weder schließt sie ihre Grenzen zum Schengen-Raum, noch besteht sie kompromisslos auf Einhaltung der Dublin-Verordnung und schon gleich setzt sie ihre Macht nicht ein, um die Einwanderer gewaltsam wieder außer Landes zu schaffen. An die Stelle der Abschottungspolitik setzt sie nun eine humanitäre Aufnahmephase und ruft ihre Bürgerinnen gleichsam zu einer "Willkommenskultur" auf. Auch wenn es die meisten Bundesbürger kaum fassen können, weil sie entweder als nationalistische Patrioten im Handeln der Regierung glatten "Volksverrat" sehen oder als patriotische Humanisten von der ungeahnten Güte ihres Vaterlandes gerührt sind - die Regierenden verfolgen realpolitischere Ziele mit ihrer flüchtlingspolitischen Wende und bleiben der Staatsräson der Bundesrepublik dabei ganz treu.

Ihren Ausgangspunkt nimmt die flüchtlingspolitische Wende in der staatlichen Feststellung, dass die Fortsetzung der bisherigen Verfahrensweise mit illegal Eingereisten immer weniger funktioniert. Die Alternative, die Schließung der deutschen Grenzen, wie es Ungarn und andere zeitweise mit Hinweis auf die Dublin-Verordnung praktizieren und wie es selbsternannte Staatsschützer nicht nur in Heidenau auch für Deutschland massenhaft fordern, kommt für die regierenden Patrioten auf keinen Fall in Frage, gilt sogar als "undeutsch" (Vizekanzler Gabriel). Weil die nationale Grenzschließung nämlich gleichsam ein Ende des "Schengen-Abkommens" und der europäischen Freizügigkeit im Personen- und Warenverkehr bedeuten würde, ist man in Berlin besorgt, dass der Rückfall in die nationale Grenzsicherung eine der wichtigsten Bedingungen für den bisherigen und künftigen Aufstieg Deutschlands zur führenden (Welt)wirtschaftsmacht in Europa gefährdet. In diesem Sinne ist die "Flüchtlingskrise" für Deutschland zugleich eine EU-Krise, die vitale Interessen tangiert. Für Deutschland steht also viel mehr auf dem Spiel als das Überleben der Flüchtenden; nämlich die Bewahrung des schranken- und grenzenlosen EU-Binnenmarktes als Bedingung der weiteren Kapitalakkumulation deutscher Unternehmen und der Vormachtstellung der Bundesrepublik in Europa.

Aus einem ähnlich gelagerten Grund kommt auch die Abschiebung der Flüchtlinge aus Syrien und Irak in ihre Herkunftsländer für die Bundesrepublik nicht in Frage. Denn damit würde Deutschland gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen, der es 1951 beigetreten ist. Die Vertragsstaaten gehen darin davon aus, dass Kriege und Bürgerkriege erstens zu ihrer Weltordnung gehören und zweitens, dass dadurch stets Flüchtlinge heimatlos gemacht werden. Ferner gehen sie drittens davon aus, dass weder sie selbst noch dritte Staaten diese Menschen haben wollen, d.h. sie werden als "Last" der Auseinandersetzungen zwischen den Staaten begriffen. Sie regeln dieses "Faktum" so, dass sie Flüchtlingen, die ihr Staatsgebiet erreichen, den Schutz ihres Lebens garantieren, sie insbesondere nicht in ihre Heimatländer zurückschicken, sofern dort ihr Leben bedroht ist, sie aber auch nicht in dritte Staaten weiter schieben. Das ist der Kerngehalt des humanitären Flüchtlingsrechts. Die Genfer Konvention regelt also vergleichbar zum staatlichen Umgang mit dem durch die Marktwirtschaft produzierten Elend im Innern (Obdachlose, Drogenabhängige usw.) den weltordnungspolitischen Umgang mit den "unvermeidlichen Opfern" der Weltgeschäfte und Waffengänge im internationalen Verkehr. Sie ist damit Teil der allgemeinen Völkerrechtsverpflichtungen, die die modernen Staaten miteinander eingehen, um auf dieser Grundlage ihre ökonomischen und politischen Interessen auf der Welt konkurrierend gegeneinander wahrzunehmen. Ein Land wie Deutschland will an dieser Weltordnung, die ihm nützt, teilhaben. Diese Teilhabe wegen der jetzt anfallenden Kosten für Flüchtlinge zu kündigen, ist daher keine Option. Im Gegenteil: Deutschland will, dass die Flüchtlinge, die wegen des dargelegten Zustands der Weltordnung und Deutschlands Rolle darin in immer größerer Zahl anfallen, sozusagen "geordnet" verwaltet werden und fordert deshalb eine modernisierte Weltelendsverwaltung.


Neue deutsche Willkommenskultur - eine politische Offensive ­...

Dazu geht die Bundesregierung mit gutem Beispiel voran, d.h. sie entschließt sich zu einer humanitären Aufnahme der Flüchtlinge unter Inkaufnahme der Kosten hierfür und sie präsentiert ihre neue deutsche "Willkommenskultur" als alternativlose und vor allem alternativlos gute Antwort auf die "Flüchtlingskrise". Auf dieser Basis will sie die aus ihrer Sicht in Unordnung geratene und damit für sie (!) schädliche Praxis der Flüchtlingsfrage und des EU-Bündnisses neu angehen - in Deutschland, innerhalb Europas und mit Blick auf die beteiligten außereuropäischen Staaten weltweit. Innen- wie außenpolitisch versucht sie dabei aus ihrer Not eine Tugend zu machen, mit der sie fordernd auftritt. 'Stärker aus der Krise herauskommen' - der Leitspruch, den sich die Kanzlerin für die Bewältigung der Finanzkrise gesetzt hat, soll auch in diesem Fall zum Zug kommen. Dafür setzt sie einiges in Bewegung.


...nach Außen...

Außenpolitisch leitet die Bundesregierung Folgerungen aus ihrem Problem mit den Flüchtenden ab, die ihrer Stellung als europäischer Führungs- und globaler Ordnungsmacht entsprechen. Sie verlangt von anderen Staaten in und außerhalb der EU, dass sie sich an der Lösung des von Deutschland ausgerufenen Problems beteiligen. Und sie setzt sich neue Aufträge im Namen des "Weltflüchtlingsproblems".

Deutschland will erstens die gesamte EU zu neuer Einigkeit zwingen - zunächst, um die europäische Flüchtlingspolitik wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Dazu gehört eine gewisse Selbstkritik in der Frage, dass man die Mittelmeeranrainer bisher mit dem Problem "zu sehr allein gelassen" hat. Jetzt soll eine gemeinsame Aufnahmeregelung gelten - auch gegen das Widerstreben vor allem der östlichen EU-Staaten. Als Wiederbelebung der Dublin-Regelung sollen "Hotspots" in Griechenland, Italien, Bulgarien eingerichtet werden, die durch die EU finanziert und teilweise auch mit EU-Personal ausgestattet werden. Damit entstehen zentrale Registrierungs- und Aufnahmezentren, von denen aus die Flüchtlinge dann europaweit weiterverteilt werden und mit denen verhindert wird, dass die betreffenden Staaten die "gemeinsamen Beschlüsse" der deutsch dominierten Union durch eigenmächtige Praktiken an den Außengrenzen unterlaufen.

Zweitens verhandelt Deutschland aber auch eine prinzipielle Frage seines europäischen Projekts. Am Zustandekommen der jetzigen Problemlage war die Renitenz einiger EU-Außenstaaten mitbeteiligt; bei den Versuchen, die Lage mit Quoten neu zu regeln, stellen sich nun insbesondere die osteuropäischen Länder quer. Und auch Frankreichs Regierung macht der deutschen Diplomatie deutlich, dass sie nicht gewillt ist, die deutschen Definitionen des Flüchtlingsproblems zu übernehmen, sondern ihre Prioritäten mit Berufung auf die Attentate von Paris ganz anders setzt, nämlich im Kampf gegen den IS, und dafür Deutschlands Solidarität verlangt. Merkels Vorstellung davon, dass Deutschland Europa inzwischen so weit dominiert, dass seine Vorstellungen wie von selbst auf Zustimmung treffen, weil sich alle europäischen Partnerländer abhängig wissen vom wirtschaftlich mächtigsten Land, erweisen sich in der Flüchtlingsfrage, bei der es naturgemäß um die Verteilung von Lasten geht, insofern bisher als ziemlich haltlos. Was bei der Bewältigung der Euro-Krise aus deutscher Sicht funktioniert hat - die anderen Staaten beugen sich der deutschen Austeritäts-Politik, weil sich tatsächlich alle um den Bestand des Euro-Kredits sorgen - wird bei der Flüchtlingsfrage ganz im Gegenteil von den unzufriedenen Staaten in Europa genutzt, um Deutschland buchstäblich Grenzen aufzuzeigen und an den deutschen Anträgen die Frage zu wälzen, ob sich ein souveräner Staat etwas aufzwingen lassen muss, was für ihn nicht nützlich ist.

Drittens sollen Nicht-EU-Länder an den EU-Außengrenzen ihre Funktion, die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, wieder besser erfüllen. Das zielt ganz besonders auf die Türkei, mit der die BRD zunächst bilateral und dann in Brüssel als EU deshalb ein neues Abkommen geschlossen hat. Sie erkennt damit diplomatisch die Bedeutung der Erdogan-Regierung an, erklärt die Türkei trotz ihres neuen Kriegs gegen die Kurden und gegen Syrien zu einem sicheren Herkunftsland, zahlt der Türkei mehrere Milliarden für ihre Flüchtlingslager und führt endlich die schon lange versprochene Visafreiheit ein.

Viertens übt die Bundesregierung auch eine gewisse Selbstkritik bei der internationalen Flüchtlingshilfe, deren Finanzierung man über Jahre fahrlässig vernachlässigt habe. Künftig sollen die Aufnahmeländer im Nahen Osten mehr Geld bekommen, damit sie die unerwünschten Elendsgestalten "heimatnah" aufbewahren.

Unter der Parole "Fluchtursachen vor Ort bekämpfen" folgert die deutsche Regierung fünftens, dass mehr außenpolitischer Einsatz Deutschlands in aller Welt nötig ist. Den USA wird (zumindest verklausuliert) vorgehalten, dass ihre Außenpolitik im Nahen Osten für Deutschland mehr Unordnung als Ordnung, und damit vor allem Flüchtlinge produziert. Der deutsche Außenminister will die an den nahöstlichen Kriegen beteiligten Regionalmächte Saudi-Arabien und Iran sowie Kuwait und Katar beeinflussen etc. Und explizit behält sich Deutschland auch militärische Ordnungseinsätze als Option vor und sieht in der nationalen "Flüchtlingskrise" die Chance, ihr "friedensverwöhntes" und tendenziell flüchtlingsfeindliches Volk endlich für weitere Auslandeinsätze der Bundeswehr zu mobilisieren.

Schlussfolgerung: "Hilfe für Flüchtlinge" ist für Deutschland also ganz buchstäblich ein einziger Auftrag zu mehr deutscher Einflussnahme in der EU wie in der ganzen Welt.


...und nach Innen.

Im Innern mobilisiert die Bundesregierung beträchtliche Mittel zur Registrierung, Verteilung und Unterbringung der Flüchtenden. Mit der Reform des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge soll die Integration der Aufgenommenen produktiv bewältigt werden, was als nationaler Kraftakt besonderer Art - vergleichbar der Wiedervereinigung - vorgestellt wird. Merkels "Wir schaffen das" nimmt die ganze Nation, vom kleinen Bürgermeister, der Polizei bis hin zu den vielen ehrenamtlichen Helfern dafür in Haftung und betont, dass Deutschland so reich und so gut organisiert ist, dass es diesen Kraftakt mit Bravour meistern wird.

Dabei werden die Neuankömmlinge nicht nur als die finanzpolitische Belastung in den Blick genommen, die sie zunächst einmal sind. Vielmehr betrachtet man die Zuwanderer als Potential für die Volkswirtschaft und ihre globalen Ambitionen. Angesichts des unternehmerischen Bedarfs an motivierten und anspruchslosen Facharbeitern, Pflegekräften oder gar Hochqualifizierten präsentieren Politik, Presse und Arbeitgeberverbände "ihre" Flüchtlinge bereits als künftigen Zugewinn fürs nationale Wachstum und Chance zur weiteren Unterschichtung des deutschen Arbeitsmarktes. Die zusammengelegte Leitung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge durch den Chef der Bundesagentur für Arbeit Frank-Jürgen Weise soll das institutionell gewährleisten.

Ergänzend dazu, also gerade nicht im Widerspruch zur Willkommenskultur, verschärft die Bundesregierung ihr gesetzliches Instrumentarium zur Abwehr und Abschreckung unerwünschter Zuwanderung. Mit einem Paket parlamentarisch durchgepeitschter Neuregelung werden die Asylverfahren künftig beschleunigt, Widerspruchsmöglichkeiten gegen Abschiebungen etc. stark eingeschränkt. Im gleichen Zuge werden Albanien, Kosovo und Montenegro zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Nach Afghanistan soll künftig vermehrt abgeschoben werden. Asylbewerber mit "geringer Bleibeperspektive" können bis zu sechs Monate in Erstaufnahmeeinrichtungen festgehalten werden, erhalten ausschließlich Sachleistungen, unterliegen dort einem Arbeitsverbot und strenger Residenzpflicht, d.h. dürfen sich nur in einem bestimmten Landkreis oder Regierungsbezirk bewegen. Verstöße werden mit drastischen Leistungskürzungen und bei Wiederholung mit sofortiger Ausweisung geahndet. Der Familiennachzug wird stark eingeschränkt. "Geduldete" müssen mit Leistungskürzungen um 40 % unter das bisherige Existenzminimum rechnen. So geht die gewünschte Sortierung von Asylberechtigten und unerwünschten "Armutsflüchtlingen" zukünftig schneller, ohne letzteren durch "Fehlanreize" Hoffnungen auf ein (Über)Leben in Deutschland zu machen.

Schlussfolgerung: Die zeitweise Aufnahme der Flüchtlinge, Versuche, einen Teil von ihnen in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren und die gleichzeitige Verschärfung der Asylverfahren, des Asylbewerberleistungsgesetzes und der Bemühungen, die Außengrenzen wieder effektiv dicht zumachen, sind also kein Widerspruch, sondern gehören zusammen. Sie bilden ergänzende Bestandteile einer Bereinigung der eingetretenen Mängel und vorwärts denkenden Neuregelung der europäischen Flüchtlingspolitik im Interesse der Bundesrepublik.


"Willkommenskultur" als ideologische Großoffensive

Die realpolitisch vollzogene Wende in der deutschen Flüchtlingspolitik bietet auf der ideologischen Ebene den öffentlich-rechtlichen und politischen Meinungsmachern einerseits viel Kollateralnutzen bei der Definition eines modernen, zeitgemäßen Patriotismus und erfordert andererseits aber auch viel "Umdenken" beim aufgeregten Volk, das sich die neue "Willkommenskultur" zu eigen machen soll.

Deutschland als einig Helferland setzt die Nation nämlich erstens ganz im Unterschied zur jüngsten Vergangenheit in ein schönes Licht. Immerhin beweisen die Verfolgten doch mit ihrem "Germany, Germany", welcher Beliebtheit sich die eigene Nation in der Welt erfreut; auf der Ebene der politischen Imagepflege ein nicht zu verachtender Nebeneffekt. Die darüber mobilisierten, humanistisch gestimmten Teile des Volks beklatschen ihre Flüchtlinge auf Bahnhöfen, spenden Lebensmittel und Altkleider.

Neben der Etablierung eines neuen nationalen "Wir-Gefühl" nach dem Motto "Deutschland hilft" (Bild) kann die politische Führung so zweitens einen Teil der Kosten ihrer neuen Politik auf das ehrenamtliche Engagement der Zivilgesellschaft abwälzen.

Angesichts der neuen deutschen Welle von Hilfsbereitschaft und Weltoffenheit der globalisierten Nation kann die Regierung drittens die Zustimmung ihres Volkes für all jene (oben beschriebenen) Maßnahmen beanspruchen, die der Einschränkung des Asylrechts im Innern und der Zurichtung anderer Staaten als Flüchtlingslager dienen.

Ein weiterer Kollateralnutzen liegt viertens darin, dass angesichts des von der Presse nun ins Bild gerückten Elends der Flüchtenden die Armut in Deutschland als vergleichsweise luxuriös und Protest dagegen als unanständig erscheinen soll. Hartz IV gilt schließlich als Paradiesvorstellung von Hunderttausenden, die dafür härteste Opfer in Kauf nehmen - wer will sich also hierzulande noch dagegen wehren?

Vor allem anderen aber wendet sich die offizielle deutsche Willkommenskultur gegen die verbreitete Ausländer- bzw. genauer Flüchtlingsfeindlichkeit in den Reihen des eigenen Volks. Mit Ausnahme einiger unverbesserlicher Rechtsextremisten "akzeptieren" diese Deutschen zwar inzwischen durch viel Umerziehungsarbeit und einigen Druck weitgehend, dass die Zuwanderung von Ausländern im Prinzip unverzichtbar für den Standort Deutschland bzw. für dessen Wirtschaft ist, weil diese nun mal Saisonarbeiter, billige und willige Fachkräfte, Hochqualifizierte etc. braucht. Die erzwungene Toleranz gegenüber Menschen, die zwar keine Volksgenossen aber immerhin sog. "Auch-Menschen" sind, weil sie der Volkswirtschaft dienen, will aber bei Flüchtlingen nicht greifen, weil deren Zuwanderung ja gerade nicht wirtschaftspolitisch eindeutig nützlich ist. Die überlebenden Opfer des Kampfes um Weltmarkt und Weltmacht bilden als Flüchtlinge vielmehr die ärmste und ohnmächtigste Untergruppe der Ausländer, mit denen weder Staat noch Kapital so recht etwas anzufangen wissen. Der prinzipielle Grundsatzvorbehalt gegenüber Ausländern konzentriert sich daher in einem "toleranten Zuwanderungsland", das von der Europäisierung und Globalisierung profitiert und deshalb den "dumpfen Rassismus" gegen nützliche Zuwanderer verurteilt, zunehmend auf Flüchtlinge.

Das liegt daran, dass dieses Volk unerschütterlich von dem Dogma überzeugt ist, dass die Vermehrung von Geld durch die Ausbeutung von Lohnarbeit nicht der endgültige Zweck der kapitalistischen Konkurrenz sondern diese ein zumindest "eigentlich" sinnreicher Mechanismus zur bestmöglichen wirtschaftlichen Versorgung letztlich aller Mitglieder der Volks-Wirtschaft, also auch ihrer persönlichen Interessen, ist. Die gegenteilige Erfahrung in der Wirklichkeit, d.h. die materiell unbefriedigenden Resultate für die Mehrheit (Zeitnot, Überbeanspruchung, gesundheitsbelastende Produkte, Niedriglöhne, steigende Mieten, Arbeitslosigkeit, Armut, Krisen usw.) werden gerade nicht als unvermeidliche Konsequenzen des Kapitalismus begriffen sondern als vermeidbare Fehlleistungen der Akteure gedeutet, die auf gemeinwohl-schädliches, d.h. letztlich volksfeindliches Verhalten zurückzuführen sind. Statt einer ökonomischen Ursachenanalyse geht es für die Idealisten der Marktwirtschaft also permanent um die Suche nach Schuldigen. Und wer sucht, der findet: Im eigenen Volk identifiziert man Bankster, Pleite-Manager, Betrüger und arbeitsscheue Hatz-IV-Empfänger, die den ehrlichen Volksgenossen um seinen wohlverdienten Lohn bringen.

Hinzu kommt zweitens das nicht weniger feste Dogma, dass dieses Volk aller Unterschiede und Gegensätze zum Trotz seine tiefere nationale Einheit in einer gemeinsamen Kultur, in geteilten Werten, Sitten etc. hat, welche die Zugehörigkeit zum geeinten Nationalstaat begründen. Letzterem wird die Aufgabe zugeschrieben, die im Prinzip harmonische Volksgemeinschaft zu beschützen und ihr Wohl zu mehren. Die gegenteilige Erfahrung in der Wirklichkeit, d.h. die Ungleichung von staatlich definiertem Allgemeinwohl einerseits und dem Wohl der lohnabhängigen Mehrheit andererseits führt zur permanenten Verurteilung der Volksvertreter als Volksverräter. Und sie führt andererseits zum Generalverdacht gegenüber allen, die nicht zum Volk gehören - dem Ausland und den Ausländern.

Sofern die Flüchtenden weder zur Volksgemeinschaft gehören und noch nicht einmal der Volkswirtschaft dienen, weil sie nichts verdienen (dürfen), erfüllen sie alle Bedingungen, um zur Zielscheibe des "gesunden Volksempfindens" und seines "Volkszorns" zu werden. Dies ist nicht nur - aber besonders in Ostdeutschland der Fall, wo der verbreitete Glaube an die beglückende Wirkung einer erweiterten Bundesrepublik, ihrer kapitalistischen Wirtschaftsordnung und ihrer Währung seit 25 Jahren aufs Härteste mit den ganz anders gearteten Erfahrungen im real-existierenden Kapitalismus kollidiert.

Im Kampf gegen die renitenten Nationalisten im eigenen Volk, die sich dem neuen Patriotismus in Zeiten von "Flüchtlingskrise" und "Willkommenskultur" mit ihrem "Nein zum Heim" widersetzen, greifen die Offiziellen der Bundesrepublik zu den üblichen Vereinnahmungs- und Ausgrenzungsstrategien oder schreiten gleich wie Vizekanzler Gabriel zur ihrer Diffamierung als "Pack" und der Verurteilung ihrer Gesinnung als "undeutsch". Statt einer Kritik der volkswirtschaftlichen und nationalstaatlichen Dogmen beanspruchen große und kleine Volkserzieher die Definitionshoheit über deren zeitgemäße Auslegung.


"Nach Köln" - Alles anders?

Spätestens mit den "Vorkommnissen in der Silvesternacht" rücken Flüchtlingselend, EU-Krise und die skizzierte Auseinandersetzung zwischen guten Patrioten und gesundem Volksempfinden erst einmal in den Hintergrund. Denn nach dem Willen von Politik, Presse und weiten Teilen der Bevölkerung überschatten "die Ereignisse am Hauptbahnhof zu Köln" offenbar alles andere. Mehr noch: Ein paar hundert betrunkenen Jungmännern aus dem Ausland soll es demnach gelungen sein, mit ihrem nächtlichen Tun "die Republik" zu verändern und harte Konsequenzen gegen kriminelle Ausländer und eine veränderte Flüchtlingsdebatte unumgänglich zu machen.

Zu fragen wäre zunächst, worum es bei den Vorfällen überhaupt ging: Um Eigentumsdelikte? Um sexuelle Übergriffe? Zu fragen wäre weiter, warum junge Männer unabhängig von der Staatsbürgerschaft meist in Horden, alkoholisiert immer wieder mal sexuell übergriffig werden; übrigens auch als Fußballfans, beim Oktoberfest oder zu Karneval - und vor allem nach wie vor in der guten alten Familie. Zu fragen wäre schließlich nach den Grundlagen und Gründen für die herrschende Sittlichkeit in Deutschland und warum sie in Teilen der Unterschichtsjugend mit und ohne Migrationshintergrund nicht so recht verfangen will. Zu fragen wäre vielleicht auch einmal nach der materiellen und sexuellen Not jener Flüchtenden, die in Massenlagern ohne Privatsphäre, ohne Familiennachzug, fast ohne Geld und mit Arbeitsverbot, ganz den Entscheidungen der deutschen Flüchtlingspolitik und ihrer Verwaltung ausgeliefert sind.

Tatsächlich wurde "nach Köln" thematisiert: Der mangelnde Respekt des muslimischen Mannes vor der deutschen Rechts- und Sittenordnung im Allgemeinen und vor der sexuellen Selbstbestimmung der Frau im Besonderen, die vermeintliche Ohnmacht der Polizei, von der nicht weniger erwartet wird, als dass sie immer - überall - alles im Griff behält, das Versagen ihrer Führung gemessen an diesem Anspruch, ein angebliches Schweigekartell der deutschen Medien gegenüber Ausländer- und Flüchtlingskriminalität und so weiter. Bereits nach kurzer Zeit des aufgeregten Dauerdiskurses steht das Bild über die Ereignisse zu Köln in erstaunlicher Klarheit fest: Ausländische Männer - Flüchtlinge zumal - bestehlen und vergewaltigen unsere freiheitsliebenden Frauen! Der Grund? Weil es ihnen an guten Sitten fehlt, was auch nicht wundern kann angesichts der Unsitten des Islam und der arabischen Welt und weil sie sich einbilden, in unserem freiheitlichen Land alles zu dürfen.

Die massenmedial geforderten Konsequenzen - Aufrüstung der Polizei, Verschärfung des Aufenthaltsrechtes, stärkere Überwachung des öffentlichen Raums, beschleunigte Abschiebung krimineller Ausländer und eine Neuauflage der Integrationsdebatte als unmissverständlicher Imperativ zur Unterordnung - werden von der Bundesregierung in einem atemberaubenden Tempo auf den Weg gebracht, gewiss nicht ohne das altbekannte Kalkül, das gesunde Volksempfinden (s.o.) faschistoid zu besänftigen, um so dem rechten Rand das Wasser abzugraben.

Das rechte Volksempfinden seinerseits sieht sich nicht besänftigt, sondern von den "Kölner Ereignissen" in seinem vorher bereits feststehenden Urteil über die volksfremden Elemente im Lande bestätigt: Wer will jetzt noch bestreiten, dass die Fremden aus dem Morgenland die sittliche Gemeinschaft der Deutschen missachten und ihre gutmenschliche Willkommenskultur schamlos ausnutzen, so dass die braven Deutschen sich um den gerechten Lohn ihres Anstands im eigenen Land betrogen sehen? (Zur Kritik dieses Denkens s.o.) Schuld trägt auch die eigene Regierung, die viel zu spät und viel zu wenig gegen die Zersetzer und Schmarotzer unternimmt. Schuld tragen aber vor allem jene im eigenen Volk, die aus falsch verstandenem Humanismus viel zu lange die Augen verschlossen haben vor dem wahren Charakter ihrer verhätschelten Schütz-, Flücht-, und Lieblinge, während sie die Sorgen und Nöte der Volksgenossen und vor allem -genossinnen, sogar die von ihnen selbst mühsam erkämpfte sexuelle Selbstbestimmung achtlos in den Wind schlagen.

Und die derart angefeindeten "Gutmenschen"? Auch sie zeigen sich - schockiert (!) und sehen sich in ihrem humanistischen Ansinnen in einer Legitimationskrise. Warum eigentlich? Warum müssen nach ihrer Vorstellung die Flüchtlinge, für deren Aufnahme sie eintreten, eigentlich schuldlos in Not gekommene, durch und durch gute Menschen - am liebsten "klavierspielende Kinderärzte aus Syrien" (Stefan Gärtner) - sein, die allen hierzulande geltenden Maßstäben für gutes Benehmen gerecht werden? Warum sollten die Opfer der imperialistischen Weltordnung eigentlich sympathische Zeitgenossen sein, die dazu noch den westlichen Wertehimmel achten und ehren?

Offenbar überwiegt auch in dieser Bevölkerungsgruppe die Überzeugung, dass Menschen in Not Hilfe nur dann verdienen, wenn sie gut, zumindest aber unschuldig sind, weswegen Kinder und Tiere auch immer noch die meisten Sympathien genießen. Offenbar teilen sie auch den nationalistischen Grundsatz-Vorbehalt, dass Ausländern im Normalfall die Einreise in den Nationalstaat zu verweigern ist, wenn sie mit Hinweis auf die außerordentliche Not der überdurchschnittlich qualifizierten und durchweg guten Flüchtlinge für eine Ausnahme in Zeiten der Flüchtlingskrise eintreten.

Vielleicht wäre es statt der selbstverliebten "Solidarität mit Flüchtenden" ja doch die bessere Idee, nicht für Flüchtlinge, sondern gegen die Fluchtursachen und Verursacher im eigenen Land anzutreten und den dazugehörenden Patriotismus zu kritisieren, statt ihn zu hofieren.

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Rezens

von Lorenz Glatz

Richard Schuberth: Bevor die Völker wussten, dass sie welche sind. Ethnizität, Nation, Kultur. Eine (antiessenzialistische) Einführung. Promedia Verlag Wien 2015, 222 Seiten, ca. 19,90 Euro.


Ein "Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht" - mit Mephistopheles sind Schuberth und seine Diplomarbeit verwandt. Das ist dem Thema und der Weltgegend, wo sie es behandeln, auch durchaus angemessen. Und dass der Text mittlerweile zwanzig Jahre Text alt ist, tut dem keinen Abbruch. Die Dekonstruktion, die hier an den Begriffen unternommen wird, ist da noch kein akademischer Kanon, der sich der "Essenzialisierung des Anti-Essenzialismus" nähert, sondern befeuert von "Empirie", wie der Autor sagt, von der Erfahrung von Enge, Unterdrückung und Menschenfeindlichkeit, denen jene Begriffe dienen. Diese führt Schuberth durch die drei Teile des Buchs von der Kritik des "völkischen Paradigmas" über die der "Ethnizität" zum "Designing von Ethnizität und Kultur". Der Autor bescheinigt sich im Vorwort wohl zu Recht "alles Talent, mir eine akademische Karriere zu verbauen". Er entfaltet dieses mit beträchtlicher Sprachgewalt, die ihn dazu führt, im letzten Teil ganz explizit "meinem Spott, den ich bis jetzt mäßig zu zügeln wusste, mehr und ungestümeren Auslauf zu gönnen". Wirklich geschadet hat ihm das persönlich kaum in seiner weiteren Laufbahn als "Autor von Romanen, satirischen Dramen, Essays, Polemiken, Songs und Aphorismen" und nicht zu vergessen als DJ. Seine Hoffnung jedoch, seine Diplomarbeit sei auch Leuten, die nicht vom Fach sind, leicht zugänglich, ist zu relativieren: Ohne zumindest einer Basiskenntnis sozialwissenschaftlicher Terminologie wird man sich mit der Lektüre nicht grad leicht tun.

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Aus den gezinkten Märchenbüchern der Streifzüge-Redaktion

Schreiben hilft

von Maria Wölflingseder

Ja, so etwas! Neben dem Gründer der Streifzüge, Franz Schandl, bin ich von den aktuellen Mitarbeitenden die einzige, die von Anbeginn dabei ist. Franz kannte mich aus der Weg und Ziel-Redaktion, in die er von Julius Mende eingeladen wurde, und in der ich die Koordination machte.

1996 wurde ich Streifzüge-Redakteurin, weil ich bereits seit zehn Jahren publizierte. In den letzten zehn Jahren publizierte ich jedoch fast nur noch, weil es die Streifzüge gibt.

Die Geschichte meines Publizierens spiegelt geradezu ein plakatives Sittenbild wider. 1987 arbeitete ich an meiner Dissertation zum Thema Analyse und Ideologiekritik esoterischer, neo-religiöser und biologistischer Strömungen. Diese überschwemmten damals den Markt und die Köpfe der Menschen. Sie lösten die weitläufigen, im Zuge der 68er-Bewegung entstandenen, vielfältigen, kritischen und emanzipatorischen Ansätze endgültig ab. Letztlich waren sie Wegbereiter und Folge des Neoliberalismus.

Nach der Veröffentlichung einer dreiteiligen Artikelserie riss das Interesse an meiner Arbeit über zehn Jahre lang nicht mehr ab. Damit hatte ich weder gerechnet, noch geplant, mich mit diesem Thema so lange zu beschäftigen. Aber es folgte aus dem In- und Ausland Einladung um Einladung, Artikel und Buchbeiträge zu schreiben, Vorträge zu halten und Vortragsreihen zu organisieren: Heute schier unvorstellbar für eine junge unbekannte Wissenschaftlerin - zumal all diese Anfragen ohne jegliches Zutun meinerseits passierten. - Eine letzte Regung kritischer Wissenschaft?

Im Jahr 2000 erfolgte ein radikaler Schnitt. Nicht nur die dot-com-Blase platzte, auch mir wurde der Teilzeitbrotjob gekündigt und für die wissenschaftlichen Tätigkeiten gab es plötzlich weder Geld noch Bedarf. - Seit 2004 schrieb ich über Arbeit, Arbeitslosigkeit, Armut und den menschenverachtenden Umgang mit jenen, die von der Möglichkeit zur Lohnarbeit abgeschnitten sind. In den Mainstream-Medien war es mir, nun erfahrene Publizistin, jedoch trotz großer Bemühungen verwehrt, Kritik an diesen heißen Eisen zu äußern. Mein Einblick in die (Selbst-)Zensur der Medien, den ich gewann, spricht Bände. Eine grundsätzliche Analyse der Praktiken des AMS (Arbeitsmarktservice) darf genauso wenig vorkommen wie die Infragestellung der herrschenden Wachstumslogik, die ungebrochen als Rettung aus der Krise beschworen wird.

Da ich in den letzten zehn Jahren mit dem Arbeitsamt und mit den Brotjobs (die das Überleben jedoch auch nur notdürftig sichern) vollauf beschäftigt und an die Umsetzung meiner literarischen oder anderen Wunschprojekte nicht zu denken war, habe ich wenigstens dreimal jährlich den Streifzüge-Lesenden meine Erfahrungen, Entdeckungen und Erkenntnisse kundgetan. - Schreiben hilft immer: Gegen die wissenschaftlich nachgewiesene Verblödungsgefahr durch existenziellen Stress. Gegen die Dominanz meiner ohnehin hyperaktiven rechten Hirnhälfte (also jener, die Intuition, Kreativität, Gefühle u.ä. steuert), die durch den Stress - getoppt von jahrelangem ständigem Höllenbaulärm im und vorm Haus - noch aktiver wird. - Dank der guten Streifzüge-Lektoren und -Lektorinnen konnte ich dabei auch mein Formuliervermögen verfeinern.

Ob unser Schreiben auch gegen die grassierende grenzenlose Dummheit, gegen den Opportunismus und gegen die herrschende Lähmung angesichts der rasenden Fahrt in die falsche Richtung hilft, sei dahingestellt. Notwendig ist es umso mehr!

In den letzten zwanzig Jahren wurden zahlreiche kritische Zeitungen und Zeitschriften eingestellt. Erstaunlich, dass die Streifzüge in der dünnen Luft existieren können, und den fleißigen Redakteuren und Redakteurinnen die Luft noch nicht ausgegangen und die Lust noch nicht vergangen ist. Danke Euch!


Öffnung

von Martin Scheuringer

Aporie. Angst. Abschottung. So, würde ich meinen, sieht es gerade bei vielen Menschen aus. Angesichts der Nachrichten aus Politik, Wirtschaft und Nachbarschaft ereilt sie ein kalter Schauer. Versteinert in einer Schockstarre nehmen sie zur Welt eine rein beobachtende Haltung ein. Gefangen in der Schau der makabren Show. Ein unfreiwilliger bios theoretikos. Viele tappen in die Falle des privaten Schneckenhauses, in dem sich gemäß der modernen Mythologie die heile Welt aufrechterhalten lässt.

Blöderweise lähmt die rückziehende Einzäunung das Streben nach dem guten Leben, indem sie das Ausmaß des Zusammenlebens verkleinert. Dies in einer historisch nie da gewesenen Lage, in der die Menschheit durch das gerechte Tauschen ohnehin schon in Elemente ohne empathische Bindung zerlegt ist. Aus Angst wird konformistisch die vom Markt vorgegebene Vereinzelung gewählt und eins versorgt sich anonym über Geschäfte, statt sich kooperativ zu verschwistern und gemeinsam die Reproduktion für den Alltag in die Hand zu nehmen.

Auf der Ebene der Theorie hindert die Angst das Lernen begründender Gedanken, da für einen Lernprozess Offenheit und Kooperation notwendig sind. Zwei Menschen gehen eine Verbindung ein und verständigen sich über ein Thema. Beide müssen für den anderen offen sein, wenn auch scheinbar das Wissen nur in eine Richtung transferiert wird. Doch Letzteres ist der Wissenden Illusion. Durch die Fragen des Lernenden muss der Lehrende sein Wissen reorganisieren und unter neuen Aspekten präsentieren. Genau diese Aufgabe fördert das Erkennen und die Beziehung. Genau diese Leistung ist in praktischer Hinsicht notwendig, um Neues in die Welt zu setzen. Genau das ist der Theoretikerin aber mühsam, sie strengt sich lieber mit dem weißen Papier an - also mit ihren eigenen Problemen als mit den Fragen der Anderen.

Wertkritiker öffnen sich zu selten den sich dieser Theorie öffnenden Menschen. Unsere Abonnentinnen fluktuieren, aber so genau wissen wir das gar nicht, denn wir kommen kaum in persönlichen Kontakt mit euch. Wollt ihr das so? Wollen wir das so? Ich hab ein wenig Angst vor euch. Vermutlich. Ich weiß es aber gar nicht so genau. Ich hab mirs in der Theorie bequem gemacht.

Das ist schade und erstaunlich. Festzuhalten ist nämlich: Die "beste" Theorie, warum Menschen in derartig bescheidenem Ausmaß Glück empfinden, macht aus ihren Verbreitern und Entwicklerinnen isolierte Theoretiker, die sich schwertun, mit anderen in Kooperation zu treten.

Manchmal hab ich folgenden Eindruck: Wertkritikerinnen wollen für ihre geistigen Ergüsse von den Lesern geliebt und bewundert werden, oder formulieren wir es anders: Sie wollen ihr Wissen in die Gehirne der Leserinnen transferieren und die sollen dann machen. So funktioniert Lernen aber nicht. Transformation schon gar nicht.

Diese Differenz zwischen Lernendem und Lehrendem bleibt immer erhalten. Auch bei denen, die Kritik vier Tage in der Woche betreiben und daher so etwas wie einen Expertenstatus erlangt haben und also was zu schreiben haben. Salopp formuliert: Die besten Theoretikerinnen wollen von den zweitbesten bewundert werden. Und der allerbeste betreibt immerwährende Nabelschau. Eine sehr intime Sache also, und daher ist psychische und soziale Gewalt oft sein Mittel, wenn die Ergebnisse seiner neuesten inneren Schau nicht so begeistert rezipiert werden wie vor drei Jahren.

Mit der Enttäuschung also, wenn die Schreibenden ihre begründeten Visionen preisgeben und dann Ablehnung erfahren, vermögen sie oft nicht sinnvoll umzugehen. Kränkungen, zerbrochene Freundschaften, Distanzierung, Stille, Verachtung - das passiert uns.

Hätte Wertkritik als eine ihrer großen Stärken nicht die Funktionsweise der Identifizierung von Mensch und sozialer Struktur ausgemacht? Könnten wir nicht genau an der Stelle ansetzen und über unsere Beziehungen und uns selbst in diesen Beziehungen sorgsam und achtsam nachdenken und in einem geeigneten Setting reden? Wo sind wir noch ident mit der Struktur, wenn wir auch noch so gut in der Theorie sind? Diese in theoretischer Hinsicht kognitiven Differenzen müssen im Dialog mit den lernenden Menschen behutsam deutlich gemacht werden. Die Lehrende sollte die Identifizierungen beim Lernenden mit Empathie benennen. Einem Menschen seine Objekte der Identifizierung wegnehmen ist zwar vorderhand ein befreiender Akt, doch wenn man das im Diskurs nicht so hinkriegt, dass derjenige selber die fetischistischen Fesseln seiner Individualität abwirft, dann ist es ein Akt der Gewalt.

Die wertkritische Theorie ist daher nur als ein freundschaftliches Angebot zu präsentieren. Eine Einladung, über die Welt in konsequent begründender Manier nachzudenken und sich selbst in die Analyse einzuschließen. Ein zwanghaftes Überzeugen Andersdenkender mit Strategien, Spielchen und Taktik passt nicht in diese Kritik der Welt. Egal ob beim ersten Kontakt mit der Wertkritik oder nach zehn Jahren Übung. Doch diese Beziehungsmuster durchziehen die Gruppen der Wertkritikerinnen. Eine Reflexion über uns als Gruppe im Rahmen der Reproduktion von Theorie gibt es nicht in ausreichender Qualität. Dies ist unser blinder Fleck.

So wie die kritische Reflexion den schwärzenden Zusammenhang von Ware, Staat, Wachstum usw. zerreißt, so zerreißt sie oft auch die Vertreter der Kritik. Mit Kreativität sollten wir aber die weißen Gegenbegriffe Kooperation, Entfaltung, Individualität nun mit farbigem Inhalt füllen und für uns als Gruppe Beziehungen finden, in denen dies ohne Angst vor Demütigung geleistet werden kann. War eine aufnehmende Offenheit für das Lernen und Lehren der kritischen Theorie die Bedingung, um seine Identität mit der Gesellschaft aufspüren zu können, so ist eine gebende Offenheit die Bedingung, um etwas gutes Neues für die Welt zu schöpfen. Diese Offenheit erfordert sehr viel Mut und ein Netz der Geborgenheit, in dem Fehler erlaubt sind.

Konzept. Mut. Offenheit. So, würde ich meinen, sollte es in uns aussehen.


Sturzfolge

von Severin Heilmann

Vor sieben oder acht Jahren machte ich infolge eines Sturzes von der Dachkante meines Hauses Bekanntschaft mit den Streifzügen. Schwer zu sagen, ob ich über kurz oder lang auf andere Weise in dieses theoretische Jenseits gestolpert wäre, hatte ich doch schon in Schulzeiten das geringste Interesse an Politik und Wirtschaft; lediglich die Arbeit war mir immer schon ein Dorn im Auge. Karl Marx dagegen ist mir spätestens seit meinen Studienjahren durch das Vorbeifahren am Gemeindebau selbigen Namens ein Begriff.

Der Sturz also trug mir einen mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt ein, der mir Zeit zum Lesen bot und auch eine Verfassung, wie sie einem nur die Opiatgabe einer wohldosierten Schmerztherapie bereitet: eine Melange aus bester Laune und, gleichzeitig, behaglicher Gleichgültigkeit; was mir die Lektüre des von Muttern zugedachten Zinsknechtklassikers von M. Kennedy erst ermöglichte. So zäh sich mir die Thematik auch gab, irgendwas daran ließ mich nicht mehr los. Und so folgte ich einige Windungen jenem Weg, den viele gehen beim Versuch, sich über unsere Verhältnisse, deren Unverhältnismäßigkeiten, ein wenig Klarheit zu verschaffen. Ich begegnete Grund- und Bodenreformern und Schwärmern von bedingungslosem Grundeinkommen, Gesellianern, welche Freigeld fordern (und nicht etwa, wie ich zuerst dachte, Geselligkeit), geriet an Tauscher und Färber. Kurzum, meine Erkundung brachte mehr Wirrsal denn Klärung.

Mein diesbezügliches Pfingsterlebnis hatte ich trotzdem noch, aufgrund einer lapidaren Bemerkung, die derartig naiv war, dass sie mir nicht mehr aus dem Sinn wollte. Jemand meinte im Gespräch über bedingungsloses Grundeinkommen tatsächlich, dass die ganze Erbsenzählerei mit Geld und Tausch ohnedies überflüssig sei, wo doch gewiss für alle genug da wäre. Einigermaßen verdutzt startete ich selbigen Abends noch eine fieberhafte Google-Schlagwortsuche nach "Welt ohne Geld" oder so. Ich musste wohl gleich an die richtige Adresse geraten sein, denn einige Tage später belohnte mich meine Recherche bereits mit der Probenummer eines Magazins, welches sich hinsichtlich Seriosität und Klarheit von allem bisher Gelesenen und Gehörten in angenehmster Weise abzuheben schien, ja sogar eine handschriftliche Widmung enthielt.

Ihrem Verfasser und einem jüngeren, wenngleich nicht jungen Kollegen lief ich kurz drauf im Rahmen einer Lafargue-Lesung in der Roten Bar des Volkstheaters in die Arme. Nach herzlicher Begrüßung und in allgemeiner Verwunderung über diesen Zufall lud man mich zum baldigen Trafo-Heurigen ein und ließ mich nicht ohne weitere Druckschriften ziehen. Trafo-Heuriger ... schien mir seltsam, aber dem Wortklang nach durchaus nicht unerfreulich. Tatsächlich fand ich dann in einem Außenstadtheurigen eine durchwegs sympathisch heitere Runde Mahl halten. Da waren nun also die Streifzüge versammelt, Redaktion und Gefolgsleute, in anregendem, bacchantischem Dunst, der mir nicht den geringsten Hinweis auf die konzeptionelle Strenge und die gewisse Extravaganz ihres Druckerzeugnisses bot.

Spätestens nach Sperrstunde begann sich mir der sogenannte Trafo-Heurige auch semantisch aufzuschließen, als der jüngere Ältere gemeinsam mit seiner liebenswürdigen Gefährtin der Einladung folgte, zum Nachtrunk abermals die Rote Bar aufzusuchen: Vermittels einer leichtfertig im Wagenfond verwahrten Wodkaflasche hatte der Redakteur seinen Zustand unterwegs wirksam transformiert; die Bar haben wir noch erreicht, dann kollabierte die Situation.

Das alles machte unmittelbar einen ganz kommoden Eindruck auf mich und nun folgte ich meinerseits bedenkenlos der Einladung, bei der nächsten Sitzung vorbeizukommen, ohne freilich damit gerechnet zu haben, bei der Gelegenheit gleich als Ganzes in die Redaktion inkorporiert zu werden. Meine Verwunderung darüber ist bis heute nicht ganz gewichen - kaum etwas an mir lässt mich für das redaktionelle Feld und seine Obliegenheiten geeignet scheinen; zudem mangelt es mir nach wie vor an Überblick über die relevanten historischen wie philosophischen Bezüge, von Einblick ganz zu schweigen. Und da das materialistische Korsett immer schon zu unangenehm eng an mir saß, mochte jemand vielleicht gar einen verkappten Idealisten in mir argwöhnen. Doch es half alles nichts, ich werde hier wohlgelitten.

Auch wenn den Redaktionssitzungen keineswegs jene muntere Ausgelassenheit des Heurigensymposions anhaftet, so sind sie doch nicht wenig mit geistreichen, launigen Einschlüssen durchsetzt. Außerdem werden die feinsten Suppen kredenzt, zuweilen Erdäpfel, der Wein seltener. Nachdem sich dazuhin mit den Jahren in der Runde eine unerwartet innige freundschaftliche Verbundenheit herausgebildet hat, geh ich denn auch freudig immer wieder hin!


Omphaloskepsis

von Ricky Trang

Der Begriff der Nabelschau ist laut Duden gewöhnlich mit einer negativen Bewertung verbunden, denn er vermittelt die Vorstellung einer übertriebenen, unfruchtbaren Beschäftigung mit der eigenen Person oder Gruppe, die von wichtigeren Aufgaben ablenkt und eine nötige Hinwendung zur Umwelt verhindert. Etwas, das mir als Theoretiker nur absurd erscheinen kann.

Und doch ... Umso mehr sich meine Gedanken zur Wirklichkeit drängen oder vielmehr umso mehr die Wirklichkeit meine Gedanken bedrängt, umso mehr die Wirklichkeit zur materiellen Gewalt wird, die nicht die Massen ergreift, sondern die ebenso die Massen ist wie die Waffen der Kritik, einer Kritik, die nur insofern radikal ist, als sie den Gegenstand ihrer Kritik, also sich selbst, nicht kennt, umso blasser der Gedanke, der zur Verwirklichung drängt, umso mehr verschwindet die Idee einer Wirklichkeit, die zu irgendeinem Gedanken drängen könnte. So lande ich, es mutet fast schon mystisch an, indem ich die Nabelschau laut Duden negiere und aufhebe, erst recht wieder bei der Omphaloskepsis, die ganz offensichtlich ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Jedenfalls ist sie auch Teil der kontemplativen Gebetspraxis des Hesychasmus, vom griechischen hesychia (hēsychía). Mit hesychia verbinden sich die Vorstellungen von Gelassenheit und innerem Frieden. Wir Hesychasten machen die Erlangung und Bewahrung solcher Ruhe zum Ziel intensiver systematischer Bemühungen. Dazu wiederholen wir über lange Zeiträume das Jesusgebet, welches heutzutage auch durch das mantraartige Rezitieren der Wertgesetzlichkeiten ersetzt werden kann. Einzig, die angestrebte Gelassenheit und der innere Frieden wollen sich nicht einstellen. Was jedoch kein Grund ist, vom rechten Weg abzukommen, denn die Fähigkeit von uns Menschen zum Selbstbetrug ist unermesslich, sie ist so gewaltig wie unsere Begierde nach Sinn. Und da unser Leben keinen hat, erfinden wir ihn. Und so werden wir, die Herren des Gedankens, die Damen mögen verzeihen, wie alle Domänen ist auch diese hauptsächlich männlich, die wir als Einzige unser Eigentum eifersüchtig hüten und verteidigen, gegen alle anderen und gegen die Wirklichkeit, in deren Mitte wir selbst längst angekommen sind, zum besten Beispiel, zur Erklärung, die ohne Gedanken auskommt, dafür, warum die Welt so ist, wie sie ist.

Und vielleicht ist diese Welt, der warre of every man against every man, in dem nothing can be unjust, tatsächlich unausweichlich, der Gedanke, dass der Zustand, der der Illusion bedarf, aufgegeben werden könnte, ebenso eine Illusion wie der Gedanke, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes und ein verlassenes Wesen ist; eben weil der Mensch dazu neigt, ein verächtliches Wesen zu sein?


Meine Streifzüge

von Lorenz Glatz

Meine Welt-Anschauung war, seit ich mich erinnern kann, sehr stark von Schrift geprägt. Ich würde heute sagen, dass das viel mit Magie und Dogma zu tun hat. Auf jeden Fall hat sich das in acht Jahren katholischer Internatsschule noch beachtlich verstärkt, ja ich würde sagen, dass das Meiste, was ich da an "Stärke" im Milieu aufbieten konnte, darauf beruht hat. Als ich dem "Knabenseminar" entwachsen war, zeigte sich diese Kraft in einem Philologie- und Philosophiestudium gut aufgehoben, eine frühe Ehe mit Kind schien feste Schienen in die Zukunft zu legen.

Die Ordnung bekam aber im Zug der Studentenbewegung Risse. Die setzten an bei den Dogmen der heiligen Kirche und führten mich zum Austritt. Ich fantasierte in jugendlichem Überschwang den Umsturz der ganzen Lebensweise. Der zaghafte Versuch, die festgefügte Lebensordnung mit Marx-, Freud-, Reich- und Fromm-Texten in der Hand materiell und in den persönlichen Beziehungen durch das Zusammenleben in einem Eltern-Kinder-Kollektiv anzutasten, brachte mich zeitweilig so ekstatisch "aus der Fassung", dass ich wahrscheinlich versucht hätte, mein Leben wirklich umzukrempeln, hätte nicht das Realitätsprinzip gerade die Gruppe zersetzt. Ich willigte ein, eine Arbeit als Lehrer anzunehmen. Nachlaufen hat man einer Stelle damals nicht müssen.

Und politisiert habe ich mich. Arbeiterbewegung, Marxismus - viel Schriftliches. Alles in schöner Ordnung mit vielen Dogmen, aber jetzt ganz auf der Spur von Fortschritt. Eine Art Ausschluss deretwegen - sie haben meine Ketzerei einfach nicht mehr auf die TO gelassen. Aber mit anderen Leuten ist es noch lange in dieselbe Richtung weitergegangen. Politik in der "Bewegung gegen den Krieg", Auftreten gegen den EG-Anschluss. Bis da wieder Risse waren, ja Allergieerscheinungen gegen Dogmatik überhaupt. Ich war auf dem Weg zu den Streifzügen, habe es aber noch nicht gewusst.

Im Frühjahr 1995 habe ich erst einmal im konkret eine Auseinandersetzung zwischen Trampert/Ebermann und Kurz gelesen. Der Ton war grauslich, aber den war ich von der Linken her gewohnt, hab ihn auch selbst immer wieder einmal angeschlagen, hatte das Gefühl, dass eins sonst nicht ernst genommen wird. Aber da war auch etwas ganz Erhellendes. Dass aus den sozialistischen Revolutionen schließlich nur eine Variante des Kapitalismus geworden ist, war eh ein Lehrsatz auch des Mao-angelehnten Marxismus, bloß war er da nur mit einer Serie von Verrat zu erklären. Aber Wert und seinen Fetischismus als Ausgangspunkt einer Fundamentalkritik des Kapitalismus zu nehmen und dem Klasseninteresse und dem Klassenkampf des Proletariats emanzipatorische Wucht abzusprechen, ja sie als Integration in die bürgerliche Gesellschaft zu sehen, war dem Marxismus aller Parteien und Sekten ein No-Go. Und es stieß ein Tor des Denkens auf.

Denken ist bei mir selten geradlinig. Ich höre oder lese etwas, das mir gegen den Strich geht. Ich stelle es beiseite, suche es eventuell, so gut es geht, zu integrieren, kann es auch jahrelang "vergessen", bis es wieder auftaucht, weil es Unbegriffenes, das sich aufdrängt, zugänglich macht. Vergessen war diesmal nicht angesagt, integrieren zum kleinen Teil nur möglich. Aber drüber reden wollte ich, bloß die "maßgeblichen" Leute nicht. Sie haben mich ausgeschlossen. War eh besser. Außerdem haben sie sich bald drauf aufgelöst.

Knapp vor 2000 jedenfalls, ich war schon über 50, bin ich auf ein Krisis-Seminar gefahren. Sehr gescheite Vorträge, darunter einer von einem kranken, völlig heiseren Franz Schandl. Ich habe viele Gedanken mitgenommen vom Seminar, menschlich war es aber recht kühl. Immerhin keine persönlichen Hacheleien. In meinem Kreis "Mensch statt Profit" sprachen wir (und schrieben auch ein wenig) über Themen wie Arbeitswahn, Proletenkult, "Antiimperialismus".

2001 nach dem Angriff auf die Twin Towers in New York hat mich Franz Schandl, den ich inzwischen ein paarmal getroffen hatte, in die Redaktion der Streifzüge eingeladen. Die "Antideutschen" hatten nach ihrer militaristischen Wendung die Redaktion verlassen, und er hatte zu Recht nicht geglaubt, dass ich mit denen gekonnt hätte. Ich schrieb einiges und genoss die Abwesenheit einer "politischen Linie". Und - ich war zwar der mit Abstand Älteste, aber konnte als einziger "html" buchstabieren - ich bastelte und betreute also die erste Version von www.streifzuege.org.

Diskussionen über unsere (unterschiedlichen) Auffassungen gingen mir ab. Eine erste solche - just auf einem Krisis-Treffen aber durchaus redaktionsintern - ging schief und erinnerte mich sehr an alte Zeiten. Inzwischen gibt es sie wieder, in einer recht guten Atmosphäre. Die Vorgänge bei und nach der Krisis-Spaltung von 2004 erschütterten nachhaltig meine hohen Erwartungen von einem professionellen Theoriebetrieb. Da gab es einen Gestus, der die Probleme, die die konkret zusammensitzenden Theoretiker miteinander als Menschen dieser Gesellschaft haben, als "nicht inhaltlich" von Reflexion praktisch ausschließt, und dann einen, in dem Leute, die eben noch als Freunde galten, in Pamphleten mit Jauche überschüttet wurden. Zwischen denen wollte und will ich mich nicht mehr entscheiden.

Dass wir als grundlegende Richtung der Streifzüge Kritik um Perspektive ergänzten, halte ich für einen Fortschritt. Meine Gedanken und schriftlichen Andeutungen kreisen um die Frage, wie unser unvermeidlicher "Teilzeitidiotismus" beschränkt werden kann und wie wir in Konvivialität, in vielen kombinierten "Reichweiten" Gedanken und Handlungen zugleich entwickeln können, mit denen wir aus der herrschenden Malaise der "Wertvergesellschaftung" herauskommen mögen. Die Unbeschwertheit und vor allem der Schwung der Jugend, den ich bei meinem ersten Versuch vor fünfzig Jahren hatte fehlt mir freilich, aber etwas klüger und weniger illusionär bin ich schon. Ich suche nach Möglichkeiten auch außerhalb der Redaktion in praktischen Zusammenhängen wie meiner Familie und ein paar Freund_innen, bei "Gemeinsam Landwirtschaften" oder in der alten Friedensorganisation "Servas". Ich finde, ich habe noch zu tun. Solang es halt geht.


Ausgleichsübung

von Petra Ziegler

Es ist natürlich ein Ärgernis. Kurz bevor so eine neue Ausgabe in die Druckerei geht, also drei Mal im Jahr, liegen die Nerven blank. Wir haben kein Cover, dafür unsinnige Formatierungen in den Texten, in anderen Beiträgen finden sich selbst nach mehrfachen Korrekturdurchläufen haarsträubende Fehler. Das Programm zum Layoutieren der Zeitung verweigert sich hartnäckig der Zusammenarbeit mit den Produkten freier Software. Mal verschwinden einzelne Absätze, dann ändern sich Schriften, plötzlich und ohne ersichtlichen Grund mitten im Text, praktisch bei jeder Nummer findet sich - mit Glück vor Drucklegung - irgendetwas anderes Rätselhaftes. Ich hab die Schnauze voll und schrei am Telefon den Schandl an, weil der Sevi wieder mal seinen Text nicht rechtzeitig (wir haben drei Wochen nach Redaktionsschluss!) abgegeben hat. Der Sevi wird abgeben. Im letzten Moment. Und weil ich seine Artikel gerne lese (und er das nächste Mal auch zeitgerecht abgeben wird, ab sofort ganz bestimmt ...), versöhnt mich das auch wieder. Glaube niemand, dass mir alles gefällt, was sich hier in den Heften findet. Stilistisch nicht, inhaltlich nicht. Ich gebe zu, manchmal frustriert mich das. Weil ich zumindest gefühlt mehr Zeit und Energie aufwende, mir unliebsame Beiträge abzuwehren oder bei Texten nachzubessern, die ich selbst in dieser Form niemals abgeben würde. Weil ich die eigene Schreiberei darüber vernachlässige, oft, weil dann schlicht keine Lust mehr dazu da ist. Weil ich die Leute nicht mit "Lesestoff" versorgen will, sondern ein Stück emanzipatorischer Veränderung mit auf den Weg bringen will, und das sollte möglichst klar und unmissverständlich rüberkommen und nicht beliebigen Interpretationen Tür und Tor öffnen.

Ich hab noch nie den Nachmittag versäumt, an dem wir die druckfrischen Streifzüge versenden. Drei Mal im Jahr, seit ich eben dabei bin. Wird bei uns alles noch händisch gemacht - Etiketten kleben, Absenderstempel drauf, kuvertieren, und bei den Abos nach Deutschland kleben wir sogar die Marken. So ein Heft geht also, bevor es uns Richtung LeserInnen verlässt, im Schnitt durch die Hände von vier RedakteurInnen. Sollte das jemand nicht ausreichend zu schätzen wissen, braucht er oder sie uns auch nicht zu bedauern, könnte aber bei nächster Gelegenheit zur Unterstützung vorbeikommen. Danach geht's zum Heurigen. Manchmal. Und manchmal wird der Abend auch länger, nicht einmal ohne polizeiliche Strafanzeige muss das abgehen.

Wir sind uns innerhalb der Redaktion nicht immer einig, immer uneins sind wir uns allerdings auch nicht. Und wir werden besser, wenn es darum geht, mit Konflikten und Unstimmigkeiten umzugehen, inhaltlicher wie atmosphärischer Natur. Wir diskutieren mehr miteinander oder lassen auch zwei Meinungen nebeneinander stehen. In Zukunft wird das verstärkt auch in der Zeitschrift seinen Niederschlag finden. Ohne die Streifzüge "hätte mein 'beschädigtes Leben' eine Delle mehr", hat Lorenz Glatz einmal in einem "Einlauf" geschrieben. Das, würde ich sagen, gilt auch für mich.


Twenty years im Eilzugstempo

von Franz Schandl

Gegründet wurden die Streifzüge ja nie. Sie sind einfach entstanden. Mitte der Neunziger gab es in Wien einige Interessierte, die sich mit der Wertkritik auseinandersetzten, und so kam es zur Etablierung des Kritischen Kreises, der in öffentlichen Sitzungen sich anschickte, über den Wert und die Krise zu diskutieren. Die Streifzüge waren zuerst nur ein halbinternes Zirkular, das auf billigste Weise hergestellt wurde und nicht mehr als 12 oder 16 Seiten umfasste.

Während die monatlichen Treffen bald abflauten und vor allem auch aufgrund beträchtlicher Obskuranz des Publikums eingestellt wurden, erfreute sich das Informationsblatt einer gewissen Beliebtheit, sodass das Zirkular sich sukzessive erweiterte und sich auch ein Abosystem herausbildete. Ein Cover bekam die Zeitschrift erst 2004, einen Schwerpunkt gibt es seit 2009. Die Homepage wurde 2003 eingerichtet und sie ist trotz aller Schwankungen nicht schlecht besucht.

2001 kam es im Gefolge von Nine Eleven zu einem größeren Zerwürfnis in der Redaktion (siehe Streifzüge 3/2001). Der Konflikt führte rasch zum Ausscheiden der Antideutschen (vor allem Gerhard Scheit und Stephan Grigat wären hier zu nennen, sie prägten die ersten Jahre entscheidend mit) aus dem Kritischen Kreis. Die Positionen waren unvereinbar geworden und die Trennung unvermeidlich. Der antideutsche Weg endete ja auch in der offenen Affirmation des westlichen Kapitalismus.

Alles andere als unvermeidlich war allerdings die Spaltung der krisis 2004, die auch die Streifzüge in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Jahre ab 2001 waren gekennzeichnet von einer sehr fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Nürnberger Wertkritikern, 2003 wurde beschlossen, dass krisis und Streifzüge als Theorie- und Interventionsorgan eine wesentliche Einheit bilden und gemeinsam koordiniert werden. Das startete auch ganz gut, verunglückte dann aber sehr bald an dem ausschließlich von Robert Kurz und Roswitha Scholz betriebenen Crash der alten krisis. Wir haben hier in Wien diesen Streit öffentlich nur wenig aufbereitet. Im unmittelbaren Umfeld der Wertkritik mag das auch geschadet haben, darüber hinaus war es aber wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, ohne permanente Nabelschau die Existenz des Organs zu sichern.

Inzwischen ist auch unser Verhältnis zur krisis lädiert. Das grundsätzliche Problem besteht darin, dass auch die krisis-Gruppe nie einen Schritt weg vom alten Modell monologischer Theorieverkündungspolitik getan hat und so ebenfalls alles abstoßen musste, was scheinbar nicht kompatibel gewesen ist. Das ist schade. Die Differenzen sieht man dort wohl um einiges fundamentaler und inhaltlicher als bei uns. Wir verorten sie eher auf der mentalen Ebene. Nachdem es fast zehn Jahre nicht gelungen war, die Spannungen abzubauen, müssen wir wohl zur Kenntnis nehmen, dass der enge Konnex der Vergangenheit angehört. Es war nicht einmal möglich, jemanden aus dem engeren krisis-Kern dazu zu bewegen, einen Beitrag für unsere NABELSCHAU-Ausgabe zu verfassen. Auch das ist schade.

Nicht bloß deswegen, aber wohl auch deshalb sind die Streifzüge über die zwei Jahrzehnte hindurch ein kleines Nischenprodukt geblieben. Alle Versuche, sie auszubauen oder gar größeres Terrain zu gewinnen, waren nur mäßig erfolgreich. Mehr als die jeweilige Stabilisierung mochte nicht gelingen. Aber vielleicht ist das unmittelbar auch nicht wenig.

Unsere Geschichte ist somit auch eine Geschichte des Scheiterns, eines Scheiterns, das uns jedoch bis jetzt keineswegs erledigt hat. Immer wieder ist es gelungen, neue Autorinnen und Unterstützer zu gewinnen, insbesondere auch Leute kennenzulernen, die uns sonst entgangen wären. Auch die Menschen, die die Zeitung machen, können ganz gut miteinander. Ein Teil unseres Vermögens ist wohl auch das Mögen. Zweifellos haben wir noch einiges vor.

Die Zwischenbilanz fällt wie vor zehn Jahren (siehe Streifzüge 36/2006) wiederum sehr zweischneidig aus. Einerseits ist es eine wohl nicht zu unterschätzende Leistung, dass es das Projekt gibt, dass es zwanzig Jahre durchhalten konnte und ein Ende vorerst nicht in Sicht ist. Andererseits konnte aber der Status des Geheimtipps nie überwunden werden, von kontinuierlicher Steigerung des Einflusses kann nicht die Rede sein. Auch meine halbernsten Versuche, mich aus der organisatorischen Tätigkeit zurückzuziehen und auf das Schreiben zu konzentrieren, sind kläglich gescheitert. Bestimmte logistische Patzer gehen auf meine Kappe, aber ich bemühe mich redlich. Die Lust auf einen Redaktionsputsch einer jüngeren Belegschaft ist mir zwar noch immer nicht vergangen, sehen tue ich den allerdings nicht.

So bin ich weder zufrieden noch unzufrieden. Kontinuität und Professionalität sind dem Produkt kaum abzusprechen, wenngleich es manchmal mühsamer ist, als das Resultat verrät. Vieles gibt es jedoch nur, weil es die Streifzüge gibt. Man stelle sich bloß vor, wir hätten 500 statt 250 Abos oder die Zahl der Unterstützenden wäre 100 und nicht 50. Was man da nicht alles zusätzlich anstellen könnte. Aber wer weiß, was die Geschichte nicht noch alles vorhat mit uns.

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Immaterial World

Review

von Stefan Meretz

Im Jahr 2004 fragte mich die Redaktion der Streifzüge, ob ich eine regelmäßige Kolumne schreiben würde, und ich sagte zu. In 12 Jahren schrieb ich 35 Kolumnen, und es hat mir Freude bereitet. Eine anstehende Kolumne war immer wieder Anlass, entweder aktuelle Themen aufzugreifen oder über die Dinge zu schreiben, die mich ohnehin gerade beschäftigten.

Doch warum Immaterial World? Das frage ich mich inzwischen auch. Zu Beginn verbarg sich dahinter die Idee, über Themen aus der digitalen Welt zu schreiben. Darunter fielen Themen wie Copyright, Wissensallmende, Wikipedia, freie Projekte, Informationsgüter, ACTA, Kopierschutz, Kulturflatrate und Shareconomy. Doch zunehmend mehr beschäftigte ich mich in den Kolumnen mit grundlegenden Begriffen und Konzepten wie Knappheit, Logik, Allgemeines, Information, Gesellschaft, Kritische Psychologie, Kategorien, Arbeit, Commons, Demonetarisierung, Selbstentfaltung, Konkurrenz/Kooperation, Stigmergie, Gründen/Interessen, Motivation, Utopie, Körper und Erziehung. Hier konnte ich meinem Hang zum Grundsätzlichen nachgehen.

Eingebettet waren viele Texte in einen positiven Bezug zum Konzept der Commons als Keimform einer freien Gesellschaft nach dem Kapitalismus. Dies kulminierte im Schwerpunktthema "Keimformen" in der Frühlingsausgabe 2014, in der sich zahlreiche Autor_innen - auch kritisch - mit der "Keimform-Theorie" auseinandersetzten. So weit ich zurückdenken kann, blieb dies der einzige Schwerpunkt, der sich explizit mit der gesellschaftlichen Transformation auseinandersetzte, denn einen Schwerpunkt "Transformation" gab es nie.

Nur weil Transformation drauf steht, muss sie nicht drin stecken. Insgesamt erfüllen die Streifzüge ihren selbst gesetzten Anspruch, Lust auf Debatten gesellschaftlicher Transformation zu wecken, nach meiner Wahrnehmung nicht. Zu sehr verbleiben viele Texte im Modus der "radikalen Kritik", deren Notwendigkeit unbenommen ist. Doch was was bedeutet Radikalität?

Radikalität wird oftmals mit einem rundum alles ablehnenden Gestus verwechselt. Doch in einer Gesellschaft des Spektakels - des spektakulären Gestus - wendet sich so manche radikale Geste leicht in Affirmation, und sei es als Guerilla-Marketing. Dabei ist die Wertkritik, der sich die Streifzüge verbunden fühlen, wie keine andere Theorie in der Lage, tatsächlich die Wurzeln der kapitalistischen Vergesellschaftung offenzulegen. Doch die einfache Negation, die bloße Kritik und Ablehnung eines "so nicht", ist nur die halbe Miete. Transformation bedeutet Aufhebung, also doppelte oder dialektische Negation, die nur eine Position, ein "sondern so" sein kann.

Doch hier liegt uns das Bilderverbot im Magen, es wirkt trotz gegenteiliger Bekundungen auch in den Streifzügen fort. Und ja: Position ist schwer und wer sie wagt, betritt vermintes Terrain, kann sie doch nicht als bloßes Wunschbild erfolgen, sondern muss sich kategorial begründen. Kategorien adressieren die mittlere Strukturebene zwischen konkretistischem Auspinseln und abstrakten Globalaussagen. Sie sind dabei nicht nur analytischer, sondern in ihren strukturellen Aussagen immer auch ontischer Natur: "So ist es". Seinsaussagen geraten jedoch schnell in den Verdacht der Ontologisierung, also der unzulässigen Umdeutung von historisch Spezifischem in überhistorisch Allgemeines.

Die Unterscheidungsnotwendigkeit aber auch -fähigkeit zwischen allgemein Ontischem und begrenzt Spezifischem motiviert meine Vorliebe für Kategorien. In vielen Texten wage ich die Aussage: So ist es. Und ernte dafür immer wieder Kritik, aber das ist gut so. Denn mir geht es um kategoriales Denken, um eine grundsätzliche Debatte über den aufgehobenen Kapitalismus, den Commonismus, "worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" - eine großartige kategoriale Position (die positiv-inklusive Reziprozität), die Marx und Engels da notierten. Der Commonismus ist kategorial erschließbar, aber das ist nicht trivial und braucht die Anstrengung des Begriffs.

Erst von hier aus könnte sich Radikalität als das erweisen, was sie sein kann: fundamentale, die bloße einfache Negation überschreitende aufhebende Kritik. Erst mit einem Begriff eines Aufgehobenen kann die Kritik des Aufzuhebenden ihr kategoriales Fundament bekommen. Erst am Ende ist der Anfang begründet - ein basaler Hegelscher Gedanke, um den Marx noch wußte.

Kritik wie Transformation ist kein Massenthema, kein Magazinthema. Der Slogan "magazinierte Transformationslust" ist eine Anrufung, tatsächlich aber ein Widerspruch in sich (und sprachlich ein Ungetüm). Lust ist etwas unmittelbares, Transformationsdenken etwas sehr vermitteltes. Erst in einer transformatorischen Praxis kann sich Lust entfalten. Nur bei sehr wenigen Menschen ist das denkende Erschließen der Transformation selbst schon die transformatorische Praxis, die hin und wieder lustvoll sein kann. Das ist eher eine Sache von Theorie-Nerds.

Die Streifzüge können daher nicht erfolgreich sein, misst man Erfolg an der Zahl der Leser_innen. Erfolg haben die Streifzüge, wenn sie es schaffen, Denkformen in die Welt setzen, die andere nicht gedacht bekommen, aber denken müssen, um zu verstehen. Ein sehr mittelbarer Effekt, aber ein eminent wichtiger.

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Nichts gewonnen, nichts verloren
Der Kostnix-Laden Zentagasse bleibt unversöhnlich

von Martin Taurer

Das dem Warenfetisch innig verhaftete Denken kann nur mit der Beseitigung der kapitalistischen Relationen insgesamt andauernd entwirrt werden.


Konzeption

Der Kostnix-Laden (KNL) in der Zentagasse 26 wurde von der Initiative W.E.G. (Wertkritische Emanzipatorische Gegenbewegung) gegründet und existiert seit nunmehr über zehn Jahren. Inspiriert von bereits bestehenden Umsonstläden wie beispielsweise in Hamburg sowie dem Bestreben nach einer Möglichkeit, Facetten abstrakter Theorie praktisch zu erproben und auf diesem Wege kommunizierbar zu machen, sollte diese Idee umgesetzt werden. Das Bedürfnis nach einer hierarchiefreien, kollektiven Organisationsform war von Beginn an fester Bestandteil, Entscheidungen werden bis heute in einem offen zugänglichen Plenum getroffen. Die Anzahl und Zusammensetzung der Mitwirkenden unterlag und unterliegt einem stetigen Wandel. Kriterien dafür, sich einbringen zu können, sind einerseits negativ bestimmt und beziehen sich auf diskriminierende Verhaltens- und Ausdrucksweisen. Andererseits soll die Kritik an der Wertvergesellschaftung im Wesentlichen geteilt werden. Im KNL begegnet sich ein in vielerlei Hinsicht heterogenes Publikum, ein Sitzbereich mit Internetzugang und Kaffee lädt zum Verweilen ein. Ein tauschfreier Raum, in welchem Menschen ihre nicht (mehr) benötigten Gegenstände hinbringen oder auch andere abholen können, war zum Zeitpunkt der Gründung ein (auch innerhalb linker Bewegungen) noch weit weniger bekanntes Konzept, als dies heute der Fall ist.

Diskrepanz

Der Wunsch nach einer weitgehend ohne Tauschprozesse auskommenden Herangehensweise spiegelte sich u.a. in dem operativen Anspruch wider, die erforderliche Infrastruktur kostenfrei zur Verfügung gestellt zu bekommen. Und tatsächlich ist es nach fruchtlosen Unterredungen mit der Bezirksvertretung in Neubau gelungen, bereits angemietete und ungenutzte Räume im privaten Kulturverein VEKKS (Verein zur Erweiterung des kulturellen und künstlerischen Spektrums) beziehen zu können. Infolge von Mieterhöhungen ist der KNL jedoch seit ein paar Jahren gezwungen, einen Beitrag zu den laufenden Kosten zu leisten, die Totalität hat uns also nicht vergessen.

Vergleichbar mit den Erfahrungen ähnlich unverschämter Ansprüche nach sich der Marktlogik verweigernden Handlungsräumen (wie sie beispielsweise von Hausbesetzungen ausgehen), ist der unausweichliche Kompromiss also eingegangen worden. Die Spendenbox ist ein Stück weiter in den Vordergrund gerückt und führt uns die Unmöglichkeit einer schlüssigen Umsetzung theoretischer Postulate direkt vor Augen. Unter anderem an dieser Stelle zeigt es sich, dass die Kommunikation unserer Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen (und den unweigerlich damit einhergehenden Widersprüchen im wirklichen Handeln) vordergründig betrieben werden muss, soll der KNL nicht Fehldeutungen ausgeliefert werden. Eben anhand des konkreten Scheiterns des Versuches Richtiges im Falschen umzusetzen, tun sich Perspektiven zur Vermittlung der verhängnisvollen Allgegenwärtigkeit ökonomischer Prämissen auf.

Perzeption

Die langjährige Erfahrung hat die Chance zur Ermunterung zum Nachdenken über die gesellschaftlichen Verhältnisse offenkundig aufgezeigt, wenngleich gescheiterte Kommunikation bzw. dem Desinteresse geschuldete Nicht-Kommunikation der häufigere Fall geblieben ist. Die Auffassung, dass es sich beim KNL um ein Service der Gemeinde oder des Bezirks handelt, muss zuweilen richtig gestellt werden. Das (zum Teil gewollte) Unverständnis und/oder Totschweigen der zugrunde liegenden Intentionen spiegelt sich auch in einigen der zahlreich vorhandenen Medien-Berichte wider. Wir sind bei Interview- und Reportageanfragen mittlerweile sehr vorsichtig geworden und weisen bei Zusagen unsererseits deutlich darauf hin, dass oberflächliche oder verzerrende Berichterstattungen unerwünscht sind.

Dass tauschfreie Praxis auch in völliger Abwesenheit von Kritik an Warenfetisch, Eigentum, Wert, Arbeit, Kapital oder auch Politik erfolgen kann, lässt sich beispielsweise an jüngst entstandenen Umsonstladen-Projekten in Österreich ablesen. Die Vermengung mit diversen Vorstellungen von "gerechteren" Tauschformen (Tauschkreise, Alternativwährungen, u.ä.), die Betonung auf Müllvermeidung und karitativem Charakter sowie das Herhalten als Werbeträger für den jeweiligen Standort (ob Gemeinde oder Pfarre) zeugen von der integrativen Macht der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Den Anspruch, einen ernsthaften Bruch mit der Tauschlogik anzudeuten, ignorierend sowie der entsprechend radikalen Kritik entledigt, kann so das Verlangen nach harmonischer Resteverwertung befriedigt werden. Die brutale Verrechnung außen vor lassend bleibt dann immerhin die Option, an andernfalls nur schwerlich oder gar nicht erschwinglichen Anteilen des gesellschaftlichen Reichtums zu partizipieren.

Potenzial

Der KNL in der Zentagasse bildet mittlerweile für viele regelmäßige Besucher*innen sowie Betreiber*innen des Ladens einen fixen Bestandteil zur Deckung diverser materieller Bedürfnisse. Überhaupt ist der immense konkrete, individuelle Nutzen von nicht an der Verwertung ausgerichteten Projekten keinesfalls zu unterschätzen. Selbst im direkten Vergleich mit dem Verkauf der eigenen Arbeitskraft am Markt und dem daran anschließenden käuflichen Erwerb von Gebrauchsgegenständen bleibt der regelmäßige Besuch im KNL effizient und "konkurrenzfähig". Diese Rechnung aufmachend, bleibt die investierte Zeit sowie die verausgabte Energie (wenn von einer durchschnittlichen Bezahlung am Arbeitsmarkt ausgegangen wird) "lohnenswert". Hier ergibt sich die Problematik eines ausschließlich am fassbaren persönlichen Vorteil orientierten Agierens seitens mancher Nutzer*innen der Infrastruktur. Das Bemühen um eine weitere Verbreitung von radikaler Kritik an den Verhältnissen läuft dort ins Leere, wo der KNL zu einem Dienstleistungsbetrieb desavouiert wird.

Das dem Warenfetisch innig verhaftete Denken kann nur mit der Beseitigung der kapitalistischen Relationen insgesamt andauernd entwirrt werden. Es bedarf also einer permanenten Anstrengung, den KNL nicht ausschließlich zu einer willkommenen Ergänzung zur tristen Selbstverwertung verkommen zu lassen. Werden die eigene Konditionierung auf marktförmige Verhaltensweisen und daran anknüpfende (unbewusst wirksame) Denkmuster nicht immer wieder aufs Neue aufgeschlüsselt, verpufft auch der größte Teil des vorhandenen Potenzials des KNL, dem Fahrwasser gängigen Kosten-Nutzen-Kalküls zumindest partikular entrinnen zu können. Das Moment des Nicht-Verkaufens und des Nicht-Bezahlens ist eine wirkmächtige Erfahrung, welche wertkritischen Überlegungen zwar zuspielen, auf das Erlebnis reduziert jedoch ebenso einfach verglimmen kann.

Monetarisierung

Aus der beachtlich großen Anzahl an Gegenständen, welche im KNL weitervermittelt werden, ergeben sich weitere direkte Anforderungen an die alltägliche Praxis. Die auf solidarischer, kollektiver Planung beruhende bestmögliche Bewerkstelligung der stattfindenden freiwilligen Umverteilung muss unter anderem immer dort misslingen, wo Produkte nicht für den persönlichen Bedarf, sondern für den Wiederverkauf mitgenommen werden. Die Verlockung ist groß, den KNL als zusätzliche Quelle für Handelswaren zu missbrauchen. Wie hoch der Anteil an Objekten ist, welche ihren Weg wieder zurück in den Warenkreislauf finden, lässt sich nur erahnen.

Um den Weiterverkauf ein Stück weit abschwächen zu können, wurde in den ersten Jahren eine Drei-Teile-Regel angewandt. Soll heißen: Pro Person und Tag dürfen maximal drei Teile mitgenommen werden. Schon bald zeichnete sich ab, dass sich vor allem Bücher und Kleidung in rauen Mengen anhäufen, eine Anpassung der Regel war die Folge. So galten in weiterer Folge fünf Kleidungsstücke bzw. drei Bücher als ein Teil.

Letztlich haben wir die Beschränkung vor ein paar Jahren komplett fallen lassen. Einerseits aus pragmatischen Gründen, da es stets mühsam war, das Limit zu kommunizieren und durchzusetzen. Andererseits, weil es kaum zum gewollten Ergebnis einer angemesseneren Verteilung geführt hat. Menschen mit erhöhtem Bedarf mussten unnötigerweise auf eigentlich vorhandene Dinge verzichten, während sich am Wiederverkauf interessierte Besucher*innen eben auf die Objekte mit dem denkbar höchsten Marktpreis konzentrierten. Des Weiteren waren Leute, welche den KNL seltener aufsuchen können, benachteiligt.

Anstelle einer mehr oder weniger starren Regel haben wir nun die Gelegenheit, Gespräche über Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer Nutzer*innen zu führen. Zur Intervention gezwungen sind wir aber nach wie vor, letzten Endes autoritär auftreten zu müssen ist eine bittere Erfahrung und belastet uns immer wieder auch emotional. Konstant auftretendes Konkurrenz-Verhalten und scheiternde Appelle an die Achtsamkeit gegenüber anderen begleiten uns beharrlich und führen in Extremfällen zu KNL-Verboten. Inwieweit hier mitgebrachte Wühltisch-Mentalität durch eine "Kostnix-Mentalität" auch noch befördert wird, ist ebenso Teil unserer Reflexionsprozesse.

Um die bedarfsgerechte Weitergabe zu forcieren, führen wir seit einigen Monaten eine Liste, auf welche KNL-Besucher*innen ihre Wünsche eintragen lassen können. Die benötigten Produkte werden dann, sobald sie in den Laden gebracht werden, zurückgelegt. Das Prinzip hat sich rasch bewährt und lässt einen entspannteren Umgang mit eher eingeschränkt verfügbaren Gegenständen zu. Der Enttäuschung mancher KNL-Nutzer*innen über lange Wartezeiten (bis hin zur Unendlichkeit) kann dann auch nur mit einer weiteren ernüchternden Wahrheit begegnet werden, nämlich dem Verweis auf die eigentliche Aufgabe einer bislang nicht absehbaren gesellschaftlichen Transformation, an deren Ende eine rational organisierte, versöhnte Menschheit steht. Das ist keineswegs zynisch gemeint. Hier sei noch einmal darauf verwiesen, dass im Regelfall leider kaum oder keinerlei kritisches Gedankengut transportiert werden kann. Es bleibt meist bei der für sich selbst sprechenden Praxis und führt somit im Fall von unbedienten Erwartungshaltungen auch zu Ressentiments.

Akzidens

Neben den erneut zu Markte getragenen Gegenständen ist ein weiteres (oft unberücksichtigtes) Phänomen zu bedenken. So dient die aus dem KNL mitgenommene Fahrradhose der Fahrradbotin / dem Fahrradboten als Betriebsmittel und auf diesem Wege letzten Endes wiederum der Verwertung. Auch das schicke Hemd für das nächste Bewerbungsgespräch verschmilzt mit den Anforderungen an die Selbstgestaltung als marktförmiges Subjekt. Selbst der dem unmittelbaren Genuss dienende Kostnix-Kaffee bleibt der Mehrwertproduktion insofern mittelbar zuträglich, als die (der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeit nachgeordnete) Sphäre der Freizeit die menschliche Arbeitskraft reproduziert. Im KNL kann der Glamour der Ware beschmutzt werden, das erneute Erstrahlen lässt sich nicht verhindern. Trotzdem sollte deutlich (gemacht) werden, dass Ansatzpunkte für weiterführende Kritik hier wesentlich vorhanden sind.

Produktion

Im KNL werden keine Erzeugnisse angefertigt, die gemeinsam organisierte Verteilung steht hier im Vordergrund. Es gab in den vergangenen Jahren jedoch häufiger Überlegungen in diese Richtung. Ohne großartige Keimform-Thesen bemühen zu wollen, bieten sich hier durchaus Aufsehen erregende Möglichkeiten. Seit 2013 gibt es den Versuch der Initiative SoliLa! (Solidarische Landwirtschaft), eine bedürfnisorientierte Stadtlandwirtschaft aufzubauen, im vergangenen Herbst konnten wir bereits Gemüse an Besucher*innen des KNL verteilen. Die Verblüffung vieler darüber, dass hier Menschen ohne Profitinteresse produktive Prozesse anstoßen und dies auch Früchte trägt, erhöht naturgemäß die Sprengkraft der in Form gegossenen Idee einer nicht auf Tausch basierenden Herstellung und Verteilung von Gütern.

Hier tun sich Perspektiven auf, welchen Beachtung zukommen sollte. Vermutlich ist, um Ansätze eines solidarischen Netzwerks (mit zu entwickelnden Aussichten auf Wirkmächtigkeit!) zu verwirklichen, mehr als eine Handvoll Menschen vonnöten.

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Was kommt an?
Über Kommunikationsprobleme - innerhalb wie außerhalb

von Petra Ziegler

Wie es ist, muss es nicht sein. - Wenn Wertkritik eines kann, dann genau das. Sie führt wie keine andere zeitgenössische kritische Theorie das skandalös Unnötige der gegenwärtigen Zustände vor Augen. Sie holt die Strukturen des kapitalistischen Selbstzweckgetriebes an die Oberfläche, macht deren blinde Dynamik deutlich. "Der stumme Zwang der Verhältnisse" gründet in der verselbstständigten Verwertungslogik des Kapitals, in einer Rationalität, die wir mit unserem tagtäglichen Tun prolongieren. Was als abstrakt-theoretisches Getöne erscheinen mag, ist die Antriebskraft und die unumgehbare Voraussetzung einer bewussten Überwindung des warenproduzierenden Systems. Unter den Bedingungen des Werts ist das gute Leben für alle nicht möglich.

(Enttäuschte) Erwartungen

Vortragende kennen das. Einer fast schon enthusiastischen Zustimmung folgt ein "Ja, aber ..." und darauf ein dem eben Gehörten geradezu diametral entgegenstehender Erklärungsansatz. Gerne kommt dann irgendwas mit Zinskritik, Hinweise auf ein missratenes und dringend reparaturbedürftiges Geldsystem, aber auch die menschliche Psyche im Allgemeinen und die der politischen Kaste im Besonderen erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. Geradezu verblüffend wirkt das nach längeren Vorträgen, die beim Publikum erst einmal wenig voraussetzen und versuchen Zusammenhänge nachvollziehbar darzustellen. Lassen wir mal diejenigen außen vor, die derlei Gelegenheiten ohnehin ausschließlich dazu nutzen, den eigenen Sermon loszuwerden, und unterstellen ehrliches Interesse. Was vom Gesagten so bei den Leuten "ankommt", vermag durchaus zu irritieren. So manches Feedback stellt der eigenen Fähigkeit sich mitzuteilen ein miserables Zeugnis aus, auch Rückmeldungen von SympathisantInnen lassen Zweifel aufkommen, oft genug entgegen deren Absichten - was die Sache freilich kaum besser macht.

Einzelne Versatzstücke werden herausgeklaubt und nicht selten in geradezu sinnwidriger Weise dem je eigenen Weltverständnis, der individuellen Wirklichkeitskonstruktion einverleibt. Auch manche Postings unter Streifzüge-Beiträgen lassen staunen ob dem, was da in die Texte hinein- respektive aus ihnen herausgelesen werden kann. Oft scheint gerade das Wesentliche der wertkritischen Gesellschaftsanalyse unbemerkt zu bleiben. "In den jeweiligen Denkansätzen wird das zueinander Passende favorisiert, Unpassendes in der Aufmerksamkeit vernachlässigt, abgedrängt und marginalisiert." (M. Creydt, Der bürgerliche Materialismus und seine Gegenspieler, S. 125) In den wertkritischen Publikationen wird das zu wenig berücksichtigt. Denken "ist wie andere Prozesse in der Psyche auf die interne Integration, Passung und Harmonie orientiert und neigt dazu, alles dazu Dissonante zu vernachlässigen. Die Aufnahme neuer Erkenntnisse ist dann massiv beeinträchtigt, wenn sie zu den bestehenden Bewusstseinsinhalten nicht passen, an sie nicht 'anschlussfähig' sind, also isoliert verbleiben." (Ebd.) Selbstredend ist das eigene Reflexionsvermögen ebensowenig frei vom Wirken "psychoneuronaler Selbstordnungskräfte" (Hansch zitiert nach Creydt).

Abseits fallweise krauser Rezeption sind es eine Reihe von Fragen, die zwar alle betreffen, die sich nicht abfinden wollen mit dem Bestehenden, die uns aber doch immer wieder in schräger Weise konfrontieren. Wie sie denn nun aussehen soll die Welt jenseits des Kapitalismus, wohin soll es gehen? Und: Wie kommen wir dahin? "Was habt ihr anzubieten?", fragt die gelernte KonsumentIn und beklagt fehlende Rezepte. Analysiert sei ja nun schon genug. -

Ja und Nein, möchte ich sagen. Wie schnell lassen sich in den vermeintlichen Alternativen Spuren des Alten erkennen, fällt, was zur praktischen Umsetzung drängt, hinter die Kritik zurück. Dem Kern der Verhältnisse ist mit Umackern an der Oberfläche nicht beizukommen. Eben das macht die kategoriale Kritik von Wert und Arbeit klar. Was aus der Erkenntnis all dessen wie es eben nicht geht an Orientierung gewonnen werden kann, ist keine Kleinigkeit.

Im alltäglichen Getriebe kann das Wissen um die eigene Befangenheit auch entlasten. Nicht, dass sich alleine davon schon irgendwas zum Guten wendet, einen gewissen Schutz vor verbiesterter Verbissenheit bietet es doch. Und ein wenig milder vermag es zu stimmen, beim Blick auf die rundum.

Transformation ist fraglos nicht Sache einiger weniger. Anstoß dazu geben, dazu braucht es vielleicht gar nicht so viele. Denkanstöße jedenfalls, die sind bei uns zu "haben".

Schmerzgrenzen

Die wertkritische Szene ist auch nach über zwanzig Jahren überschaubar zu nennen. Schon der Ausdruck "wertkritische Szene" verbietet sich eigentlich. Wertkritik als eine Geschichte von Zerwürfnissen: dass da die einen auch nur im selben Text zitiert werden möchten wie die anderen, davon ist eher nicht auszugehen. Einen für mich positiven Effekt hat das immerhin. Bei eigenen Artikeln behelfe ich mir nach Möglichkeit mit Marx-Zitaten. Zwar kann das Zeit kosten, ermuntert aber regelmäßig zu dessen Lektüre.

Ich bin über die Jahre dünnhäutiger geworden. Die marktwirtschaftlichen Zumutungen sind mir Verdruss genug, gröbere Unfreundlichkeiten im Umgang innerhalb "meines" theoretischen Zusammenhangs lassen mich schnell frösteln. Schlichtes Harmoniestreben ist das nicht. Das Aufzeigen inhaltlicher Differenzen sollte sich von selbst verstehen. Ob in direkter Kommunikation oder auch in verschriftlichter Debatte "öffentlich" nachvollziehbar. Das kann wohl nur am jeweiligen Fall entschieden werden. Problematisch wird es dann, wenn die je diagnostizierte "Abweichung" oder theoretische "Rückständigkeit" turmhoch verzerrt erscheint und dergestalt den Blick auf jegliche Gemeinsamkeit verstellt. Alleine ihre Gegnerschaft scheint dann die doch eigentlich Nächststehenden noch zu verbinden. Solcherart "Zurechtweisungen" (gar nicht zu reden von alles vernichtenden Rundumschlägen) eröffnen gewöhnlich weder Möglichkeiten noch Perspektive, es schreckt eher ab, raubt Energie, wenn nicht den Schlaf, es ist eine nervenaufreibende Vergeudung von Zeit. Dazu braucht eins noch nicht einmal unmittelbar beteiligt zu sein. Auf Dauer frustriert das. Ich laufe immer wieder Gefahr zu resignieren. Ich fürchte, damit wäre ich nicht die Erste.

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Zur Kritik der Kritik
Überfällige Anmerkungen zum ideologiekritischen Reduktionismus

von Franz Schandl

"Es gibt nichts Gutes, außer man tut es", war einer der geflügelten Sprüche der alten Linken. Sich dem nicht unterzuordnen, sondern auf die Eigenständigkeit von kritischer Theorie zu pochen, das hat schon eine Notwendigkeit. Man kann diese allerdings auch zu weit dehnen, überstrapazieren, sodass sie zur attentistischen Pose gerät, Ausrede ist und auch als solche wahrgenommen wird. Auf jeden Fall ist Erschöpfung eingetreten und der ideologiekritische Stern leuchtet immer weniger.

Grenzen der Kritik

Aus dem Nichtmitmachen darf kein Nichtmachen werden. Die unterschwellige These, dass Machen Mitmachen ist, kann nur in die Enthaltsamkeit führen, hin zum reinen Kommentar, der sich in der Aussage begnügt, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe und daher bloß falsch gelebt werden kann. Das ist zwar richtig, aber mehr noch dürftig. Der Kritiker ist dann nicht mehr als der Theoretiker in seinem Labyrinth.

Gesellschaftskritiker sind oft Ekstatiker der Askese. Als solche werden sie als weltfremd wahrgenommen. Die erforderliche Entrückung wird ihnen so zur allgemeinen Äußerung anstatt dass sie spezifischer Aspekt bliebe. Indes ist es nicht so leicht, einfach abzuschalten, wenn man so aufgedreht ist. Kritik kann nicht das Leben ersetzen, weder das falsche noch das richtige.

Mit der Kritik alleine ist nichts gewonnen, außer, dass man sich nicht der Verlogenheit der Welt widerspruchslos ausliefert. Das ist eine wichtige Voraussetzung, aber noch lange keine, geschweige denn hinreichende Bedingung für eine Alternative. Denn die Welt erbleicht nicht vor unseren Anliegen, sie nimmt unser Ansinnen meist nicht einmal zur Kenntnis. Wir mögen da noch so recht haben, es folgt nichts daraus. Solche Überlegenheit erweist sich als Manko, sie wird, wenn überhaupt, als Überheblichkeit wahrgenommen, nicht als das, was sie sein sollte: Sorge und Hilfe. So erscheint Kritik vielen als Zumutung, als Anstrengung, der nicht Motivation und Erfüllung folgen, sondern Streit und Zerwürfnis. Das möchte man sich nicht auch noch zusätzlich aufhalsen.

Überhaupt: Will man das alles wissen? Verlängert kritische Analyse nicht das Elend des Subjekts? Hilft Bescheid-Wissen wirklich weiter oder verärgert es nicht vielmehr als Besserwisserei? Die Kritik will sich diese Fragen nicht stellen, weil sie Angst hat, dass sie dann selber über ihre Beschränkungen diskutieren müsste. Sie flüchtet dort, wo sie das ahnt, in die Flaschenpost, und dort, wo sie ahnungslos ist, in stures Repetieren. Untrügliches Kennzeichnen dafür ist eine hermetische Jargonitis, man erkennt sich und die Seinen, aber darüber hinaus ist man kaum zugänglich. Erkenntnis gerät in den Trichter.

Absicht und Absichtslosigkeit

In der Kritik geht es darum, die Zustände als menschenverachtend und inakzeptabel zu denunzieren, sie anzuprangern, ihre Entwicklung zu analysieren und ihren Bestand zu negieren. Kritik hat anders als Theorie eine Absicht, die weiter reicht, als die ledige Einsicht es vermag. Kritik kann gar nicht perspektivlos agieren, sie gibt sich keineswegs mit Wissen oder Beschreibung zufrieden. Sie will etwas. Kritik formuliert weitreichende Ziele, zumindest implizit. Sie will sich eben nicht mit der Abscheidung der Theorie in die sonderbare Zone der Akademiker und Wissenschaftler zufrieden geben, das ist nicht ihre Welt. Kritik will, dass Erkenntnis nicht um ihrer selbst willen Bestand haben soll, sondern möchte sie für uns nutzbar machen. Analyse ist Hebel, nicht Profession.

Nur wo sich Perspektiven in einem gedeihlichen Umfeld entwickeln und Anerkennung finden, ist überhaupt die Möglichkeit gegeben, den Kurzschlüssen des gesunden Menschenverstands eine Absage zu erteilen. Intervention ist substanziell etwas anderes als eine bloße Attacke. Diese kettet für gewöhnlich die Leute ideell an das, woran sie reell hängen. Solche Siege der Ideologiekritik sind Niederlagen in der Realität. Kritiker erscheinen dann als Personen, die unentwegt Salz in die Wunden streuen. Wer mag solche Leute und ihre Botschaften mögen?

Da ist kein Weg. Transformation ist jenseits des Dialogs nicht möglich. Kritik und Kritiker sind notwendige Bedingungen, aber auf sich gestellt absolut unzureichend. Alternativen mögen in der Kritik angelegt sein, aber eben nicht in ausreichender Bestimmung. Jene sind eigenständige Aufgaben, denen kritische Theorie und kritische Praxis sich stellen müssen. Theoretisch kann man ein Problem nicht lösen, sondern lediglich benennen, begreifen, beschreiben, beurteilen. Emanzipation ist letztlich eine praktische Frage, theoretisch zu tanzen vermögen nur Esoteriker der Zunft. Transformation ist daher keine theoretische Praxis, sondern eine praktische Aufgabe, die wiederum ohne theoretischen Anspruch nicht zu haben ist. Wie die Theorie sich der Praxis zu stellen hat, so die Praxis der Theorie. Es wäre somit die Frage zu stellen wie man diversen Vereinseitigungen entgehen kann.

Kritische Theorie darf sich gesellschaftlicher Praxis nicht unterordnen, jene hat diese aber auch nicht zu verachten. Solch Mitleidslosigkeit führt in die Isolationskammer. Wir plädieren für eine sich gegenseitig anerkennende Zweiheit von Theorie und Praxis, wo nicht prinzipiell, sondern nur situationistisch ein Primat verfügt werden kann. Der Gegensatz ist nicht durch Subordination (in welche Richtung auch immer) aufzuheben, sondern bloß durch ein gedeihliches Miteinander.

Gegen sich selbst schreibt der selbstkritische Jean Amery: "Das jegliche Praxis verachtende Denken, dem er als einem Opiat sich süchtig unterwarf, ist ebenso Wahnspiel wie die von der Geschichtsmetaphysik hypnotisierte Praxis, die freiwillig aufs Denken verzichtet." (Unmeisterliche Wanderjahre, Stuttgart 1971, S. 149) Selbst Adorno antwortete auf die Frage "Was spricht eigentlich gegen Sie?" Ende 1966: "Dass ich eine steigende Abneigung gegen Praxis verspüre, im Widerspruch zu meinen eigenen theoretischen Positionen." (Gesammelte Schriften 20.2, S. 378)

Nein und Ja

Dem Einwurf, man könne doch nicht immer nur kritisieren und alles negativ sehen, ist doppelt zu begegnen:
1) Ja, Kritik kann nicht negativ genug sein;
2) Nein, Kritik kann nicht nur negativ sein.

Diese auf den ersten Blick sich widersprechenden Maximen sind Bedingung, dass Kritik praktisch wirksam werden kann. Das Denken darf sich keinesfalls von der praktizierenden Affirmation, von den alltäglichen Konformismen vereinnahmen lassen, sondern hat diese strikt zurückzuweisen. Kritik kann sich aber wiederum nur von einer Position aus artikulieren, die, wenn auch fiktiv, positiv gesetzt wird. Reine Negation ist unmöglich. Ledige Kritik ist lediglich die sich selbst erledigende. Das Nein ist an ein Ja gebunden. Und dieses Ja wäre explizit zu machen.

Nicht hinter die Kritik zurück möchten wir, sondern über sie hinaus. Der Kritik ist nicht zu viel, sondern die Kritik ist zu wenig. Das kategorische Nein bedarf des schöpferischen Ja, will Kritik mehr sein als ein Keifen am Straßenrand: "Anstatt uns auf die Zerstörung des Kapitalismus zu konzentrieren, konzentrieren wir uns auf die Schaffung von etwas anderem. Dies ist die Umkehrung der traditionellen revolutionären Perspektive, die zuerst die Zerstörung des Kapitalismus vorsieht und die Schaffung der neuen Gesellschaft hintanstellt." (John Holloway, Kapitalismus aufbrechen. Aus dem Englischen übers. von Marcel Stoetzler, Münster 2010, S. 54) Abschaffung ohne Schaffung geht nicht. Zweifellos ist Transformation auch ein Prozess der Schöpfung.

Wir wollen doch anders leben. Wie denn? - Diese Frage gilt es nicht bloß zu stellen, es gilt sie auch zu beantworten. Jetzt und hier schon. Und diese Antwort erschöpft sich nicht in der Kritik, im Gegenteil, sie muss weit über die Kritik hinausgehen. Das So nicht! muss also an ein So! gekoppelt werden, will Kritik tatsächlich einen transformatorischen Schub erleben. Womit natürlich nicht gemeint ist, dass die Kritik sich zurücknimmt, im Gegenteil, sie muss über sich selbst hinauswachsen, soll aus theoretischer Potenz gesellschaftliche Relevanz werden. So lange sie also in einem Minimundus zirkelt, besteht permanent die Gefahr, dass Eigenartigkeit in Seltsamkeit umschlägt. Darin liegt auch das scheinbar eherne Schicksal der radikalen Linken. Keine Kraftmeierei und keine Pose hilft darüber hinweg. Die einen fallen um und die anderen versteifen sich. Und dazwischen liegen auch nur Resignation und Zynismus. Das kann es doch nicht gewesen sein.

Kritik und Affirmation

Wenn man Kritik und Affirmation mit mathematischen Methoden vergleicht, dann bedeutet Kritisieren Differenzieren und Affirmieren Integrieren. In gewisser Hinsicht ist es auch tatsächlich so: Während die Affirmation alles eingemeinden will, will die Kritik alles in Frage stellen. Affirmation setzt immer auf Eins (werden mit dem, was ist), Kritik dementsprechend auf Null. Behauptet Affirmation die Haltbarkeit, so die Kritik die Haltlosigkeit von allem und jedem. Und da will sie auch gleich nachhelfen.

Kritik sitzt damit aber, kriegt sie sich nicht ein, selbst einem ideellen Nichtungswahn auf, der auch etwas Vernichtendes hat. Die letzte Konsequenz der Kritik ist die Affirmation des Nichts. Kritik streicht sich selber durch, wenn sie zur Affirmation des Nichts wird. Dort, wo es um alles geht, bleibt nichts mehr übrig. Die konsequenteste Kritik wäre demnach die Negation der Kritik selbst. Transformation ist aber nur denkbar als Abschaffung und Aufhebung. Diese Frage als "oder" zu stellen, führt in die Irre. Es wäre so zu benennen, was bleiben und was verschwinden soll. Wenn es ums Ganze geht, geht es nicht um Alles.

Kritik ist auch eine Frage der Dosierung, weniger den Inhalten nach, aber stets was ihre Form betrifft. Ansonsten droht Medikamentenvergiftung. Erkenntnis verlangt nach Überdosierung, Handlung verlangt nach Unterdosierung. High soll man sein und am Boden soll man bleiben. Nicht bloß hintereinander.

Kritik der Kritik meint also nicht, diese zu negieren, aber auch nicht, diese unendlich weit zu treiben, was aufs Gleiche rauskommt. Vielmehr gilt es, sich selbst als selbstkritisches Provisorium abzustecken. Wir sprechen hier von einem strategischen Austarieren, will Kritik weder nichtig noch integriert werden. Das ist schwieriger zu machen, als man glaubt. Auf keinen Fall ist diese Frage gelöst, ja vielfach nicht einmal als solche begriffen.

Reine Kritik gibt es nicht, sie ist Fiktion. Kritik hat in selbstkritischer Absicht auch sich selbst zum Gegenstand zu nehmen und über ihre Amalgamierungen und Verstrickungen zu reflektieren. Umgekehrt gilt freilich auch: kein Ressentiment ist frei von Kritik. Auch die diffusesten Empörungen haben Spuren eines wahren Kernes, da mögen sie noch so reaktionär sein. Dieses Plädoyer pocht auf eine Einlassung und ist eine strikte Zurückweisung jedes reinrassigen, d.h. monologischen und homologischen Denkens. Das Unbehagen muss genau beobachtet und seziert werden, es ist nicht aufgrund einzelner Akzente zu dechiffrieren.

Kritik kennt zwei Etagen, einerseits ist sie nicht exterritorial, sondern immanent verhaftet, andererseits strebt sie stets in transzendentale Höhen. Nur diese können sich über die Immanenz ideell hinwegsetzen und überhaupt denkbar machen, dass es nicht so sein muss, wie es ist. Ohne diese Abgehobenheit wäre nicht mehr möglich als das unmittelbare Herumdoktern, hier und dort eine Verbesserung oder Verschönerung, die aber die Struktur völlig untangiert lassen. Da ist kritische Theorie das zentrale Gegengift. Indes darf die Bodenhaftung nicht verloren gehen, solange wir uns auf der vorgefundenen Basis bewegen müssen. Da komme jemand zurecht.

Von krisis bis ...

Die Wertkritik hat seit 2004 ihre Dynamik verloren. Das Interesse an ihr hat nicht nur in der Linken, sondern darüber hinaus auch in der Öffentlichkeit an Bedeutung eingebüßt. Sie ist aus den Debatten großteils verschwunden. Ihre Attraktivität hat immens gelitten, der selbst auferlegte Zwang zur esoterischen Zuspitzung samt den ungustiösen Konflikten und Spaltungen hat das noch verschärft. Die letzten Jahre waren Jahre der Stagnation und der Krise, mehr gezeichnet von einem (schleichenden) Show-down als von irgendeinem Take-off.

Nicht, ob wir (wer immer das nun sein mag) recht haben, ist entscheidend, sondern ob wir mit dem, was wir sagen und dem, was wir tun, etwas bewirken. Diese Wirkung ist aktuell eine sehr begrenzte. Aber aus dieser Bescheidenheit darf keine Tugend gemacht werden, sie ist ein Manko, das nicht bloß anhand der objektiven Schranken zu interpretieren wäre. Unsere Aufführungspraxis selbst ist zu hinterfragen, die gesamte Struktur der Performance.

Es ist also etwas zu Ende gegangen. Dass die Wertkritik in einer Krise steckt, dürfte inzwischen doch recht offensichtlich sein. Ihre Attraktivität ist im Schwinden. Die Wertkritik erscheint heute als ein typisches, in diverse Sekten und Grüppchen aufgespaltenes Produkt der radikalen Linken. Das Interesse an ihr hält sich in engen Grenzen. Die erste Welle ist vorüber, eine zweite aber nicht in Sicht. Es stellt sich auch die Frage, ob eine solche, auf eine Position zentrierte Weltbetrachtung überhaupt noch Sinn macht. Ob sich eine neue Verbindlichkeit nicht primär in der Perspektive ausdrücken muss, nicht in der Analyse. "Was wir wollen", ist doch die entscheidende Frage, andere Fragen sind viel weniger scheidend.

Wir gelten selten als bunte Truppe, sondern als geschlossene Gesellschaft, eine elitäre Loge der Kritik, kleine und größere Crashs, ja sogar Exkommunikationen inbegriffen. Das Abstoßende überwog bei weitem das Anziehende. Nicht einmal zwischen Feindabstoßung und Freundabstoßung wurde unterschieden, Hauptsache Abstoßung. Natürlich kann man sich auch in diese Höhle zurückziehen und die anderen für minderbemittelt halten bzw. kleine Erfolge in große Fortschritte ummünzen. Hier wiederholt allerdings der Minimundus das Muster der großen Welt. Krise? - Bei uns doch nicht!

"Gerade nach dem neuen Krisenschub im Zuge der sog. Immobilienkrise 2008 sollte die wertkritische Krisentheorie eigentlich auf der Tagesordnung stehen. Stattdessen lässt sich allerdings feststellen, das von zunehmender Aufmerksamkeit für diese Position keine Rede sein kann. Ganz im Gegenteil: in der szene-öffentlichen Debatte spielt die wertkritische Position faktisch keine Rolle mehr (...)", schreibt Julian Bierwirth im Sommer 2010 in einem Text namens "Krise der Wertkritik". Hat sich daran was geändert? - Kaum!

Um mich nicht misszuverstehen: natürlich werde ich eine Bezeichnung Wertkritiker keineswegs entrüstet zurückweisen, aber diese Charakterisierung offensiv vor mir herzutragen, erscheint mir wenig zielführend geworden, betrachtet man die Absurditäten und Verwerfungen der letzten zwölf Jahre. Das Firmieren unter diesem Label ist also durchaus fragwürdig geworden.

Indes sind die Leistungen nicht gering. Die Umwälzung des gesamten theoretischen Universums des alten Arbeiterbewegungsmarxismus ist nach wie vor ein großer Versuch, Emanzipation auf die Höhe der Zeit zu heben. Geschieht dies allerdings in den alten Schläuchen, wird der Saft trotz aller Güte zu einem ungenießbaren Gebräu. So schmeckt es heute. Natürlich kann man aus einigen gescheiten Texten schon was lernen, aber das ist nicht nur zu wenig, das ist verkürzter Antikapitalismus der anderen Sorte.

... Exit!

Notwendig wäre jedenfalls alles andere als eine mentale Verschärfung und Verminung des eigenen Umfelds. Sie versprüht wirklich Krampf und Krieg, lässt wenig von einem guten Leben spüren. Desillusionierungsprogramme ohne Perspektive sind gefährlich. Die Wertkritik hat aber diese fatale Schlagseite angenommen. Vor allem im schwarzen Denken des Robert Kurz. Die Folge war, dass die Radikalität ob ihrer unbewussten Ohnmacht in Rabiatheit kippte, die sich in den Texten auch stets wieder findet und diese zusehends zerstörte.

Paradigmatisch dazu wäre der Aufsatz "Tabula rasa" von Robert Kurz aus der krisis 27 (2003) anzuführen, wo es vor aggressivem Vokabular nur so wimmelt und der sogar in der stalinistischen Pointe gipfelt, dass nicht darauf zu warten sei, "dass der Feind ohne Schlag und Schuss ganz von selbst als Leiche vorbeitreibt" (S. 130). Das roch förmlich nach einem kleinen Moskauer Schauprozess, wo es gegen "sekundäre Chauvis" und "Antisemiten", kurzum "den Softie, den Männergruppenmann" ging (womit er primär seine Redaktionskollegen in der damaligen krisis meinte).

Selten habe ich einen Artikel gelesen, der so vieles an präziser Aufklärungskritik lieferte, andererseits aber mit einer grobschlächtigen Terminologie protzte, die wir nicht hätten dulden dürfen. Es geschah um eines falschen Friedens willen, der dann sowieso nicht gehalten hat und in einen sehr einseitigen Feldzug ausartete. Die Exit-Homepage ist heute noch voll von diesem abstrusen Zeug. Aber das wäre wohl mehr Stoff für einen Psychoroman nach Dostojewkischen Muster. Netschajew lässt grüßen.

Bettina Dyttrich, eine unbeteiligte Beobachterin schreibt in einer Rezension in der Zürcher WOZ vom 4. Juli 2013: "Ein Beispiel dafür sind die beiden Texte über 'Aneignung' im Sammelband, in denen er andere Linke, zum Teil ehemalige FreundInnen, aggressiv angreift. Inhaltlich ist seine Kritik oft fast nicht nachvollziehbar, liegen die kritisierten Positionen doch verdächtig nahe an der eigenen. Kaum mehr verständlich und offensichtlich eine persönliche Abrechnung sind auch jene Passagen im Titeltext 'Weltkrise und Ignoranz', in denen Kurz gegen 'theoretisch unterbelichtete Strippenzieher im Klein-Byzanz der linken Szeneverhältnisse' und 'vor sich hin menschelnde linksalternative Kleinbürgerei' wütet - hat ihm jemand dominantes Gesprächsverhalten vorgeworfen? 'Das beschädigte Leben versuchte er mit Polemik zu kompensieren, in der er sich manchmal verloren hat', schrieb Gregor Katzenberg in einem Nachruf für die Zeitung Jungle World, und ein Blogger kommentierte kurz und sarkastisch: 'Alle doof außer Robert.'"

Das ist gut beschrieben. So haben es sicher viele wohlgesonnene Rezipienten aus dem näheren und weiteren Umfeld wahrgenommen. Aber wenn das so aufgefasst wird, dann leidet die Attraktivität immens, dann will man sich von einem solchen Laden fernhalten.

Der Name Exit! ist daher zweifellos auch Programm eines ungewollten Abgesangs. Das eigene Ende ist da näher als das herbeiphantasierte des Kapitalismus. Es duftet wahrlich nach Tod und Verwesung. Kurz wusste (was kein Vorwurf ist) zwar überhaupt nicht, wie und wo es rausgeht, er stampfte aber auf wie ein trotziges Kind. Diesen Zustand konnte er nur verschleiern, indem er in seinen letzten Jahren zusehends auf eine gnadenlose Grobheit setzte, die Sicherheit suggerierte. Strategisch ist ihm das zu einem Spiel eines verbitterten Mannes mit Zinnsoldaten geworden, wo jedes Zuwiderdenken zur Ausstoßung der abweichenden Weggenossen führte. Exit glich einem Zug der Lemminge, wo aber binnen kürzester Frist die nächsten Überwerfungen und Trennungen fällig gewesen sind. Abgeschwächt gilt das auch für die Entwicklungen in der krisis seit 2004. Auch hier konnte man sich von den diversen Beschränkungen des "System krisis" (Lorenz Glatz) nie freispielen. Clausewitz zum Trotz gleichen solche Scharmützel natürlich keiner erfolgreichen Operation, sondern verdeutlichen bloß einen Marsch in die eigene Verheerung.

Scholastische Trockenübungen, die sich in exkommunikativen Gelüsten autokannibalistisch austoben, sind zu überwinden. Als prinzipielle Haltung ist Intransigenz kontraproduktiv. Sie wäre je nach Fall konkret zu begründen. Sie tendiert zu einem manichäischen Weltbild, wie es alle Fundamentalismen auszeichnet, woraus sie aber auch andererseits ihre destruktive Kraft schöpfen. Doch dieser charismatische Reiz ist mit Robert Kurz mitverstorben.

Das rabulistische Vokabular ist zu entsorgen. Es bestätigt nichts außer Abgrenzungslust, ein seltsames Gieren nach Schützengräben und Fronten. Die Welle der absoluten Distinktion hat die Reste der radikalen Linken weitgehend paralysiert. Auch die Wertkritik hat sich in ihrer internen Kommunikation nicht vom Autokannibalismus befreien können. Nicht nur der Abschied vom schwarzen Denken ist nötig, auch der Schritt vom monologischen zum dialogischen Denken wäre angesagt.

Nabelschau

Als grundlegende Richtung verweist das Impressum der Streifzüge auf "Kritik-Perspektive-Transformation". Ob wir nun wollen oder nicht, der Schwerpunkt liegt bei uns nach wie vor bei ersterer. Bisher ist es nicht gelungen, Perspektive und Transformation eine ähnliche Relevanz zuzuweisen wie der Kritik. Dafür gibt es gute Gründe, aber auch weniger gute Ausreden. Freilich erfüllen die Streifzüge nur eine bestimmt Funktion und man muss sich gegen eine Überfunktionalisierung aussprechen. Wir können nicht mehr als wir können, auch wenn wir wissen, dass mehr nötig wäre. Es ist zwar einiges gesagt, wenn es gesagt wurde, aber es ist damit nicht viel getan.

Als agierende Gruppe sind die Streifzüge aber kaum vorhanden, sieht man von gelegentlichen Ausflügen ab. Außer der Zeitschrift entfalten wir kaum Aktivitäten. Aber dieser Verzicht, so selbstverständlich er ist, weil er Kräfte schont und nicht einem blinden Aktivismus opfert, ist natürlich kein Programm, sondern eine Selbstschutzmaßnahme. Tatsächlich sollte man sich nicht verschleißen, mehrheitlich ist man auch in eine Altersklasse vorgerückt, wo es Energie zu sparen gilt.

Die Streifzüge konzentrierten sich im letzten Jahrzehnt auf die Ausweitung der Themen und versuchten so den Horizont zu erweitern. Stets ging es auch darum, ein lesbares, eben kein hermetisches Medium zur Verfügung zu stellen. Unter den intern wie extern nicht so günstigen Bedingungen ist das auch durchaus gelungen. Und nicht nur, weil es uns noch immer gibt. Eine gewisse Lebendigkeit ist nach wie vor vorhanden.

Die sonstigen Restprodukte der alten Wertkritik wirken allesamt ziemlich leblos. Außer einigen singulären Leistungen (insbesondere "Die große Entwertung" von Lohoff/Trenkle) war da nicht viel auszumachen, was auch nur irgendwie auf Interesse hätte stoßen können. Aber auch das angesprochene Buch ist leider weitgehend untergegangen. Die Diskrepanz zwischen Relevanz und Rezeption ist riesig.

Trotz organisatorischer Defensive stehen die Streifzüge nach wie vor für inhaltliche Offensiven. Mehr kann unser Team in seinen Publikationsorten, d.h. Zeitschrift, Homepage und Newsletter unmittelbar nicht bewerkstelligen. Alles andere wäre eine Überforderung. Daher ist die Zeitschrift auch kein Nucleus für eine Organisierung, sondern ein spezifischer Akzent des Erkennens und Begreifens. Wir sind Baustein und Ahnung einer besseren Welt, nicht mehr. Was aber nicht wenig ist. Man möge also mit uns nachsichtig sein, die Leserinnen und Leser sind ja auch nicht weiter. Aber was nicht ist, kann ja gemeinsam noch werden. Das versuchen wir. Zumindest wir sehen das hier so.


Literatur meinerseits zum Thema:

Bewegungsversuche auf Glatteis. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis, Streifzüge 2/2000.

Präpotenz der Ohnmacht, Streifzüge 4/2000.

Maske und Charakter. Sprengversuche am bürgerlichen Subjekt, krisis 31 (2007), S. 124-172.

Zur Kritik des Theoretikers, Streifzüge 43/2008.

(Alle Streifzüge-Beiträge auch online auf www.streifzuege.org)

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Dead Men Working

Eine lang gesuchte Antwort

von Maria Wölflingseder

Mitte der 1990er Jahre wurde ich öfter - halb im Scherz, halb im Ernst - gefragt: "Was? Du noch immer?" - Gemeint war mein anhaltender kritischer Geist und mein Publizieren gegen die Zumutungen der herrschenden Verhältnisse. Ein Großteil der Menschen in der ehemaligen kunterbunten riesigen emanzipatorischen Bewegung war ja längst in die Sphäre des Business und/oder in die Esoterik gewechselt.

Vieles hat sich damals verändert. Europa ist wieder vereint worden, aber meine kleine Welt hat sich mehr und mehr in zwei Hälften geteilt. Die wenigen weiterhin kritischen Theoretiker und Kritiker (die -innen sind auch weniger geworden), mit denen ich zusammenarbeitete, waren plötzlich von meiner Sphäre der Sinnlichkeit und des Genießens getrennt. - Warum gibt es überhaupt eine Kluft zwischen den Sphären Poesie und Theorie, zwischen Hingabe und Widerstand, zwischen Wahrnehmen/Empfinden und Analyse/Kritik? Diese Frage begleitete mich all die Jahre wie ein roter Faden. In meinen Texten habe ich mich immer wieder mit diesen Gegensätzlichkeiten befasst, über die ich in der öffentlichen Diskussion jedoch kaum etwas vernahm. Bis ich in einer Sternstunde meiner Entdeckungen auf einen großen Denker stieß, dessen Grundmotiv eben diese Widersprüchlichkeiten sind. Das Leben zwischen Ja und Nein, zwischen Schönheit und Schmerz, zwischen Glück und Verzweiflung. Seine bekannten Bücher "Der Fremde" und "Die Pest" verleiten viele dazu, in Albert Camus den "Propheten des Absurden" zu sehen. Das Absurde ist jedoch nur ein Aspekt seines Werks.

"... der Künstler will also nichts anderes, als der Wirklichkeit eine veränderte Gestalt geben, während er gleichzeitig gezwungen ist, diese Wirklichkeit beizubehalten, weil sie die Quelle seines Empfindens darstellt. In dieser Beziehung sind wir alle Realisten, und doch ist es keiner. Die Kunst ist weder die völlige Ablehnung noch die völlige Zustimmung zu dem, was ist. Sie ist gleichzeitig Ablehnung und Zustimmung, und darum kann sie nichts anderes sein als ein stets neues Hin- und Hergerissen-Werden." (Der Künstler und seine Zeit, in: Kleine Prosa, Reinbek 1997, S. 26)

In seinem Aufsatz "Der Mythos von Sisyphos", am Schluss mehrerer Abhandlungen über das Absurde, schreibt Camus: "Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewusst ist. ... Aber die niederschmetternden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden. ... Glück und Absurdität entstammen ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar miteinander verbunden." Der letzte Satz lautet: "Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." (Der Mythos von Sisyphos, Hamburg 1997, S. 126f.)

In Abgrenzung gegenüber den Existenzialisten betont Camus beide Aspekte des menschlichen Daseins: Denken und Fühlen, Kritik und Genuss, Widerstand und Hingebung. Brigitte Sändig merkt dazu an: "Damit flieht Camus nicht ins Irrationale, sondern setzt ein Zeichen dafür, dass blanker Intellektualismus dem Bedürfnis nach Einheit, Harmonie, Schönheit und Sinn, wie er es so unabweislich in sich fühlt, nicht genügen kann." (Sändig: Albert Camus, Leipzig 1988, S. 90)

Camus macht deutlich, die Absurdität des Lebens festzustellen sei eine Wahrheit, von der beinahe alle großen Geister ausgegangen seien. Es käme vielmehr auf das "Aushalten der Spannung zwischen verzweiflungsvoller Conditio humana und dennoch gegebenen Glücksmöglichkeiten" an, das ihn "sowohl vor dem Sprung in die Hoffnung als auch dem Fall in die Verzweiflung bewahrt". (Sändig, ebd.) - Das Aushalten dieser Spannung ist der zweite rote Faden, der meine Texte seit Jahrzehnten durchzieht. Ohne das Aushalten dieser Spannung ist kein Durchhalten einer kritischen Position möglich. Durch seinen weitverbreiteten Mangel fehlt es jedoch vielfach sowohl an der Fähigkeit zum Widerstand als auch an der zum Genuss!

Besonders eindrucksvoll beschreibt Camus in seinen Essays über seine Heimat Algerien im Buch "Hochzeit des Lichts" (Zürich/Hamburg 2013) die Einfachheit, die er der Geschichte bzw. der Komplexität der Analyse entgegensetzt. "Es ist keine Schande glücklich zu sein. Heutzutage aber ist der Dummkopf König, und ich nenne jeden einen Dummkopf, der sich vorm Genießen fürchtet." (S. 15) "Wir suchen weder Belehrung noch die bittere Weisheit der Größe. Sonne, Küsse und erregende Düfte - alles Übrige kommt uns nichtssagend vor. ... Hier überlasse ich anderen, an Maß und Ordnung zu denken, und gehöre ganz der ausschweifenden Ungebundenheit der Natur und des Meeres." (S. 10f.)

"Das Elend hinderte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist. ... So kam es wohl, dass ich die unbequeme Laufbahn einschlug, die die meine ist, und voll Unschuld das hohe Seil betrat, auf dem ich mühsam vorwärtsschreite, ungewiss, ob ich das Ziel erreichen werde." (Licht und Schatten, in Camus: Kleine Prosa S. 37)

Diese Geisteshaltung wurde Camus jahrzehntelang von den Linken zum Vorwurf gemacht und führte zum Zerwürfnis mit den Pariser Intellektuellen.

"Zwischen dieser Licht- und dieser Schattenseite der Welt will ich nicht wählen, ich liebe es nicht, wenn man wählt. Die Leute wollen nicht, dass man hellsichtig und ironisch sei. ... Der wahre Mut besteht immer noch darin, die Augen weder vor dem Licht noch vor dem Tod zu verschließen. Wie kann man überhaupt das Band beschreiben, das diese verzehrende Liebe zum Leben mit jener geheimen Verzweiflung verknüpft? Wenn ich auf diese Ironie lausche (diese Bürgschaft der Freiheit, von der Barrès spricht), die sich auf dem Grund der Dinge verbirgt, enthüllt sie sich allmählich. Sie zwinkert mit ihren klaren kleinen Augen und sagt: 'Lebt als ob...' Trotz vielen Suchens beschränkt sich darauf mein ganzes Wissen." (Licht und Schatten, in Camus: Kleine Prosa S. 82)

Um noch einmal auf das eingangs erwähnte Staunen meiner Freunde über meinen anhaltenden kritischen Geist zurückzukommen, wie heißt es über den jungen Albert Camus in Iris Radischs Buch "Camus - Das Ideal der Einfachheit", S. 95: "Er hat viele Pläne und wenig Geld. Er möchte unbedingt auf der Höhe seiner Einsichten leben. Das heißt heftig, ,bis zu Tränen', und ohne sich zu verbiegen." - Moi aussi - auch in fortgeschrittenem Alter noch.

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Warum Bildung bei der Überwindung der Machtverhältnisse nicht hilft, zu deren Erhalt aber ganz wesentlich beiträgt
Teil I

von Erich Ribolits


"Das Fehlen eines vorbestimmten Auswegs ist gewiss kein Argument gegen einen Gedankengang."
(Horkheimer 1985: 117)


Die Bildungsidee - geboren aus dem Wunsch nach einer vernünftig geordneten Gesellschaft

Der sich im deutschen Sprachraum um 1800 zunehmend herausbildende Bildungsbegriff stellt ein Konglomerat aus Konzepten, die in der Vorstellungswelt der Aufklärung entwickelt worden waren, sowie aus bürgerlichen Hoffnungen dar, die mit der Vision einer "vernünftig" gestalteten gesellschaftlichen Ordnung verbunden waren. Zum einen hatte - wie die umfangreiche Zahl diesbezüglich damals erschienener Schriften zeigt - im Vorfeld der Entwicklung des Bildungskonzepts die Frage zunehmend Bedeutung gewonnen, wie mit der jeweils heranwachsenden Generation umzugehen sei, damit diese in systematischer Form in das gesellschaftliche Leben integriert werden kann. Zum anderen war es das Bestreben des schon lange um eine Aufwertung seiner gesellschaftlichen Stellung bemühten Bürgertums, die für ihren wirtschaftlichen Erfolg den Ausschlag gebenden und von ihnen zu einem zentralen Beitrag für das gesellschaftliche Gesamtwohl hochstilisierten Kenntnisse und Tugenden bürgerlichen Gewerbefleißes als Kriterium gesellschaftlicher Positionierung zu etablieren (vgl.: Lohmann 2002: 1 f.). Der bürgerliche Wunsch, die Feudalordnung zu überwinden und dem Adel seine Vormachtstellung abzunehmen, wurde mit einer neuen Vorstellung zur Begründung der gesellschaftlichen Machtverteilung legitimiert. Statt dem Ableiten der gesellschaftlichen Hierarchie aus religiös begründeten Vorgaben lautete die bürgerliche Vision, dass "vernünftige" - sprich: aus empirisch feststellbaren Fakten abgeleitete - Kriterien die Grundlage derselben abgeben sollen. Konkret war damit eine Ablösung des Geburtsprinzips durch das Leistungsprinzip gemeint - Ziel war, dass nachvollziehbare und im Sinne des Gemeinwohls interpretierte Leistungen der Gesellschaftsmitglieder ihre Position und Einflussmöglichkeiten in der Gesellschaft bestimmen sollen.

Der in ersten Ansätzen von Herder, später von Schlegel, Kant, Schiller, schließlich von Humboldt, Schleiermacher und anderen geprägte und zunehmend ausdifferenzierte Bildungsbegriff verband die unterschiedlichen Interessen, die seinen Durchbruch begründet hatten, zu einem konsistenten Menschenbild sowie einer Theorie, wie Menschen qua Beschulung dazu gebracht werden können, eine mit diesem Menschenbild in Einklang stehende Selbstinterpretation zu entwickeln und sich (dadurch) selbst entsprechend zu formen. Einen wichtigen Einfluss hatten die historisch-politischen Begleitumstände, unter denen die Bildungstheorie das Licht der Welt erblickte. Es war keineswegs Zufall, dass der Bildungsbegriff gerade in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas entwickelt wurde. Das Entstehen des "deutschen Sonderbegriffs Bildung" (Tenorth) war in nicht unbedeutendem Maß Konsequenz der in diesen Ländern misslungenen Versuche, auf revolutionärem Weg einen Bruch der politischen Verhältnisse zu erzwingen. Im Bildungsbegriff verbinden sich somit zwei unterschiedliche Zielsetzungen: Zum einen stellt er die pädagogische Inkarnation des Gedankenguts der Aufklärung samt der daraus abgeleiteten Idee dar, dass der Einfluss von Menschen mit ihrem gesellschaftlichen Nutzen korrelieren soll. Zum anderen spiegelt sich im Bildungsbegriff aber auch der Versuch des Bürgertums wider, seiner Kapitulation im revolutionären Kampf um politische Emanzipation eine positive Konnotation zu verleihen. Das Idealisieren des Menschen, der - indem er "sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedient" - intellektuelle Autonomie gewinnt und sich damit über den Status eines blinden Ausgeliefertseins an die jeweiligen Machtverhältnissen erhebt, ist Ausdruck der Hoffnung, auch ohne Revolution eine Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne bürgerlicher Vorstellungen erreichen zu können.

Als Konsequenz daraus, dass das "deutsche Bürgertum" seine Hoffnung auf eine revolutionäre Umgestaltung der Verhältnisse hatte aufgeben müssen, war die inhaltliche Ausgestaltung des Bildungsbegriffs von Anfang an durch eine deutliche Distanz gegenüber gesellschaftspolitischen Visionen gekennzeichnet. Der Bildungsbegriff schloss zwar an Mündigkeitsidealen der Aufklärung an, koppelte diese aber weitgehend von gesellschaftlich-praktischer Relevanz ab, indem er sie um ihre politischen Konsequenzen verkürzte - die ursprünglichen Losungen im Kampf für eine veränderte gesellschaftliche Ordnung wurden auf eine Pathosformel reduziert. Zwar lassen sich aus dem Bildungsbegriff durchaus Momente der Kritik am Feudalsystem herauslesen, er war aber von vornherein klar gegen ein aktiv-revolutionäres Eingreifen hinsichtlich einer Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse positioniert. Das ihm innewohnende Ziel war stets eine gesellschaftliche Reform insofern, dass die Menschen reif gemacht werden sollten, Verbesserungen in Bezug auf eine veränderte, nach "vernünftigen" Kriterien gestaltete Gesellschaft voranzutreiben. Der Bildungsbegriff bot für das Bürgertum die Möglichkeit, seine urgierte, in den realen Herrschaftsverhältnissen aber weiterhin nur unzureichend zur Geltung kommende "Besonderheit" zu reklamieren und zugleich sein Hoffen auf die "Revolution von oben" (Negt 2012: 93) zu legitimieren.

Letztendlich kam es tatsächlich auch in den Ländern des deutschsprachigen Mitteleuropas zur Installierung politischer Verhältnisse, die den von bürgerlicher Seite formulierten Ansprüchen einer durch vernünftige Prämissen grundgelegten Gesellschaft entsprachen. Allerdings lässt sich wohl kaum behaupten, dass die Grundlagen diese Entwicklung in einer fortschreitenden Bildung der Bevölkerung bestanden. Der nach und nach vor sich gehende politische Wandel in Richtung bürgerlich-demokratischer Gesellschaft wurde - wohl primär aus strategischen Überlegungen - "von oben herab", durch die Herrschenden in die Wege geleitet. Die im Bildungsbegriff zum Ausdruck kommende, in Deutschland herrschende reformistische Form der Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der Aufklärung hat Hegel, in Abgrenzung zum weitgehend anderen Umgehen mit demselben im revolutionären Frankreich, selbstkritisch folgendermaßen charakterisiert: "Die Franzosen [...] haben den Sinn der Wirklichkeit, des Handelns, Fertigwerdens, - die Vorstellung geht unmittelbar in Handlung über. [...] Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei lässt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen, und operiert innerhalb seiner." (Hegel 1979: 331) Noch deutlicher, aber unmissverständlich befürwortend, charakterisiert Thomas Mann die Tatsache, dass (eingreifende) Politik dem - wie er es ausdrückt - "deutschen Geist" fremd wäre. Für ihn ist klar, dass Politik die Gefahr von "Verdummung und Verpöbelung" in sich birgt; dementsprechend verkündet er nicht ohne Stolz: "[D]ie deutsche Humanität widerstrebt der Politisierung von Grund aus, es fehlt tatsächlich dem deutschen Bildungsbegriff das politische Element." (Mann 1960: 111)

In diesem Sinn lässt sich eine politische Aussage dahingehend, dass ein aktiv-widerständiges Eingreifen in die gesellschaftlichen Zustände in irgendeiner Form befürwortet wird, im Bildungsbegriff nicht finden. Es wäre jedoch grundfalsch, daraus abzuleiten, dass die Idee der Bildung somit hinsichtlich der weiteren Entwicklung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse unbedeutend gewesen wäre beziehungsweise sie nicht auch heute noch eine ganz wesentliche Basis derselben darstellen würde. Tatsächlich wohnt dem Bildungsbegriff - obwohl er vordergründig weitgehend politisch abstinent daherkommt - eine gesellschaftspolitisch höchst relevante Botschaft inne. Sein politischer Charakter und seine entsprechende Bedeutung für die Legitimierung der sich in der Folge etablierenden bürgerlich-demokratischen Ordnung steckt darin, dass er auf Vernunft fokussiert, dabei aber eine spezifische Sichtweise von Vernunft zum Tragen kam und in weiterer Folge ihre Wirkung als Legitimation der gesellschaftlichen Zustände entfalten konnte. Wie schon angesprochen, war der Wunsch des Bürgertums, die in der feudalen Gesellschaft gegebene Begrenzung ihrer Macht zu überwinden und den Adel in seiner Vormachtstellung abzulösen, durch die Idee legitimiert, dass anstatt religiös begründeter Vorgaben die konkreten, als nützlich idealisierten Leistungen von Menschen über ihre gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten bestimmen sollen. Während also vordem die soziale Hierarchie durch ein auf Glaubensüberzeugungen beruhendes Prinzip legitimiert worden war, bezog sich das Bürgertum mit der Bildungsidee auf die in der Aufklärung zunehmend bedeutsam gewordene Vorstellung, dass Vernunft das Prinzip gesellschaftlicher Regulierung sein soll. Allerdings wurde Vernunft im Zuge der Fokussierung durch die Bildungstheorie und des Übergangs zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung in eine Form gebracht, mit der die ursprüngliche Bedeutung dieses Begriffs eine seine Ausrichtung grundlegend verändernde Einengung erfuhr - eine Bedeutungsveränderung, die bis heute im immer wieder aufs Neue thematisierten (vorgeblichen) Gegensatz von Bildung und Ausbildung fortlebt (siehe dazu: Ribolits 2011: 49 ff.).

Die Reduktion der Vernunft auf ein Verfahren

Der Antagonismus von Glaube und Vernunft und die damit verbundenen Kontroversen haben eine lange Geschichte. Die Opposition zu dem am Glauben orientierten Leben stellte aber ursprünglich ein anderes und vor allem viel weitreichenderes Konzept von Vernunft dar, als jenes, das im bürgerlich-kapitalistischen System letztendlich die Oberhand gewann. Schon im Vorfeld der Moderne hatte sich über mehrere Jahrhunderte ein Wandel im abendländischen Denken angebahnt, in dessen Verlauf sich die Vorstellung, was Vernunft sei, von einem der Wirklichkeit innewohnenden Prinzip zunehmend zu einem subjektiven Vermögen des Geistes wandelte. Diese schlussendlich zum Durchbruch gelangte Vernunftwahrnehmung haben Vertreter der Frankfurter Schule in Abgrenzung zur vordem dominierenden "objektiven Vernunft" als "subjektive" oder "instrumentelle Vernunft" bezeichnet. Sie charakterisierten damit die zwischenzeitlich als nahezu unhinterfragbare Wahrheit erscheinende Interpretation von Vernunft als eine bloße Funktion des Denkmechanismus, "als die Fähigkeit, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen und dadurch einem gegebenen Zweck die richtigen Mittel zuzuordnen" (Horkheimer 2007: 18). Im Sinne einer derartigen Interpretation geht es nicht um das Hinterfragen menschlichen Handelns hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit vernünftig wahrgenommenen Prinzipien, sondern bloß um eine vom Standpunkt des Subjekts vorgenommene Überprüfung der Angemessenheit der Zweck-Mittel-Relationen des Handelns. Wenn Ziele überhaupt thematisiert werden, bestehen diese im Rahmen instrumenteller Vernunft darin, "dass sie den Interessen des Subjekts, seiner wirtschaftlichen und vitalen Selbsterhaltung dienlich seien, wenn nicht des isolierten Individuums, so doch der Gruppe, mit der es sich identifiziert" (Horkheimer 1951: 6). Vernunft wird als Werkzeug begriffen, mit dem die Welt als Gegenstand technischer Manipulation in den Fokus genommen wird und aufgrund von dessen Funktionsweise die Natur - einschließlich der des Menschen selbst - subjektiven Zwecken und Interessen unterworfen erscheint. Diese Sichtweise von Vernunft steht in schroffem Gegensatz zur vorherigen, in der das "Dasein der Vernunft als eine Kraft nicht nur im individuellen Bewusstsein, sondern auch in der objektiven Welt - in den Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen sozialen Klassen, in gesellschaftlichen Institutionen, in der Natur und ihren Manifestationen" (Horkheimer 2007: 17) wahrgenommen worden war.

Der auf Vernunft setzende Gegenspieler der Religion, die Philosophie, "[begriff] sich selbst als Abbild des vernünftigen Wesens der Welt, gleichsam als Sprache oder Echo des ewigen Wesens der Dinge. Das Vernehmen der Wahrheit durch den Menschen war eins mit der Manifestation der Wahrheit selbst, und die Fähigkeit zu solchem Vernehmen schloss alle Operationen des Denkens ein." (Horkheimer 1951: 5) Die Annahme einer objektiv waltenden Vernunft war die Grundlage für das Bemühen der Philosophen, eine allumfassende, fundamentale Struktur des Seins beziehungsweise eine Hierarchie alles Seienden zu suchen und daraus einen Entwurf der menschlichen Bestimmung abzuleiten. Indem der Mensch als ein integrales Element der Natur begriffen wurde, galt die Lebensführung eines Menschen als gut, wenn sie vom Bemühen um Harmonie mit der allem Sein eingeschriebenen Vernunft getragen war. Da dem Sein ein objektiver Sinn zugeschrieben wurde, es somit als Repräsentation der Vernunft als solche wahrgenommen wurde, postulierte man, dass sich "gutes Leben" darin beweise, dass es mit dieser immanenten Vernunft im Einklang steht. Man ging davon aus, dass es dem Menschen möglich sei, die "Vernunft des Seins" über seine Sinne zu "vernehmen", und folgerte: "Die Regeln der Tugend folgen aus der Erkenntnis dessen, was ist." (Ebd.: 7) Vernunft im Sinne einer abstrakten Funktion des Denkmechanismus wurde dabei keineswegs abgelehnt; man "betrachtete sie als partiellen Ausdruck einer umfassenden Vernünftigkeit, von der Kriterien für alle Dinge und Lebewesen abgeleitet wurden. Der Nachdruck lag mehr auf den Zwecken als auf den Mitteln. Das höchste Bestreben dieser Art von Denken war es, die objektive Ordnung des 'Vernünftigen', wie die Philosophie sie begriff, mit dem menschlichen Dasein einschließlich des Selbstinteresses und der Selbsterhaltung zu versöhnen." (Horkheimer 2007: 17 f.)

Mit dem Ansatz, die in allem Sein zur Geltung kommende Vernunft zu "vernehmen" und daraus die Konzeption des guten Lebens abzuleiten, stand die Philosophie logischerweise in klarer Opposition zur Religion. Diese geht ja davon aus, dass es dem Menschen nicht möglich sei, das von ihr als Plan Gottes begriffene Sein zu durchschauen, und dass somit einzig Gott dem Menschen den rechten Weg offenbaren kann. Aber auch wenn die Philosophie nicht auf göttliche Offenbarung, sondern auf das Begreifen der allem Sein zugeschriebenen Vernunft setzte, ging es ihr in letzter Konsequenz genauso wie der Religion darum, die höchste Wahrheit zu bestimmen und darzustellen. Der Anspruch der Philosophen der Aufklärung, den Glauben durch Vernunft zu ersetzen, zielte demgemäß keineswegs darauf ab, die objektive Wahrheit außer Kraft zu setzen, es ging ihnen darum, diese auf eine rationale Grundlage zu stellen. Tatsächlich kam es als schlussendliche "Lösung" des Konflikts aber zum Außerkraftsetzen sowohl des religiösen als auch des philosophischen Wahrheitsanspruchs, was ein nachhaltiges Aushöhlen beider Weltbilder nach sich zog. "[D]ie aktive Kontroverse von Religion und Philosophie [endete] in einer Sackgasse, weil beide als getrennte Kulturbereiche betrachtet wurden. Die Menschen haben sich allmählich mit dem Gedanken versöhnt, dass beide ihr eigenes Leben führen innerhalb der Wände ihrer kulturellen Zelle und einander tolerieren. Die Neutralisierung der Religion, die jetzt auf den Status eines Kulturguts unter anderen reduziert ist, widersprach ihrem 'totalen' Anspruch, dass sie die objektive Wahrheit verkörpere, und schwächte ihn zugleich ab. Obgleich die Religion, oberflächlich betrachtet, weiterhin geachtet wurde, ebnete ihre Neutralisierung den Weg, sie als Medium geistiger Objektivität auszuschalten und letztlich den Begriff einer solchen Objektivität abzuschalten [...]. Die Philosophen der Aufklärung griffen die Religion im Namen der Vernunft an; letzten Endes war das, was sie zur Strecke brachten, nicht die Kirche, sondern die Metaphysik und der objektive Begriff der Vernunft selbst, die Quelle der Macht ihrer eigenen Anstrengungen. [...] Vernunft hat sich selbst als ein Medium ethischer, moralischer und religiöser Einsicht liquidiert." (Ebd.: 30 f.)

Instrumentelle Vernunft - der Fetisch, der die aktuellen Machtverhältnisse begründet

Was wir heute als Religion bezeichnen, sind Überreste jenes abstrakten Prinzips, das die Machtverhältnisse in vormodernen Gesellschaften legitimierte und gegen das die an objektiver Vernunft orientierte Philosophie der Aufklärung angetreten war. Im Gegensatz zu heute stellten Religion und Glaube in der Vormoderne allerdings Grundlage und Begrenzung aller Diskurse und Interaktionen und nicht bloß eine gesellschaftliche Sphäre dar, die neben anderen wie zum Beispiel der Ökonomie, dem Recht, der Familie oder der Politik existiert. Der Glaube war das Gemeinsame und Verbindende aller gesellschaftlichen Sphären - jedes Verhalten musste sich vor dem Glauben rechtfertigen. Menschen beurteilten ihr Handeln nicht in Bezug auf ein mehr oder weniger effektives Einwirken auf Natur und Mitmenschen, vielmehr galt ihnen jedwedes Tun als Ausdruck religiöser Lebensführung. Religion war nicht ideologischer Überbau, sondern - als Ausdruck damals geltender Wahrheit - nicht hinterfragbarer Ausgangspunkt und Begrenzung aller Argumentation. Sie war Ausdruck des geltenden "Fetischsystems", das den Zusammenhang in einer Gesellschaft herstellt, indem es die gesellschaftlichen Machtverhältnisse legitimiert, also regelt, was Menschen einander antun dürfen. Alles Tun erlangte erst aus seiner Relation zum Fetischsystem Religion die ihm zukommende gesellschaftliche Bedeutung. Daraus folgt, dass im Zuge des zunehmenden Bedeutungsverlustes der Religion, in Form ihrer Departementalisierung zu einer Sphäre neben anderen, ein neues Fetischsystem zur Legitimation der veränderten Machtverhältnisse erforderlich wurde. Es bedurfte eines neuen metaphysischen Prinzips, das den Menschen als etwas Objektives, fraglose Plausibilität Einforderndes erscheint und ihnen eine spezifische Natur- und Gesellschaftsbeziehung abverlangt. Dieses sich parallel zum Verdrängen der Religion aus dem gesellschaftlichen Zentrum herausbildende und im bürgerlich-kapitalistischen System schließlich endgültig zum Durchbruch kommende neue Fetischsystem lässt sich im "Selbst(erhaltungs)interesse"dingfest machen. Die jedem gesellschaftlichen System vorgelagerte Frage nach dem guten Leben wurde abgelöst von der Frage nach dem adäquaten Überleben innerhalb des gesellschaftlichen Systems. Die aus diesem Anspruch abgeleiteten Wahrheiten und Regeln sind es, vor denen sich jedes Tun und Lassen seit Beginn der bürgerlichen Moderne in zunehmendem Maß rechtfertigen muss.

Das Werkzeug, mit dem das Selbstinteresse zur Geltung gebracht wird, ist die um ihren objektiven Gehalt gebrachte, bloß noch funktional begriffene Vernunft. "[D]ie etablierte bürgerliche Ordnung [hat] die Vernunft vollends funktionalisiert. Sie ist zur zwecklosen Zweckmäßigkeit geworden, die eben deshalb sich in alle Zwecke einspannen lässt. Sie ist der Plan an sich betrachtet." (Adorno/Horkheimer 2000: 111) Die Vernunft, ursprünglich angetreten als Mittel zum Hinterfragen des Fetischsystems Religion, wurde als Konsequenz ihrer Instrumentalisierung damit letztendlich selbst zum Fetisch - zu einer objektiven Macht, die vom Menschen unabhängig zu gelten scheint. "[D]as Versprechen der Aufklärung, durch Ausübung der Vernunft die Freiheit zu gewinnen, [hat] sich in eine Herrschaft ebendieser Vernunft verkehrt [...], die immer mehr den Platz der Freiheit usurpiert" (Foucault 1996: 81). Diese Fetischierung der Vernunft hat weitreichende Konsequenzen: "Gerechtigkeit, Gleichheit, Glück, Toleranz, alle die Begriffe, die [...] in den vorhergehenden Jahrhunderten der Vernunft innewohnen oder von ihr sanktioniert sein sollten, haben ihre geistigen Wurzeln verloren. Sie sind noch Ziele und Zweck, aber es gibt keine rationale Instanz, die befugt wäre, ihnen einen Wert zuzusprechen und sie mit einer objektiven Realität zusammenzubringen. [...] Wer kann sagen, dass irgendeines dieser Ideale enger auf Wahrheit bezogen ist als sein Gegenteil? Nach der Philosophie des durchschnittlichen modernen Intellektuellen gibt es nur eine Autorität, nämlich die Wissenschaft, begriffen als Klassifikation von Tatsachen und Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Die Feststellung, dass Gerechtigkeit und Freiheit an sich besser sind als Ungerechtigkeit und Unterdrückung, ist wissenschaftlich nicht verifizierbar und nutzlos. [...] Je mehr der Begriff der Vernunft an Kraft einbüßt, desto mehr gibt er sich her zu ideologischer Manipulation und zur Propagierung selbst der dreistesten Lügen." (Horkheimer 2007: 36 f.) Die Reduzierung der Vernunft auf ein subjektives Vermögen raubt dem Menschen das Bewusstsein, Element eines Ganzen zu sein, und wirft ihn völlig auf sich selbst zurück, er wird zu einer isolierten, auf Eigennutz fokussierten Monade und das gesamte Universum zum entsprechenden Mittel. "Als Endresultat des Prozesses haben wir auf der einen Seite das Selbst, das abstrakte Ich, jeder Substanz entleert bis auf seinen Versuch, alles im Himmel und auf Erden in ein Mittel seiner Erhaltung zu verwandeln; und auf der anderen Seite haben wir eine leere, zu bloßem Material degradierte Natur, bloßer Stoff, der zu beherrschen ist, ohne jeden anderen Zweck als eben den seiner Beherrschung." (Ebd.: 114) Indem Vernunft von einer Theorie zu einem Instrument geworden ist, ist sie für eine Überprüfung der hinter den Prämissen des Lebens stehenden Zwecke ungeeignet, als (vernünftiges) Orientierungskriterium des rechten Lebens bleibt dem Menschen bloß noch die Frage, welches Verhalten ihm zum Vorteil gereicht und welches nicht.

Aus diesem Fokus lassen sich Natur und Mitmenschen aber nur als potenzielle Gefahrenquellen wahrnehmen, die es argwöhnisch zu beobachten und in Schach zu halten gilt, da sie die jeweils eigenen Selbsterhaltungsmöglichkeiten beschneiden könnten. Die Folge ist ein Gesellschaftssystem, in dem jeder "dem gesamten Rest der Welt" als Gegner gegenübersteht - anderen Menschen, der Natur, letztendlich auch sich selbst in Form der je eigenen Natur. Die instrumentelle Vernunft erzwingt den Fokus von Ausbeutung und Konkurrenz - im Umkehrschluss gilt die von diesen Prämissen gespeiste Haltung als logischer Ausdruck von Vernunft. Da Vernunft bloß operative Bedeutung hat, ist sie zum Machtinstrument im allgemeinen Konkurrenzkampf degeneriert und artikuliert sich als Strategie und Cleverness. Nicht zufällig wird heutzutage fallweise durchaus auch von Kriminellen, betrügerischen Geschäftsleuten oder populistischen Politikern, verschiedentlich auch von Diktatoren behauptet, dass sie außerordentlich intelligent wären. Gemeint wird damit das besondere Geschick - genau genommen: die besondere Skrupellosigkeit -, die sie bei der Durchsetzung der jeweils eigenen Interessen zeigen. Was bewundernd als Ausdruck besonderer Vernunft interpretiert wird, ist letztendlich nichts anderes als Rücksichtslosigkeit und Kaltblütigkeit beim Durchsetzen der jeweiligen Eigeninteressen durch strategisch-geschicktes Vorgehen gegenüber (Interessens-)Gegnern.

Die Vorstellung, Ziele aus anderen Gründen als solchen des eigenen Vorteils zu verfolgen, ist der instrumentellen Vernunft nicht zugänglich - dies gilt auch dann, wenn sie sich über den Standpunkt der individuellen Nützlichkeit erhebt und ihren Fokus beispielsweise auch auf die Familie oder andere über gemeinsame Interessen definierte Gruppen ausdehnt. Wer heutzutage unter dem Titel Vernunft ein Verhalten einfordert, das nicht mit dem Verfolgen individueller oder gruppenspezifischer Interessen legitimiert werden kann, gilt als hoffnungslos antiquiert - als vernünftig gilt Verhalten einzig, wenn es sich über Aufwand-Erfolgsrelationen argumentieren lässt, also berechenbar und letzten Endes in Gelddimensionen darstellbar ist. Als Konsequenz daraus wird auch jemand, der nicht aus Berechnung, sondern auf Basis von Motiven agiert, die sich einem Erfassen in Kosten-Nutzen-Dimensionen entziehen, und der nicht andauernd seinen persönlichen Vorteil verfolgt, umgehend als dumm oder zumindest weltfremd abqualifiziert und nicht selten zynisch als "Gutmensch" apostrophiert. Die instrumentelle Vernunft unterwirft das Leben dem Primat des Nutzens, dem Utilitarismus. Die Frage, ob und in welchem Umfang sich das Verfolgen eines Ziels rentiert, also Gewinn abwirft, ist die alles entscheidende Frage des bürgerlich-kapitalistischen Weltbilds. Letztendlich muss sich alles menschliche Tun dieser Zielsetzung unterordnen und wird damit zu mehr oder weniger nützlicher Arbeit. Diese wird in diesem Sinn auch nicht mehr als "Notdurft des Daseins" (Pieper) und demütig zu akzeptierende Strafe eines Gottes wahrgenommen, sondern als logische Konsequenz vernunftorientierten Daseins.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass alles Handeln von Menschen grundsätzlich durch kalkulatorische Überlegungen gesteuert ist. Menschen lassen sich nicht (völlig) auf den Status von Rechenmaschinen degradieren und machen selbstverständlich, "ihrer Natur entsprechend", auch Dinge aus Liebe, Freundschaft, (Lebens-)Lust oder anderen Gründen, aus denen ihnen kein Vorteil im Sinne einer Durchsetzung ihrer Interessen erwächst. Da eine Bezugnahme auf eine inhaltlich und nicht bloß formal begriffene Vernunft dabei heute allerdings nicht denk- und argumentierbar ist, werden derart motivierte Handlungen zwar als "typisch menschlich" gewissermaßen "entschuldigt", unterliegen in letzter Konsequenz aber stets dem Verdikt der Unvernunft. Es sei eben notgedrungen erforderlich, mit derartigen "unberechenbaren" Verhaltensweisen klarzukommen, da es für Menschen offenbar nicht ausreichend möglich ist, sich Nützlichkeitskalkülen zu unterwerfen. Konsequenz daraus ist, dass Individuen ihren solcherart in die Ecke der "Unvernunft" gedrängten menschlichen Regungen nur "distanziert" und mit dem Gefühl begegnen können, dabei einer in ihnen wirkenden "sinnlosen Natur" ausgeliefert zu sein. Da für derartige "Impulse der Menschlichkeit" keine Entsprechung in den gegebenen Machtverhältnissen und der korrelierenden Selbstinterpretation der Subjekte gegeben ist, müssen sie ihnen als etwas Unverständlich-Fremdes und ihr mühsam auf Vernunft getrimmtes Weltbild Bedrohendes erscheinen. Der ihnen auferlegte Fokus des Nutzens führt dazu, dass sich Individuen somit selbst fremd gegenüberstehen, sie sind sich selbst nur als Objekte im allumfassenden Prozess der Verwertung von allem und jedem begreifbar und treiben diesen dabei immer weiter.

Indem Vernunft eine Gleichsetzung mit Kalkulation erfährt, geht ihr auch jede perspektivische Dimension verloren. Das Denken dient bloß noch dem Überlebenskampf und wandelt sich von einem Hilfsmittel des Hinterfragens und Überwindens der Machtverhältnisse dazu, innerhalb derselben und deren Erfolgskriterien entsprechend möglichst gut über die Runden zu kommen. Als vernünftig wird ein Mensch bezeichnet, der in der Lage ist, das zu erkennen und anzustreben, was ihm im Sinne gesellschaftlicher Erfolgsvorgaben nützt, indem es ihm im allgemeinen Konkurrenzkampf eine bessere Position verschafft. Alle Dinge, Natur und Menschen werden zum Mittel, um dem einzigen Zweck zu dienen, der im Fokus instrumenteller Vernunft Sinn ergibt, dem Durchsetzen der jeweils eigenen Interessen. Instrumentelle Vernunft stellt somit die Grundlage der blind an Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft samt ihrer durch nichts gehemmten Ausbeutung von Mensch und Natur dar, sie ist der Kern ökonomischer Rationalität. Vor allem aber ist sie die Basis des "guten Rufs", den die Konkurrenz einschließlich der mit ihr zwingend verbundenen Konsequenz genießt, dass der je eigene Erfolg immer nur um den Preis des Reduzierens der Lebensmöglichkeiten anderer möglich ist. Dem Vernunftnimbus der Konkurrenz entsprechend wird diese ja selbst von den euphemistisch als "Verlierer" im Kampf jeder gegen jeden Bezeichneten kaum je in Frage gestellt, beklagt wird bestenfalls ihre "ungerechte" Verwirklichung. Gefordert werden nicht dem aktuellen Stand der Produktivkräfte entsprechende optimale Lebensbedingungen für alle, sondern bloß eine "Gleichheit der Chancen" beim Run um die ungleichen Überlebensmöglichkeiten (vgl.: Ribolits 2013: 63 ff.).

Die Unterordnung alles Seienden unter einen abstrakt-logischen Formalismus raubt der Vernunft völlig ihre Potenz zur kritischen Reflexion der Prämissen der gegebenen Gesellschaftsformation. Reflexion würde ja eine Bezugsgröße außerhalb des Gegebenen voraussetzen - ohne eine derartige, quasi objektive "Reflexionsfläche" mündet jeder Reflexionsansatz in bloßer "Nabelschau". Erst eine Bezugsgröße außerhalb des Referenzsystems ermöglicht das Gewinnen einer Sichtweise, die das durch den Status quo Vorgegebene transzendiert. Genau diese objektive Dimension wurde der Vernunft im Zuge ihrer Instrumentalisierung aber genommen. Auf Basis instrumenteller Vernunft ist demgemäß das Entwickeln einer utopischen Perspektive nicht möglich. Aus ihr kann keine Hoffnung auf eine Welt jenseits der aktuellen Erscheinungsformen der Macht erwachsen, wodurch sie sich letztendlich als Hauptinstrument des Tradierens der gegebenen Ausbeutungsverhältnisse erweist. Da die instrumentelle Vernunft keine Perspektive zu eröffnen imstande ist, aus deren Fokus sich ein Leben entwerfen ließe, das über die im Status quo gefangenen Möglichkeiten hinausgeht, kann in den gegebenen Machtverhältnissen angelegtes "Unrecht" von ihr gar nicht als solches erkannt werden. Sie steht den Verhältnissen quasi neutral - oder vielmehr: blind - gegenüber. Auf diese Art stützt sie diese, verleiht ihnen dabei aber den Nimbus der Vernünftigkeit. Jeder Ansatz, der über die bestehenden Verhältnisse hinausweist, indem andere Menschen nicht als Konkurrenten und die Natur nicht bloß als Ressource wahrgenommen werden, landet automatisch in der Ecke der Unvernunft - ein vernünftiger Ausweg aus den gegebenen Verhältnissen ist somit verbaut!

Teil II erscheint in Streifzüge 67


Literatur

Adorno Theodor W.; Horkheimer Max (2000): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag.

Foucault Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

Hegel Georg Wilhelm Friedrich (1979): Werke in zwanzig Bänden, Bd. 20, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Horkheimer Max (1951): Zum Begriff der Vernunft. Frankfurter Universitätsreden, Heft 7, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann.

ders. (1985): Die Vernunft im Widerstreit mit sich selbst, in: Gesammelte Schriften 12, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag.

ders. (2007): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag.

Lohmann Ingrid (2002): Bildung und Gesellschaft. Die Entstehung ihrer Beziehung am Beginn der Moderne. Überarbeitetes Vorlesungsmanuskript, Universität Hamburg, FB Erziehungswissenschaft.

Mann Thomas (1960) Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag.

Negt Oskar (2012): Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen, Göttingen: Steidl Verlag.

Ribolits Erich (2011): Bildung - Kampfbegriff oder Pathosformel. Über die revolutionären Wurzeln und die bürgerliche Geschichte des Bildungsbegriffs, Wien: Löcker.

ders. (2013): Abschied vom Bildungsbürger. Über die Antiquiertheit von Bildung im Gefolge der dritten industriellen Revolution, Wien: Löcker.

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Rückkopplungen

Happy, Meta-Ware (I)
von Roger Behrens

"Aber letzten Ende werden die Medien als Kanäle für Bilder und Interessen nicht nur benutzt; sie arbeiten auch, im Sinne einer virtuellen Maschine, an eigener Erzeugung. Das Fernsehprogramm, beispielsweise, verkauft nicht nur Waren und die eigene Hard- und Software, es verkauft Lebensweisen, nationale Identitäten, Organisation von Öffentlichkeit und Intimität. Das Medium ist nicht mehr allein nur die Botschaft, das Medium ist die Meta-Ware: Nur hier erscheinen die erworbene Ware und die soziale Praxis bereits vollkommen miteinander identisch." - Markus Metz & Georg Seeßlen, Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (Frankfurt am Main 2011, S. 407)

Die besten Hits des 21. Jahrhunderts kommen musikalisch aus dem 20. Jahrhundert. Auf ihrem vierten Studioalbum 'Random Access Memories' fordern Daft Punk ihre Fans auf: 'Get Lucky'! Nile Rodgers - Musiker der legendären Chic (deren Hits u. a. 'Le Freak' und 'Good Times' heißen) - spielt Gitarre, Pharrell Williams reist nach Paris, um mit dem eigentlich Zwei-Personen-Projekt Daft Punk (Guy-Manuel de Homem-Christo, Thomas Bangalter) noch Text und Melodie für 'Get Lucky' zu basteln. In achtzehn Monaten produziert, wird der schließlich im April 2013 veröffentlichte, mitunter als "elegant" gelobte Song zum Number-One-Hit, gilt vielen als der beste Song des Jahres. - Dann erscheint im November 2013 Pharrell Williams 'Happy' (als Single, nachfolgend auf seinem zweiten Album 'G I R L'); das Neo-Soul-Stück entwickelt sich Anfang 2014 zum kulturindustriellen Großerfolg: in der Bundesrepublik ist 'Happy' zusammen u. a. mit Helene Fischers ,Atemlos durch die Nacht' seither auf Platz 11 der meistverkauften Singles (Platz 1: Elton John mit 'Candle in the Wind' von 1997).

Auf der Internetseite 24hoursofhappy.com wird 'Happy' als "das erste 24-Stunden Video der Welt" präsentiert: 360 vierminütige Versionen von 'Happy' sind hintereinanderkopiert; in jedem Abschnitt ist jeweils - zumeist - eine Person zu sehen, die zu dem Song auf der Straße, in der Fußgängerzone, im Flughafen oder ähnlichen urbanen Orten tanzt, zu jeder vollen Stunde ist es Pharrell Williams selbst, ansonsten auch viele Gaststars wie Poprockmusikerin Kelly Osbourne, Basketballspieler Magic Johnson oder Bossa Nova-Arrangeur Sérgio Mendes. Das Video ist 1950mal nachgeahmt worden von Leuten, die zu diesem Song irgendwo auf der Welt ebenso tanzend durch die Straßen ziehen (vgl. www.wearehappyfrom.com). Wie beim Original der als "Bestes Musikvideo" bei den Grammy Awards 2015 prämierten Produktion sind es auch in den Remake-Clips meistens einzelne, die sich zu dem Song bewegen (Ausnahme z. B. eine Version in bzw. aus Teheran: hier tanzen fünf junge Leute; weil sie dies unverschleiert machten, wurden sie wegen "Verletzung der öffentlichen Sittsamkeit" zu 91 Peitschenhieben verurteilt).

'Happy' ist ein Liebeslied. Williams singt: "Es mag verrückt erscheinen, was ich sagen werde: Sonnenschein! - Sie ist da, Du kannst 'ne Pause machen! Ich bin ein - Heißluftballon, der ins All abhauen könnte ... Mit der Luft, Baby, ist es mir übrigens egal: Denn ich bin glücklich ... Klatsch mit, wenn Du Dich wie ein Zimmer ohne Dach fühlst. Klatsch mit, wenn Du Glücklich-Sein als Wahrheit fühlst ..."

In der Talkshow bei Oprah Winfrey ist Williams zu Tränen gerührt und weint vor Glück: "Es ist überwältigend, weil ich liebe, was ich tue. Und ich bin dankbar, dass die Menschen so lange an mich geglaubt haben, dass ich es bis hierhin schaffen konnte." Jedoch: die Menschen - das sind die Konsumenten, die als Käufer einer Ware (Schallplatte, CD, Download etc.) bestenfalls das zu erwerben hoffen, was Williams in dem Song verspricht; wahrscheinlich wollen sie einfach nur hübsche Musik. Sie glauben nicht an Williams, sondern an den doppelten Fetischcharakter dieser besonderen Ware, in der Gebrauchs- und Tauschwert ästhetisch konvergieren. Markus Metz und Georg Seeßlen haben das "Meta-Ware" genannt.

Nachzulesen ist das allerdings schon bei Marx, einerseits: "Der Rock ist ein Gebrauchswert." (MEW 23, S. 56; vgl. Streifzüge 34/2005). Und andererseits: "Z. B. Milton, who did the 'Paradise Lost' for 5 Pounds Sterling, war ein unproduktiver Arbeiter. Der Schriftsteller dagegen, der Fabrikarbeit für seinen Buchhändler liefert, ist ein produktiver Arbeiter. Milton produzierte das 'Paradise Lost' aus demselben Grund, aus dem ein Seidenwurm Seide produziert. Es war eine Betätigung seiner Natur. Er verkaufte später das Produkt für 5 Pfund Sterling. Aber der Leipziger Literaturproletarier, der unter Direktion seines Buchhändlers (z. B. Kompendien der Ökonomie) fabriziert, ist ein produktiver Arbeiter; denn sein Produkt ist von vornherein unter das Kapital subsumiert und findet nur zu dessen Verwertung statt. Eine Sängerin, die auf eigene Faust ihren Gesang verkauft, ist ein unproduktiver Arbeiter. Aber dieselbe Sängerin, von einem entrepreneur engagiert, der sie singen lässt, um Geld zu machen, ist ein produktiver Arbeiter; denn sie produziert Kapital." (Theorien über den Mehrwert, MEW 26·1, S. 377)

Marx markiert mit diesen Sätzen eine Wahrheit, die der Kapitalismus im 19. Jahrhundert noch vehement bestritt und erst mit der Etablierung der regulativen Betriebsökonomie im 20. Jahrhundert unverhüllt zu seinem Programm erhob: dass es um Profit geht, ökonomisch um nichts anders. Kulturindustriell ist das im Pop destilliert; seit Elvis' '50.000.000 Elvis Fans can't be wrong' (1959) ist das unverhohlen zum Prinzip erklärt, auch wenn es zunächst nicht ganz ohne Widerspruch akzeptiert wurde - heute schließlich, nach 'We are only in it for the Money' (Mothers of Invention, 1968) und Punk (Crass' 'Punk is dead', auf: 'The Feeding of the 5000', 1978), ist alle Ironie und Provokation entschärft: Pharrell Williams singt 'Happy' und lässt die Menschen fröhlich tanzen, naiv, als wenn die Welt in Ordnung wäre; formal und inhaltlich ist das von Helene Fischers 'Atemlos' nicht weit entfernt. Nur wesentlich besser, und das macht den Unterschied bei Williams - zu Fischer (produktiv) im Übrigen ebenso wie zu Milton (unproduktiv): in seiner Selbstkonfiguration als Produzent (in mehrfacher Hinsicht) ist es nämlich gleichgültig, ob er produktiver oder unproduktiver Arbeiter ist. Er ist ein arbeitendes Produkt, das mit seinen Arbeitsresultaten den Menschen offenbar ziemlich viel Freude und Spaß bereitet. Wäre das der Gebrauchswert, liefen die Menschen nicht bloß alleine tanzend durch die Straßen, sondern hätten 'Happy' als Soundtrack der Umwälzung bestehender Verhältnisse des Unglücks. Solange das nicht passiert, verdoppelt der Gebrauchswert selbst der besten Musik nur ihren Tauschwert.

*

Die Notwendigkeit dessen, was unnötig ist

von Emmerich Nyikos


"Meinst du, es mache nichts aus, ob du selbst deine Leiden verschuldest oder das Schicksal?"

(Horaz, Satiren)


1. Die Notwendigkeit eines Tresors resultiert aus dem Besitz von Juwelen. Wer keine Juwelen besitzt, braucht auch keinen Tresor, um sie vor Diebstahl zu schützen. Die Notwendigkeit des Tresors bezieht sich hier nur auf den Schatz, sie ist ganz und gar relativ in Bezug auf diese Sache. Verkauft man seine Juwelen, dann fällt auch der Grund für den Safe weg, er ist nicht mehr nötig, allein, er löst sich dadurch nicht in Luft auf: Er steht noch herum, bis auch er, weil entbehrlich, verkauft wird.

Notwendig in einem beschränkten, relativen, finalistischen Sinne ist das, was sich in Relation zu einem Faktum ergibt, das, um Bestand haben zu können, eines Umstands bedarf, der diesen Bestand garantiert. Es ist notwendig für dieses Faktum. Davon zu unterscheiden ist die Notwendigkeit in unbeschränktem, absolutem oder intrinsischem Sinn, nämlich der Tatbestand, dass eine Sache aus einem Grund resultiert - und zwar gezwungenermaßen -, ohne dass diese Sache für diesen Grund Relevanz haben würde. Sie ist notwendig, und zwar absolut, an und für sich, eben weil sie für den Grund ihrer selbst unerheblich, belanglos, bedeutungslos ist.

In beiden Fällen ist es nun so, dass, wenn der Grund wegfallen sollte, dass dann sich zugleich auch die Notwendigkeit der Sache verliert, allein, im letzteren Fall löst sie sich prompt mit dem Grund auf, während sie im ersteren Fall durchaus noch längere Zeit fortleben kann, wenn auch dann ganz ohne Grund.

Wasser, wird es erhitzt, erhöht seine Temperatur. Dies ist eine notwendige Wirkung der Hitze, notwendig jedoch nicht für die Wärmequelle, da die Wassertemperatur für die Wärmezufuhr an und für sich bedeutungslos ist: Sie braucht, um zu sein, nicht des kochenden Wassers. Indessen, stellt man den Heizkörper ab, so sinkt sogleich auch die Temperatur, eben weil der Grund dafür schwindet. Geht es hingegen darum, Wasser zum Kochen zu bringen, dann muss man das Wasser erhitzen. Die Hitze erweist sich als nötig, aber nicht an und für sich, sondern nur im Hinblick auf das Kochen des Wassers. Kocht nun das Wasser und stellt man den Kochtopf vom Herd, dann braucht man die Hitze nicht mehr, sie wird durchaus entbehrlich, auch wenn dies nicht unbedingt heißt, dass der Ofen dann auch sogleich abgedreht wird.

Wenn eine Sache verschwindet, für die eine andere notwendig ist, dann fällt auch die Notwendigkeit dessen, das sich als notwendig für diese Sache erwies, dem Verschwinden anheim, auch wenn dies nicht unbedingt auch für die Existenz dessen gilt.

Oder, um ein simples Beispiel aufzugreifen: Wer Nahrung zu sich nimmt, führt Energie dem Organismus zu und erhält ihn somit, sofern dieser nicht in irgendeiner Hinsicht defekt ist. Die Reproduktion des Organismus ist notwendig genau in dem Sinn, dass es anders nicht sein kann. Ebenso muss, wer überleben will, essen und trinken; die Nahrungsaufnahme ist hier allerdings notwendig nur im Hinblick darauf, dass man den Organismus erhält, nicht absolut, insofern man ja genauso gut auch verhungern oder wenigstens sich als ein Hungerkünstler betätigen könnte.

Immer dann also, wenn Alternativen existieren, hat man es mit relativen Notwendigkeiten zu tun. Diese sind allerdings, sind bestimmte Prämissen gegeben, oft ebenso eisern wie die intrinsischen Typs. Denn wer verhungert schon freiwillig gerne?

2. Die Notwendigkeit im Kontext der Geschichte ist stets relativ: Um Parameterwerte, die sich als elementar mit Bezug auf eine gegebene Gesellschaft erweisen, innerhalb eines bestimmten Bereichs, der durch die Stabilität des Systems definiert ist, zu halten, muss dies oder das - je nach den gegebenen Bedingungen - sein. Oder anders gesagt: Die Notwendigkeit einer Sache ergibt sich aus einem Umstandskomplex, der dieser Sache bedarf, damit er Bestand haben kann. Aus A folgt nicht unbedingt B, sondern B ist notwendig nur hinsichtlich A.

Spaltet sich die Gesellschaft in Klassen, sobald ein bestimmtes Produktivkraftniveau erreicht worden ist, so bedarf es des Staates als eines Organs der dominierenden Klasse, um die Struktur des Transfers von Surplus à la longue aufrechterhalten zu können. Der Staat ist notwendig demnach, aber nicht an und für sich, sondern nur mit Bezug auf die Klassengesellschaft. Darüber hinaus entsteht er nicht automatisch (so wie der Anstieg der Temperatur sich aus der Erhitzung ergibt), denn auch wenn er für die sich bildende Klasse von Privateigentümern erforderlich ist, so heißt das nicht unbedingt auch, dass die Staatlichkeit sich deswegen durchsetzen würde. Es könnte ebenso sein, dass der Versuch kläglich scheitert, womit sich dann aber auch der Ansatz zu einer Klassengesellschaft zurückbilden würde.

Insofern, als in den antiken Städten die unteren Klassen zum Kriegsdienst unerlässlich sind (weil aufgrund der relativen Größe der polis oder civitas nur so die Verteidigung oder der Angriff, was die Truppenstärke betrifft, adäquat organisiert werden können), erscheint es angebracht, die De-facto-Versklavung durch Schuldknechtschaft abzuschaffen (oder erst gar nicht entstehen zu lassen), denn Sklaven kann man nun einmal mitnichten bewaffnen, das versteht sich von selbst. Daraus resultiert wiederum, dass fremde Sklaven eingeführt werden, um in den Bergwerken des Staates und auf den Latifundien der Oligarchie Zwangsarbeit zu verrichten, Sklaven, für deren Nachschub dann glücklicherweise (und wie von der Vorsehung geschickt inszeniert) die beständigen Kriege in Überfluss sorgen. Die Kaufsklaverei in Athen oder Rom ist notwendig demnach, aber nicht an und für sich, sondern nur im Hinblick auf eine gegebene historische Lage: im Hinblick darauf, dass auch weiterhin die herrschende Klasse von Arbeit befreit bleibt.

Umgekehrt ergibt sich zu Beginn der feudalen Epoche, dass, weil sich seit den Tagen Karl Martells das Militärwesen ändert, in dem Sinne nämlich, dass von diesem Augenblick an gepanzerte Reiter die Hauptstreitmacht bilden, die fränkischen Freien, Besitzer einfacher Hufen, die bis zu diesem Moment als Fußvolk das Hauptkontingent der fränkischen Heeresmacht stellten, nicht mehr am Krieg teilnehmen können, insofern es für sie unmöglich ist, sich, so wie die "Großen", die kostspielige militärische Rüstung zu leisten. Sobald sie aber nun nicht mehr waffenfähig sind, sind sie der Willkür der potentes ausgeliefert - die natürlich nicht zögern, die Situation auszunutzen -, einer Klasse von Grundherren, denen die "Freien" sich mit der Zeit "kommendieren", wodurch sie auf das Niveau von "Hörigen" sinken: gezwungen demnach, Abgaben und Dienste an einen Grundherrn zu leisten, die es diesem erlauben, sich ganz dem Krieg oder dem Beten zu widmen. Die Feudalisierung der Hufen ist also notwendig nur in dem Sinne, als dadurch eine Inkonsistenz der Gesellschaft entfernt wird.

3. Historische Notwendigkeit ist, wie wir sahen, nicht absolut. Es gilt also nicht: Wenn A existiert, dann folgt daraus umgehend B (wobei hier A sämtliche Bedingungen für B denotiert), sondern andersherum: Wenn A sein soll, dann bedarf es des B. B ergibt sich nicht automatisch aus A, sondern es kann sich ergeben, weil es für A notwendig ist. Zumeist ist dies dann aber auch wirklich der Fall.

4. Kommerz, Reklame, Marketing, Public Relations, Kundenservice, juristische Abteilungen, Lohnbüro, Börse, Banken, Insurance, Investment- und Finanzconsulting, Security, Arbeitslosen- und Armutsverwaltung, Zollbehörden, Handelsgerichte, Steuerwesen, Steuerfahndung, Steuerberatung, Preis- und Handelsstatistik - all dies, zusammen mit den Ressourcen sowie der Produktion, welche dafür die materielle Infrastruktur generiert, ist notwendig, nötig und nicht aus der Gesellschaft, so wie sie ist, wegzudenken; es ist indessen notwendig nur, weil die bürgerliche Gesellschaft bürgerlich ist. Wäre sie nicht bürgerlich, so würde all dies unnötig sein, weil, im Grunde, niemand es braucht.

Machen wir ein Gedankenexperiment: Denken wir uns eine Gesellschaft, deren Produktion weitestgehend automatisiert worden ist, eine Gesellschaft, die auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ruht und auf der Grundlage physischer Daten geplant wird - so etwa wie man die Zubereitung von Süßspeisen plant, nur ein wenig komplexer, mit Input-Output-Matrizen und Computerprogrammen -, wobei die finale Verteilung dann zwanglos durch die Entnahme der so gefertigten Güter aus Magazinen erfolgt - und zwar je nach Bedarf. In einer solchen Gesellschaft gäbe es weder Kommerz noch Reklame noch all die anderen Dinge, die notwendig eben nur deswegen sind, weil die bürgerliche Gesellschaft bürgerlich ist.

Wenn man davon ausgeht - und dies ist banal -, dass der tatsächliche Sinn der Produktion der Stoffwechsel mit der Natur, die Bereitstellung von Gebrauchswerten ist und keineswegs darin besteht, sich monetär zu bereichern, d.h. als ein Vorwand der Verwertung des Werts, der Profitmaximierung, zu dienen (sodass die Gebrauchswerte nur als "Kollateralfrucht" erscheinen), dann braucht man, seitdem die Produktion automatisiert werden kann - und das ist Bedingung -, in der Tat all diesen Firlefanz nicht, er ist überflüssig und nutzlos, genauso wie eine Perversion. Denn ist es nicht durchaus pervers, eine Handlung zu setzen, die mit der Sache an und für sich gar nichts zu tun hat, die aber gesetzt werden muss, damit der eigentliche Zweck erreicht werden kann?

5. Indessen, heißt das dann nicht, dass die "Arbeit", die man in dieser Gesellschaft mit Blick auf die bestimmte Struktur derselben verrichtet, ebenso unsinnig ist? Und in der Tat: All die Plackerei diesbezüglich, der sich jene unterwerfen, die noch nicht permanent arbeitslos sind - wie kann sie sinnvoll sein, wenn der Beweggrund, auf dem sie basiert, im höchsten Grade absurd ist?

6. Stellen wir hier en passant noch in Rechnung, dass die Mode, der ständige Wechsel von einem Modell hin zum nächsten, dass die geplante Obsoleszenz nicht nur ungeheure Ressourcenmengen verschlingen, sondern darüber hinaus, solange die Produktion noch nicht gänzlich automatisiert worden ist, auch noch Arbeitskraft binden, so erweitert sich der Kreis derer, die sinnlose Tätigkeiten verrichten, noch weiter, denn all die Produktion, die sich aus diesen Phänomenen ergibt, muss im Grunde nicht sein (und natürlich auch nicht die daraus sich ergebende Entsorgung des Mülls).

Damit aber noch nicht genug: Geht man von der Tatsache aus, dass der Verschleiß der Arbeitskraft im bürgerlichen System die Regeneration des Arbeitsvermögens auf eine spezifische Weise notwendig macht - durch seichtes Vergnügen -, so wird man einräumen müssen, dass auch die Tätigkeiten in diesem Geschäft, der Massenzerstreuung, im Grunde unsinnig sind. Denn da, wo die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit pro Person auf ein Minimum reduziert worden ist, bedarf es keines seichten Vergnügens, da die Arbeitskraft offenbar gar nicht regeneriert werden muss. Fernsehen, Videospiele, Sportspektakel, Popkonzerte, Love Parades und andere Events ähnlichen Typs - all das könnte man getrost einfach streichen (oder zumindest auf ein vernünftiges Maß reduzieren). Niemand würde es brauchen, sobald die Gesellschaft auf rationale Weise organisiert worden ist.

Und was Krieg und Rüstung betrifft, so erübrigt sich jede Bemerkung.

7. Das Publikum indessen hängt an all diesem sinnlosen Tun, so wie ein Heroinsüchtiger nur mehr Appendix der Injektionsspritze ist. Die Absonderlichkeit besteht hier gerade darin, dass, um überleben zu können, das Arbeitsvermögen verkauft werden muss, denn nur so kommt man zu Geld, um sich die Dinge des Lebens beschaffen zu können. Die konkrete Tätigkeit dagegen spielt hier gar keine Rolle, sie kann sein, wie sie will. Und würde sie darin bestehen, während acht Stunden an einer horizontalen Stange zu hängen (wie in einem Achternbusch-Film), so wäre es auch recht.

Die Erwerbstätigkeit, weil es im Hier und im Jetzt anders nicht sein kann, ist indessen nicht nur ein Imperativ, sondern darüber hinaus wird sie zu einem fundamentalen Bedürfnis. Die Basis drängt diese Gesellschaft demnach, mehr und mehr solcher sinnlosen "Betätigungen" zu schaffen - wozu sie jedoch sich ironischerweise gar nicht in der Lage befindet -, anstatt dass das Unvermögen dieser Gesellschaft, genau dies zu tun, als Anlass aufgefasst würde, ein für alle Mal den Zustand der Absurdität zu beenden.

Schließlich, um all dies auf die Spitze zu treiben, sieht man all diejenigen von allen Seiten scheel an, die aus dem "Arbeitsprozess" eliminiert worden sind, so als ob diejenigen, die noch immer darin festgesetzt sind, nicht genauso ausgedient hätten, eben nur auf andere Weise. Kurz: Die bürgerliche Gesellschaft, insofern als sie sich schon längst überlebt hat, generiert sinnloses Tun, das sich indessen als Ausfluss von Pflichterfüllung geriert. Und dies muss so sein, denn niemand auch könnte, ohne aus der mentalen Balance zu fallen, auf lange Sicht Tätigkeiten verrichten, von denen er weiß, dass sie unsinnig sind.

8. Notwendig in der Geschichte ist nicht, wie wir sahen, was anders nicht sein kann, denn es kann anders sein, sondern nur, was eben so und nicht anders sein muss, damit eine andere Sache genau diese Sache sein kann: Das sinnlose Tun, worauf sich die "Arbeit" in der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem Endstadium reduziert, muss also sein, aber nur, weil seiner das Warensystem - und allein dieses - bedarf.

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Heine und die Menschenware

Von Hermann Engster

Heinrich Heine gilt nach landläufiger Meinung als der romantische Dichter überhaupt. Das ist zu einem kleinen Teil richtig, zu einem größeren aber falsch. Er hat in der Tat einige höchst romantische Gedichte geschrieben, wie z.B. das rätselhafte Der Tod, das ist die kühle Nacht, er beherrscht virtuos das romantisch-poetische Repertoire und ist ein brillanter Reimkünstler, der es fertigbringt, Teetisch auf ästhetisch zu reimen: Sie saßen und tranken am Teetisch, / Und sprachen von Liebe viel. / Die Herren waren ästhetisch, / Die Damen von zartem Gefühl. In strengen Sinn "romantischer" als Heine sind hingegen andere, wie z.B. Wackenroder, Novalis, Brentano, Eichendorff.

Die literarische Romantik hat ja schon in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts eingesetzt, und dies gleich mit großartigen Werken. Da wurde Heine gerade geboren. Als er seine Gedichte schreibt, wird bereits der Untergang der literarischen Romantik eingeläutet. Das ist Heines Schicksal. Denn, um ein Diktum von Karl Valentin auf ihn anzuwenden: "Es ist alles schon gesagt, nur noch nicht von allen." Und Heine weiß das. Er seufzt darüber, dass die Rosen, Veilchen, Lilien, Narzissen von Dichtern seinesgleichen zu Tode besungen worden sind, und er phantasiert sich bis an die Ufer des fernen Ganges, um die poetisch noch unverbrauchte exotische Lotosblume anzuhimmeln. Es ist eine eminente Sprachnot, die Heine quält, und in dieser Not ruft er, desperat wie weiland Shakespeares Richard III.: "Ein Bild, ein Bild, mein Pferd für'n gutes Bild!" Er scheut sich aber auch nicht, rücksichtslos gegenüber sich selbst und seine Zunft, in einem Gedicht mit der Überschrift Wahrhaftig festzustellen: Lieder und Sterne und Blümelein, / Und Äuglein und Mondglanz und Sonnenschein, / Wie sehr das Zeug auch gefällt, / So macht's doch noch lang keine Welt.

Die Zumutungen der Moderne

Er hat erkannt, dass die Romantik in sich tief fragwürdig ist. Sie ist eine Reaktion auf die Zumutungen der Moderne: der Moderne mit der Anfang des 19. Jahrhunderts sich durchsetzenden technisch-industriellen Unterwerfung der Natur, der kapitalistischen Formierung der Wirtschaft, dem allgegenwärtigen Zwang zur Konkurrenz samt den Mechanismen der nüchternen Rechenhaftigkeit, einer Konkurrenz, welche die Gesellschaft bis in die persönlichen Beziehungen der Menschen hinein durchdringt. Marx und Engels haben dies 1848 in ihrem Manifest der Kommunistischen Partei scharfsichtig und kritisch analysiert (nebenbei bemerkt: ein Glanzstück deutscher Prosa!); ein halbes Jahrhundert später hat der bürgerliche Soziologe Max Weber diesen Prozess - diesmal in durchaus affirmativer Absicht - mit den populär gewordenen Formulierungen von der "Entzauberung der Welt" und dem "stählernen Gehäuse der Rationalität" prägnant beschrieben, einem Gehäuse, in welchem der moderne Mensch sich gefälligst einzurichten habe. (M. Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1905; Wissenschaft als Beruf, 1919)

Im Zauberreich der Innerlichkeit

Die Romantik ist eine Protestbewegung gegen die Moderne, aber eine durchaus unpolitische, ja mehr als das: eine regressive und eskapistische. Unter dem Fanal der "Poetisierung der Welt" wollen die Dichter das Reich der Poesie wiedererrichten, wie es in früheren, vorzivilisatorischen Zeiten, so imaginieren sie, geherrscht habe - Ideen, wie sie schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts von Rousseau und Herder entwickelt worden sind. Friedrich von Hardenberg, der sich selbst Novalis nennt, formuliert das Programm: "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Aussehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es."

Der Poesie wird eine mystische weltverändernde Kraft zugemessen, wenn Eichendorff dichtet: Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort. Einher geht damit eine Verklärung des Mittelalters mit seiner noch ungeteilten christlichen Religion und der gemütvollen Eintracht von Monarch und Volk, einer Ideologie, die noch Jahrzehnte später in Wagners Meistersingern spukt. Es ist die bleierne Zeit der Metternich'schen Repression, aus der sich die Dichter hinausträumen; die tieftraurige Musik eines Franz Schubert reflektiert dieses Elend, wortlos, wahrhaftig.

Die Dichter blenden die Wirklichkeit der sozialen Not und der politischen Repression aus. Es geht ihnen um den inneren Menschen, um die Erweiterung des Bewusstseins: Die Poesie wird alles richten. Und da die Realität des Tags zu hart ist, tauchen sie in die mystische Sphäre der Nacht ein. Und sie haben dabei wunderbare Schöpfungen deutscher Sprache hervorgebracht.

Der entlaufene Romantiker

So auch Heine, und doch auch nicht mehr. Er zieht sich nicht in das Innere zurück, sondern - als Jude von Diskriminierungen selbst früh gedemütigt und daher mit scharfem Blick für alles Unrecht begabt - richtet den Blick auf die politische Unterdrückung und das soziale Elend der sich herausbildenden Arbeiterklasse. Hat er als junger Schriftsteller schon in Berlin in den literarischen Salons der Rahel Varnhagen und anderer verkehrt, so sucht er nun den Kontakt zu kritischen Intellektuellen, lernt Marx, Engels, Lassalle, den Kreis der Frühsozialisten um Saint-Simon kennen, arbeitet an Marxens Zeitschriften Vorwärts! und den Deutsch-Französischen Jahrbüchern mit. Er hat einen scharfen Intellekt, aber theoretische Reflexionen liegen ihm nicht, viel eher sind es Satire und Polemik, die er in Verse und Prosa kleidet, scharfzüngig, ironisch, zuweilen bösartig, aber immer elegant. Das bringt Zensur und Geheimdienst auf den Plan, und von den zunehmenden Repressionen und antisemitischen Anfeindungen zermürbt, geht Heine 1831 nach Paris ins Exil.

Zwölf Jahre später kehrt er nach Deutschland zurück. Die Verhältnisse, auf die er hier trifft, beschreibt er in seinem Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen. Zunächst überkommt ihn Rührung, als er beim Grenzübertritt die deutsche Sprache wieder hört. Doch das gibt sich bald, als er gleich danach ein Mädchen mit wahrem Gefühle und falscher Stimme eine fromme Weise singen hört: Sie sang das alte Entsagungslied, / Das Eiapopeia vom Himmel, / Womit man einlullt, wenn es greint, / Das Volk, den großen Lümmel. Die Weise, stellt er sarkastisch fest, sei ihm allzu bekannt, und hält dagegen: Ein besseres Lied / O Freunde, will ich euch dichten, / Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten. Denn der Reichtum der Erde ist ungerecht verteilt, weil eine herrschende Klasse ihn auf Kosten der unteren Klassen sich aneignet: Es wächst hienieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, / Auch Rosen und Myrten, / Schönheit und Lust, / Und Zuckererbsen nicht minder. / Ja, Zuckererbsen für jedermann, / Sobald die Schoten platzen! / Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen. Um wie viel mehr gälte das, was vor zweihundert Jahren eine Utopie war, in Anbetracht hochentwickelter Produktivkräfte für unsere Zeit!

Seine Kritik steigert sich zur Empörung und Auflehnung. Anstoß dazu gibt der Aufstand der schlesischen Weber 1844. In der Konkurrenz mit billiger und in besserer Qualität produzierter Ware aus England und durch die Veränderung der Produktionsstruktur - die bis dahin selbständigen Handwerker wurden zu Lohnarbeitern - gerieten die Weber in eine Armut, die sogar zu Hungerrevolten führte. Der Aufstand, oft herablassend als "Maschinenstürmerei" bespöttelt, richtet sich nicht gegen die Maschinen selbst, von denen es bislang nur wenige gibt, sondern gegen die ausbeuterischen Lohndiktate der Verleger. Er wird schließlich vom preußischen Militär niedergeschlagen; viele Weber kommen ins Zuchthaus, andere wandern nach Amerika aus.

Mit heißem Herzen ...

Zornbebend - und diesmal nicht mit dem Florett, sondern mit dem Säbel - schreibt Heine ein Gedicht, das später als Weberlied berühmt wird. Marx veröffentlicht es im Vorwärts!, 50.000 Flugblätter mit dem Lied werden in den Aufstandsgebieten verteilt, Engels übersetzt es ins Englische. Der preußische Innenminister bezeichnet es in einem Bericht an König Friedrich Wilhelm IV. als "eine in aufrührerischem Ton gehaltene und mit verbrecherischen Äußerungen angefüllte Ansprache an die Armen im Volke" und lässt es verbieten; einer, der das Weberlied öffentlich rezitiert, landet im Zuchthaus. Heine ist in Paris und in Sicherheit.


Die schlesischen Weber

Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne;
Deutschland, wir weben dein Leichentuch.
Wir weben hinein den dreifachen Fluch -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
In Winterkälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpresst
Und uns wie Hunde erschießen lässt -
Wir weben, wir weben!
(...)
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht -
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
Wir weben, wir weben!

Der Text ist meisterhaft gebaut: wuchtig der Gleichlauf der Sätze, hämmernd die Jamben, bohrend die den Takt des Webstuhls nachahmende Formel Wir weben, wir weben, die jede Strophe drohend abschließt, denn es ist Deutschlands Leichentuch, das hier gewebt wird - wohlgemerkt Altdeutschlands, so nennt Heine dieses feudal-reaktionäre, unterdrückerische Deutschland, auf das er den Fluch schleudern lässt. Das Gedicht ist grandios: zornerfüllt, staatsfeindlich, blasphemisch. Gleichwohl ist es unzulänglich, denn es verharrt im Moralischen, die politisch-ökonomische Dimension bleibt verschlossen.


... und kühlem Blick

Da ist ein anderes Gedicht, im Ton einer Ballade gehalten, von anderem Format. Heine schreibt es im Jahr 1854, in den meisten Werkausgaben fehlt es (die des Aufbau-Verlags aus DDR-Zeiten hat es). Es ist ein Gedicht von der Art, die zu erklären vermag, warum die Benennung der neugegründeten Düsseldorfer Universität nach dem in Düsseldorf geborenen Heinrich Heine seitens des Senats der Universität und politischer Kreise auf Ablehnung stieß. Der Streit begann 1972 und endete 1988. Ein prächtiges Sujet für Heines Spottlust, wobei zu fragen ist, ob er überhaupt interessiert gewesen wäre, seinen Namen für eine Universität herzugeben, wo er für die in Göttingen doch nur Hohn übrig hatte. Aber hier nun, leicht gekürzt, die Ballade:


Das Sklavenschiff

I

Der Superkargo Mynheer van Koek
Sitzt rechnend in seiner Kajüte;
Er kalkuliert der Ladung Betrag
Und die probabeln Profite.

"Der Gummi ist gut, der Pfeffer ist gut,
Dreihundert Säcke und Fässer;
Ich habe Goldstaub und Elfenbein -
Die schwarze Ware ist besser!

Sechshundert Neger tauschte ich ein
Spottwohlfeil am Senegalflusse.
Das Fleisch ist hart, die Sehnen sind stramm,
Wie Eisen vom besten Gusse.

Ich hab zum Tausche Branntewein,
Glasperlen und Stahlzeug gegeben;
Gewinne daran achthundert Prozent,
Bleibt mir die Hälfte am Leben.

Bleiben mir Neger dreihundert nur
Im Hafen von Rio-Janeiro,
Zahlt dort mir hundert Dukaten per Stück
Das Haus Gonzales Perreiro."

Da plötzlich wird Mynheer van Koek
Aus seinen Gedanken gerissen;
Der Schiffschirurgius tritt herein,
Der Doktor van der Smissen.

Das ist eine klapperdürre Figur,
Die Nase voll roter Warzen -
"Nun, Wasserfeldscherer", ruft van Koek,
"Wie geht's meinen lieben Schwarzen?"

Der Doktor dankt der Nachfrage und spricht:
"Ich bin zu melden gekommen,
Dass heute Nacht die Sterblichkeit
Bedeutend zugenommen.

Im Durchschnitt starben täglich zwei,
Doch heute starben sieben,
Vier Männer, drei Frauen - ich hab den Verlust
Sogleich in die Kladde geschrieben.

Ich inspizierte die Leichen genau;
Denn diese Schelme stellen
Sich manchmal tot, damit man sie
Hinabwirft in die Wellen.

Ich nahm den Toten die Eisen ab;
Und wie ich gewöhnlich tue,
Ich ließ die Leichen werfen ins Meer
Des Morgens in der Fruhe.

Es schossen alsbald hervor aus der Flut
Haifische, ganze Heere,
Sie lieben so sehr das Negerfleisch;
Das sind meine Pensionäre.

Sie folgten unseres Schiffes Spur,
Seit wir verlassen die Küste;
Die Bestien wittern den Leichengeruch
Mit schnupperndem Fraßgelüste.

Es ist possierlich anzusehn,
Wie sie nach den Toten schnappen!
Die fasst den Kopf, die fasst das Bein,
Die andern schlucken die Lappen.

Ist alles verschlungen, dann tummeln sie sich
Vergnügt um des Schiffes Planken
Und glotzen mich an, als wollten sie
Sich für das Frühstück bedanken."

Doch seufzend fällt ihm in die Red'
Van Koek: "Wie kann ich lindern
Das Übel? Wie kann ich die Progression
Der Sterblichkeit verhindern?"

Der Doktor erwidert: "Durch eigne Schuld
Sind viele Schwarze gestorben;
Ihr schlechter Odem hat die Luft
Im Schiffsraum so sehr verdorben.

Auch starben viele durch Melancholie,
Dieweil sie sich tödlich langweilen;
Durch etwas Luft, Musik und Tanz
Läßt sich die Krankheit heilen."

Da ruft van Koek: "Ein guter Rat!
Mein teurer Wasserfeldscherer
Ist klug wie Aristoteles,
Des Alexanders Lehrer.
(...)
Musik! Musik! Die Schwarzen soll'n
Hier auf dem Verdecke tanzen.
Und wer sich beim Hopsen nicht amüsiert,
Den soll die Peitsche kuranzen."

II

Hoch aus dem blauen Himmelszelt
Viel tausend Sterne schauen,
Sehnsüchtig glänzend, groß und klug,
Wie Augen von schönen Frauen.

Sie blicken hinunter in das Meer,
Das weithin überzogen
Mit phosphorstrahlendem Purpurduft;
Wollüstig girren die Wogen.

Kein Segel flattert am Sklavenschiff,
Es liegt wie abgetakelt;
Doch schimmern Laternen auf dem Verdeck,
Wo Tanzmusik spektakelt.

Die Fiedel streicht der Steuermann,
Der Koch, der spielt die Flöte,
Ein Schiffsjung' schlägt die Trommel dazu,
Der Doktor bläst die Trompete.

Wohl hundert Neger, Männer und Fraun,
Sie jauchzen und hopsen und kreisen
Wie toll herum; bei jedem Sprung
Taktmäßig klirren die Eisen.

Sie stampfen den Boden mit tobender Lust,
Und manche schwarze Schöne
Umschlinget wollüstig den nackten Genoss' -
Dazwischen ächzende Töne.

Der Büttel ist Maître des plaisirs,
Und hat mit Peitschenhieben
Die lässigen Tänzer stimuliert,
Zum Frohsinn angetrieben.

Und Dideldumdei und Schnedderedeng!
Der Lärm lockt aus den Tiefen
Die Ungetüme der Wasserwelt,
Die dort blödsinnig schliefen.

Schlaftrunken kommen geschwommen heran
Haifische, viele hundert;
Sie glotzen nach dem Schiff hinauf,
Sie sind verdutzt, verwundert.

Sie merken, dass die Frühstückstund'
Noch nicht gekommen, und gähnen,
Aufsperrend den Rachen; die Kiefer sind
Bepflanzt mit Sägezähnen.

Und Dideldumdei und Schnedderedeng -
Es nehmen kein Ende die Tänze.
Die Haifische beißen vor Ungeduld
Sich selber in die Schwänze.
(...)
Und Schnedderedeng und Dideldumdei -
Die Tänze nehmen kein Ende.
Am Fockmast steht Mynheer van Koek
Und faltet betend die Hände:

"Um Christi willen verschone, o Herr,
Das Leben der schwarzen Sünder!
Erzürnten sie dich, so weißt du ja,
Sie sind so dumm wie die Rinder.

Verschone ihr Leben um Christi will'n,
Der für uns alle gestorben!
Denn bleiben mir nicht dreihundert Stück,
So ist mein Geschäft verdorben."


Diese Ballade - in einem teils geschäftsmäßig nüchternen, teils in einem von Rendite-Erwartung optimistisch bewegten Ton gehalten, dazu mit romantischen Versatzstücken behängt - diese Ballade verschlägt einem die Sprache. Löst das Weberlied im Leser moralische Empörung aus, so lässt diese Ballade ihn in stummer Verstörung zurück. Wie kommt das? Sehen wir uns das Gedicht genauer an!

Gewinn- und Verlustrechnung

Die ersten fünf Strophen bestehen aus einer nüchternen Kalkulation: Der Kaufmann Mynheer van Koek überschlägt sein Wareninventar und berechnet die Gewinnaussichten, die probablen Profite. Aus Afrika importiert er verschiedene Waren: Gummi, Pfeffer, Gold, Elfenbein, und deren Rendite schätzt er als gut ein. Mehr Profit freilich verspricht er sich von einer anderen Ware. Es ist schwarze Ware, die er spottwohlfeil gegen Plunder wie Glasperlen, Branntewein, Stahlzeug eingetauscht hat, Menschenware von bester Qualität, wie er schwärmt: Das Fleisch ist hart, die Sehnen stramm, / wie Eisen vom besten Gusse.

Von dieser Ware hat er sechshundert Stück gelagert. Wie eine solche Lagerung aussieht, kann man am Belegungsplan eines Sklavenschiffs studieren, wo jeder Quadratmeter im Unterdeck optimal ausgenutzt ist, siehe etwa: de.wikipedia.org/wiki/Sklavenschiff oder de.wikipedia.org/wiki/Atlantischer_Sklavenhandel.

Das Problem mit dieser Ware ist allerdings, dass sie leicht verderblich ist. Das hat Mynheer van Koek als vorausschauender Kaufmann natürlich schon einkalkuliert. Die Hälfte hat er von vornherein als Verlust abgeschrieben, aber selbst dann bleibt ihm ein immenser Gewinn: (ich) Gewinne daran achthundert Prozent, / bleibt mir die Hälfte am Leben.

Gewinnwarnung

Doch reißt ihn eine alarmierende Nachricht aus seinen Renditeträumen. Die überbringt der Schiffsarzt, der eine dramatische Mortalitätsrate feststellen muss: Während durchschnittlich vertretbare zwei Warenexemplare pro Tag starben, so ist über Nacht die Zahl auf sieben gestiegen. Der Doktor hat das gewissenhaft überprüft: Denn diese Schelme stellen / sich manchmal tot, damit man sie / hinabwirft in die Wellen. Diese arbeitsscheuen Afrikaner ziehen es offenbar vor, eher von Haien gefressen zu werden, als einen Job auf einer Plantage zu übernehmen. Dabei verliert sich der Medikus in eine genüssliche Beschreibung der Haimahlzeiten: Denn die Haie lieben so sehr das Negerfleisch, und es sei possierlich anzusehn, / wie sie nach den Toten schnappen und nach erfolgter Sättigung zu ihm hochschauen, als wollten sie / sich für das Frühstück bedanken.

Für des Arztes idyllische Betrachtungen hat Mynheer van Koek freilich kein Ohr. Ihn bekümmert die Sorge um das Geschäft: Wie kann ich lindern / das Übel? Wie kann ich die Progression / der Sterblichkeit verhindern? Die Progression - nüchterner und präziser kann man den Sachverhalt nicht ausdrücken.

Doch der Doktor hat sowohl Diagnose als auch Therapie parat. Die Schwarzen sind selber schuld, denn ihr schlechter Odem hat die Luft / im Schiffsraum so sehr verdorben. Er baut hier aufmunternd einen Scherz ein, indem er statt "Atem" das (von Luther geprägte) feierliche Wort "Odem" gebraucht. Als Therapie empfiehlt er die Zufuhr von Frischluft; und weil manche wohl durch Melancholie gestorben sind, da sie sich auf der langen Überfahrt tödlich langweilen, soll ein wenig Bewegung durch Musik und Tanz ihre Lebensgeister wieder auffrischen. Das gefällt dem Mynheer van Koek ausnehmend gut, und wer von der schwarzen Ware, so verfügt er, qualitätsmindernd und damit geschäftsschädigend seine Heilung hintertreiben sollte, indem er sich beim Hopsen nicht amüsiert, / den soll die Peitsche kuranzen (i.e. prügeln).

Romantik als Ramsch

Für die Darstellung des vom Schiffsherrn angeordneten Tanzvergnügens greift Heine generös in die Kiste der romantischen Requisiten. Es ist wie beim Schlussverkauf: Alles muss raus! (Nur dass wegen des Hochseemilieus die abgenutzten Veilchen, Rosen und Lilien leider nicht dabeisein können.) Der Himmel über dem Meer wird zum blauen Himmelszelt verklärt, aus dem viel tausend Sterne schauen, / sehnsüchtig glänzend ... wie Augen von schönen Frauen; das Meer ist überzogen mit phosphorstrahlendem Purpurduft, und die Wogen girren wollüstig. Auf dem Deck schimmern Laternen, Tanzmusik spektakelt, und das Schiffspersonal stellt das Orchester. Ein Offizier gibt den Maître des plaisirs und stimuliert mit der Peitsche diejenigen Warenträger, die bei diesem Fitnesstraining zur Optimierung ihrer Vernutzung nicht motiviert genug mitmachen.

So wird auf dem Schiffsdeck eine Danse macabre inszeniert: Die Schwarzen jauchzen und hopsen und kreisen / wie toll herum; die Musik macht fröhlich Dideldumdei und Schnedderedeng, und bei jedem Sprung klirren die Eisen, nämlich die Fußketten, die den Rhythmus der Tanzenden gleichsam instrumental begleiten. Mynheer van Koek sieht dem Schauspiel ergriffen zu. Hoffnung, dass seine Ware nicht verderbe, erfasst ihn, und in frommer Rührung ruft er um der Erlösungstat Jesu Christi willen, der für uns alle gestorben, Gott den Herrn an, das Leben dieser schwarzen Sünder zu verschonen, denn - so fleht er - bleiben mir nicht dreihundert Stück, / so ist mein Geschäft verdorben.


Die Hölle ist kalt

Es ist davon auszugehen, dass Mynheer van Koek ein frommer Mann und sein Gebet ernst und wahrhaftig ist. Die Frage, die sich nun stellt, lautet: Ist Mynheer van Koek ein böser Mensch?

Er ist es nicht. Ganz und gar nicht. Er hat als Geschäftsmann im "stählernen Gehäuse der Rationalität" (M. Weber) Wohn- und Arbeitsräume bezogen und handelt gewissenhaft nach der hier geltenden Hausordnung. Es sind die Normen betriebswirtschaftlicher Rationalität, die er in der unerbittlichen Marktkonkurrenz befolgen muss, will er nicht obdachlos werden.

Dasselbe gilt analog für die unwillig sich gebärdenden Schwarzen, denen diese Normen mit der Peitsche in Haut und Hirn eingraviert werden müssen. Sie gelten ja als Menschenspezies niederer Ordnung: Große Philosophen wie Kant und Hegel haben das unfehlbar festgestellt, die Deklaration der Menschenrechte 1776 in den Vereinigten Staaten von Amerika und 1791 in Frankreich gilt praktischerweise nicht für Schwarze (und übrigens auch nicht für Frauen), und die zeitgenössische Rassenforschung hat die Rangordnung schließlich auf eine solide wissenschaftliche Basis gestellt. Schwarze sind demnach, wie Mynheer van Koek feststellt, ohnehin nur dumm wie die Rinder. Deshalb kann man ihnen die Unterwerfung unter die Normen kapitalistischer Zwänge - wie den Lohnarbeitern - auch nicht bequem als freie Vertragsvereinbarung unter gleichen Sozialpartnern vortäuschen. Haben die Lohnarbeiter mittlerweile den "stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse" (Marx) verinnerlicht, so muss dieser bei den zivilisatorisch unterentwickelten Schwarzen noch unmittelbar an deren Körpern praktiziert werden: mit Halseisen, Fußketten, Peitschen, Brandeisen.

Heines Weberlied bezieht seine Wirkung aus dem moralischen Zorn, der in ihm lodert. Anders - und ungleich größer - ist die Wirkung des Sklavenschiffs. Heine wertet und moralisiert nicht, er analysiert, oder genauer: lässt analysieren. Sein poetisches Verfahren ist, den Leser in die Figur des Mynheer van Koek hineinzuversetzen, mit ihm dessen nüchterne Analyse und Kalkulation zu vollziehen und dabei zu erkennen: Das bist du selbst.

Es ist diese Kälte der kapitalistischen Rationalität, in deren stählernem Gehäuse wir selbst eingesperrt sind und die uns beim Lesen erstarren lässt. Die romantischen Bilder, die das Ganze gespenstisch drapieren, sind die grelle Schlusskadenz, mit der Heine die romantische Traummusik von der Poetisierung der Welt dissonantisch abstürzen lässt. Da ist kein Eichendorff'sches "Zauberwort" mehr, das die Welt "zum Singen" bringt, sondern nur der Schrei der Entrechteten und Gequälten. Aber ein anderer ist an Heines Seite auf den Plan getreten, fordernd, die "versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zu zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt". (Karl M.: Zur Kritik der Hegel'schen Rechtsphilosopie. Einleitung. MEW I, 381)

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Symmetrische und asymmetrische Kriege
Teil II - Von Merkel, Counterinsurgency und Dschihad

von Uwe von Bescherer

"Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist"
(Bach-Cantate)

Die Warensubjektivität beinhaltet das emotionale Manko der Vereinzelung und der Einsamkeit wie auch einen aggressiven Allmachtsanspruch. Beides erzeugt den Wunsch nach einer starken Gemeinschaft. Im Kleinen verwirklicht sich dieses Bedürfnis z.B. in der Begeisterung für den Fußballverein oder im Stolz auf "seine" Firma. Die abstrakte Allgemeinheit des Staates bietet darüber hinaus eine ideale Projektionsfläche zur Imagination einer homogenen Meta-Gemeinschaft. In ihr scheinen Vereinzelung und wechselseitige Instrumentalisierung aufgehoben zu sein. Die Identifikation mit dem Repräsentanten des großen Ganzen lässt die Nation zum "Vaterland" und die Mitmenschen zum "Volk" werden.

Der Wunsch des Einzelnen nach gemeinschaftlicher Stärke und Aufgehobenheit führt umso gelungener zur Akzeptanz des Modells "kapitalistische Wirtschaftsnation" und zu kapitalkonformer Loyalität, je weniger die hässlichen Konsequenzen der auf sich selbst bezogenen Geldbewegung ins Bewusstsein gelangen.

"We are the Champions" (Queen)

Ob in Israel, in Amerika oder innerhalb Europas: Die Bilder eines Deutschlands, in dem jubelnde Menschen Flüchtlinge willkommen heißen und mit Spenden überhäufen, gingen um die Welt. Mit den Worten: "Für mich gehört es zur grundlegenden Menschlichkeit unseres Landes, dass man einem Flüchtling wie jedem anderen Menschen erst einmal freundlich entgegentritt", verkörperte Kanzlerin Merkel das "sympathische Gesicht" einer Bundesrepublik, die Flüchtlingen ihre Tore öffnet.

Verwunderung sollte das schon hervorrufen. Ist das die gleiche Angela Merkel, die ihren Vorgänger Gerhard Schröder für seine Agenda 2010 in den höchsten Tönen lobt, mit ihrer CDU eine verschärfte marktradikale Politik zulasten der deutschen Bevölkerung vorantreibt, die Multikulti für absolut gescheitert erklärt und die Abschottung Deutschlands mit Hilfe der Dublin-Regelungen vertritt? Wo ist die "Eiserne Kanzlerin" geblieben, die das Projekt eines hegemonialen Deutschlands in Europa mit einer rigiden Austeritätspolitik gegenüber den südeuropäischen Krisenländern verbindet und dafür in diesen Ländern wahlweise mit Pickelhaube, Hitlerbärtchen, Hakenkreuzbinde oder in Naziuniform abgebildet wird? Was ist mit der "gefährlichsten Politikerin Europas" (Alexis Tsipras) geschehen, die in den Krisenstaaten humanitäre Katastrophen anrichtet?

Mit ihrem Finger auf das C ihrer Partei weisend zieht die Kanzlerin zur Erklärung ihrer überraschenden Flüchtlingspolitik die humanitären Werte Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit aus dem Hut und begründet mit ihnen ihr neues Image "Mama Merkel, die Gütige". Untermauert und verfestigt wird dieses Bild durch ihre magische Formel "Wir schaffen das", die sie mit einer "Willkommenskultur" verknüpft und hierarchisch abwärts bis hinunter zu den Ortsvorstehern als verpflichtend verordnet.

Genauer betrachtet enthüllt sich dieses Spektakel als counterinsurgency - als Paradebeispiel eines Akts professioneller Menschenführung, das den Interessen "Deutschlands" dient und gleichzeitig den Blick auf das reale Weltgeschehen verstellt.

Die Formulierung "Wir schaffen das" ist eine alltägliche Wortkombination. Wenn aber die Regierungschefin Deutschlands diese Worte als Mantra für alle Staatsbürger ausgibt, so gewinnen sie an Bedeutungstiefe. Mit "Wir" spricht Angela Merkel "ihr Volk" an, das sich von einem nationalen Standpunkt aus ihrem Ansinnen wohlwollend öffnen soll. Damit spaltet sie die deutsche Nation zwar in "Gutmenschen", die die Weltoffenheit und Mitmenschlichkeit Deutschlands feiern, und in "Pegidapack", das sich Sorgen um "Deutschland!" macht. Zusammen aber feiern sie Deutschland, ohne es zu merken. Eine Geisteshaltung, die dem nationalen Standpunkt nichts abgewinnen kann, weil sie die Aufteilung der Welt in Nationen für ein Grundübel der heutigen globalen Misere hält, ist zur Feier nicht erwünscht und auch nicht eingeladen.

"Wir schaffen das": Syrer selbst stellen mitunter die Frage, warum ihnen die deutsche Regierung auf der einen Seite Asyl zusichert, ihnen aber gleichzeitig die Visa verweigert, mit denen sie ganz normal einreisen könnten. Faktisch wirken die riskante Überquerung des Mittelmeers und die strapaziöse wie erniedrigende Tour durch den Balkan als Selektionsverfahren. Alte und Kranke werden durch die körperliche Anstrengung der Flucht von vornherein aussortiert, und die hohen Beträge, die für Schlepper gezahlt werden müssen, sondern all jene aus, die den ärmeren Schichten angehören.

"Wir schaffen das": Die Vielen in der BRD ankommenden Flüchtlinge stoßen auf eine arbeitende Bevölkerung, die unter dem Eindruck der Ereignisse feststellen muss, dass eine millionenstarke Sockelarbeitslosigkeit, Hartz IV, Sozialwohnungen, Kinder- und Altersarmut etc. nicht den Bodensatz an Lebensqualität bedeuten, sondern dass sich darunter ungeahnte Abgründe auftun. Diese Erkenntnis verhilft vielen zu noch mehr Stolz auf Deutschland. Dumm nur, dass durch die neue Situation eine virulente Intensivierung der Konkurrenz um Arbeitsplätze, Wohnraum und Sozialleistungen eingeleitet wird, die einzig und allein der internationalen "Wettbewerbsfähigkeit" deutschen Kapitals dient.

Kill the Poor" (Dead Kennedys)

Warum bekommen nur Syrer und Iraker von Merkel christliche Zuwendung und Zusicherung des Asyls. Was ist mit den vielen anderen, von denen so verdächtig selten zu hören ist? Was ist z.B. mit den Hungernden dieser Welt, die die Lazarusschicht der Menschheit bilden? Fast eine Milliarde Menschen sind chronisch schwer unterernährt. Alle fünf Sekunden verhungert auf dieser Erde ein Kind unter zehn Jahren und zig-tausende Menschen sterben täglich an Unterernährung oder ihren unmittelbaren Folgen. Wenn auch in früheren Zeiten die Fatalität von Umständen wie Dürre, Missernten und anderen Naturkatastrophen zum unausweichlichen Hungertod vieler Menschen führte, so leben wir schon seit vielen Jahrzehnten in einer Zeit, in der für die ganze Menschheit genug Lebensmittel hergestellt werden. Dementsprechend ist das Recht auf Nahrung, zutreffender Recht auf angemessene Ernährung genannt, als Menschenrecht völkerrechtlich verankert. Der Hunger dieser Welt ist kein schicksalhaftes Unglück mehr, sondern ein Verbrechen.

Die Hungernden sind Opfer der Machenschaften eines globalisierten Kapitalismus, der seine Problematik selbst nicht begreift oder nicht begreifen will. Ein Beispiel dazu: Peter Brabeck, 2015 Vorstandsvorsitzender der Firma Nestle, will die äthiopischen Kaffeebauern mit seiner Kaffeepreispolitik doch nicht in den Hungertod treiben! Er sieht sich nur in Verantwortung gegenüber "seiner" Firma. Unter dem Druck der internationalen Konkurrenz und dem Imperativ der Profitmaximierung muss er selbstverständlich die Produktionskosten senken.

Die Repräsentanten der "erfolgreichen" westlichen Welt verneigen sich vor der Funktionslogik des Kapitals und verschließen ihre Augen vor dem von ihr bewirkten Leid. Menschenrechte interessieren sie nicht wirklich und "Humanität" wird letztlich nur für sich selbst und seinesgleichen eingefordert.

Gimme Hope" (Eddy Grant)

Die falsche Moral, derer sich Angela Merkel bedient, hat eine lange Tradition und musste unter den Titeln "Humanismus" und "Zivilisierung" als Beleg einer kulturellen Höherwertigkeit schon zur Rechtfertigung der Kolonialverbrechen herhalten. Seine größte Ausbreitung fand der Kolonialismus in der Zeit um den Ersten Weltkrieg. 68 Prozent der Fläche des Weltterritoriums bestand zu dieser Zeit aus Kolonien und 60 Prozent aller Menschen waren kolonisiert. Koloniale Herrschaft resultierte einzig und allein aus militärtechnischer Überlegenheit. Das Interesse der Kolonialmächte an den Naturressourcen und der Arbeitskraft der kolonisierten Länder überzog die Unterjochten mit Gewalt, Abwertung und Demütigung, Sklaverei und Völkermord inbegriffen.

Zahlreiche kolonisierte Gesellschaften veränderten sich im Zuge der Fremdherrschaft und der Ausrichtung ihrer Wirtschaft an den Bedürfnissen der Metropolen nachhaltig. Die Menschen wurden aus ihrem traditionellen Sozialgefüge herausgebrochen, ihre früheren wirtschaftlichen Funktionsräume zerstört. Nach dem Zweiten Weltkrieg beendete eine durch Kriege erzwungene Entkolonialisierungswelle die koloniale Ausbeutungspraxis der westlichen Herrschaft. In zeitlicher Hinsicht liegen die Grauen des Kolonialismus den ehemals Kolonisierten mithin näher als den Deutschen das Dritte Reich.

Durch nationalstaatliche Formierung versuchten die ehemaligen Kolonien, die Entwicklung der Produktivkräfte voranzutreiben und den Motor der Reichtumsproduktion durch Vernutzung von Arbeitskraft anzuwerfen. Die gesellschaftliche Reproduktion stellte sich im Voranschreiten dieses Bestrebens zunehmend auf die Basis von Arbeitskraft und Geldeinkommen um, die gesellschaftlichen Strukturen wurden von neuen, versachlichten Herrschaftsbeziehungen durchzogen. Im Prozess der Durchsetzung wertgesellschaftlicher Rationalität entstand auch in den ehemaligen Kolonialgebieten die massenhafte Warensubjektivität mit ihren zwei typischen ineinander verflochtenen Seelen: die abstrakte Privatheit als Einzelwille und dessen Allmachtsanspruch im "nationalen Wir".

Die Hoffnungen auf "Wohlstand für alle" ließen sich für die vom kolonialen Joch Befreiten nicht einlösen. Die global sich durchsetzende dritte industrielle Revolution läutete mit dem historischen Rückgang der abstrakten "Arbeits"-Substanz das Ende der Entwicklungs- und Expansionsfähigkeit des Kapitalismus überhaupt ein. Infolgedessen segmentiert sich die Welt heutzutage zunehmend in hochproduktive Kernregionen mit einer wachsenden Zahl "überflüssiger" Menschen und in generell marginalisierte Armuts-und Elendssektoren. Letztere umfassen die meisten ehemaligen Kolonialgebiete.

Die Versuche der nachholenden Modernisierung brachten den früheren Kolonien kein System von Massenproduktion, Massenarbeit und Massenkonsum, sondern eines von Massenarmut und Ausgrenzung von der Warenwelt. An die Existenz als Warensubjekte adaptiert, finden sich die Menschen wieder in prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen ohne persönliche und kollektive Perspektive. Mit dem einen Auge ängstlich auf die Lazarusschicht der Menschheit blickend, mit dem anderen Auge ihre Ausgeschlossenheit von den Segnungen "westlichen" Reichtums realisierend, kann sie die Imagination einer starken Gemeinschaft in Form der "Nation" nur noch enttäuschen.

Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht, aha" (Trio)

Im Prozess der Dekolonialisierung errangen nationalistisch-separatistische Freiheits- und Widerstandskämpfer nach dem Zweiten Weltkrieg Siege gegen militärisch und technologisch weit überlegene Kolonialmächte. Sie konnten sich damals schon auf eine Theorie des Befreiungskrieges und Insurgency-Strategien stützen. Mao Zedong z.B. erkannte und erklärte als Führer eines Partisanenkriegs die militärische Bedeutung der "Asymmetrien" für die schwächere und eigentlich unterlegene Kriegspartei: die Asymmetrie des Raumes, indem sie ihre Kräfte über die gesamte Weite des Terrains verteilt und sich ohne Entscheidungsschlachten in diese Weite zurückzieht, die Asymmetrie der Zeit, indem sie den Kampf anhaltend in die Länge zieht und die Asymmetrie der Unterstützung, indem sie mit der Bevölkerung ein Verhältnis wie ein Fisch im Wasser eingeht, statt Grenzen zwischen Soldaten und Zivilisten aufrechtzuerhalten und anzuerkennen. Dazu gesellt sich die Asymmetrie der Entschlossenheit, für die die Bereitschaft, Verluste einschließlich des eigenen Todes hinzunehmen, ein Gradmesser ist.

Die ehemaligen Kolonialmächte verfügen bis heute über keine Antennen, die für die Ursachen der asymmetrischen Kriege als hässlicher Rückseite der gleichen Medaille empfänglich sind, an deren Vorderseite sie sich mit ihrer Ideologie von Freiheit und Menschenrechten so gern erfreuen. Die zwangsläufigen Opfer der weltweiten Art kapitalistischen Wirtschaftens werden stattdessen je nachdem als Versager, Störfaktoren oder Feinde identifiziert. Im Zweifelsfall wird militärisch gegen sie vorgegangen. Bis heute führt die Frage, warum schwache militärische Gegner sich immer wieder so robust gegen die kriegerische Potenz großer Nationen zur Wehr setzen können, unter westlichen Militärexperten zu kontroversen Diskussionen.

Wo militärische Mittel der konventionellen Kriegsführung nicht zum Erfolg führen, greifen die Westmächte auf counterinsurgency-Strategien zurück - eine Aufstandsbekämpfung, die sich nicht, wie gegenüber der eigenen Bevölkerung, auf prophylaktische Maßnahmen beschränkt. Die Greueltaten des US-Militärs während des Vietnamkriegs z.B. dokumentieren, wie sich zum Standardprogramm militärischer Operationen Folterungen durch Waterboarding, Elektroschocks und Vergewaltigungen sowie Massaker an Frauen, Kindern, Alten und Gefangenen hinzuaddieren. Außerdem versuchen vor allem die USA, ihre eigenen militärischen Vorgehensweisen durch den Einsatz neuer Produkte aus Wissenschaft und Forschung zu flexibilisieren. Gegen die berühmten Ho-Chi-Minh-Pfade - mehr als 2000 Kilometer lange, teils unterirdische Dschungelpfade als militärische Infrastruktur - entwickelten sie das dioxinhaltige Entlaubungsgift Agent Orange, unter dessen Spätfolgen die Vietnamesen noch über Generationen leiden werden. Für die Kriegsszenarien der Gegenwart, die eher in Wüsten- und Gebirgslandschaften anzutreffen sind, entwarfen die Militärdesigner die Drohnen-Technologie. Drohnen mit markanten Namen wie Predator (Raubtier) oder Reaper (Sensenmann) sind ferngesteuerte Flugkörper, die ausgerüstet mit hocheffektiven Beobachtungssystemen und bestückt mit panzerbrechenden "Hellfire Missiles" versteckte Feinde auffinden und eliminieren ("find, fix, finish"). Aus Versehen werden dabei hauptsächlich Zivilisten ermordet.

Spätestens seit dem Vietnamkrieg, der als erster Fernsehkrieg bezeichnet wurde, werden von beiden Seiten asymmetrischer Kriegsführung Informationen, Desinformationen und insbesondere Bilder als Waffen globaler Reichweite und massiver Wirkung eingesetzt. Darüber hinaus kommt den Handykameras und Blogs der dezentral vernetzten Internetnutzer wachsende Bedeutung zu.

Boom, Boom, Boom, Boom" (John Lee Hooker)

Seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York und Washington und dem von Präsident Bush ausgerufenen "Krieg gegen den Terror" haben die USA in sieben Staaten der islamischen Welt militärisch eingegriffen: Afghanistan, Irak, Somalia, Jemen, Pakistan, Libyen und Syrien. Diese Interventionen waren von unterschiedlicher Intensität und Tragweite, haben jedoch insgesamt zweierlei bewirkt: Sie haben den Untergang ganzer Staaten ausgelöst oder vorangetrieben und zum Erstarken radikaler islamischer Bewegungen maßgeblich beigetragen, von den Taliban und der Al-Qaida bis hin zum "Islamischen Staat".

In dem Szenario asymmetrischer Kriege treffen drei Krisenerscheinungen der warengesellschaftlichen Moderne aufeinander, durchdringen und potenzieren sich gegenseitig. Als erstes ist der Amoklauf der USA zu nennen, der sich - das Ende der kapitalistischen Verbrennungskultur vor Augen - mit Rückendeckung "williger Helfer" aus der NATO einen ungehinderten Zugang zu den Ölquellen des Nahen Ostens sichern will. Darüber hinaus betreibt das Pentagon eine Hegemonialisierung der Welt, im Zuge derer Afghanistan ins Fadenkreuz des US-Militärs geriet. Mit ihrem kriegerischen Vorgehen produzierte die US-Army im Nahen wie im Mittleren Osten Armut, Leid, Verbitterung und das massenhafte Phänomen der "Entwurzelung". Zerbombt wurden nicht nur die Hoffnungen und Perspektiven der Menschen auf eine lebenswerte Zukunft, sondern auch die Identität mit der Meta-Gemeinschaft "Nation".

Heute wird oft von scheiternden Staaten geredet. Ein Krieg oder andere Interventionen fremder Mächte können zu einer Destabilisierung oder zum Kollabieren eines Staates führen, das Scheitern eines Staates hängt aber primär mit einer mangelhaften Wirtschaftsleistung zusammen, die nicht in der Lage ist, eine tragfähige Basis für die notwendigen Strukturen eines Staates zu bilden. In die entstehenden staatlichen Leerräume drängen sich Warlordfigurationen, die keinen Anspruch auf abstrakte Allgemeinheit formulieren, sondern den Gebrauch direkter Gewalt als Mittel zur Regulierung von Märkten zu ihrem persönlichen Vorteil vorziehen. Ihre Gewaltherrschaft funktioniert als reine Plünderungsökonomie, die sich zerstörerisch in die vorhandenen wirtschaftlichen Strukturen hineinfrisst. Warlords leben vom Krieg und haben wenig Anlass, militärische Entscheidungen oder gar das Ende des Krieges zu suchen. Überwiegend mit leichten Waffen, kaum ausgebildeten Kämpfern und Pickups als Ersatz für gepanzerte Fahrzeuge werden Hab, Gut und Leben der Bevölkerung zum Hauptangriffsziel. Es ist mithin kein Zufall, dass die "neuen Kriege" für uns wenig in Gefechten und Entscheidungsschlachten sichtbar werden, sondern vor allem in Form von Flüchtlingsströmen und Elendslagern - ebenfalls Manifestationen von "Entwurzelung".

Im Sumpf der Bombardements und des Staatenzerfalls wuchs neben den Warlords noch eine weitere, ungleich gefährlichere Blüte der Gewalt: der sogenannte Terrorismus, der der asymmetrischen Kriegsführung mit seinem Angriff auf die New Yorker Twin Towers ein ganz neues Gepräge gab. Mit ihrer Umwandlung von zivilen Passagierflugzeugen in Bomben und von Bürohochhäusern in Schlachtfelder zeigten die Terroristen ihre offensive Fähigkeit, die zivile Infrastruktur eines Landes als logistische Basis zu nutzen und sie gleichzeitig in eine Waffe des Angriffs auf sie umzufunktionieren. Ein möglichst großer Schaden und möglichst viele Opfer sind für sie allein deshalb wichtig, weil sich die Intensität und die Dauer der medialen Aufmerksamkeit und Berichterstattung danach ausrichten. Die mediale Aufmerksamkeit, die den Terroranschlägen zuteil wird, transportiert folgende Botschaften: 1. Auch ein übermächtiger Gegner kann angegriffen und verletzt werden, und 2. kann es "jeden Einzelnen von euch" das nächste Mal treffen - keinerlei Sicherheit mehr, nirgendwo und niemals.

I break together" (Helge Schneider)

Auch Al Qaida-Terroristen sind Sozialisationsprodukte der Moderne. Ihre warenförmig konditionierte Matrix der Imaginierung einer übergeordneten Gemeinschaft tauschte den panarabischen Nationalismus gegen den globalisierten Panislamismus. Bin Laden war wohl der bekannteste Vertreter des radikalen islamischen Fundamentalismus, der eine buchstabengetreue, konservative Lesart des Koran einfordert und nationalstaatliche Lösungen ablehnt zugunsten der Umma, der weltweiten Gemeinschaft aller Muslime auf der Grundlage der Scharia, des islamischen Rechts. Der Wechsel zum Panislamismus darf aber nicht als authentischer Rückgriff auf eine alte gesellschaftliche Assoziationsform missverstanden werden. Durch das Wahrnehmungsraster ihrer Warensubjektivität hindurch dient die Religion den islamischen Fundamentalisten als Ventil für tiefsitzende Frustration und als Medium der Rache für die vielen Arten erlittener Demütigung. Der Heilige Krieg, der "Dschihad", bildet das Kernstück ihrer Ideologie. Während der Dschihad in der islamischen Welt traditionell als eine kollektive Pflicht zur Abwehr einer gemeinsamen Bedrohung angesehen wurde, sind Fundamentalisten davon überzeugt, der Dschihad sei eine permanente, individuelle Pflicht: "Man kann einem Amerikaner oder einem Juden stets auf der Straße nachschleichen und ihn mit einem Revolverschuss oder Messerstich, mit einem selbstgebastelten Sprengsatz oder mit einem Hieb mit einer Eisenstange töten. Ihr Eigentum mit Molotowcocktails in Brand setzen geht ganz leicht." (Zawahiri, Al Qaida)

Der islamische Fundamentalismus von Al Qaida widmet seine Dienste der Rekonstruktion zerfallener Identitäten "entwurzelter" Menschen auf dem Boden der Religiosität. Der gemeinsame Feind ist die "westliche Welt" - vor allem die USA und die Juden. Ihr Credo: Der reine Glaube schafft die absolute Barriere zwischen uns und denen. Für ein politisches Programm, die Vision eines Staates und selbst für Zivilisation und Kultur bleibt kein Raum. Alles Streben der Fundamentalisten reduziert sich auf den Wunsch, Allah zu gefallen und seinen Worten Folge zu leisten. Als höchste Form der Hingabe an Gott gilt ihnen das Martyrium des Dschihads. Nicht dessen Ergebnis ist wichtig, sondern die Tat. Der Sieg wird erfolgen, wenn Gott es so entschieden hat.

Die Anzweiflung und Ablehnung islamisch-klerikaler Autoritäten und Institutionen, das Herausbrechen der Religion aus jeglichem kulturellen Zusammenhang, die Abkehr von territorialer Verbundenheit und die Hervorhebung des Ichs und dessen Verwirklichung in der Individualisierung des Glaubens verhalfen der Islam-Mutation von Al Qaida zur globalen Verbreitung. Sie erlaubt es Ausgegrenzten und Ausgeschlossenen auf der ganzen Welt, sich im Schoß der Umma aufgehoben und stark zu fühlen und ihren individuellen Kampf gegen die totale Verderbtheit der westlichen Welt aufzunehmen.

Gegen Ende des 2. Irakkrieges bildete sich zunächst innerhalb der irakischen Landesgrenzen eine neue terroristische Gruppierung, die heute unter dem Namen "Islamischer Staat" bekannt ist und für Angst, Elend und Tod sorgt. Sie steht in Konkurrenz zu Al Qaida, obwohl beide auf die buchstabengetreue Befolgung der Worte des Korans bestehen und den Dschihad in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen. Der Unterschied ergibt sich daraus, dass der IS sich nicht in Höhlen versteckt wie die Dschihadisten von Al Qaida im Thora-Bora-Gebirgsmassiv Afghanistans, sondern seiner Art des Islams in Form des "Kalifats" ein gesellschaftliches Antlitz gibt. Nach Warlord-Muster verwalten sie die von ihnen kontrollierten Territorien marodierend, schüchtern die dortige Bevölkerung durch Exekutionswellen ein und zwingen sie, die Gesetze des Islam nach ihrer Lesart zu befolgen.

Durch seine Territorialisierung muss sich der IS weit mehr als Al Qaida mit den religionsinternen Konflikten der arabisch-persischen Welt auseinandersetzen. Das islamische Rechtsgutachten der Ashar-Universität - im arabischen Raum hochangesehen und respektiert -, in dem die Schia als Grundlage des Schiismus neben den vier großen sunnitischen Schulen als fünfte Rechtsschule des Islam anerkannt worden ist, wird vom IS verhöhnt. Der Schiismus ist für ihn genauso Häresie wie die verschiedenen sunnitischen Rechtsschulen, soweit ihre Lehren sich nicht mit der von ihm geforderten einzig "wahren" Auslegung des Korans decken. Auf Häresie steht die Todesstrafe: "Allah schlag sie tot, wie sind sie abgewendet!" Koran 63, 4.

Mit dem Ausrufen des Kalifats in Teilen Iraks und Syriens, der rigiden Durchsetzung der Scharia und seinen terroristischen Greueltaten, mit denen er medial weltweit Aufsehen erregt, konnte der IS in der sunnitischen Welt Sympathiepunkte sammeln. Als neuer Leuchtturm des Islam und als Bollwerk gegen die Machenschaften des Westens geht er gegen die traditionellen islamischen Autoritäten in die offensive Konkurrenz um die Interpretationshoheit des Korans und bietet vor allem jungen, männlichen Sunniten ein Sprungbrett in eine radikal- religiöse Identität. Für diejenigen "Westler", die sich schon für die Al Qaida-Ideologie samt ihrer Machenschaften begeistern konnten, ist das von Abu Bakr al-Bagdhadi ausgerufene Kalifat zu einem nervenkitzelnden Ausflugsziel geworden. In einer Art Jurassic Park können sie dort ihren Gewaltphantasien in Rambo-Manier freien Lauf lassen.

"Immer, immer wieder geht die Sonne auf" (Udo Jürgens)

Die globale Durchsetzung des warenproduzierenden Systems wächst sich in Verbindung mit einer durch die technologischen Errungenschaften der Mikroelektronik entfachten revolutionären Steigerung industrieller Produktivität zu einer Menschheitskatastrophe aus. Ungebremst konkurrenzorientiert konzentrieren sich die Verursacher dieser Dynamik weiterhin nur auf die Anfeuerung der Selbstbewegung des Geldes. "Terror" ist für sie nicht als "Fleisch vom gleichen Fleisch" erkennbar, sondern wird als Bedrohung von außen militärisch angegriffen. Jetzt zeigt sich der Wunsch des IS nach Ausrufung eines Kalifats und seine dadurch entstandene territoriale Verortbarkeit als strategischer Schwachpunkt: Alles, was sich territorial erfassen lässt, kann durch die militärische Kraft der Weltmächte in Grund und Boden getrampelt werden.

Mit keiner militärischen Macht der Welt aber kann das Problem der Zersetzung der herkömmlichen Form der Warensubjektivität gelöst werden. Der Staat als abstrakte Allgemeinheit des "nationalen Wir" verliert im krisenhaften Zerfall des globalisierten warenförmigen Systems an Kohäsionskraft. In Konkurrenz zu Staat und Nationalismus entwickeln sich neue Typen imaginärer Gemeinschaftlichkeit, aus denen der islamische Fundamentalismus mit religiös gekleidetem Allgemeinheitsanspruch herausragt. Seine Imagination einer überirdischen Sphäre, mit "Dschihad" und "Scharia" als Fixsternen, befördert ein äußerst aggressives, irrsinniges Modell von Allgemeinheit, das den Gewaltkern der Konkurrenzmonade mobilisiert und zu Mord und Totschlag übergehen lässt. Im "Westen" erweisen sich der Terror von Al Qaida und IS einschließlich seiner politischen Folgen als beschleunigendes Moment der Selbstzerstörung wertgesellschaftlicher Oberflächennormalität.

Über all dem schwebt das Damoklesschwert eines zunehmend aus den Fugen geratenen Konkurrenzkampfs zwischen atomar bewaffneten Weltmächten. Ein Ende des Kriegswahnsinns symmetrischer wie asymmetrischer Art ist nur durch radikale Überwindung kapitalistischer Funktionslogik, durch Auflösung von Staaten und Grenzen und durch eine weltweite Nivellierung menschlicher Lebensqualität vorstellbar. Das geht nur mit viel Lust zur Transformation.

Teil I erschien in Streifzüge 65

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E-Mail-Container

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Das autoritäre Bedürfnis

von Franz Schandl

In Sachen Populismus war Österreich schon Avantgarde als dieser anderswo noch in den Eierschalen steckte.


In der Alpenrepublik schickt sich die FPÖ Heinz-Christian Straches an, zur stärksten Partei des Landes aufzusteigen. Voraussehbare Skandale oder auch die offensichtliche Unfähigkeit des freiheitlichen Personals werden diese Entwicklung jedenfalls nicht stoppen können. Letzteres stört kaum und gegen ersteres geriert sich die FPÖ als Opfer und wird von ihrem Publikum auch so wahrgenommen. Gewählt wird aber erst 2018, sollte die SPÖ-ÖVP-Koalition nicht vorher zusammenbrechen.

Die Auseinandersetzungen laufen hierzulande permanent nach dem gleichen Muster ab, sodass sie kaum noch interessieren geschweige denn aktivieren. Die Strategien scheinen verbraucht und so verwundert es inzwischen wenig, dass nach den Christlichsozialen nun auch die Sozialdemokraten in Gemeinden und Ländern Bündnisse mit den Freiheitlichen eingegangen sind. Vereinzelt auch die Grünen. Dieser Trend wird sich noch verstärken. Die mediale Aufregung ist diesbezüglich stets größer als die reale. In Österreich etwa regieren die Freiheitlichen in den meisten Bundesländern mit, Kärnten haben Haider und seine Nachfolger dabei fast in den Bankrott geführt. Aber das alles tut dem Aufstieg keinen Abbruch. Ein Typ mag verunglücken, aber der Typus gedeiht weiter.

"Wir müssen unser Heimatrecht verteidigen und schützen", sagt Strache. Was das heißt, liegt auf der Hand: Grenzen zu und vor allem eine noch restriktivere Auswahl der Eingelassenen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es gerade dadurch zur Eskalation an den Grenzen oder in den Flüchtlingsquartieren kommt, vor allem, wenn Österreich oder gar Deutschland den Orbán machen. Aber selbst diese Differenz ist eine graduelle, hört man relevanten Politikern in ÖVP oder auch SPÖ genauer zu.

Eine Periode österreichischer Nachkriegspolitik geht zu Ende. Was kommt, weiß niemand, auch die Akteure nicht. In der heimischen Bürokratie ist man bereits emsig am Werk betreffend die Umstellung auf ein Regierungsszenario jenseits der alten SPÖ-ÖVP-Seilschaften. Einerseits ist Überwintern angesagt, man versucht sich einzubunkern und die eigenen Pfründe und Privilegien irgendwie abzusichern, andererseits wird man sich wundern, wer da nicht aller gegebenenfalls Farbe und Richtung wechseln wird, sollten die Freiheitlichen wieder einmal über die Zuteilung der Futtertröge entscheiden. Denn auch hier erwiesen sie sich in der Koalition mit Wolfgang Schüssel (ÖVP) um einiges exzessiver als die von ihnen oft zurecht Kritisierten.

Überall herrscht Ermattung. Auch die Populisten können diese bloß überspielen. Ratlosigkeit wird durch Großmäuligkeit ersetzt. Sie gebiert Typen wie Haider und Berlusconi, Strache und Le Pen` Orbán und Kaczynski. Und alle wahren Finnen und echten Deutschen jubeln den ihrigen zu. Aber vergessen wir dabei nicht, die Mehrheit schlittert nicht nach rechts, sie ist vielmehr aus der Politik ausgeschieden, erwartet sich dort nichts mehr. Interessanter wäre es, die Politikverdrossenen in den Fokus zu rücken, jene, die sowohl in allen herkömmlichen aber auch populistischen Varianten keine Perspektive erblicken.

Modern und synchron

Der Populismus ist nicht unterentwickelt und vormodern, er verkörpert vielmehr die aktuelle Stufe der kulturindustriellen Inszenierung des öffentlichen Lebens. Er ist deswegen anschlussfähig, weil er mit ihr synchron ist. Die Kommerzialisierung des politischen Sektors ist der Treibsatz des Populismus. Seine Demagogie ist nichts anderes als die liberalisierte Reklame, sein Auftreten erinnert frappant an die Serienstars in den Soap-Operas, seine Rede ist das Gerede des Stammtischs. Es herrscht ein Universalismus des Kurzschlusses.

Praktische Politik ist heute kaum noch ohne Populismus zu haben. Nach welchen Kriterien sollte hier kategorisch differenziert werden? Populismus ist nicht Alternative, sondern Verschärfung. Ein Komparativ des Dagewesenen. Übles soll durch Übleres ersetzt werden. In all seinen bekannten Varianten bedeutet er: Mehr Ausländerfeindlichkeit, mehr Korruption, mehr Ignoranz, mehr Primitivität, mehr Homophobie, mehr Sexismus, und (trotz sozialer Demagogie) mehr soziale Ausgrenzung. "Österreich kann nicht das Sozialamt der ganzen Welt sein!", lässt Straches Generalsekretär Herbert Kickl verlauten. Das sind Sprüche, die deswegen reingehen, weil sie von den Angesprochenen tagtäglich selbst ausgesprochen werden. Da fühlen sie sich erkannt und nicht gegängelt. Sie brauchen so nicht verhetzt zu werden.

Die zentrale Frage ist und bleibt: Woher rühren die populistischen Bedürfnisse? Wie entstehen und manifestieren sich diese Gemütslagen und Stimmungen, die den Populismus disponieren? Was konfiguriert die Exponate, was macht aus einer Herde eine Horde? Warum kippt das Unbehagen ins Ressentiment? Antworten darauf sind rar, gesucht werden sie meist und vorschnell in historischen Analogien. Diese Referenz soll auch gar nicht abgestritten werden, aber ihre Bedeutung ist geringer als man meint.

Der Populismus fallt aber nicht vorn Himmel, sondern entsteht ganz urwüchsig aus der bürgerlich-kapitalistischen Welt. Es sind die restriktiven Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, die diese in kleine aggressive Konkurrenzmonster verwandeln. Unmenschlich gehalten, verhalten sie sich unmenschlich. Das entschuldigt sie nicht, aber es erklärt einiges mehr als moralische Appelle und didaktische Übungen bewirken. Diese prallen an den potenziellen Wählern ab, weil sie gar kein Sensorium dafür haben, was wiederum kein persönliches Manko ist, sondern ein gesellschaftliches Defizit. Gefragt sind autoritäre Autoritäten: Gehorcht werden muss. In der biederen Herde steckt jedenfalls schon die wütige Horde. Wollen die Liberalen die Herde fromm und zahm halten, so wollen sie die Populisten aufstacheln. Beide Male geht es um die Kontrolle der Gefolgschaft.

Sieht man genau hin, wird deutlich, dass Liberalismus und Populismus mehr gemeinsam haben als sie trennt. Beide beschwören die große Konvention, sie sind pro Arbeit, pro Privateigentum, pro Leistung, pro Konkurrenz, pro Standort, pro Markt, pro Automobilisierung, pro Werbung, pro Kulturindustrie. Die einen möchten mehr global und marktradikal deregulieren, die andern wollen es mehr nationalistisch und staatsinterventionistisch regeln. Die Leitwerte sind Konsens.

Es ist geradezu grotesk. Wir bekommen mehr von dem, wovon wir schon mehr als genug haben. Die obligate Macht erscheint vor diesem Spiegel wie ein adrettes Brautpaar aus Konservativen und Sozialdemokraten, uns stets verkündend: Wenn wir nicht weitermachen dürfen, kommen die. Das schreckt noch immer, aber es schreckt immer weniger. Hinter der Verteidigung von Menschenrechten und Demokratie verbirgt sich die Verteidigung von Kapital und Herrschaft, wie sie auch die vier Grundfreiheiten der EU auf wundersame Weise zementieren.

Links wie rechts?

Der Populismus ist identitätspolitisch aufgeladen, er redet wenig über Strukturen, aber umso mehr von Schuldigen. Selbst ist da eins nie und nimmer verstrickt, sondern beleidigt, benachteiligt, unterdrückt. Man inszeniert sich als das ledige Opfer äußerer Machenschaften. Abstellen, Aufräumen, Ausmisten - schon wäre die Welt in Ordnung. Auch ein linker Populismus würde nur die Feindbilder austauschen. Der Demagogie der Rechten ist mit keiner linken beizukommen. Das heißt nun nicht, dass diese gleich sind, aber in der Form sind sie zweifellos ähnlich gebaut, beide setzen auf Gefolgschaft und nicht auf Selbstbestimmung. Führerschaft geht vor Autonomie. Fans sind gefragt.

Den Linkspopulisten erscheint der Populismus als reine Form, die man mit beliebigen Inhalten füllen kann. Doch, wenn der Populismus auf Volksvorurteile setzt, was will dann eine emanzipatorische Kraft mit ihm anstellen können? Das populistische Instrumentarium ist außerordentlich beschränkt, und niemanden ist geholfen, wenn man an diesen Beschränkungen wie Beschränktheiten anknüpft. Populismus ist mehr als ein Stil.

Chantal Mouffe fordert gar die "Rücksichtnahme auf die irrationalen Gefühle der Bevölkerung". Was heißt Rücksichtnahme? Anerkennung? Was soll da alles akzeptiert werden? Einmal mehr riecht das sehr danach, dass man die Leute unbedingt dort abholen muss, wo sie sind. Das ist stets schief gegangen, denn es bestärkt die Stereotype anstatt sie zu erschüttern. Die Relevanz, die man dadurch gewinnt, ist nicht essenziell, sondern lediglich akzidentell. Mouffes Propagierung des ewigen Kampfes "Wir" gegen die "Anderen", will keine Überwindung desselben, sondern eine Fortsetzung der Konfrontation mit gleichen Mitteln aber anderen Siegern. Es wird nicht mehr gefragt: "Warum?", sondern gleich "Gegen wen?". Die elementaren Fragen bleiben ausgeklammert, einmal mehr geht es um Verteilung und Macht. Da wird keine Hegemonie gebrochen. Da ist nichts Neues unter der Sonne. Elite und Volk sind nicht so auseinander wie Mouffe meint. Im Gegenteil. Sie sind sich in ihren Ansätzen einiger als uns allen lieb sein kann.

Andererseits ist der Populismus-Vorwurf auch zu einer billigen Totschlagformel geworden. Alles was abweicht, kann mit dem Terminus belegt und damit denunziert zu werden. Jede Attacke gegen Modernisierung und Globalisierung soll fortan als populistischer Dünkel diskreditiert werden. Wer vom "System" spricht, gilt bereits als Extremist, wer gar eine "Systempresse" entdeckt, ist als Freiheitsfeind zu entlarven. Und gegen die USA etwas zu sagen, kann nur als Antiamerikanismus gelten. Wenn dann die kapitalistische Demokratie noch zur "offenen Gesellschaft" geadelt wird, kippt Kritik endgültig in die Affirmation.

Doch nur, weil es viele Vorurteile gibt, ist nicht jedes Unbehagen schon als Ressentiment zu entlarven. Eben das genau verfolgt der liberale Mainstream und sein linker Appendix. Die Linkspopulisten kommen da gerade richtig. Da kann man sich mächtig aufpudeln und abreagieren. Im Hintergrund rauscht ein von der Totalitarismustheorie angetriebener Wasserfall aus Gülle. Suggeriert wird die Gefährlichkeit von Rändern, von linken und rechten Radikalismen, während ausgerechnet die politische Mitte sich als gemäßigte und extremismusfreie Zone abfeiert. Die "unheilige Allianz" nennt sie der österreichische Politikwissenschafter Anton Pelinka. Wie zweckmäßig!

Der linksbürgerliche Rationalismus versucht deswegen auch immer wieder den Menschen die Angst auszureden, nicht einmal jammern und sudern sollen sie, positives Denken ist Gebot der Stunde. Die Angst jedoch ist den Leuten nicht abzusprechen, sie wäre vielmehr konkret zu fassen und zu bestimmen, damit sie nicht als abstraktes Gefühl hängen bleibt und eine schier endlose geistige wie mentale Hilflosigkeit die schrägsten Ansichten und Antipathien entstehen und gedeihen lässt.

Keineswegs ist zu folgern, dass Emotionen im öffentlichen Diskurs nichts zu suchen haben, sie von vornherein verdächtig sind. Revolutionäre Momente in der Geschichte waren immer hochemotional und hochdramatisch. Die Enormität solcher Ereignisse ist ohne einen Aufschwung empathischer Gefühle gar nicht herstellbar. Aus den Vorbehalten gegenüber den Affekten ist nicht zu schließen, dass auf Emotionen zu verzichten wäre. Dass Emotionalisierung Unsinn ist, ist Unsinn. Wie diese mentale Hürde allerdings zu nehmen ist, ohne in den Beschränktheiten des gesunden Menschenverstands unterzugehen, das ist die spannende Frage und bedarf wohl auch einiger praktischer Versuche. Freilich ist diese Aufgabe kaum erkannt, geschweige denn gestellt.

Die Auseinandersetzung zwischen Linksliberalen und Linkspopulisten führt nicht weiter. Beide Varianten flankieren eine Entwicklung, auch wenn sie unterschiedliche Aspekte in den Mittelpunkt ihrer Propaganda stellen. Beide repräsentieren eine Art Neosozialdemokratie, die nur an unterschiedlichen Ecken der alten Tante andockt. Es ist dies eine gestrige Debatte, alles andere als auf der Höhe der Zeit. Da werden Schlachten geführt, in denen nichts mehr entschieden wird. Während die Linkspopulisten zumindest spüren, dass es so nicht mehr geht, meinen die Linksliberalen, dass es nur so weitergehen kann. Geben die ersteren falsche Antworten, so die letzteren gar keine mehr, da mögen viele Einwände gegen ihre Kontrahenten durchaus zutreffen.

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AutorInnen

Roger Behrens, Streifzüge-Kolumnist.

Uwe von Bescherer, 1955. Halbherziges Studium der Philosophie, danach bis heute Kampfkunstlehrer. Zappelt schon viel zu lange in den elenden Netzen des bürgerlichen Lebens.

Hermann Engster, 1942. Lebt in Göttingen, Studium der Nordistik und Germanistik, war u.a. in der Erwachsenenbildung im Bereich Fremdsprachen tätig, zzt. Dozent an der Universität des dritten Lebensalters der Univ. Göttingen, Seminare zu Literatur und Opern, Vortragstätigkeit zum Thema "Wagner und der Antisemitismus", seit 25 Jahren Fan der Wertkritik bei der Krisis und im Trafoclub der Streifzüge.

Stephan Hochleithner, geb. 1984. Studium der Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien, Dissertant an der ETH Zürich.

Stefan Meretz, Streifzüge-Kolumnist.

Emmerich Nyikos, 1958. Historiker, lebt als freier Autor in Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozess. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems (2010).

Erich Ribolits, 1947. Lebt in Wien. Forscht zum Verhältnis von Arbeit, Bildung und Gesellschaft. Zuletzt: Eveline Christof/Erich Ribolits (Hg.) Bildung und Macht. Eine kritische Bestandsaufnahme (2016). "Traforat" der Streifzüge.

Arian Schiffer-Nasserie unterrichtet Politikwissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum. Forschungsprinzip: Nachdenken über - nicht für den Staat! Schwerpunkte: Migration- und Sozialpolitik sowie Rassismusforschung.
Kontakt: Schiffernasserie@efh-bochum.de

Martin Taurer, 1985. Seit rund 10 Jahren im Kostnix-Laden Zentagasse in Wien aktiv, prekär beschäftigt.

Sowie: Lorenz Glatz, Severin Heilmann, Franz Schandl, Martin Scheuringer, Ricky Trang, Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

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"Ein gutes Leben" - für wen?
von Lorenz Glatz

2013: 435.000, 2014: 626.000, 2015: 1,xxx.xxx, 1/2016: 58.600 Flüchtlinge, 3.735 Tote. - In Zahlen und Statistik wird in dieser Welt alles wahrgenommen, nur so kann bewertet, berechnet, verworfen oder verwertet werden. Menschen sind in dieser Lebensordnung generell bei allem, was zählt, wandelnde Nummern, Ziffern, Zahlen auf diversen Konten und Berechnungen. Und wer am Ende sich nicht aus-zahlt, wird als (ver)störender Rest aus der Rechnung abgeschoben. Deren Zahl steigt auch hierzulande von Jahr zu Jahr. Und jetzt sind auch noch die Flüchtlinge einzurechnen!

Was bei uns erst anläuft, ist eben anderswo schon voll im Gang: Geld lässt sich nur mit gekaufter Arbeitskraft reell vermehren. Der Weg ist von der zunehmenden, konkurrenzgepeitschten Automatisation verstopft. Die Spekulationen fiktiver Geldhochrechnung in der Hoffnung darauf, dass es schon wieder einmal auch real gehen wird, platzen eine nach der andern. Und: Die Ausbeutung der Natur untergräbt die Grundlagen unseres nackten Lebens. In Ländern, deren Wirtschaft sich nicht mehr auf den Märkten behaupten kann und wo auf den Feldern oft jahrelang kaum mehr etwas wächst, wird in einem Weltsystem Hobbes'scher Wölfe Brachialgewalt zum Mittel der Bereicherung, ja der bloßen Subsistenz, und Flucht der Weg zum Überleben. Der Prozess beginnt bei den Schwächsten an der so genannten Peripherie - und frisst sich unaufhaltsam durch ins Zentrum, von dem aus diese Lebensweise mit Gewalt über die Welt verbreitet worden ist. Im Chaos, das sie jetzt gebiert, versuchen die selbst vom Verfall im Inneren schon angenagten alten Mächte mit Politik und Militär für sich zu sichern, was an Geschäftsmöglichkeiten und Ressourcen noch verwertbar scheint. Doch sie stabilisieren nichts mehr, vertiefen im Gegenteil das Chaos nur noch weiter.

An den Schutzzäunen der zentralen Festungen erscheint in Gestalt von Millionen Flüchtlingen eine Vorhut derer, die von den katastrophalsten Auswirkungen der Welt"ordnung" betroffen sind. Und sie bleiben nicht mehr alle demütig in den Lagern oder auf den Straßen, wo sie "hausen" müssen, sondern marschieren los an die, um die und durch die Zäune. Die Reaktion der Inwohner teilt sich in Hilfsbereitschaft und Angst bis Ablehnung, "Willkommens-Kultur" und "Grenzen setzen" bis "Werft sie raus!". Das schwankt oft bei denselben Leuten. Systemkonform umgesetzt wird das in "Integrieren" oder "Abschrecken" und "Abschieben". Zweiteres wird in zunehmender Brutalität von den Staaten praktiziert. Der Mob hilft nach. Man will sie wie den Müll auswärts deponieren. Es wird auf Dauer dafür den scharfen Schuss noch brauchen. Auch diese Forderung der Rechten wird dann zur barbarischen Akzeptanz der Mitte drängen. "Integriert" wird selektiv. Es heißt fit machen für Arbeit, anpassen an "unsere Werte" und die "Leitkultur". Sich dafür abmühen, dass eins hineinkommt in ein Getriebe, in dem mehr denn je die eine gegen den anderen gehetzt und das Heer der Verlierer und Überflüssigen ausgeworfen wird.

Für ein "gutes Leben" die Welt verändern wollen viele, es kömmt aber darauf an, ob kalkuliert für uns und "die eigenen Leute", die Volksgenossen, die Rechtgläubigen, die Leistungsträger, die ehrlichen Arbeiter usf. oder unberechnet für alle und alles, was da kreucht und fleucht. Es ist der Zweck, der seine Mittel sucht. An denen lässt sich erkennen, wofür sie zu brauchen sind. Das Freundliche mag klein sein, es ist das, was Gestalt sucht für eine gute Zukunft, dem ein Weg zu bahnen ist.

Wenn etablierte Herrschaft erodiert, tut sich einmal in Hunderten von Jahren inmitten von Gewalt und Niedergang ein Zeitfenster auf von mehr Wahlfreiheit als der zwischen Pepsi oder Coca Cola, nämlich die Chance für ein Leben in einem Netzwerk von Freundschaft in allen Graden von Nähe und Verbindlichkeit, das keine Feinde braucht, um sich zu halten - oder eben der Übergang zu bloß immer neuen Arten von Kampf und Unterdrückung. Dieses Fenster gilt es offenzuhalten, wo es sich auftut. Wir brauchen Zeit, nicht bloß zum Um-denken, wir müssen um- leben, die Lebensweise als Monaden, die in uns allen steckt, verlassen, zu einander finden! Miteinander probieren, reden, denken und dann von vorn und alles drei zugleich! Hic Rhodus, hic salta!

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Quelle:
Streifzüge Nr. 66, Frühling 2016
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2016

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