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STREIFZÜGE/044: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 71, Herbst 2017


Streifzüge Nummer 71, Herbst 2017
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde


INHALTSVERZEICHNIS

Franz Schandl: Einlauf

Tomasz Konicz: Alles Alte ist besser als alles Neue?
Reflexionen über die voranschreitende Auflösung des politischen Koordinatensystems

Martin Gohlke: "Recht auf materielle Existenz" statt "Recht auf Arbeit". Zur Geschichte und Aktualität der Arbeitskritik

Franz Schandl: Arbeit und Arbeitslosigkeit.
Zusammenhang - Identität - Differenz - Konkretion

Nikolaus Dimmel: Arbeit 4.0 - Ein Hype

Peter Oberdammer: Die Inquisition ist tot, es lebe das AMS.
Ideologische Operationen zur symbolischen Rettung der Arbeitsgesellschaft

Franz Schandl: "Den Wert der Stunde zu erleben".
Notizen zu einer überfälligen Abrechnung mit der Marienthal-Studie

Karl Reitter: Die Vermessungen von Marienthal

Tilman Wendelin Alder: Arbeit, was sonst?

Martin Schroeder: Critical employment studies.
Gedanken zur Abwertung Arbeitsloser

Franz Schandl: In der Drangsalierung hängen.
Beobachtungen und Notizen zu einem Arbeitslosen-Experiment

Hermann Engster: Unwiederbringlich.
Zu Heines Gedicht "Die Lore-Ley"

Lorenz Glatz: Aus Ratlosigkeit weitermachen?

Kolumnen
Dead Men Working: Maria Wölflingseder
Rückkopplungen: Roger Behrens
Immaterial World: Stefan Meretz

Rezension
Maria Wölflingseder (M.Wö.) zu:
Leopoldine Evelyne Kwas: Ich bin das Volk

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Einlauf

von Franz Schandl

"muss mich leider vorstellen von ams aus danke für ihr verständnis" -

Mehr hat der Absender dieses Mails nicht gebraucht. Der angeschriebene Unternehmer zeigte sich verständnislos wie auch das sofort verständigte AMS. Wenn das jeder machen würde. Soviel Dreistigkeit muss sanktioniert werden. Wo kommen wir denn hin, wenn Arbeitslose sich schon trauen, die Wahrheit zu schreiben? Dass es den Angehaltenen bei den meisten Bewerbungen ähnlich ergeht, darüber hat gefälligst geschwiegen zu werden. Gusch!, heißt es. Der Leerlauf schreit nach Fütterung. Lasset uns simulieren auf ewig! Die Streichung des Arbeitslosengelds auf bestimmte Zeit wäre wohl die adäquate Strafe für den frechen Delinquenten. Zumindest fordert das eines dieser Gratistrottelorgane für U-Bahnfahrer.

Die Arbeit ist unser Los, egal ob wir sie haben oder los haben. Das Arbeitslos bestimmt das Leben. Abhängig ist nicht unbedingt besser als abgehängt, aber es ist aushaltbarer. Weil solche Leute Geld verdienen, zahlen können und daher auch nicht in dieser Weise drangsaliert werden müssen, handelt es sich doch um ordentliche Bürger. Dieser Status wird den Arbeitslosen verwehrt. Mental wie real. Es ist schon eine verrückte Welt, in der wir vegetieren.

Wir sagen hier einmal mehr, was nicht gehört werden soll: Arbeitslosigkeit ist nicht mit Arbeit zu bekämpfen, sondern nur durch die Überwindung einer Gesellschaft, die dem Arbeitsgötzen dient. Alles spricht gegen die Arbeit, nichts für sie. Wir sind die, die Arbeit in Verruf bringen wollen und bitten um tatkräftige Unterstützung. Der nötigen Arbeitskritik Ausdruck zu verleihen, ist die vorrangige Aufgabe dieser Ausgabe.

Noch was: Ziemlich verständnislos stehen wir dem Ergebnis unserer herbstlichen Spendenkampagne gegenüber. Da war nix. Das geht nicht, und wir ersuchen einfach um Berücksichtigung unserer Wünsche, ohne andauernd den Bettelbariton einsetzen zu müssen. Danke.

*

Alles Alte ist besser als alles Neue?
Reflexionen über die voranschreitende Auflösung des politischen Koordinatensystems

von Tomasz Konicz

Das allgegenwärtige krisenbedingte Gefühl, dass etwas in Auflösung übergeht, dass verfestigte Strukturen und Lager in Bewegung übergehen und sich verflüssigen, hat längst auch die Sphäre des Politischen erfasst. Das etablierte politische Koordinatensystem rechts- und linksgerichteter politischer Parteien und Kräfte scheint hohl und kaum noch mit Substanz aufgeladen. Immer mehr Menschen sehen keine nennenswerten Unterschiede zwischen den einzelnen Parlamentsparteien. Im Internet und seinen in den sozialen Netzwerken herumirrenden Schwärmen werden etablierte politische Begriffe wie bloße Labels behandelt und, je nach Situation und Interesse, mit neuen Bedeutungen aufgeladen. Die Ansicht darüber, was nun politisch links oder rechts ist, kann in den ausgedehnten Wahnräumen des Netzes, wo die Neue Rechte ihre digitale Heimat hat, mitunter täglich, ja stündlich wechseln, was ja letztendlich nur auf die beginnende Auflösung des politischen Koordinatensystems hinweist.

Zum einen ist es die längerfristig wirkende neoliberale Hegemonie, die im Rahmen des "Sachzwang-Diskurses" den politischen Spielraum immer weiter einengte, sodass in den vergangenen drei Dekaden de facto eine ganz große neoliberale Koalition durchregierte - was zur Unterschiedslosigkeit im Parlament beitrug. Doch eigentlich war der sozioökonomische Spielraum bürgerlicher Politik im Nachkriegszeitalter schon immer begrenzt. Auch von den 1950er- bis in die 70er-Jahre hielten sich alle Regierungsparteien, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, an die damals hegemonialen keynesianischen Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Aktuell kommt noch die Taktik der Neuen Rechten hinzu, insbesondere in den sozialen Netzwerken gezielt die Grenzen zwischen links und rechts zu verwischen ("Linksfaschisten", "Rote SA" etc.), um so die Akzeptanz der populistischen und extremen Rechten zu erhöhen. Dennoch sollten hierbei Ursache und Wirkung nicht verwechselt werden: Die Rechte instrumentalisiert unbewusst eine gegebene Dynamik im Überbau spätkapitalistischer Gesellschaften.

Linker Egalitarismus und rechte Eliten

Ihren Ursprung hat die Einteilung der politischen Kräfte in linke und rechte Parteien - wie so vieles - in der Französischen Revolution. Schon die Sitzordnung der ersten französischen Nationalversammlung von 1789 bis 1791 war gekennzeichnet durch eine grobe Teilung in revolutionär und/oder republikanisch gesinnte Kräfte, die auf der linken Seite Platz nahmen, und konservative, monarchistische Kräfte, die auf der rechten Seite der Nationalversammlung beheimatet waren. Diese räumliche Bezeichnung verselbstständigte sich mit der Zeit: Diejenigen Kräfte, die die Dynamik der Französischen Revolution weiter anfachen wollten, wurden als die Linke bezeichnet, während die bremsenden, konservativen oder restaurativen Kräfte als die Rechte benannt wurden. Und diese Unterscheidung zwischen progressiven und konservativen Kräften bildet auch die zentrale Achse des seit dem 19. Jahrhundert etablierten politischen Koordinatensystems: Die Linke agierte politisch progressiv, fortschrittlich, vorwärtsdrängend, während die Rechte konservativ ist, den Status quo bewahrend, oder gar reaktionär. Die Linke betont das Werden, das Gemeinsame der Menschheit, die Zivilisation; die Rechte hält am bestehenden Sein fest, am Besonderen, an den Unterschieden, an der Kultur.

Der Kampf zwischen linkem Egalitarismus und rechten Eliten kennzeichnet nach der Ausrufung der allgemeinen Menschenrechte die Geschichte des politischen Systems seit dem "Zeitalter der Revolutionen" (Hobsbawm) im 19. Jahrhundert. Etablierte Machtstrukturen, die von der Rechten verteidigt wurden, sind von der Linken um der intendierten Emanzipation immer größerer Bevölkerungsteile willen bekämpft worden. In ihrer radikalen Avantgarde galten den Linken diese politischen Kämpfe auch als ein Mittel zur Überwindung des kapitalistischen Systems, insbesondere der Arbeiterklasse wurde dabei eine objektive historische Funktion als ein "revolutionäres Subjekt" zugesprochen. In der Praxis lief aber dieser Emanzipationsprozess auf die rechtliche Gleichstellung und soziale Verbesserungen für zuvor marginalisierte oder verfolgte Gruppen innerhalb des kapitalistischen Systems hinaus. Die Hoffnung auf ein revolutionäres Subjekt innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft hat mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus einen historischen Rückschlag erlitten. Bei der Gleichstellung zuvor marginalisierter Gesellschaftsgruppen innerhalb des Kapitalismus wurden aber tatsächlich - zeitweilige - Erfolge erzielt: von der Arbeiterklasse, die spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg im Kapitalismus vollauf integriert wurde, über die Frauenemanzipation bis zu dem weiterhin andauernden Kampf gegen die Diskriminierung ethnischer oder sexueller Minderheiten.

Vollauf verständlich wird dieser historische - wenn auch unvollendete - politische und rechtliche "Emanzipationsprozess", den die Linke binnenkapitalistisch geleistet hat, nur bei Berücksichtigung seiner Wechselwirkung mit der Sphäre der kapitalistischen Ökonomie. Die rechtliche Gleichstellung immer neuer Gesellschaftsgruppen ging mit deren Integration in das expandierende System der Lohnarbeit einher - solange auch das Kapital expandierte und immer größere Quanta Lohnarbeit verwertete. Die Linke brachte zumindest in den Zentren des Weltsystems somit Überbau und Basis in Einklang, indem sie überall dort die politischen und sozialen Rechte von Gruppen erkämpfte, die in der historischen Aufstiegsbewegung des Kapitals in das System der Lohnarbeit integriert wurden. Die Rechte hingegen wollte Ausbeutung ohne Rechte, ohne Gleichstellung, ohne soziale Teilhabe - sie wirkte zunehmend kontraproduktiv, vor allem im Nachkriegszeitalter, der goldenen Ära des Sozialdemokratismus, als Massennachfrage die extreme Expansion der Kapitalverwertung ermöglichte. Für das globalisierte Kapital sind somit alle gleich - als "Humankapital", das im Optimalfall unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder sonstigen Nebensächlichkeiten möglichst effektiv ausgebeutet werden soll.

Krisenideologien

Doch zugleich ist es inzwischen evident, wie prekär diese "Fortschritte" gewesen sind, die im Rahmen der widerspruchsgetriebenen fetischistischen Verwertungsbewegung des Kapitals erkämpft wurden. Die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die in der Tendenz eine ökonomisch überflüssige Menschheit fabriziert, macht die etablierte politische "Rollenverteilung" unmöglich. Die rechtliche Gleichstellung von Minderheiten geht seit der neoliberalen Wende ja einher mit krisenbedingter sozialer Zerrüttung, mit massenhafter Prekarisierung. Sobald die historische Expansionsbewegung des Kapitals aufgrund ihrer inneren Widersprüche zu stocken begann, das Aufsaugen von Lohnarbeit in der Warenproduktion in deren Abschmelzen umschlug, brach die ökonomische Basis dieser linken binnenkapitalistischen Scheinemanzipation zusammen. Dasselbe widerspruchszerfressene Kapitalverhältnis, das keine Unterschiede bei der Ausbeutung von Menschen machen muss, heizt in seiner Krise die Konkurrenz und entsprechende Krisenideologien an, die sich gegen Minderheiten richten, die als Konkurrenten auf den Märkten wahrgenommen werden.

Die Rechte identifiziert sich mit dieser Krisenkonkurrenz, indem sie sie mit Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Kulturalismus etc. auflädt und der Mehrheitsgesellschaft die ideologischen Legitimationen für die krisenbedingte Marginalisierung von Minderheiten liefert. Die Inklusion schlägt in ihr Gegenteil, die Exklusion, um (der rechte Hass auf "Gutmenschen" speist sich aus dem auch in der Krise von aufrechten Linken betriebenen Kampf um Gleichstellung von Minderheiten). Die reell ins Barbarische treibende Krisendynamik erzeugt somit den Anschein, als ob die Rechte jetzt vorwärtsdränge, als ob sie voranschreite - sie tut es nur auf den Abgrund zu. Weite Teile der Linken, die den Krisenprozess weiterhin nicht in seiner Tiefe erfassen wollen, sind jetzt rückwärtsgewandt, konservativ; sie wollen entweder zurück in die "heile" kapitalistische Welt der keynesianischen Nationalstaaten der 50er- oder 70er-Jahre oder zurück in die DDR und Sowjetunion. Die Uhren sollen - ein absurder, unrealisierbarer und letztendlich selbstmörderischer Anachronismus - zurückgedreht werden. Schon der Zusammenbruch des real existierenden Staatssozialismus - der eigentlich nur der Vorschein der gegenwärtigen Krisenära war - hat eine regelrecht konservative Linke hervorgebracht, die angesichts der neoliberalen Offensive eine bekannte Brecht'sche Maxime einfach umkehrte. Frei nach dem Motto: "Alles Alte ist besser alles das Neue". Da der anachronistische Zug in eine idealisierte Vergangenheit an der Krisenrealität zerschellen muss, drohen diese konservativ-linken Kräfte ähnliche Krisenideologien auszubilden, wie sie innerhalb der Rechten ausgebrütet werden: wo die Personifizierung der Krisenursachen (Ausländer, Juden, Muslime, Russen, Amis, Außerirdische etc.) mit einer Naturalisierung der Strukturen, Formen und Vermittlungsebenen des Kapitalismus einhergeht. Zumeist wird in dieser nach "rechts" umfallenden, postsozialdemokratischen Linken argumentiert, dass der Sozialstaat nur im nationalen Rahmen, bei geschlossenen Grenzen, aufrechterhalten oder ausgebaut werden könne.

Notwendige Transformation

Der Krisenprozess lässt keinen sozialen "Fortschritt" im Rahmen des Kapitalismus mehr zu - deswegen bricht diese politische Frontstellung auseinander, deswegen müsste die Linke zu einer kategorialen Kritik des Kapitalismus, zu einer transformatorischen Praxis übergehen. Der direkte oder vermittelte Terror gegen eine beständig anwachsende, ökonomisch überflüssige Menschheit ist der einzig gangbare barbarische Weg innerhalb des im Zerfall begriffenen Systems. Dessen zivilisatorisch überlebensnotwendige Überwindung ist somit kein linker "Radikalismus", sondern blanke praktische Notwendigkeit, die sich aufgrund der Eigendynamik der eskalierenden Widersprüche unabhängig vom Bewusstseinsstand der Massen oder den konkreten politischen Kräfteverhältnissen quasi von selbst stellt. Nicht der Blick zurück, sondern der Blick nach vorn, über den Kapitalismus hinaus, könnte noch den tiefen Absturz in die Barbarei verhindern. Die Linke müsste also vor allem in Reaktion auf die zunehmenden ökonomischen und ökologischen Krisentendenzen eine breite Debatte über eine postkapitalistische Gesellschaft initiieren, anstatt an den überkommenen, ohnehin in Auflösung befindlichen Gesellschaftsformen festzuhalten. Nicht weil es radikal wäre, sondern weil es objektiv notwendig ist, weil das System seiner Krisendynamik gemäß in die Barbarei führt - aus der ins Extrem getriebenen Systemlogik heraus.


Von Tomasz Konicz erschien zum Thema Krise zuletzt im Konkret-Verlag das Buch "Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft".

*

"Recht auf materielle Existenz" statt "Recht auf Arbeit"
Zur Geschichte und Aktualität der Arbeitskritik

von Martin Gohlke

Zwei bahnbrechende Dokumente hat die neuzeitliche Arbeitskritik hervorgebracht. Das eine ist von 1880, das andere 120 Jahre jünger.

Die öffentliche Wahrnehmung des Terminus von der "Krise der Arbeitsgesellschaft" feiert 2017 ihren 35. Geburtstag. Publik gemacht auf einem Soziologenkongress 1982 infolge einer sich verstetigenden Massenarbeitslosigkeit erhielt der Begriff in den Folgejahren größere Aufmerksamkeit. Nicht nur auf akademischen Tagungen und auf Treffen von Arbeitsloseninitiativen dachte man wenig optimistisch darüber nach, wie es mit der Erwerbsarbeit weitergehen wird. Auch die Medien und die Politik entzogen sich der kritischen Problematisierung eines auf Vollbeschäftigung und immer währenden Wachstum ausgerichteten Wirtschaftsmodells nicht.

1989, im Jahr des Zusammenbruchs des Realsozialismus, schien mit einem Schlag sämtliches erstes allgemeines Bewusstsein von einer kränkelnden Arbeitsgesellschaft dahin. Das vom US-amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama geschichtsphilosophisch konstatierte "Ende der Geschichte" und die Aussicht auf allerorts "blühende Landschaften", die der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl prognostiziert hatte und von Freund wie Gegner eifrig aufgenommen wurde, gab Halt und Orientierung. Wem die gesellschaftliche Entwicklung nicht egal war, der konnte sich für die versprochene Rückkehr zur Vollbeschäftigung begeistern und träumte womöglich von einem zwar wie gehabt komplexen, aber in Zukunft nur noch in zivilisatorischer Mission agierenden Kapitalismus. Die Hartzgesetze 2002 bis 2004 entzogen dieser politischen Romantik brutal den Boden.

Die Konstatierung einer "Krise der Arbeitsgesellschaft" steht in fließender Verbindung mit einer Diskussion des Arbeitsbegriffs. Davon zeugten auch die zahlreichen Veranstaltungen, die sich in den 1980er Jahren des Themas annahmen und qualitativ neue Forderungen wie die nach einem bedingungslosen Grundeinkommen debattierten. Dort wurde zum Beispiel ein Statement wie "Qualitatives statt quantitatives Wachstum" für völlig neu gehalten. Das war es aber nicht.

1880

Der 1842 geborene Paul Lafargue stellte sich in den Auseinandersetzungen zwischen Anarchisten und Kommunisten in der 1. Internationale (1864-1874) vehement auf die Seite seines Schwiegervaters Karl Marx, von dem er seine politökonomische Bildung erhielt. Mit der Herausgabe seiner arbeitskritischen Schrift "Das Recht auf Faulheit" im Jahr 1880 setzte er eigene Schwerpunkte, die ihn unkonventionell und innovativ zeigten.

Dass Marx die Arbeit als Lohnarbeit mit Blick in die kapitalistische Produktionssphäre kategorisch kritisiert und dass er nach einer tiefgründigen Gegenüberstellung von "Lohnarbeit" und "Stoffwechselprozess mit der Natur" lautstark "Nieder mit dem Lohnsystem" ausgerufen hatte, genügte Lafargue nicht. Er vermisste die lebendige Beobachtung der Konsumtionssphäre. Dabei erschloss er aus dem Blickwinkel der Kulturkritik einen inneren Zwang des Kapitalismus zum Wachstum: "Das große Problem der kapitalistischen Produktion besteht darin, Konsumenten zu entdecken und bei ihnen künstliche Bedürfnisse zu wecken."

Ganz als intellektuelles Kind seiner Zeit zeigte sich Lafargue, als er gleich im Vorwort das Christentum angreift: "Die kapitalistische Moral ist eine jämmerliche Kopie der christlichen Moral." Lafargue bezog sich auf den berüchtigten Politiker Adolph Thiers, der in den französischen Revolutionen zwischen 1830 und 1871 mehr und mehr die Leidenschaften der politischen Rechten bedient und dabei die Kirche mit den Worten geehrt hatte: "Ich will den Einfluss der Kirche umfassend wieder herstellen, weil ich auf sie zähle in der Verbreitung jener guten Philosophie, die den Menschen lehrt, dass er hier ist, um zu leiden, und nicht jener anderen Philosophie, die im Gegenteil zum Menschen sagt: 'Genieße!'." Das Neue war, dass Lafargue so eine "Sklavenmoral" (Nietzsche) zum üblichen Bestandteil des Selbstverständnisses der Arbeiter seiner Zeit auszumachen glaubte: "Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse. Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit." An anderer Stelle fuhr Lafargue fort: "Nicht nur die Kleinbürger lieben die Arbeit um der Arbeit willen, auch das Proletariat ... Es hat sich vom Dogma der Arbeit verführen lassen ... Schande über die Proletarier!"

Solche Sätze waren für einen damaligen gelernten Linken geradezu ketzerisch. Denn die Arbeiterbewegung hatte ein ganz anderes Verhältnis zur Arbeit. Länderübergreifend war in der fast europaweiten Revolution von 1848 das "Recht auf Arbeit" und nicht etwa das "Recht auf materielle Existenz" gefordert worden, was einen ganz anderen Horizont für den Umgang mit gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten geschaffen hätte. Arbeit galt aber eben nicht als Notwendigkeit, sondern sie war heilig gesprochen, ganz entsprechend der protestantischen Arbeitsethik , die das "Bete und Arbeite!" zum zentralen Prinzip eines moralischen Lebens erhoben hatte.

Lafargue erkannte "Gott Fortschritt, den ältesten Sohn der Arbeit". Die Durchsetzungsgeschichte der Lohnarbeit sei, so war Lafargue überzeugt, für die Betroffenen kein Weg zum Guten gewesen. Im Gegenteil, der Verlust relativ fürsorglicher Zusammenhänge in Zünften und Ländereien mit dem sonntäglichen Arbeitsverbot und bis zu drei Dutzend Feiertagen bedeutete den Verlust von Lebensqualität gegenüber den mancherorts lediglich von halben Sonntagen unterbrochenen Schuftereien in den Manufakturen und Fabriken. "O grausige Geschenke des Götzen Fortschritt!", erboste sich Lafargue, der mit seinem Vergleich nicht die mittelalterlichen Welten idealisieren, sondern mit einem Fortschrittsversprechen des Bürgertums abrechnen wollte, von deren Umsetzung die Unterschichten bis dato nichts oder kaum etwas erfahren hatten: "Vor 50 Jahren hatte fast jeder in Mülhausen ein Häuschen und oft ein Stück Land" - bald hatte "die Fabrik in ihrer Gier nach menschlicher Arbeit die Arbeiter aus ihrem Heim gerissen" und sie zu verschuldeten und unterernährten Mietern gemacht. Gereizt fragte Lafargue angesichts anderer, weniger trauriger Menschheitserfahrungen: "Wo sind die Übermütigen geblieben, die anbändelnd und singend sich dem Genuss hingaben? ... Unser Jahrhundert ist ein Jahrhundert des Elends!"

Lafargues Polemik gegen die Arbeit konnte für eine Neuinterpretation des Weberaufstandes von 1844 und ähnlicher Tumulte verwertet werden. Unter dem Begriff der "Maschinenstürmerei" hatten viele Geschichtsschreiber die Aufstände negativ interpretiert; ein mögliches Verständnis für die verzweifelten Arbeiter wurde mit dem Hinweis auf deren denkbar barbarisch motivierten Hass gegen die fortschrittlichen Maschinen relativiert. Bemerkenswerterweise schweigt Lafargue zu diesen Aufständen. Vielleicht stand auch er der Zerstörungswut der Aufständischen reserviert gegenüber, denn seine Ablehnung des bürgerlichen Fortschrittsbegriff korrelierte mit einer für seine Zeit typischen Technikbegeisterung. Produktivkräfte auch als Destruktivkräfte zu diskutieren, stand nicht im Fokus damaliger gesellschaftlicher Problemlagen und so ist es nachzuvollziehen, dass Lafargues leidenschaftliche Darlegungen über den technischen Fortschritt sich ausschließlich mit der Frage nach den Möglichkeiten und nicht nach den Gefahren beschäftigten. "Wenn jedes Werkzeug auf Befehl (seine Arbeit erledigen würde, wären wir die Unfreiheit der Arbeit los)", zitierte Lafargue Aristoteles' Vorstellungen über die Abschaffung der Arbeit mittels Technik. (Anm.: Lafargue zitiert Aristoteles wie folgt: "Wenn jedes Werkzeug auf Befehl oder auch vorausahnend das ihm zukommende Werk verrichten könnte, ..., dann bräuchte der Werkmeister keinen Gehilfen, die Herren keine Sklaven.") Lafargue setzte nach: "Der Traum ist heute Wirklichkeit geworden ... Unsere Maschinen verrichten von selbst ihre heilige Arbeit." Infolgedessen forderte Lafargue den Dreistundentag. Es ist gut möglich, dass die Einführung einer so geringen Arbeitszeit tatsächlich schon in seiner Zeit realistisch war, vor allem dann, wenn man sich an Lafargues Vorstellung orientierte, dass die Produktion auf Nützliches zu konzentrieren ist.

1999

Die von Lafargue bewunderte Produktivkraftentwicklung ist ein zentraler Punkt in der zweiten herausragenden Schrift der neuzeitlichen Arbeitskritik. 1999 erschien das "Manifest gegen die Arbeit". Unter der Überschrift "Die Krise der Arbeit" heißt es im elften Kapitel:

"Mit der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik (seit den 1960er Jahren) stößt die Arbeitsgesellschaft an ihre absolute historische Schranke.

Dass diese Schranke früher oder später erreicht werden musste, war logisch vorhersehbar. Denn das warenproduzierende System leidet von Geburt an unter einem unheilbaren Selbstwiderspruch. Einerseits lebt es davon, menschliche Energie durch Verausgabung von Arbeitskraft in seine Maschinerie aufzusaugen, je mehr desto besser. Andererseits aber erzwingt das Gesetz der betriebswirtschaftlichen Konkurrenz eine permanente Steigerung der Produktivität, in der menschliche Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt wird.

Dieser Selbstwiderspruch war schon die tiefere Ursache aller früheren Krisen, darunter der verheerenden Weltwirtschaftskrise von 1929-33. Die Krisen konnten jedoch durch einen Mechanismus der Kompensation immer wieder überwunden werden: Auf dem jeweils höheren Niveau der Produktivität wurde durch Ausdehnung der Märkte auf neue Käuferschichten absolut mehr Arbeit wieder eingesaugt, als vorher wegrationalisiert worden war. Der Aufwand an Arbeitskraft pro Produkt verminderte sich, aber es wurden absolut mehr Produkte in einem Ausmaß hergestellt, dass diese Verminderung überkompensiert werden konnte. Solange also die Produktinnovationen (~ Warenexpansion, M.G.) die Prozessinnovationen (~ Rationalisierung, M.G.) überstiegen, konnte der Selbstwiderspruch des Systems in eine Expansionsbewegung übersetzt werden.

In der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik erlischt der bisherige Mechanismus der Kompensation durch Expansion. Erstmals ist Rationalisierung schneller als Warenexpansion - erstmals wird mehr Arbeit wegrationalisiert als durch Ausdehnung der Märkte wieder aufgesaugt werden kann."

Der allgemeinste Einwand, der gegen den obigen Ausschnitt aus dem "Manifest gegen die Arbeit" erhoben werden kann, betrifft das dargelegte "Wegbrechen der Arbeit". Denn ein Blick in die Statistiken bestätigt diese Feststellung nicht einfach; in Deutschland haben wir noch nie soviel sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gehabt wie vor Kurzem. Was soll also die These von einem "unumkehrbaren Wegbrechen der Arbeit"?

Bei dieser Frage muss man die "Kritik der politischen Ökonomie", die große Gegenspielerin der an den Universitäten etablierten "Volkswirtschaftslehre", bemühen. Sie unterscheidet fundamental zwischen Mehrwert produzierender Arbeit (~ v.a. industrielle Arbeit) und anderer Arbeit (eher Dienstleistungstätigkeiten). Der genaue politökonomische Unterschied beider Arbeitsformen soll hier nicht das Thema sein, wichtig ist lediglich, dass das "Manifest gegen die Arbeit" das Wegbrechen der Arbeit erst einmal auf die Mehrwert schaffenden Arbeitsplätze bezieht.

Nun kann man fragen: Wo ist das Problem, solange die alten Industriearbeitsplätze von Dienstleistungsarbeitsplätzen ersetzt werden? Die "Kritik der politischen Ökonomie" sagt dazu: Der Kapitalismus ist, will er im Großen und Ganzen funktionieren, darauf angewiesen, dass immer wieder aufs Neue, und das dann auch noch in einem immer größeren Maße, Mehrwert generiert wird; die Dienstleistungsarbeitsplätze hängen lediglich am Tropf der Mehrwertproduktion. Fragen wir hier nicht nach den nicht im Vorübergehen zu bekommenden Gründen für diese Auffassung, sondern lassen wir die Aussage einfach als einen der formalen Logik entsprechenden Satz stehen und bekommen so eine Ahnung, welche substanziellen Krisendynamiken sich im Kapitalismus im Fall der Richtigkeit der Auffassung der "Kritik der politischen Ökonomie" entwickeln können. Und erfahren wir abschließend, dass die etablierte Volkswirtschaftslehre überhaupt keine prinzipiellen Unterschiede bei den Arbeiten vornimmt, womit sie auch keinerlei gedanklichen Bezüge zu einer Krisenerklärung, wie sie das "Manifest gegen die Arbeit" vornimmt, entwickeln kann.

Das "Manifest gegen die Arbeit" belässt es nicht bei diesem frontalen Angriff gegen die begriffliche Sorglosigkeit der Volkswirtschaftslehre, sondern zeigt sich in kategorischer Kritik auch gegenüber dem Gedankengebäude der traditionellen Linken. Vor allem in den beiden Kapiteln "Arbeit und Kapital sind die beiden Seiten derselben Medaille" und "Die Krise des Interessenkampfes" wird begründet, warum der Klassenkampf heute als Orientierungspunkt für die sozialen Bewegungen nicht mehr tauge. Dabei wird zum einen in Bezugnahme auf die oben dargelegte Krisendynamik erklärt, dass infolge der geringeren Wertproduktion dem klassenkämpferischen Bemühen um Verteilungsgerechtigkeit objektiv immer mehr der Boden entzogen wird. Zum anderen wird eine alle Klassen einbeziehende, übergeordnete Matrix als viel bedeutender für die gesellschaftliche Entwicklung gehalten als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse: Kapitalisten wie Lohnabhängige sind dem hinter dem Rücken der Akteure agierenden kapitalistischen Selbstzweck unterworfen, aus Geld mehr Geld zu machen. Damit stehe für beide Seiten auch immer nur der abstrakte Reichtum - das Geld - im Mittelpunkt ihrer Begehren und nicht in direkter Form die Bedürfnisse des Menschen oder der Natur. Solche Bedürfnisse müssen mühselig um ihre gesellschaftliche Wahrnehmung und Berücksichtigung kämpfen und haben gegenüber dem Geld immer die schlechteren Karten. Anders formuliert: Das vollkommen sinnenfrei agierende Geld hat eigentlich die Herrschaft, nicht irgendwelche Personen oder Klassen.

Unter der "subjektlosen Herrschaft" leiden demnach alle, nicht nur die Angehörigen einer Klasse. So meint das Manifest: "Keine herrschende Kaste der Geschichte hat jemals ein derart unfreies und erbärmliches Leben geführt wie die gehetzten Manager von Microsoft, Daimler-Chrysler oder Sony. Jeder mittelalterliche Grundherr hätte diese Leute abgrundtief verachtet. Denn während er sich der Muße hingeben und seinen Reichtum mehr oder weniger orgiastisch verprassen konnte, dürfen sich die Eliten der Arbeitsgesellschaft selber keine Pause gönnen. Außerhalb der Tretmühle wissen auch sie nichts anderes mit sich anzufangen als kindisch zu werden; Muße, Lust und Erkenntnis und sinnlicher Genuss sind ihnen fremd."

Die Zeilen können zu fragwürdigen Schlussfolgerungen führen. Auch bei einer Unterwerfung aller Gesellschaftsmitglieder unter die "Herrschaft des Geldes" kann man qualitativ sehr unterschiedliche Arbeitswirklichkeiten und Abhängigkeitsverhältnisse konstatieren. Immer noch gibt es Arbeitsplätze, die deutlich besser als andere sind und die Tätigkeit des Managers erlaubt einem eventuell einen frühzeitigen Ausstieg in materieller Sicherheit; bei der Verkäuferin dürfte das auszuschließen sein. Das "Manifest gegen die Arbeit" gibt somit Anlass für die häufig zu hörende Kritik, dass der Text die immens unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Menschen klein redet. Beabsichtigt hatten die Autoren das jedoch nicht, sondern sie wollten lediglich herausstellen, dass die Matrix der Warengesellschaft heutzutage wirkungsmächtiger ist als die Klasseninteressen und dieser Tatbestand von daher denkerische Priorität verdient.

Die Titel "Manifest gegen die Arbeit" und "Das Recht auf Faulheit" provozieren. Man kann sich vorstellen, dass sich die Autoren nicht gegen zielgerichtetes und konzentriertes Schaffen aussprechen. Sie wenden sich dagegen, dass über die Lohnarbeit die menschliche Tätigkeit ohne Rücksicht auf ihren Inhalt zu einem Prinzip erhoben wird, das die sozialen Beziehungen beherrscht - über den abstrakten Begriff Arbeit würden alle menschlichen Tätigkeiten gleich gesetzt, ob er nun beispielsweise die Pflege alter Menschen oder den Bau von Bomben beinhaltet. Mit dieser Gleichsetzung würde sich die Gesellschaft um viel sinnvolles Problembewusstsein bringen. In der Kritik steht ebenso, dass gesellschaftliche Anerkennung bevorzugt diejenige Arbeit erhält, die sich direkt oder indirekt daran beteiligt, aus Geld mehr Geld zu machen. Tätigkeiten, die sich nicht darunter summieren lassen, werden oft zur Privatsache erklärt, obwohl sie für das Leben unverzichtbar sind, wie Hausarbeit, Nachbarschaftshilfe oder die Organisation sozialer Zusammenhänge.


Paul Lafargue - Das Recht auf Faulheit

1883, in: Schriften gegen die Arbeit
Sondernummer, Ludwigshafen 1988. Online:
www.wildcat-www.de/material/m003lafa.htm

Gruppe Krisis - Das Manifest gegen die Arbeit
2-1999, Leverkusen. Online:
www.krisis.org/1999/manifest-gegen-die-arbeit/

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Arbeit und Arbeitslosigkeit
Zusammenhang - Identität - Differenz - Konkretion

von Franz Schandl

Was als Differenz gedacht wird, sollte auch als Identität gedacht werden. In den Grundrissen hat Karl Marx die Grundkonstellation Lohnarbeit-Kapital so beschrieben: "Die Arbeit ist nicht nur der dem Kapital gegenüberstehende Gebrauchswert, sondern sie ist der Gebrauchswert des Kapitals selbst. Als das Nichtsein der Werte als vergegenständlichter ist die Arbeit ihr Sein als nichtvergegenständlichter, ihr ideelles Sein; die Möglichkeit der Werte und als Tätigkeit die Wertsetzung. Dem Kapital gegenüber ist sie die bloße abstrakte Form, die bloße Möglichkeit der wertsetzenden Tätigkeit, die nur als Fähigkeit, Vermögen existiert in der Leiblichkeit des Arbeiters. Aber durch den Kontakt mit dem Kapital zur wirklichen Tätigkeit gebracht - aus sich kann sie nicht dazu kommen, da sie gegenstandlos ist - wird sie eine wirkliche wertsetzende, produktive Tätigkeit. (...) Durch den Austausch mit dem Arbeiter hat sich das Kapital die Arbeit selbst angeeignet; sie ist eins seiner Momente geworden, die nun als befruchtende Lebendigkeit auf seine nur daseiende und daher tote Gegenständlichkeit wirkt." (MEW 42, 219)

Klasse und Klassenkampf

"Die Proletarisierung ist erst mit der Zerstörung der autonomen Fähigkeiten der Arbeiter, ihre Existenzmittel zu produzieren, vollendet", schreibt André Gorz (Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Frankfurt 1980, 27).

"Trennung des Eigentums von der Arbeit erscheint als notwendiges Gesetz dieses Austauschs zwischen Kapital und Arbeit" (MEW 42, 217), so Karl Marx. Das klassische Proletariat verfügt sodann über keine Produktionsmittel mehr, außer über seine Arbeitskraft, die zu verkaufen es gezwungen ist, um existieren zu können. Die Ware, die es verkauft, ist die Ware Arbeitskraft. "Der Gebrauch der Arbeitskraft ist die Arbeit selbst. Der Käufer der Arbeitskraft konsumiert sie, indem er ihren Verkäufer arbeiten lässt. Letzterer wird hierdurch actu sich betätigende Arbeitskraft, Arbeiter, was er früher in potentia war." (MEW 23, 192)

"Der letzte Punkt, worauf noch aufmerksam zu machen ist, in der Arbeit, wie sie dem Kapital gegenübersteht, ist der, dass sie als der dem als Kapital gesetzten Geld gegenüberstehende Gebrauchswert nicht diese oder jene Arbeit, sondern Arbeit schlechthin, abstrakte Arbeit ist; absolut gleichgültig gegen ihre besondre Bestimmtheit, aber jeder Bestimmtheit fähig. (...) Andrerseits ist der Arbeiter selbst absolut gleichgültig gegen die Bestimmtheit seiner Arbeit; sie hat als solche nicht Interesse für ihn, sondern nur soweit sie überhaupt Arbeit und als solche Gebrauchswert für das Kapital ist. Träger der Arbeit als solcher, d.h. der Arbeit als Gebrauchswert für das Kapital zu sein, macht daher seinen ökonomischen Charakter aus; er ist Arbeiter im Gegensatz zum Kapitalisten." (MEW 42, 218)

"Das Proletariat ist diejenige Klasse der Gesellschaft, welche ihren Lebensunterhalt einzig und allein aus dem Verkauf ihrer Arbeit und nicht aus dem Profit irgendeines Kapitals zieht; deren Wohl und Wehe, deren Leben und Tod, deren ganze Existenz von der Nachfrage nach Arbeit, also von dem Wechsel der guten und schlechten Geschäftszeiten, von den Schwankungen einer zügellosen Konkurrenz abhängt." (MEW 4, 363)

Der Zusammenhang zwischen der Industrie und dem Auftreten des Proletariats ist laut Friedrich Engels ein ganz enger: "Das Proletariat ist entstanden durch die industrielle Revolution, welche in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in England vor sich ging und welche sich seitdem in allen zivilisierten Ländern der Welt wiederholt hat. Diese industrielle Revolution wurde herbeigeführt durch die Erfindung der Dampfmaschine, der verschiedenen Spinnmaschinen, des mechanischen Webstuhls und einer ganzen Reihe anderer mechanischer Vorrichtungen. Diese Maschinen, welche sehr teuer waren und also nur von großen Kapitalisten angeschafft werden konnten, veränderten die ganze bisherige Weise der Produktion und verdrängten die bisherigen Arbeiter, indem die Maschinen die Waren wohlfeiler und besser lieferten, als die Arbeiter sie mit ihren unvollkommenen Spinnrädern und Webstühlen herstellen konnten. Diese Maschinen lieferten dadurch die Industrie gänzlich in die Hände der großen Kapitalisten und machten das wenige Eigentum der Arbeiter (Werkzeuge, Webstühle usw.) völlig wertlos, so dass die Kapitalisten bald alles in ihre Hände bekamen und die Arbeiter nichts übrigbehielten. Damit war in der Verfertigung von Kleidungsstoffen das Fabriksystem eingeführt." (MEW 4, 363f.)

Eine Unterscheidung in eine Klasse an sich und eine Klasse für sich würden auch wir vorschlagen, aber anders als Edward P. Thompson (Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse (1963), Frankfurt 1987, 7ff.) oder Pierre Bourdieu nicht davon ausgehen, dass die reale Klasse erst als "mobilisierte Klasse, Ergebnis des Klassifizierungskampfs ist." (Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handeln. Aus dem Französischen von Hella Beister, Frankfurt 1998, 25)

Bourdieu behilft sich übrigens damit, dass er zugesteht, dass die Klasse schon vorab "virtuell existieren" (ebd., 26) muss. Zweifellos, der Kampf erschafft nicht die Klasse, er realisiert sie aber auf ganz bestimmte Weise, vor allem auch, weil er ihr ein Bewusstsein ihrer selbst gibt. Klasse ist also objektiv vorhanden, subjektiv erzeugt wird hingegen der Klassenkampf, in dem die Klassenmitglieder sich auf ihre Sonderinteressen kaprizieren und möglichst viel davon durchsetzen wollen. Das Ziel aller Sonderinteressen ist freilich das Geld, es geht stets um die Quantifizierung der verschiedenen Subjekte am Markt. Solange man die Arbeitskraft verkaufen kann, ist der Status des Klassenangehörigen via erfolgreicher Klassifizierung nicht in Frage gestellt.

Im Modus

Der obligate und grundlegende Modus der Arbeiterklasse ist die Arbeit. Arbeiter arbeiten, um Waren herzustellen und Lohn zu empfangen. Das Ringen um die Bedingungen der Arbeit geht über die unmittelbare Tätigkeit hinaus, gehört ihr nicht unmittelbar an, wenngleich mittelbar dazu. Aktivität und Aktion sind zu unterscheiden. Die Aktivität der Arbeiter ist die Arbeit, aber die Aktion der Arbeiter ist die Auseinandersetzung um die Arbeit, der Klassenkampf, der als Schnittstelle zwischen Ökonomie und Politik gelten kann. Die Arbeiterklasse realisiert sich in der Arbeit. Die Arbeiterbewegung allerdings realisiert sich erst im Klassenkampf. Zeugt Ersteres von objektiver Identität, so benötigt Letzteres eine subjektive Identifizierung mit der Rolle und deren Interessen. "Gegen das Kapital setzt sich das Proletariat affirmativ gerade als das, was das Kapital aus ihm gemacht hat." (Gorz 1980, 31)

Die meiste Zeit allerdings kämpft die Klasse nicht, sondern sie arbeitet. Klassenkampf ist auch gar nicht ohne Klassenkooperation zu denken. Das Klassenverhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer ist also auf Kollaboration ausgerichtet. Akkumulation von Kapital ist überhaupt nur vorstellbar in der praktischen Kooperation von Lohnarbeit und Kapital. Kollaboration ist, da mögen Konflikte auch noch so scharf und zugespitzt sein, immer wieder Resultat aller Klassenauseinandersetzungen. Das österreichische Modell der Sozialpartnerschaft hat nun auch versucht, den Klassenkampf zu formalisieren und Konflikte fast ausschließlich und ganz prinzipiell über den Verhandlungstisch zu kommunizieren und zu lösen. Das Spezifische ist übrigens nicht der sozialpartnerschaftliche Aspekt, der ist dem Klassenkampf immanent, sondern die Institutionalisierung desselben in einer Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen.

Karl Reitter benennt Widerstand, Flucht und Anpassung (Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens, Münster 2011, 122) als drei Strategien des Proletariats, dem Kapitalverhältnis gegenüberzutreten. Indes, diese Aspekte sind schwer oder gar idealtypisch zu scheiden und wohl jeder Proletarier hat schon alles ausprobiert. Diese Momente schließen sich im Konkreten nicht aus, wenn auch die jeweiligen Akzente unterschiedlich gesetzt werden. Indes, alle drei Formen sind immanente, auch der Widerstand ist nicht transzendent. Der Klassenkampf beschreibt lediglich die Oberfläche des Verwertungsprozesses, nicht dessen Fundament. Er kennzeichnet keinen antagonistischen Gegensatz, sondern eine immanente Funktionsentsprechung, die eben auch ihre internen Kollisionen kennt. Er meint vorrangig nichts anderes als die Konflikte, die sich aus diesen Positionierungen entwickeln. In unserem Fall geht es somit um den Kampf zwischen konstantem zu variablem Kapital (c:v) über das Verhältnis von Lohn zu Mehrwert (v:m).

"Die unerlässliche Bedingung für eine passable Lage des Arbeiters ist also möglichst rasches Wachstum des produktiven Kapitals" (MEW 6, 411), schreiben Marx und Engels. Das Proletariat ist strukturell an das wachsende Kapital gekoppelt, somit auch an den Profit der Kapitalisten. "Akkumulation des Kapitals ist also Vermehrung des Proletariats." (MEW 23, 642)Bereits 1849 heißt es unmissverständlich: "Die Interessen des Kapitals und die Interessen der Arbeiter sind dieselben, heißt nun: Kapital und Lohnarbeit sind zwei Seiten ein und desselben Verhältnisses." (MEW 6, 411)

"Vergegenständlichte Arbeit und lebendige Arbeit sind die beiden Faktoren, auf deren Gegenübersetzung die kapitalistische Produktion beruht. Kapitalist und Lohnarbeiter sind die einzigen Funktionäre und Faktoren der Produktion, deren Beziehung und Gegenübertreten aus dem Wesen der kapitalistischen Produktionsweise entspringt." (MEW 26.2, 148)

Der unscheinbare Begriff des unselbständig Erwerbstätigen offenbart auf entlarvende Weise mehr, als seinen Erfindern je bewusst gewesen ist. Er streicht nämlich den "freien Bürger" gleich einmal entschieden durch. Er verrät die Unselbständigkeit der Nichtselbständigen. Lohnabhängig sagt aus, dass so definierte Subjekte abhängig sind vom Lohn, sich verdingen müssen, um leben zu können. Man sollte nicht vergessen, dass Menschen in die Lohnarbeit "hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert wurden" (MEW 23, 765).

Unterwerfung und Unterdrückung wurden nicht beseitigt, wie das der Liberalismus unterstellt, sondern lediglich auf eine andere Ebene gestellt. Aus persönlichen Abhängigkeiten wurden strukturelle. Erstere sind damit nicht verschwunden, aber sie agieren primär als Vermittler letzterer.

Verdammung zur Arbeit

Bei der Lohnarbeit stellt sich eine banale, aber meist ungestellte Frage, nämlich: Was passiert mit den Leuten, wenn sie in die Arbeit gehen? Nun, durch die pauschale Abgabe ihrer Arbeitskraft auf eine bestimmte Dauer entledigen sich diese Subjekte ihres bürgerlichen Status. Ihre Rechte werden in dieser Zeit tatsächlich sistiert, sie verlieren sie zwar nicht wie Sklaven oder Leibeigene, aber sie können sie in dieser Phase nicht ausüben, wollen sie ihres Status nicht verlustig gehen. Auf dem Markt ist der Arbeiter zwar ein Bürger, aber in der Arbeit ist der Arbeiter kein Bürger. Während Lohnabhängige ihren Job erledigen, stehen sie unter Kommando und Kuratel. Sie gehören sich nicht, sie gehorchen. Das gilt für die Fabrikhalle ebenso wie für das Büro. Es ist also nicht Übereinkunft und Verbindlichkeit, die dieses Verhältnis regelt, sondern Zwang und Unterwerfung. Arbeit ist Zwangsarbeit zwar nicht formell, aber materiell auf jeden Fall. "Die technische Unterordnung des Arbeiters unter den gleichförmigen Gang des Arbeitsmittels und die eigentümliche Zusammensetzung des Arbeitskörpers aus Individuen beider Geschlechter und verschiedenster Altersstufen schaffen eine kasernenmäßige Disziplin, die sich zum vollständigen Fabrikregime ausbildet und die schon früher erwähnte Arbeit der Oberaufsicht, also zugleich die Teilung der Arbeiter in Handarbeiter und Arbeitsaufseher, in gemeine Industriesoldaten und Industrieunteroffiziere, völlig entwickelt." (MEW 23, 446f.)

In der Arbeit ist der Mensch außer sich, ist Teil eines Betriebs, als dessen Glied er installiert ist. "Solange die maschinelle Arbeit glatt, das heißt: ohne Reibung zwischen Mensch und Maschine abläuft; solange der Arbeitende als 'Konvertit', als 'Rad', linientreu mitfunktioniert, solange ist das Ich gar nicht 'bei sich', solange ist es überhaupt nicht, jedenfalls nicht als Ich. Erst in demjenigen Moment, da der Konformismus etwas zu wünschen übrig lässt, oder da die Arbeit schlagartig misslingt, kommt das Ich 'zu sich', erst dann begegnet es sich: nämlich als etwas Anstößiges: als Versager." (Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd I. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, 91)

Selbstbegegnung tritt als Störung auf. Als funktionale Dissonanz. Der Arbeiter wird hier als Charaktermaske gesetzt, nicht als Individuum.

Wenn die Leute in die Arbeit gehen, gehen sie aus ihrem Leben. Schon der junge Marx betonte, "dass die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, dass er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, dass, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird. Die äußerliche Arbeit, die Arbeit, in welcher der Mensch sich entäußert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung." (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), Leipzig 1974, 155)

Das ganze Arsenal der Arbeitsreligion musste daher aufgeboten werden, diesen Zustand nicht als entfremdeten zu empfinden, sondern als natürlichen. Dabei war der industrielle Block aus Kapital und Arbeit durchaus erfolgreich. Was uns innerlich scheint, wurde lediglich verinnerlicht.

Halten wir kurz inne, auch wenn hier keine elaborierte Kritik der Arbeit folgen kann: Güter werden nicht durch die Arbeit geschaffen, sondern durch ihre Herstellung und Produktion, durch die Arbeit wird nur ihre vergleichende Inwertsetzung ermöglicht, kurzum ein Tauschwert realisiert. Diese Täuschung ist jedoch allen Mitgliedern der Gesellschaft geläufig und selbstverständlich, weil praktiziert und somit praktisch, sie erscheint nicht als analytische Denkleistung, sondern als synthetische Vorleistung, der per Vollzug nachzukommen ist. Sie denken, was sie tun, aber sie denken nicht, was sie tun.

Arbeit ist eben nicht eine konkrete Tätigkeit, die sich vollzieht, sondern die abstrakte Bezüglichkeit entspezifizierter Tätigkeiten zueinander, indem diese in Wert gesetzt werden und nur ihren Zweck erfüllen, wenn sie sich vermarkten oder doch durch ihre Mitgift diese Vermarktung substanziell ermöglichen. Güter sind Folge konkreter Aktivität, Geld ist Folge eines abstrakten Vergleichs. Und doch muss in der Warenwirtschaft das eine immer als das andere erscheinen, diese Verwechslung ist ein Grundpfeiler allen bürgerlichen Handelns und Handels.

Totalisierendes Prinzip

Heute dimensioniert das Formprinzip Arbeit den Inhalt allen Tuns (nicht nur der bezahlten Lohnarbeit!), verleiht ihm sozusagen einen Körper, der als dessen unabänderliche Gestalt erscheint. Was hingegen kreatives Schöpfen sein könnte oder emanzipatorisches Werken, lässt sich nur erahnen, bestenfalls negativ bestimmen, also sagen, was es nicht sein soll. Menschliche Tätigkeit kennt im kapitalistischen System und insbesondere in der deutschen Sprache bloß einen Namen: Arbeit. Das totalisierende Prinzip wird als totale Natur hingenommen. Auch Andrea Komlosy, die in ihrem neuen Band einen breiten Arbeitsbegriff vertritt, schreibt: "Der Begriff 'Arbeit' drang in Bereiche vor, die ursprünglich dem 'Werk' vorbehalten waren." (Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, Wien 2014, 39)

Gerade dass in den Arbeitsbegriff immer alles hineingepfercht, also Unzusammengehöriges vermengt wird, ist unabsichtliche Absicht, eine betäubende Leistung des Hausverstands. Die Lust, Holz zu hacken, und der Zwang, im Supermarkt Regale zu schlichten, sind hier eins. Die Differenzierung in "work" und "labour" macht durchaus Sinn.

Arbeit strukturiert auch den gesamten Alltag der Arbeiter. Die vorgegebenen Stunden bestimmen die Zeiten des Aufstehens, des Einkaufens, des Kochens und Essens, des Schlafens und der Ruhe und auch der meisten anderen Erledigungen und Unterlassungen, Erschwernisse und Versäumnisse. Der Großteil der Energie der Lohnarbeiter fließt in ihre Arbeit. Da ist nichts mit Freiheit und Aussuchen. Worauf man sich zu konzentrieren hat, ist vorgegeben. Der ganze Tagesrhythmus folgt dem Rhythmus des Kapitals.

Es gibt keine Übereinkunft über herstellbare Produkte oder aufzustellende Leistungen, sondern eine Übereignung durch Abgeltung, aus der das Kapital aber seine Verfügung und Aneignung ableitet. (Vgl. MEW 42, 219ff.) Es zahlt, daher schafft es an. Natürlich kann man einwenden, dass das nicht stimmt, weil eigentlich umgekehrt; doch unsere allgemeine Vorstellungen von Geben und Nehmen ist eben eine verkehrte, das drücken schon die zu Bestimmungen gewordenen Formulierungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern aus, wo alles absichtlich verwechselt wird, was nur vertauscht werden kann. In dieser Sprache fungieren die Ausgebeuteten oder Ausgenommen tatsächlich als Nehmer. Das konventionelle wie konsensuale Vokabular bestätigt diesen Unsinn in jeder Aussage. Schon Friedrich Engels verwahrte sich übrigens im Vorwort zum Marxschen "Kapital" gegen "jenes Kauderwelsch, worin z. B. derjenige, der sich für bare Zahlung von andern ihre Arbeit geben lässt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird" (MEW 23, 34). Dieser Kauderwelsch beherrscht jedoch die Sprache, nicht nur die des Alltags, sondern auch die der Politik, Medien und sogar der Wissenschaft, auch wenn es sich um totalisierende Nonsensbegriffe handelt. Tendenziell totalitär sind sie deswegen, weil wir uns nicht aussuchen können, sie zu verwenden oder nicht zu verwenden. Sie verwenden uns, weil sie in Verwendung stehen.

Verdammung und Verdummung

Auf jeden Fall meint Lohnarbeit Arbeitszwang. Lohn ist notwendig, um an Lebensmittel zu kommen. Wer Lohn benötigt, ist gezwungen, sich am Markt zu verdingen und in den Fabriken zu schuften. Dieser Druck zeichnet das Proletariat aus, er ist sein Stachel. Arbeit kann daher als ständiger Zwang zur Verdingung gelten. "Eine andre Quelle der Demoralisation unter den Arbeitern ist die Verdammung zur Arbeit", schreibt Friedrich Engels in seiner klassischen Studie zur Lage der englischen Arbeiterklasse. "Wenn die freiwillige produktive Tätigkeit der höchste Genuss ist, den wir kennen, so ist die Zwangsarbeit die härteste, entwürdigendste Qual. Nichts ist fürchterlicher, als alle Tage von morgens bis abends etwas tun zu müssen, was einem widerstrebt. Und je menschlicher der Arbeiter fühlt, desto mehr muss ihm seine Arbeit verhasst sein, weil er den Zwang, die Zwecklosigkeit für ihn selbst fühlt, die in ihr liegen. Weshalb arbeitet er denn? Aus Lust am Schaffen? Aus Naturtrieb? Keineswegs. Er arbeitet um des Geldes, um einer Sache willen, die mit der Arbeit selbst gar nichts zu schaffen hat, er arbeitet, weil er muss, und arbeitet noch dazu so lange und so ununterbrochen einförmig, dass schon aus diesem Grunde allein ihm die Arbeit in den ersten Wochen zur Qual werden muss, wenn er noch irgend menschlich fühlt. Die Teilung der Arbeit hat die vertierenden Wirkungen der Zwangsarbeit überhaupt noch vervielfacht." (MEW 2, 346)

Engels beschreibt die Geschichte der modernen Fabrik als die Erzählung von Schreckenshäusern, wo um des Profites Willen, systematisch Menschen geopfert werden. Karl Marx spricht wiederum ganz drastisch vom "Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut" (MEW 23, 271). Eine Kritik der Fabrik und des Fabriksystems ist unerlässlich. Man braucht heute nur einschlägige Sendungen über die Arbeitsverhältnisse in der indischen oder chinesischen Textilindustrie anzusehen, um zu begreifen, dass solche Zustände noch nicht überwunden sind, sondern sogar zugenommen haben. Die Konkurrenzfähigkeit dieser Betriebe liegt gerade in diesem menschenfeindlichen System. Eine prinzipielle Kritik daran kommt freilich selten aus den traditionellen Arbeiterparteien oder Gewerkschaften, da deren Aufstieg wie auch ihr Bestand direkt an das Fabriksystem geknüpft sind, sozusagen unmittelbare Folge der großen Industrie und der Konzentration der Arbeiterschaft darstellen. Die Arbeiterklasse ist eine, ja die industrielle Klasse. Ohne Industrie kein Proletariat, ohne Proletariat keine Industrie.

Doch nicht nur die Verdammung zur Arbeit spricht Engels an, auch die Verdummung durch die Arbeit ist ihm ein zentrales Thema. "Man kann wirklich keine bessere Methode zur Verdummung erfinden als die Fabrikarbeit" (MEW 2, 398), schreibt er. "Überall wendet man Maschinen an und vernichtet dadurch die letzte Spur der Unabhängigkeit des Arbeiters. Überall löst sich durch die Arbeit der Frau und der Kinder die Familie auf oder wird gar durch die Brotlosigkeit des Mannes auf den Kopf gestellt; überall liefert die Unvermeidlichkeit der Maschinerie dem großen Kapitalisten das Geschäft und mit ihm die Arbeiter in die Hände." (425f.) "Die eigentliche Manufaktur unterwirft nicht nur den früher selbständigen Arbeiter dem Kommando und der Disziplin des Kapitals, sondern schafft überdem eine hierarchische Gliederung unter den Arbeitern selbst. Während die einfache Kooperation die Arbeitsweise der einzelnen im großen und ganzen unverändert lässt, revolutioniert die Manufaktur sie von Grund aus und ergreift die individuelle Arbeitskraft an ihrer Wurzel. Sie verkrüppelt den Arbeiter in eine Abnormität, indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen, wie man in den La-Plata-Staaten ein ganzes Tier abschlachtet, um sein Fell oder seinen Talg zu erbeuten. Die besondren Teilarbeiten werden nicht nur unter verschiedne Individuen verteilt, sondern das Individuum selbst wird geteilt, in das automatische Triebwerk einer Teilarbeit verwandelt und die abgeschmackte Fabel des Menenius Agrippa verwirklicht, die einen Menschen als bloßes Fragment seines eignen Körpers darstellt." (MEW 23, 381f.)

Stets gilt: Die Arbeiter richten sich nach der Maschine, nicht die Maschine nach den Arbeitern. "Aus der lebenslangen Spezialität, ein Teilwerkzeug zu führen, wird die lebenslange Spezialität, einer Teilmaschine zu dienen." (MEW 23, 445)

"In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus, unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt." (MEW 23, 445)

"Während die Maschinenarbeit das Nervensystem aufs äußerste angreift, unterdrückt sie das vielseitige Spiel der Muskeln und konfisziert alle freie körperliche und geistige Tätigkeit. Selbst die Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt. Aller kapitalistischen Produktion, soweit sie nicht nur Arbeitsprozess, sondern zugleich Verwertungsprozess des Kapitals, ist es gemeinsam, dass nicht der Arbeiter die Arbeitsbedingung, sondern umgekehrt die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet, aber erst mit der Maschinerie erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit. Durch seine Verwandlung in einen Automaten tritt das Arbeitsmittel während des Arbeitsprozesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als tote Arbeit, welche die lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt." (MEW 23, 445f.)

Fabrik als Emanzipation

Und doch lässt sich die Proletarisierung breiter Schichten nicht einfach als Abstieg und Verelendung beschreiben, sondern auch als Umstieg und in vieler Hinsicht sogar als Aufstieg.

Vergessen werden darf nicht, dass die Fabrik die Möglichkeit darstellte, der patriarchalen Ganztagsherrschaft in der Landwirtschaft zu entfliehen. Insbesondere für Frauen. Die Fabrik bedeutete in gewissem Maß die Überwindung von ständischen und patriarchalen Verhältnissen. Fabriksarbeit hieß eigenes Geld, das einem monatlich (zuerst per Lohntüte zugesteckt, dann auf das Konto überwiesen) und verlässlich zustand und über das man auch (zumeist) individuell verfügen konnte. Das Lohnverhältnis transformierte die persönliche Abhängigkeit in ein doch sachliches (und vermeintlich stabiles) Geschäftsverhältnis. Es baute auf dem Kollektivvertrag und war nicht auf Bitte und Gnade ausgerichtet, sondern basierte auf Vereinbarungen mit verbindlichem, ja gesetzlichem Charakter.

Die Fabrik stand für eine Rationalisierung der Lebensverhältnisse, die strikte Trennung der Arbeitszeit von der Reproduktionszeit und der Freizeit wurde als sektorale Befreiung wahrgenommen, da man nur noch zu bestimmten Zeiten zur Verfügung zu stehen hatte. Dies war in Zeiten streng geregelter Arbeitszeit sogar ausgeprägter als in Zeiten zunehmender Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Man hatte Anspruch auf Lohn, Urlaub, Krankengeld und bestimmte soziale Sicherheiten. Anders als in der agrarischen, kleingewerblichen und kleinhäuslerischen Sphäre war man außerhalb der Arbeitszeit nicht einem Obrigkeitsverhältnis ausgeliefert, sieht man von obligaten weiblichen Zuordnungen der Reproduktion (Kochen, Putzen, Zusammenräumen, Waschen) und der Kindererziehung ab.

Die Befreiung war aber ganz eigenartiger Natur: Nicht in der Arbeit wurde man durch die Arbeit frei, sondern durch den Verkauf der Arbeitskraft gewann man außerhalb der Arbeit frei verfügbare Zeit, in besonderer Weise wurde man dort unabhängig oder besser vielleicht: individuell disponibler. Die Arbeit befreite also die Leute außerhalb der Arbeit, eben weil sie Lebenswelt und Arbeitswelt strikt trennte. Das Fabriksregime war absolut nur in der Fabrik, darüber hinaus setzte es zwar implizite Dominanzen (vor allem im Konsumverhalten), übte aber keine explizite Macht aus, sondern bot Freizeit als Freiheit (wenn auch primär für den Konsum). So verpflichtete die Fabrik die Arbeiter weder zum Kirchgang, noch verbot sie ihnen bestimmte Genüsse oder Liebschaften. Und sie mobilisierte die Beschäftigten über den kleinen Radius von Scholle und Eigenheim hinaus. Bei aller Ambivalenz war ein bestimmtes Maß an Attraktivität, vergleicht man es mit den vorhergehenden Gepflogenheiten auf Hof und Keusche, nicht abzustreiten. Was der Kapitalismus von seinen Insassen verlangte, nämlich Geld zu haben, das wurde durch das Einkommen in der Erwerbsarbeit gewährleistet. Viele junge Arbeiterinnen und Arbeiter haben das (vorerst) so empfunden.

Lohnabhängig zu sein, heißt auch andere Abhängigkeiten hinter sich zu lassen. Es ist eine Fessel, die von anderen Fesseln befreit, nicht vollständig, aber doch elementar. Man konnte der Familie entfliehen, der angestammten Repression und Autorität, der Gratisarbeit im Stall und auf den Feldern, und schließlich dem Katholizismus und seinem engen, von Verbot und Gebot gezeichneten Verhaltenskodex, der stets schlechtes Gewissen erzeugte. Das Verhältnis zur herrschenden Religion minimierte sich zusehends. Schon lange vor den großen Austrittswellen war die Kirche für die meisten Arbeiter (mehr als für die Arbeiterinnen) nur noch Folklore (Taufe, Hochzeit, Begräbnis).

Der Glaube war kaum noch mit den konventionellen Verpflichtungen und Haltungen (Kirchgang, Beichte, Unauflöslichkeit der Ehe, kein vorehelicher Geschlechtsverkehr) verbunden. Die Lohnarbeit ermöglichte so auch die vom Subjekt vollzogene Auflösung und Überwindung von einst starren mentalen und sozialen Abhängigkeiten. Scheidungen wurden mit der Zeit nicht nur toleriert, sondern zunehmend akzeptiert. Die obligate Diskreditierung von Geschiedenen verlor ihre verächtliche Schärfe. Ebenso führten Schwangerschaften nicht sogleich zu Zwangsheirat und Zwangsehe. Uneheliche Kinder, einst mit Schande verbunden, wurden nun mehr und mehr als gleichwertig akzeptiert. Weiters wurde in dieser Phase die Abtreibung legalisiert.

Vor allem in Perioden, in denen die sozialen Errungenschaften zugenommen haben und die Löhne stiegen, war das Fabriksregime kaum oder besser noch: überhaupt nicht Gegenstand substanzieller Debatten und Ansprüche. Es wurde in keiner Weise in Frage gestellt, man kämpfte nur für bessere Bedingungen innerhalb des Betriebs, für höhere Löhne, längere Urlaube, Fahrzuschüsse, bezahlte Pausen und Arbeitskleidung. In Zeiten der Hochkonjunktur war die Unternehmerseite in vielen Punkten konziliant, nicht primär aus menschenfreundlichen Überzeugungen, sondern aus betriebswirtschaftlichem und sozialpartnerschaftlichem Kalkül, die besagen, dass eine zufriedene Arbeiterschaft zum Gelingen der Betriebsziele durchaus mehr beiträgt als eine, auf die das nicht zutrifft.

"Nur durch kollektives Handeln können Arbeiter eine gewisse wirksame Kontrolle über ihre Ware - das heißt effektiven Warenbesitz - erlangen", schreibt Moishe Postone (Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003, 479). Das effiziente Handeln ist aber nur möglich, wenn das Kollektiv kollektiv handelt und nicht das Individuum individuell, d.h. wenn dieses System Abweichungen nicht zulässt oder doch minimiert. Das Kollektiv bedarf Rigidität nach innen, um Autorität zu demonstrieren und letztlich Stärke nach außen etablieren zu können. Der solidarische Zusammenschluss folgt also einer Willigkeit, die nicht immer eine Freiwilligkeit darstellt. Ins Wanken geriet dieses Modell nicht aufgrund innerer Demokratiedefizite (mangelnde Transparenz, kaum Partizipation), sondern vor allem aufgrund der mangelnden Effizienz in den späteren Jahren.

Arbeitslosigkeit als Entwertung

Arbeitslosigkeit ist historisch ein relativ junges Phänomen. In allen bekannten Gesellschaften gab es verelendete Gruppen und Personen, aber nicht in allen Gesellschaften gab es Arbeitslose. Sklaven und Leibeigene waren weder Arbeiter noch Arbeitslose. Arbeitslos, das sagt schon der Begriff, ist eng mit der Kategorie Arbeit verbunden, wie sie unselbständig Erwerbstätige auszuüben haben. Arbeitslosigkeit ist somit erst mit Lohnarbeit und Kapital entstanden. Erst wenn es freie Arbeiter gibt, gibt es auch freigesetzte Arbeitslose. Die betroffenen Personen können als potenzielle Arbeitskraftverkäufer bezeichnet werden, die ihren Gebrauchswert nicht verkaufen können, jedoch über kein anderes Produktionsmittel als ihre Arbeitskraft verfügen. In den obligaten Statistiken scheinen sie allerdings nur dann auf, wenn sie Anrecht auf Arbeitslosengeld besitzen.

Der Arbeitslose wird durch den Arbeiter definiert. Aber ein Arbeiter, der seine Arbeitskraft nicht verkaufen kann, ist kein Arbeiter. Aber was ist er dann? Nun, er ist etwas im Konjunktiv. Er ist etwas, weil er etwas nicht ist, was er sein sollte. Arbeitslosigkeit ist Ausdruck der Misere der Arbeit. Arbeitslosigkeit gehört zur Arbeit, die es nun für die Arbeitskraft nicht mehr gibt. Die Unverdinglichkeit des Sich-zu-Verdingenden wird dabei offensichtlich. Und natürlich ist sie ein großes Problem, wenn das Verdingen höchste Pflicht ist. - Allerdings nur dann!

Karl Marx schreibt: "Wachstum in der Anzahl der Fabrikarbeiter ist also bedingt durch proportionell viel raschres Wachstum des in den Fabriken angelegten Gesamtkapitals. Dieser Prozess vollzieht sich aber nur innerhalb der Ebb- und Flutperioden des industriellen Zyklus. Er wird zudem stets unterbrochen durch den technischen Fortschritt, der Arbeiter bald virtuell ersetzt, bald faktisch verdrängt. Dieser qualitative Wechsel im Maschinenbetrieb entfernt beständig Arbeiter aus der Fabrik oder verschließt ihr Tor dem neuen Rekrutenstrom, während die bloß quantitative Ausdehnung der Fabriken neben den Herausgeworfnen frische Kontingente verschlingt. Die Arbeiter werden so fortwährend repelliert und attrahiert, hin- und hergeschleudert, und dies bei beständigem Wechsel in Geschlecht, Alter und Geschick der Angeworbnen." (MEW 23, 477)

Von struktureller Arbeitslosigkeit sprechen wir dann, wenn die Repulsion durch die Attraktion am Arbeitsmarkt nicht mehr in absehbarer Frist ausgeglichen werden kann. Strukturelle Arbeitslosigkeit bedingt auch (anders als die friktionale, die konjunkturelle oder die saisonelle) den sukzessiven Zerfall des Klassenzusammenhangs und der geübten Solidarität, sei diese nun Folge von Wille, Einsicht oder auch Zwang. Strukturelle Arbeitslosigkeit zersetzt so auch die substanzielle Kraft jeder aktiven Arbeiterschaft. Strukturelle Arbeitslosigkeit meint, dass das Angebot an Arbeitskräften stets und anhaltend größer ist als die Nachfrage ist. Arbeitslosigkeit ist von einem Randphänomen zu einem Zentralproblem geworden, also von einem akuten Affekt der Wirtschaft zu einem chronischen Effekt der Ökonomie. Arbeitslosigkeit ist keine konjunkturelle, sondern eine strukturellen Größe.

Arbeit wie Arbeitslosigkeit definieren sich durch die Lohnarbeit. Einmal ist sie vorhanden und eingelöst, das andere Mal ist sie abwesend, aber doch bestimmend. Wenn man Arbeit und Arbeitslosigkeit somit nicht als sich wechselseitig ausschließendes Gegensatzpaar hypostatisiert, dann gilt der Tendenz nach zweifellos folgendes: Arbeitslosigkeit konkurrenziert und atomisiert, während Arbeit konkurrenziert und solidarisiert. Arbeit ist nämlich auf Kooperation und Kommunikation angewiesen. Arbeit konstituiert nicht nur konkurrenzistische Subjekte, sondern fördert auch die Anteilnahme am Anderen: Man hilft sich, erkundigt sich, unternimmt auch außerhalb der Arbeit gemeinsam etwas, lernt die anderen nicht nur als Arbeiter, sondern auch als Menschen mit vielfältigen Bedürfnissen kennen. Arbeitslosigkeit hingegen birgt dieses Potenzial kaum, man ist nicht aktiv, sondern erleidet etwas. Arbeitslosigkeit beherbergt so meist eine seltsame Art von Lethargie. Diese Lethargie sollte nicht mit Gelassenheit verwechselt werden.

Arbeitslos bedeutet also nicht, dass man ganz profan nichts zu tun hätte, sondern dass man keiner bezahlten Erwerbsarbeit nachgehen kann, obwohl man gerade diese benötigt, um den Lebensunterhalt zu sichern. Der Arbeiter, der nicht mehr Arbeiter ist, will Arbeiter sein, weil er Arbeiter sein muss. Der Arbeitslose ist der eben nicht verwertbare Arbeiter, der seines gesellschaftlichen Marktstatus verlustig geht. Da er kein Verkäufer mehr ist, hört er auch auf, Käufer zu sein.

Arbeitslos zu sein, heißt, dass sich ein Warentausch (Arbeitskraft gegen Lohn) nicht oder nicht mehr vollziehen kann. Das Kaufen und das Verkaufen einer Ware hat aufgehört. Die Ware Arbeitskraft verliert somit ihren Warenstatus. Aus der Potenz ist Impotenz geworden, vornehmlich die Impotenz ihrer gesellschaftlichen Träger, der nunmehrigen Nicht-Arbeiter. Gemeinhin wird sodann ein Status des Käufers ohne Verkäufer zu sein durch Alimentierung (Arbeitslosenbezug, Sozialhilfe, sonstige Unterstützungen) wieder notdürftig hergestellt. Arbeitslosigkeit ist also kein Mangel an Tätigkeit, sondern ein gesellschaftlich bedingter Mangel an Kaufkraft, sprich Geld. Man gehört nicht so recht dazu, weil man seine Pflicht als Geldsubjekt, d.h seine Pflicht als Käufer von Arbeitsleistungen und Verkäufer von Arbeitskraft nicht erfüllen kann. Der Arbeitslose ist der entwertete Arbeiter.

Arbeitslosigkeit und Qualifizierung

Einem Mythos muss freilich entgegen getreten werden, nämlich dem, dass Qualifizierung Arbeitslosigkeit verhindere. Ein einzelner mag einen Arbeitsplatz nicht besitzen, weil er zu wenig ausgebildet ist, doch hätte er die nötige Qualifikation, hieße das bloß, dass er den Arbeitsplatz hätte, den nun ein anderer eben nicht mehr hat. Es gibt also keinen Arbeitsplatz zusätzlich, wenn der besser Qualifizierte ihn dem schlechter Qualifizierten wegnimmt. Im Gegenteil, es ist davon auszugehen, dass je mehr dieses Spiel der Konkurrenz gespielt wird, es nicht mehr, sondern insgesamt weniger bezahlte Jobs gibt. Qualifizierung funktioniert als eherner Faktor der Rationalisierung. "Du kannst es schaffen", ist eine vordergründige Möglichkeit, die aber hinterrücks im Prinzip nichts anderes heißt als "Schaffe es, andere abzuschaffen!". "Aus Drei mach Zwei, aus Zwei mach Eins, so geht das Hexeneinmaleins."

Eine Standardaussage wie "Unterdurchschnittlich qualifizierte Arbeitskräfte werden zuerst und unverhältnismäßig stark von Arbeitslosigkeit betroffen", müsste in ihren Aspekten kritisch überprüft werden. Jene suggeriert, dass, wäre die Ausbildung besser, man weniger betroffen wäre. Doch das stimmt so nicht. Hypothesen dieser Sorte haben zwar vordergründig eine hohe Plausibilität, schrammen jedoch an der Problemlage vorbei.

Nun ist es zwar richtig, dass man weniger betroffen wäre, aber keinesfalls, dass weniger betroffen wären. Wären die Leute nämlich besser ausgebildet, wären realistischerweise nicht diese arbeitslos, sondern andere. Wären aber auch letztere besser geschult, dann hilft allen zusammen die Ausbildung wenig. Im Gegenteil: Je besser sie ausgebildet sind, desto mehr Arbeitsplätze schaffen sie wiederum ab, weil sie produktiver sind. Denn besser ausgebildete Kräfte erledigen in kürzerer Zeit ein größeres Pensum. D.h. aber auch, dass sie sich selbst wegrationalisieren, da man nun für das gleiche Ergebnis weniger Arbeitsleistung und somit Arbeitskräfte braucht. Nach wie vor gilt, dass Produktivität Arbeitsplätze frisst.

Fazit: Wären die Leute insgesamt besser geschult, wäre die Arbeitslosigkeit nicht niedriger, sondern höher, weil produktiver gearbeitet werden könnte. Die Chancen Einzelner erhöhen sich zwar, aber die Chancen aller sinken. Ausbildung ist also immer ein Rationalisierungsmoment, weil die zusätzliche Qualität das notwendige Quantum an Arbeit und Arbeitskraft für dasselbe Produkt oder dieselbe Leistung minimiert. Es werden sodann mehr Verlierer als Sieger kreiert. Indes, tut man nichts, gibt es unmittelbar nur Verlierer. So ist es immanent logisch, solche Aussagen zu treffen und sich so zu verhalten, als wäre es geradewegs so, wie es nicht ist. Insgesamt ist es ein Wettlauf, bei dem es zwar Sieger gibt, aber die Verlierer immer mehr werden.

In der Konkurrenz mag einer oder eine seine oder ihre Haut retten, aber sie wird gerettet, weil sie anderen gegerbt wird. Survival of the fittest heißt, die Schwächeren werden nicht mitgenommen, sie kommen vielmehr unter die Räder. Ausbildung mag dem Einzelnen helfen, am Grundproblem ändert sie gar nichts. Selbst wenn sie an einem Standort überdurchschnittlich viele Arbeitsplätze rettet oder gar kreiert, heißt das nur, dass sie anderswo vernichtet werden. Auf globaler Ebene kann es übrigens auch sein, dass ein gut Ausgebildeter durch einige schlecht Ausgebildete ersetzt wird, weil diese billiger kommen, also zu einem Bettel arbeiten. Aber das ist nicht die generelle Tendenz. Sie sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Verschwinden von Arbeit und Klasse

Es ist ein doppeltes Verschwinden. Einerseits verschwinden die Arbeiter tatsächlich. Fulltimejobs in den Fabriken und in den Gewerben nehmen ab und auch die damit verbundene Selbsteinschätzung, ein Arbeiter, eine Arbeiterin zu sein. In der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden aber auch jene, die es tatsächlich noch gibt. Die, die man noch sehen könnte, übersieht man geflissentlich. Das Proletariat ist in doppelter Hinsicht keine relevante Klasse mehr. Es wird als gesonderte Identität (Arbeiterklasse, Arbeiterbewegung, Arbeiterpartei, Gewerkschaft) immer weniger wahrgenommen. Auch von sich selbst nicht. Realität und Verdrängung gehen in die gleiche Richtung. Das Hochhalten irgendwelcher Fahnen, Rituale, Muster ist nur noch ein historisches Hintergrundrauschen, ein retrospektiver Bezug, geprägt von einer latenten, aber abnehmenden Nostalgie. Kurzum Folklore.

Die alte objektive Identität ist im Zerbrechen begriffen, und zwar in allen Bereichen. Arbeiter verschwinden reell wie virtuell. Positiv ist heute ausschließlich der Begriff des Bürgers (der nicht nur den Besitzbürger, also den Bourgeois meint) besetzt, der alle umfassen soll, weil auch alle sich ihm zugehörig fühlen wollen. Der Begriff des Arbeiters hingegen hat keine Zugkraft mehr, als Prolet ist er eindeutig negativ besetzt. Daraus ist wieder ein undifferenziertes Schimpfwort für einen ungehobelten und primitiven Kerl geworden. Die Arbeiter werden, auch wenn sie welche sind, nicht mehr als solche klassifiziert. Das gilt für die Außenwahrnehmung wie für die Innensicht. Arbeiter scheint keine tragfähige oder deutlicher sogar: tragbare Kategorie zu sein. Alle sind Bürger geworden und so soll auch nur mehr von solchen die Rede sein.

So verschwinden zwar die Arbeit und mit ihr die Arbeiter, was hingegen nicht verschwindet, ist die Ideologie der Arbeit. Das Bekenntnis zu ihr bleibt unangetastet, ja es mobilisiert auf erschreckend aggressive Weise. Während die Arbeit sich real abschafft, hat sie für alle Zukunft zu gelten. Wird das Leid der Arbeit immer wieder kollektiv verdrängt, so wird das Lied der Arbeit immer noch unisono angestimmt. Dieses ist ja auch nicht nur das Lied einer Klasse, sondern überhaupt der Kanon der bürgerlichen Gesellschaft. Die Arbeiterbewegung hat es nur mit größter Inbrunst angenommen und für sich geradezu in einen kultischen Status überführt.

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Rezens

Leopoldine Evelyne Kwas: Ich bin das Volk.

von Maria Wölflingseder

Leopoldine Evelyne Kwas: Ich bin das Volk. edition a, Wien 2017, 139 Seiten, ca. 20 Euro


Eine Rarität! Leopoldine Evelyne Kwas macht nicht das, was die allermeisten in ihrer Lage machen: sich zu verstecken und sich ihrer Armut zu schämen. Sie macht sich Luft! Sie schildert auf sehr plastische Weise die Erlebnisse als Fünfzigjährige mit dem Arbeitsamt, bei der Arbeitssuche und im Alltag mit immer weniger Geld. Sie gibt auch ihren Mitmenschen eine Stimme, denen es oft noch schlechter ergeht angesichts von Armut, Krankheit und Verzweiflung. Sie schreibt darüber, "wie wir hier in unserer Perspektivenlosigkeit ersaufen".

Kwas ist eine von den mindestens 18 Prozent der Österreicher, die an oder unter der Armutsgrenze leben. Sie hat bis zur Kündigung als Filialleiterin im Handel gearbeitet. Besonders eindringlich beschreibt sie auch die massiven Verschlechterungen von Handelsangestellten nach der Einführung der "12-Stunden-Regelung". Für Filialleiterinnen bedeutet das nun einen 13- bis 14-Stundentag.

Kwas hat den Spieß umgedreht: Die unerträglichen Reden der Politiker und Politikerinnen an das Wahlvolk konterkariert sie ihrerseits mit ihrer Rede an ebendiese. So notwendig das Aufzeigen all dieser durchgeknallten Widersprüche ist, die uns Tag für Tag fragen lassen, in welcher Welt wir eigentlich leben, so kurz greifen Kwas' Forderungen an die Politik, Arbeitsplätze zu schaffen oder das Nachtrauern der Zeiten mit hoher Konjunktur. Angesichts der hohen Produktivität ist es einfach unmöglich geworden, alle Menschen in das Arbeitssystem zu pressen. Das Auskommen kann und darf deshalb nicht mehr an ein Lohneinkommen gebunden sein.

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Arbeit 4.0 - Ein Hype

von Nikolaus Dimmel

Alles wird neu. Sogar der Kapitalismus im Kapitalozän. So alt kann die Megamaschine der kapitalistischen Landnahme gar nicht aussehen mit "Abstieg, Arbeitslosigkeit, Armut, Ausbildungsabbruch oder Auswanderung" (um nur bei "A" zu bleiben). Wenn wir schon bei "A" im Kapitalverhältnis sind: "Automation". Das ist das neue "Catchword". Dazu werden assoziiert: Automatik, Big Data, Crowdsourcing, Crowdwork, Internet der Dinge, Open Innovation, Prosument, Robotik oder Social Forecasting. Zusammengerührt ergibt das das Schlagwort "Arbeit 4.0".

Depression und Aggression

Die Situation ist nicht lustig. Niedrige Wachstumsraten und sinkende Kaufkraft, Stagnations- und Stagflationsperioden, die Vernichtung gesellschaftlicher Lebensgrundlagen, Massenarbeitslosigkeit, der Rückgang gesunder Lebensjahre, die Explosion sozialer Ungleichheit - all das trägt zu Depressionen, einem allgemeinen Sinnlosigkeitsempfinden, kollektiver Autoaggression und einem "erschöpften Selbst" (Alain Ehrenberg) bei.

Und so erfindet die politische Dienstklasse und mit ihr der ideelle Gesamtkapitalist als Coach der stagnierenden Arbeitsgesellschaft, die weder formelle Arbeit noch Wachstum generieren kann, ein neues neues Narrativ: Kapitalismus macht Neustart als Nummer 4. Das setzt freilich einen neuen "Frame" des Fortschrittsdenkens, ein neues, ästhetisiertes Wiederaufbau-Märchen nach der Weltwirtschaftskrise 2008 voraus. Adressaten dieser neuen großen Erzählung sind sowohl Kapital als auch Arbeit.

Entrepreneurs sollen nach Mechanisierung, Industrialisierung und Automatisierung im "Kapitalismus 4.0" die Digitalisierung nutzen, um im kommenden Internet der Dinge Wachstumschancen zu lukrieren und gesteigerte Profite zu realisieren.

Lohnarbeitskräfte sollen als radikal flexibilisierte ArbeitskraftunternehmerInnen, resilient gegenüber sämtlichen Zumutungen der Prekarität, ort- und bindungslos in "atmenden Unternehmen" subsumierter Teil der Maschinerie werden. Denn die neue Maschinerie bedient sich des Menschen.

Ausgangspunkt dieses Narrativs ist die neue Qualität der Automation, die auf einer Miniaturisierung der Sensortechnik, Big Data, gesteigerten Datenverarbeitungskapazitäten, lernenden Algorithmen, Nanotechnologie sowie Mensch-Maschine-Kopplungen beruht.

Im Mittelpunkt dieser "normativen Phantasie" steht einerseits die vollautomatisierte, menschenleere Fabrik, die noch unverstandene, nicht-intendierte quasi-kapitalistische Produktion ohne Mehrwert. Andererseits findet sich dort die Vorstellung einer Kulmination des Digitalisierungsprozesses in künstlicher Intelligenz, die nicht mehr bloß die partielle Übertragung von Kopfarbeit auf Maschinen, sondern die vollständige Verdrängung der menschlichen Kognition durch eine quantitativ und qualitativ weitaus überlegene digitale Maschine ist. In der Tat sind Spracherkennung, Dialogfähigkeit sowie ihre Möglichkeit, enorme Mengen strukturierter und unstrukturierter Daten, wie Bilder oder handschriftliche Aufzeichnungen, zu verarbeiten, in künstlichen Gehirnen weitaus besser entwickelt als im menschlichen. IBMs "Watson" kann nicht nur binnen Sekundenbruchteilen auf das gesamte digital archivierte Wissen zugreifen, sondern auch kontextbasiert "weiterdenken", mit Meta-Bedeutungen "spielen" und adäquat auf Emotionen reagieren.

Maschinen, Anlagen und Vorprodukte kommunizieren in der Arbeitswelt 4.0 digital mittels Algorithmen, Transpondern und Sensoren. Sie bilden einen Teil des "Internet der Dinge". Lernende, autonome Systeme steuern in den Werkshallen die Produkte, Roboter, Maschinen und Antriebe. Das Produkt teilt qua Transponder mit, wie es bearbeitet werden muss; der Roboter, dass er befristet belegt ist; der Maschinenmotor, dass er eine Wartung benötigt. So steuern "intelligente" Werkstoffe mittels Algorithmen ihren Bearbeitungprozess selbst. Die Arbeitskraft kommt nur noch zu Wartungsarbeiten und zur Maschinenbedienung ins Spiel.

Unternehmen selbst werden im Kapitalismus 4.0-Konzept virtuell. An ihre Stelle treten Plattformen, deren steuernde Algorithmen Produktionsschritte in globalen Wertschöpfungsketten koordinieren. Damit verändern sich nicht nur die globale Arbeitsteilung, die interne Unternehmens- und Arbeitsorganisation. Die abhängige Lohnarbeit selbst wird hybridisiert: sie verwandelt sich tendenziell in fraktale, selbstständige Auftragsarbeit eines Werkunternehmers/einer Werkunternehmerin. "Uber" (Personenverkehr), "Foodora" (Speisenzustellung) oder "AirBnB" (Kurzzeitzimmervermietung) markieren, dass diese Virtualisierung auch in den Dienstleistungssektor eingedrungen ist. Auch hier fungieren Unternehmen als Betreiber einer Markt-Plattform, auf der formell selbstständige (oder auf Abruf beschäftigte) AnbieterInnen (WohnungseigentümerInnen, Mietwagenunternehmen, BotInnen) Leistungen anbieten. Auch hier ermöglicht die Digitalisierung Transaktionen in Echtzeit über große Distanzen zu niedrigeren Grenzkosten.

1.0, 2.0, 3.0, 4.0

Wie jede Ideologie basiert auch dieses Revolutions-Märchen auf einer normativen Setzung, nämlich der Vorstellung einer unentrinnbaren Gesetzmäßigkeit. Demnach meinte "Arbeit 1.0" die erste industrielle Revolution und die Entstehung mechanisierter Fabrikarbeit. "Arbeit 2.0" der Industriegesellschaft war durch serielle, standardisierte Industriearbeit, Automatisierung, Command & Control-Techniken sowie erratische Arbeitszeiten geprägt. "Arbeit 3.0" meinte die Computerisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt, die Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeit, die Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses. "Arbeit 4.0" schließlich wird als Arbeit im Plattform-Kapitalismus beschrieben, in der Automaten und Roboter Arbeitsprozesse unmittelbar steuern. Der Mensch bedient sich nicht mehr der Maschine, sondern umgekehrt. Nicht mehr Menschen erteilen Anweisungen, sondern Werkstücke, Automaten und Roboter tun dies.

Dieser Modernisierungsschritt wird als unausweichlich verhandelt, geboren aus der Singularitäts-Debatte, wonach die Fortschritte der Digitalisierung kognitive, sensorische und motorische Fähigkeiten der menschlichen Arbeitskraft längst in den Schatten stellen. Lokführerinnen, Verkäufer, Altenpflegerinnen, Rechtsanwälte, Radiologinnen, Taxifahrer, Psychotherapeutinnen, Kassierer, Lagerarbeiterinnen, Mähdrescherfahrer, Büro- und kaufmännische Fachkräfte, so die Prognose, werden sukzessive durch Automaten ersetzt. Roboter melken Kühe, betreuen Burn-Out-PatientInnen, füttern Demente, misten Ställe aus, reinigen Glasfassaden, sortieren Produkte. Dazwischen entstehen Mensch-Maschine-Kopplungen als Vorgriff auf den "Cyborg" sowie Techniken des "Neuro-Boosting", um die Aufmerksamkeitsspanne menschlicher Arbeitskräfte zu steigern. So weit ist die Erscheinung der kapitalistischen Arbeitsorganisation 4.0 in der Tat neu.

Ihr Wesen aber erweist sich als alter Hut. Denn das ist nichts weiter als die altbekannte Rationalisierung des Produktionsprozessen mittels einer reellen Subsumtion der Arbeitskraft unter das Kapitalverhältnis. Dieses ist getrieben vom inneren Widerspruch des Kapitalverhältnisses, jede Konkurrenzsituation und jede Verwertungskrise jeweils durch die Reduktion des Einsatzes der Ware Arbeitskraft im je einzelnen Produktionsprozess zu bestehen.

Unverändert bleibt das eherne Ziel der kapitalistischen Veranstaltung die Vergrößerung der Mehrwertrate mittels Steigerung des relativen Mehrwerts. Ansatzpunkt dafür ist die Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch eine Rationalisierung der Produktion. Hierzu werden Tätigkeiten der menschlichen ArbeiterInnen auf Maschinen übertragen. Sohin nimmt der Maschineneinsatz je Arbeitskraft zu. Damit steigt die organische bzw. technischen Zusammensetzung des Kapitals. Dies setzt nicht nur eine reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital und eine stete Höherqualifizierung der durchschnittlichen Arbeit, sondern auch die fortlaufende Umwälzung der Arbeitsorganisation voraus.

Allerdings schafft nur die menschliche Arbeitskraft Mehrwert. Eben dieser schrumpft mit jeder Rationalisierung der Produktion, welche die Produktivität steigert. Manufaktur, Fließband, Gruppenarbeit, Fertigungsinsel, Automatisationsarbeit, "Crowdwork" oder digitale Mensch-Maschine-Kopplungen sind nichts weiter als Stationen dieser Entwicklung. An jeder Station gewinnen neue Antriebskräfte, Materialien, Mechaniken sowie Methoden der Informationsverarbeitung, der Planung, Überwachung und Steuerung, an Gewicht, während der Einsatz menschlicher Arbeitskraft rückläufig ist.

Überhaupt wird der in Arbeitskraft investierte Kapitalanteil damit tendenziell geringer und mit ihm die Profitrate. Dieser innere Widerspruch lässt sich nur durch eine folgenreiche reelle Subsumtion der Arbeitskraft unter das Kapitalverhältnis vorübergehend auflösen. Insgesamt sinkt das Volumen der eingesetzten Arbeit. Arbeitsmarkt und Belegschaften werden segmentiert. Hochqualifizierten Stammbelegschaften stehen geringqualifizierte Randbelegschaften gegenüber.

Vorübergehend verschaffen Investitionen in Maschinerien und damit Produktivitätssteigerungen Extraprofite im Konkurrenzkampf. Surplus-Profit entsteht freilich auch durch Monopol- und Kartellpreise, die Verlängerung der Arbeitszeit und Verbilligung der Arbeitskraft. Derlei Produktivitätsvorsprünge aber sind schnell egalisiert, gerade wenn die Konkurrenz vernichtet oder durch Mergers & Acquisitions übernommen wird. Wellenartig pendelt sich die Profitrate neuerlich wieder ein, sobald es zur Dissemination neuer Technologien und Techniken der Arbeitsorganisation kommt.

Revolutionen ohne Revolution

"Arbeit 4.0" und "Industrie 4.0" suggerieren in diesem Kontext einen substantiellen Qualitätssprung bzw. eine Revolution der Arbeit, die vom mechanisierten Handwerk über die Industriearbeit bis zur Automationsarbeit verlief und nunmehr in digitalisierten Mensch-Maschine-Netzwerken auf Plattformunternehmen stattfindet. Freilich ist dieser vorgeblich revolutionäre "Paradigmenwechsel" keiner:

Zum ersten indizieren die vier "industriellen Revolutionen" bloß einen Strukturwandel der Sektoren und damit eine Vernichtung, Verlagerung und Kreation von Arbeitsplätzen seit der Protoindustrialisierung. 1810 arbeiteten 92 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft, heute sind es weniger als 2 Prozent. Das bedeutet, dass beinahe sämtliche zu Beginn des 19. Jahrhunderts existierenden Arbeitsplätze vernichtet wurden.

Zum zweiten ereignet sich inmitten der vierten industriellen Revolution eine Rückkehr der Fließbandarbeit bei einer hohen Persistenz der Nachfrage nach geringqualifizierter Arbeitskraft in personenbezogenen Dienstleistungen.

Zum dritten lassen sich dystopische Phantasien, dass zwischen 2015 und 2040 47 Prozent der Jobs in den OECD-Staaten verschwinden nicht empirisch unterlegen. Viele Berufe bestehen aus unterschiedlichen Tätigkeiten, die nur teilweise von Automaten/Robotern übernommen werden können. So geht das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung davon aus, dass bis 2035 12 Prozent der Arbeitsplätze automatisiert bzw. "wegrationalisiert" werden. Das betrifft Handelsgeschäfte an der Börse, statistisch optimierte medizinische Therapievorschläge, die Anfertigung juristischer Gutachten oder von Pressetexten im Dienstleistungsbereich. Es betrifft stofflich vor allem die Produktion von Glas, Keramik, Kunststoff oder Papier.

Zum vierten indizieren das fortlaufende Sinken der bereinigten Nettolohnquote verknüpft mit der intensivierten Ausbeutung mittels der Flexibilisierung der Arbeitszeiten, dass die lebendige Arbeit zwischenzeitig so billig geworden ist, dass sie neuerlich mit der Investition in Industrieroboter konkurriert. So ersetzten in den 2010er Jahren in den Niederlanden neuerlich Gleisbauarbeiter Gleisbaumaschinen.

Zum fünften bleibt eine ganze Reihe von Berufen/Jobs unersetzbar menschlich besetzt: IT-ExpertInnen, ErzieherInnen, LehrerInnen, TrainerInnen, SchauspielerInnen, Sicherheitsberufe, Reinigungsjobs, Gesundheitsberufe, Gastronomie oder die Arbeit am Bau lassen sich absehbar nicht robotisieren.

Insofern erweist sich der Arbeit 4.0-Hype letztlich bloß als Strategie der Verunsicherung, als ideologische Peitsche, um jene Gouvernementalität zu sichern, die Voraussetzung der neoliberalen Umwälzung der Produktionsweise ist.

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Die Inquisition ist tot, es lebe das AMS
Ideologische Operationen zur symbolischen Rettung der Arbeitsgesellschaft

von Peter Oberdammer

In Zeiten schwerer Systemkrisen verstärken sich meist die Anstrengungen zur ideologischen Rechtfertigung, ja zur Überhöhung jenes Zustands, der von Systemerhaltern zu bewahren versucht wird und der verunsicherten Masse Stabilität suggeriert. Die kompensatorische Überaffirmierung der schwankenden oder schwindenden Realitäten kann dabei eine gewisse Funktion für das Verteidigen von realen politökonomischen Machtpositionen für bestimmte Stakeholder haben, tendiert aber mit fortschreitender Krise zur ideologischen Verselbstständigung in religiösen oder quasireligiösen Formen.

Die Hypothese wird im Folgenden auf das Arbeitsmarktservice (AMS) angewendet und dieses anhand seiner Praxis und Funktionalität bzw. Dysfunktionalität im Gesellschaftssystem als eine weitgehend ideologische Einrichtung zur virtuellen Verkultung der Arbeit im Angesicht ihres historischen Verschwindens betrachtet. Eine Gegenüberstellung der Funktionen von AMS und Inquisition in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen veranschaulicht dies, auch wenn im strengen Sinne weder ein Vergleich zwischen den beiden Institutionen noch zwischen Feudalgesellschaft und kapitalistischer Moderne intendiert ist. Tatsächlich spielte die Inquisition im weiteren Sinn eine vergleichbare ideologische Rolle bei der gesellschaftlichen Verarbeitung des Krisenkontexts am Ende der europäischen Feudalgesellschaften, wie sie das AMS im gegenwärtigen Krisenzusammenhang erfüllt: eine bis ins wahnhafte übersteigerte Verdrängung der realen Zustände mithilfe der Bereitstellung von Sündenböcken. Und beide Institutionen scheuen sich nicht, ihren ideologischen Zielen Menschenopfer zu bringen, in einem Fall im wörtlichen, im anderen zumindest im übertragenen Sinn. Im ersten Teil dieses Artikels wird der Zusammenhang zwischen Krisenentwicklung und wahnhafter Verselbstständigung der beiden Institutionen erörtert.

Beide Institutionen repräsentierten eben nicht von Anfang an den überschießenden wahnhaften Charakter, den sie später annehmen sollten. Der weitgehende Verlust der ursprünglichen Funktionalität ist bei beiden Einrichtungen an einschneidende sowohl gesellschaftliche als auch institutionelle Umbrüche gebunden, die bei der Inquisition zu einer Verschiebung der kirchlichen Trägerschaft zu staatlichen Einrichtungen und einer Erweiterung des Wütens gegen Ketzer im engeren Sinn zur Verfolgung wegen Hexerei führte. Eine Einschränkung auf die kirchlichen Einrichtungen würde der Breite des historischen Rasens, das die Gesellschaft erfasst hatte, nicht gerecht werden, wie auch heute die Entrechtung, Drangsalierung und Stigmatisierung von Arbeitslosen aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Eine Verlagerung und Verbreiterung seiner Tätigkeit, Outsourcing einiger seiner Aufgaben und ein breiter gesellschaftlicher Sozialschmarotzerdiskurs markieren auch den Wandel des alten Arbeitsamtes zum AMS.

Von der päpstlichen Sicherung der göttlichen Ordnung ...

Die bereits im Hochmittelalter entstandene Inquisition war ursprünglich einerseits ein Machtinstrument eines sich in jeder Hinsicht auf einem Höhepunkt seiner Macht befindlichen Papsttums, das sich gerade anschickte, als Lehnsherr einer Reihe abendländischer Monarchen auch die weltliche Macht zu übernehmen, und andererseits ein Versuch, die ideologische Einheit der abendländischen Gesellschaften zu sichern, die infolge stark dezentraler Machtstrukturen in der Spielart des europäischen Feudalismus immer prekär war. Der Fetischcharakter dieser Gesellschaften verlangte die richtige göttliche Ordnung als Grundlage einer legitimen gesellschaftlichen, was Fragen der Rechtgläubigkeit eine vergleichbare Relevanz verlieh, wie sie gegenwärtig "fairen Wahlen", "freien Märkten" oder der "Rechtsstaatlichkeit" zugeschrieben wird. Die Inquisition ist also nur ein - anfangs unter direkter päpstlicher Jurisdiktion stehendes - Instrument zu diesem Zweck und keineswegs ein Kind feudaler Krisenhaftigkeit. Vielmehr entstammt die Institution einer Zeit, in der die Bestrebungen zu einer Stabilisierung - und Vereinheitlichung - der abendländischen Feudalgesellschaften auf einen Höhepunkt zustrebten, bevor sie scheiterten.

... zur wahnhaft-religiösen Krisenverarbeitung im Allgemeinen

Die Hochzeit der Barbarei erreichte die Inquisition erst in der frühen Neuzeit, zu einem Zeitpunkt, an dem die Einheitlichkeit der herrschenden Ideologie des "Abendlandes" und die bis dahin relativ unangefochtene Monopolstellung ihrer Trägerin, der römischen Kirche, nicht mehr zu retten waren. Zur Bekämpfung der Reformation leistete die Inquisition einen vernachlässigbaren Beitrag; die Jesuiten und die militärischen Unternehmungen der Habsburger und Wittelsbacher waren um ein Vielfaches wichtiger. Es hatte nicht nur die "heilige Mutter Kirche" im Zuge der Reformation ernsthafte ideologische Konkurrenz bekommen, auch dort, wo sich die feudale Gesellschaft auf einer neuen zentralistisch-absolutistischen Machtgrundlage stabilisiert hatte, war die gesellschaftliche Kräftebalance prekär geblieben. So wie die Machtstellung der zentralen ideologischen Instanz Kirche war die von ihr als gottgewollt propagierte gesellschaftliche Ordnung nicht mehr zu retten.

Natürlich mochte das grausige Treiben noch da und dort politökonomischen Partikularinteressen dienen, herab bis zu jenen des kleinen Denunzianten, der sich des Nachbarn zu entledigen suchte. Aber spätestens seitdem sich die Fürsten eine Religion aussuchen konnten ("cuius regio, eius religio"), war die Idee einer göttlichen Ordnung der Welt auf Basis einer absolut gedachten religiösen Wahrheit endgültig diskreditiert. Selbst denen, die ganz auf die abendländische Einheit im Zeichen der römischen Kirche gesetzt hatten, etwa den Habsburgern, war dies machtpolitisch nicht immer hilfreich und war die breite Bewegung inquisitorischen Wütens der Kontrolle des Papsttums weitgehend entglitten. Die systemimmanente instrumentelle Rationalität der Scholastik, die dem Volksaberglauben um der Reinheit und inneren Konsistenz der Lehre willen durchaus kritisch gegenüberstehen konnte, war den Wucherungen der Hexenprediger und ihrer Popularität wenig gewachsen. Träger kirchlicher oder monarchischer Autorität konnten ihren Verlust an Definitionsmacht mit dem blutigen Spektakel verschleiern, seine gesellschaftlichen Ursachen aber nicht bekämpfen.

Nicht nur feste Wahrheiten waren ins Wanken geraten, sondern auch die im Alltag Stabilität vermittelnden sozialen Ordnungen. Selbst dem einfachen Mann, dem Vorläufer des kleinen Mannes heutiger Wahlkampfrhetorik, konnte nicht entgehen, dass größere Umbrüche im Werk waren: Ehemalige Herrn gingen am Bettelstab, während Neureiche wie die Fugger bei den Monarchen verkehrten, die ihrer Kredite bedurften. Von den Alchimisten, die sich mit dem Versprechen der Goldmacherei an so manchem Hof Zutritt verschafft hatten, erhoffte man Rettung, wie heute von den Börsendandys und Bankengurus. Soziale Kräfteverschiebungen von den Land- zu den Geldbesitzern, vom Dorf in die Stadt, und die soziale Polarisierung in den meisten sozialen Milieus der feudalen Gesellschaft erfasste auch die Masse der Bevölkerung, bei der viele abstiegen, von Abstieg bedroht wurden oder jedenfalls einer ungewissen Zukunft entgegengingen. Es ging also drunter und drüber, nicht nur auf dem Felde der Ideologie, sondern auch in der sozialen Realität, was in einem allgemeinen Bedürfnis nach Stabilität und einfachen Orientierungshilfen gipfelte. Dass der Zustand gesellschaftlicher "Unordnung" eine Strafe Gottes sein musste, war in einer Gesellschaft des religiösen Fetischs nur naheliegend, ergo die Bestrafung des Unglaubens das Mittel der Wahl, um göttliches Wohlwollen und somit die soziale Ordnung scheinbar wiederherzustellen. So ging ein Rasen gegen tatsächliche oder vermeintliche Abweichler durch die Gesellschaft.

Vom fordistischen Regulierungsinstrument ...

Strukturell Ähnliches kann für die Entwicklung des AMS bzw. seiner Vorläuferorganisationen konstatiert werden. Entstanden in einer Zeit (in Österreich 1917), in der die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften zu ihrer Reifephase in der fordistischen Konsumgesellschaft anzusetzen begannen, vorerst hauptsächlich in den USA, war das Arbeitsamt bzw. später die Arbeitsmarktverwaltung (AMV) eine blasse Sozialbürokratie auf der obligaten arbeitsgesellschaftlichen Basis, aber ohne besonders überschießendes ideologisches Element.

Die konjunkturellen Schwankungen stellten die Gesellschaft regelmäßig vor die Aufgabe, die überschüssige Arbeitskraft verwertungsfähig zu erhalten und der Verwertung wieder zuzuführen, aber auch im Sinne fordistischer Regulation soziale Friktionen abzufedern. Die Institution erfüllte somit eine sozioökonomische Funktion, auch wenn sie - so wie heute - schweren Systemkrisen im Gefolge von größeren Produktivitätsschüben niemals gewachsen war. Dem ökonomischen Systemzwang zur Verwertung der Arbeitskraft entsprach auf der ideologischen Ebene die Vorstellung, dass soziale Sicherheit für arbeitsfähige Individuen immer nur als Reintegration in den Verwertungskreislauf denkbar war, und dies war durch wissenschaftlichen Überbau wie die Marienthalstudie (Jahoda, Lazarsfeld, Zeisel, 1933) humanistisch weichgespült und - im Gegensatz zur Dominanz des Lebensideals der Muße in den meisten historischen Gesellschaften - zu einem psychischen Bedürfnis der Arbeitslosen anthropologisiert worden. Der arbeitsgesellschaftlichen Verwertung bedürften die Menschen demnach nicht nur, um ihre materielle Existenz in der kapitalistischen Gesellschaft zu sichern, sondern ihres psychischen Wohlbefindens wegen. Das Arbeitsamt basierte auf solchen ideologischen Annahmen und legitimierte sich darüber auch als soziale Einrichtung, war aber nicht im engeren Sinn eine Ideologie produzierende oder reproduzierende Einrichtung, solange seine sozioökonomische Regelungsfunktion im Vordergrund gestanden hatte.

... und dessen Scheitern in der Krise ...

1973, mit dem Ende der Nachkriegskonjunktur mit ihrem Vierteljahrhundert kontinuierlich hoher Wachstumsraten und den in der Folge steigenden Arbeitslosenzahlen, begannen sich die Aufgaben der AMV zunächst zu erweitern, und nicht zufällig war bereits 1968 die aktive Arbeitsmarktpolitik in den Aufgabenkatalog aufgenommen worden. Angesichts der sich verschärfenden globalen Standort- und Lohnkonkurrenz sowie einer sich herauskristallisierenden neuen internationalen Arbeitsteilung, die den Ersatz ausgelagerter Industriearbeitsplätze durch Hightech-Produktionen oder - Dienstleistungen in den kapitalistischen Zentren vorsah, stand die Zurichtung der Arbeitskraft in ideologischer und qualifikatorischer Hinsicht auf der Tagesordnung:

• Den Arbeitskraftbesitzern musste einerseits beigebracht werden, dass sie um der Konkurrenzfähigkeit "ihrer Wirtschaft" im internationalen Wettbewerb willen in Hinkunft den Abbau von Arbeitsstandards zu akzeptieren hätten. Da die materielle Existenzsicherung in der Arbeitslosenversicherung gewisse untere Schranken dafür setzte, was sich ein Arbeitsloser zumuten lassen musste, wurde diese einerseits ausgehöhlt (Senkung der Nettoersatzraten, Verlängerung der Anwartschaften) sowie durch die Ausweitung der Sanktionsmöglichkeiten deren willkürlicher Entzug erleichtert, um einen stärkeren "Anreiz zur Beschäftigungsaufnahme" zu setzen, wie es im offiziellen Politjargon hieß. Das Hineintreiben von Arbeitslosen ins Prekariat konnte von der AMV aber so lange nur indirekt und in einem gewissen rechtlichen Graubereich betrieben werden, bis unter kräftiger Mithilfe der Gewerkschaften die neuen prekären Beschäftigungsverhältnisse durch katastrophale Kollektivvertragsabschlüsse und Anpassung der gesetzlichen Normen legalisiert werden konnten. Ob solche "Anreize" sehr wirksam waren, ist fraglich, weil das solchermaßen geförderte Prekariat in der Regel nicht mehr Sicherheiten bot als die AMV-Sanktionswillkür, wenn auch manche Arbeitslose dadurch gezwungen worden sein mögen, zwischen Skylla und Charybdis periodisch hin und her zu pendeln.

Jedenfalls dürfte im Vergleich dazu der anonyme Druck eines immer mehr liberalisierten globalen Arbeitsmarktes auf die noch Beschäftigten (durch Saisonarbeit, Standortkonkurrenz und - in manchen Wirtschaftssektoren bevorzugt illegale und daher völlig rechtlose - Arbeitsmigration) ein wirkungsvollerer Hebel zur Senkung der Arbeitsstandards gewesen sein. Disziplinierung durch den anonymen Markt hatte sich in der Moderne jedweder Form von Zwangsarbeit als überlegen erwiesen, insbesondere wenn sie mit Konsumidiotisierung verbunden auftrat. Einer vom AMV geförderten, staatlich organisierten Lohnsklaverei wird daher - abgesehen von vielleicht ganz wenigen Nischen - wenig sozioökonomische Bedeutung zukommen. Historisch dürfte so etwas das letzte Mal im alten Sparta so richtig funktioniert haben, was AMV und AMS nicht daran hinderte und hindert, derlei Bestrebungen ganz oben auf die Maßnahmenliste zu setzen.

• Andererseits wurden die Arbeitsplatzverluste nicht nur als Folge eines zu hohen Lohnniveaus, sondern auch eines Qualifikationsungleichgewichtes zwischen Arbeitskraftnachfrage und dem Angebot interpretiert, das es durch Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen auszugleichen gälte. Grundsätzlich war diese Interpretation nicht immer falsch und konnten Umschulungen den Einzelnen unter Umständen tatsächlich wieder "brauchbarer" für die sich immer dynamischer entwickelnden Verwertungsbedingungen der kapitalistischen Ökonomie machen. An dem Grundproblem ändert dies allerdings nichts, weil die aggregierte Arbeitskraftnachfrage davon quantitativ nicht berührt wird. Dazu kommt, dass die Standard-Schulungen, die den Arbeitslosen angeboten wurden, in der Regel zu kurzfristig waren, sich zunehmend auf die ideologische Zurichtung der Arbeitswilligkeit der Arbeitslosen, "Aktivierung" genannt, richteten und jeder Mode "der Wirtschaft" hinterherliefen, anstatt eine solide Entwicklung des Humankapitals zu betreiben. Dies ist nicht nur ein subjektives Versäumnis der Institution, sondern auch ein Zeichen für zunehmende Unsicherheit bezüglich der sich rasant entwickelnden Anforderungen ans variable Kapital bei der Bedienung des kapitalistischen Warenfetischs.

Die Krisenrealität setzte somit der sozioökonomischen Wirksamkeit der Zurichtung der Ware Arbeitskraft und ihrer Träger enge Grenzen, weil einerseits die Konkurrenz ums Sozialdumping in einem globalisierten Arbeitsmarkt nicht zu gewinnen war, schon gar nicht mittels staatlich organisierter Zwangsarbeit, andererseits die Produktivkraftentwicklung nicht nur anders qualifizierte, sondern vor allem immer weniger Arbeitskräfte erforderte. Die Produktivitätsentwicklung spuckte in einem in der Geschichte des Kapitalismus noch nie da gewesenen Maß Arbeitskraft aus, weil die Computerisierung und Robotisierung eben grundsätzlich von anderer Qualität als die Erfindung des mechanischen Webstuhls oder des Verbrennungsmotors sind. Dieser neuen Qualität der Produktivkraftentwicklung sind die Regelungskapazitäten der AMV nicht gewachsen. Wenn sich in Chinas Exportindustrie, einer der arbeitsintensiven Werkbänke der Weltwirtschaft, der Anteil der Arbeitskosten an der Wertschöpfung in nur sieben Jahren von ca. 52 % auf ca. 26 % halbierte, obwohl sich das Lohnniveau im gleichen Zeitraum verdoppelt und der Ausstoß verdreifacht hatte (Julie Froud, Sukhdev Johal, Adam Leaver, Karel Williams, 2012), zeigt dies, wohin die Reise unwiderruflich geht, nicht nur hierzulande, sondern in der gesamten Weltökonomie. Die paar zehntausend Weber, die durch den mechanischen Webstuhl im 19. Jahrhundert ihre Arbeit verloren hatten, verblassen dagegen, wie schlimm deren Los im Einzelnen gewesen sein mag.

Immerhin waren neben der Dressur der von Arbeitslosigkeit Betroffenen einige Zeit lang noch - die letztlich zum Scheitern verurteilten - Versuche des "Arbeitsplätze-Schaffens" im nachholenden Kreisky'schen Keynesianismus gestanden, bis eine antizyklische Wirtschaftspolitik an die Grenzen der Finanzierbarkeit im globalisierten Standortwettbewerb stieß. Das "Arbeitsplätze-Schaffen" ist seither als folkloristischer Politikerwettbewerb zur Erbauung des in die dürren Austerity-Ebenen getriebenen Stimmviehs weitergeführt worden, aber real wenig bedeutsam. Die Informationsrevolution hat das Wirtschaftswachstum längst von der Arbeitskräftenachfrage entkoppelt, sodass staatliche Wachstumsförderung gar nicht oder nicht im erhofften Umfang auf dem Arbeitsmarkt ankommt. Die fortlaufende Verschiebung in der organischen Zusammensetzung des Kapitals drückte auf die Profitabilität in der realen Produktion, weshalb ganze Kapitalfraktionen auf die Finanzmärkte auswichen, wo sie zwar auch keine Arbeitsplätze schufen, aber Fiat-Money in rauen Mengen, mit dem sich kreditgestützte Zwischenkonjunkturen erzeugen und Probleme mit den Staatshaushalten hinausschieben lassen - bis die Spekulationsblasen platzen.

... zur rituellen Opferung überschüssiger Arbeitskräfte

Das sich nach dem Abebben des Wiederaufbaubooms entwickelnde Krisenszenario hätte systemimmanent eine Beschränkung der Agenden der AMV auf das wenige, was die Institution noch bewirken konnte, nahegelegt, also die Verwaltung der Arbeitslosenbezüge und der immer geringeren Zahl von Stellenangeboten. Angesichts der Durchsetzung des neoliberalen Austerity-Dogmas seit den 80er-Jahren hätte sich die AMV geradezu dafür angeboten, die überflüssigen Verwaltungskapazitäten herunterzufahren und - wie bei vielen anderen sozialen Einrichtungen - Sozialabbau zwecks Budgetkonsolidierung zu betreiben.

Letzterem mochten die Einschränkungen des Zugangs zu AMS-Leistungen und deren Reduktion noch dienlich sein, auch wenn diese die Kosten durch steigende Arbeitslosenzahlen in der Regel wohl nicht ausgleichen konnten. Die verstärkte Sanktionswut der Institution kann aber schon wegen des unverhältnismäßigen Aufwands im Einzelfall schwerlich unter dem Gesichtspunkt von Einsparungen betrachtet werden. Gesamtgesellschaftlich sind Einsparungen bei der Existenzsicherung von Arbeitslosen sowieso nur budgetwirksam, wenn es gelingt, Menschen gänzlich aus dem Sozialsystem in die Arme privater Mildtätigkeit oder familiärer Abhängigkeiten zu treiben. Die Aussage, die deutsche Kabarettisten einem Jobcenter-Mitarbeiter in den Mund legen, trifft diesen Sachverhalt einigermaßen: "Wissen Sie wann ein Jobcenter gut ist? Wenn ich hier einen Mitte-dreißig-jährigen Arbeitslosen sitzen habe und wenn ich's schaffe, dass er aus finanziellen Gründen bei seiner pflegebedürftigen Mutter einziehen muss, und wenn ich's dann schaffe, dass die Mutter für ihn Unterhalt bezahlen muss, das ist gut" (ZDF, Mann, Sieber! vom 14. Februar 2017, "Im Jobcenter"). Abgesehen von solchen "Erfolgen" gebiert der verschärfte Umgang der AMV bzw. des AMS mit den Arbeitslosen aber wenig Einsparungspotenzial. Wer ins Prekariat getrieben wird, kommt leicht wieder wie ein Bumerang zurück, aus dem Bezug Hinaus-Sanktionierte fallen bei anderen Sozialeinrichtungen an, selbst die, die sich ein Bein abhacken, um nicht vom AMS in Jobs gezwungen zu werden, die sie nicht mehr ausführen können, belasten das Gesundheits- und Sozialsystem weiter. Nur Selbstmörder rechnen sich so gesehen.

Angesichts immer leistungsfähigerer Technologien zur Verwaltung der Leistungsbezüge und dem Zugänglichmachen von Stellenausschreibungen sowie des - gemessen an der Zahl der Arbeitslosen - dramatischen Mangels offener Stellen schien eine weitgehende Einschränkung der Vermittlungstätigkeit der Institution das Gebot der Stunde. Laut AMS-Daten kamen im Jahresschnitt 2016 auf eine sofort verfügbare Stelle zehn Arbeitsuchende und schätzt das AMS, ca. 40 % der gesamten österreichischen Arbeitskraftnachfrage in seiner Datenbank zu haben. D. h., schon rein arithmetisch ist für 75 % der beim AMS arbeitssuchend gemeldeten Personen eine Beschäftigungsaufnahme unmöglich. Spuren einer systemrationalen Antwort auf diese Situation finden sich verschämt in einer Bestimmung des Arbeitsmarktservicegesetzes (AMSG), die es erlaubt, Arbeitslose in den letzten eineinhalb Jahren vor Pensionsantritt davon zu befreien, "sich ständig zur Aufnahme und Ausübung einer Beschäftigung bereitzuhalten", falls keine "Aussicht auf eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit" (§38b AMSG) bestehe. Dies ist ein indirektes Eingeständnis dafür, dass sich weitere Vermittlungsbemühungen mangels Erfolgsaussichten nicht lohnen. Bei Vorruheständlern ging ein solches Anerkenntnis der Realitäten ideologisch anscheinend gerade noch durch, bei den anderen derzeit 75 % nicht mehr Verwertbaren offensichtlich nicht.

Die Geburt des "Service"

Anstatt also die Institution ihrer minimalen Regelungskapazität entsprechend zu schrumpfen, wurde aus der biederen AMV 1994 das "Service" (englisch auch für Gottesdienst) mit steigenden Geldmitteln, einem wachsenden Kreis vorgelagerter Franchise-Nehmer für Bildungsmaßnahmen und Beschäftigungssimulation am sogenannten zweiten Arbeitsmarkt, bestehend aus Kursanbietern, SÖBs (sogenannte sozialökonomische Betriebe) und "gemeinnützigen" Personaldienstleistern und -verleihern sowie stetig steigendem AMS-Personal (für 2017 etwa 200 zusätzliche Beraterstellen), das in allererster Linie der direkten "Betreuung" der Arbeitslosen "zugutekommt". Eine solche Verletzung des Prinzips der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit (§31, Abs. 5. AMSG) erklärt sich nicht anders, als dass die arbeitsgesellschaftliche Ideologie eine Freistellung von Personen von der Verwertungspflicht ihrer Arbeitskraft einfach nicht zulassen kann, auch wenn deren Vermittlung nur mehr ohne jegliche Erfolgsaussichten simuliert werden kann. Diese ideologische Verselbstständigung des Service zum Gottesdienst am Warenfetisch spiegelt sich in Folgendem:

1. Individualisierung der Arbeitslosigkeit
Zur Verdrängung der ideologisch hinderlichen Realitäten konzentriert das Service seine ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeitslosen, was zweierlei bedeutet:

• Wer bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beim betroffenen Individuum ansetzen will, zäumt das Pferd nicht nur vom falschen Ende auf, sondern verabschiedet sich praktisch vom Anspruch, real etwas bewirken zu wollen. Die Betroffenen sind schließlich die Letzten, die Einfluss auf die sinkende Nachfrage nach Arbeitskraft haben, außer sie gründeten - meist wenig lebensfähige - Firmen, um sich ihren Arbeitsplatz selbst zu schaffen, was aber nur das gleiche Nullsummenspiel in Bewegung setzt, wie wenn Arbeitslose einander einen Job wegschnappen. Solche Zwangsselbstständigkeit von Arbeitslosen steht in der Gunst des AMS naturgemäß weit oben und wird mit großzügigem Rat und mehr symbolischer Tat - die angebotenen Subventionen sind in der Regel nicht der Rede wert und stehen in keinem Verhältnis zum Risiko einer Firmengründung - unterstützt, weil sich nur in solchen Fällen das AMS-Dogma, dass die Arbeitslosen selbst ihre Arbeitslosigkeit beenden können, zu bestätigen scheint.

• Die Einengung des Blickwinkels auf die Arbeitslosen kastriert aber auch jedes intellektuelle Verständnis der gesellschaftlichen Ursachen der Arbeitsmarktentwicklung. Wer diese Umstände, wie die rein rechnerisch für 75 % der Arbeitslosen fehlenden Stellen, erst einmal ausgeblendet hat, kann die Schuld nur mehr bei den Arbeitslosen selbst suchen, wenn nicht in ihrer mangelhaften Qualifikation, so in mangelndem Arbeitswillen. Die Bearbeitung des Letzteren hat daher in der AMS-internen Prioritätensetzung die Qualifizierungsanstrengungen weitgehend abgelöst, wodurch sich der Simulationscharakter der AMS-Schulungen noch erhöht haben dürfte, wenn diese nicht überhaupt zu reinen Disziplinierungsinstrumenten bei der Arbeitslosen-Dressur geworden sind.

2. Sündenbockgenerierung für Systemprobleme
Die Individualisierung des Problems der Arbeitslosigkeit ist durchaus funktional, um die Arbeitsgesellschaft weiter als intakt und unhintergehbaren Standard der gesellschaftlichen Entwicklung zu imaginieren und ihren historischen Niedergang zu verdrängen:

• Die Pose der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit kann in Form der Bekämpfung der Arbeitslosen weiter simuliert werden, insbesondere da die Letzteren im Gegensatz zu den strukturellen Ursachen dem direkten Zugriff des AMS wirklich ausgesetzt sind. Das demonstriert Handlungsfähigkeit in der Krise, wo in Wirklichkeit Ratlosigkeit herrscht.

• Die zu gesellschaftlichen Sündenböcken degradierten Schuldigen ersparen die Auseinandersetzung mit den Realitäten und erlauben somit, den fetischistischen Kern der Moderne, den Warenfetisch, insbesondere in seiner konsumgesellschaftlichen Ausprägung als Glauben an ewiges Wachstum und eine - zumindest zukünftige wieder mögliche - Vollbeschäftigung zu rehabilitieren.

Aufbau eines virtuellen Notstandsregimes

Der Übergang zu selbstzweckhaften, quasireligiösen Ersatzhandlungen machte sozioökonomisch weitgehend irrelevante, ja kontraproduktive Opferrituale an den Arbeitslosen zur Hauptbeschäftigung des "Service" und erforderte

• das Abrücken von der sozialen Sicherungsfunktion des AMS und deren Umwandlung in ein Sanktionsinstrument durch die permanente und willkürliche Bedrohung der materiellen Existenzgrundlage,

• den Abbau von rechtsstaatlichen Standards und ihren Ersatz durch eine Art Sondergesetzgebung für Arbeitslose zur Erleichterung willkürlicher Sanktionierung, die zwar immer wieder mit den allgemeinen Rechtsprinzipien kollidiert, aber fortschreitend zumindest im Nachhinein legalisiert wird,

• und den Aufbau und die Legalisierung einer Parallelwelt, in der das AMS Vermittlung, Bildungsförderung, Weiterbildung und Beschäftigung weitgehend unbeeinflusst von den realen Umständen, aber unter zwangsweiser Einbeziehung der Betroffenen simulieren kann.

Letzteres ist wiederum Anlass und Rechtfertigung für die Sanktionierung von Arbeitslosen und so schließt sich der Kreis der AMS-Aktivitäten, praktisch ohne mit den tatsächlichen Arbeitsmarktrealitäten wesentlich in Berührung kommen zu müssen.

Diese immer mehr in sich geschlossenen Aktivitätskreisläufe besitzen praktisch keine Relevanz für die systemimmanente Regulation der anstehenden Probleme, die zu erlauben sie vorgeben, weshalb das AMS spätestens seit den 90er-Jahren in seinem Zeitalter der massenhaften Scheiterhaufen angekommen sein dürfte, auch wenn die direkte Verfolgung der Opfer mehr sozialer und rechtlicher Natur ist und die psychische Degradierung meist indirekt erfolgt. Die Sanktion ist das Um und Auf eines quasireligiösen Rituals des AMS geworden, um die systemkonforme Ordnung des "Wer nicht arbeitet, soll nicht essen" zumindest exemplarisch (wieder-)herzustellen. Drakonische Strafen für das Sündigen, die kein gelinderes Mittel als die zumindest temporäre Vernichtung der materiellen Existenzgrundlage kennen, und sei es nur für einen versäumten Termin, sind daher obligat. Dementsprechend hat sich die Zahl der Sanktionen zwischen 1990 und 2005 verfünffacht (Atzmüller, 2009). Derzeit halten wir bei ca. 100.000 pro Jahr. Die Steigerungsrate der Raserei des "Service" pro Zeiteinheit dürfte die Inquisition in den Schatten stellen, aber die Zeiten sind seit damals natürlich generell schnelllebiger geworden.


Der Beitrag ist Teil I einer Serie. Wie aus einem sozioökonomischen Regulationsinstrument eine (Re-)Produktionsanstalt von arbeitsgesellschaftlichen Glaubensdogmen wurde, und welche - die Dogmen affirmierenden - Opferrituale dabei zur Anwendung kommen, wird in den folgenden Teilen erörtert.


Symptomatisch

von Peter Oberdammer

Das AMS vermittelt den Absolventen eines Lehramtsstudiums an das Chocolate Museum Vienna, das didaktisch erfahrene Mitarbeiter für Führungen und Präsentationen sucht. Auf die Bewerbung per Email und mehrere Nachfragen erfolgt über Monate keine Antwort des Unternehmens, eine Telefonnummer ist weder im Branchenverzeichnis noch auf einer Website zu finden, an der angegebenen Adresse im Wiener Prater befindet sich ein kleines Schokoladengeschäft, das auch während seiner Öffnungszeiten fest verschlossen ist. Das hindert den AMS-"Betreuer" aber nicht, über den Arbeitslosen eine vorläufige Bezugsperre zu verhängen, weil er aus der vorgeschriebenen Rückmeldung des Chocolate-Historikers in spe (per eingeschriebenem Brief) nicht entnehmen könne, ob wirklich eine Bewerbung erfolgte, also ein typisches Problem Sinn verstehender Lesefähigkeit. Nur mit der Bescheidanforderung des Betroffenen tut sich das AMS schwer, weil das hauseigene Service für Unternehmen laut Akt zu bedenken gibt, dass die Firma noch Investoren suche und unklar sei, ob und wann das Etablissement seine Pforten öffnen werde. Die Bezugsperre muss also aufgehoben werden, der Mitte August 2017 angekündigte Bescheid steht nach wie vor aus. Dafür erfährt der Betroffene viereinhalb Monate später, dass das Chocolate Museum Vienna inzwischen eröffnet hat, und die Besucher nun vom Roboter Mr. Pepper "didaktisch" betreut werden.

Was lernen wir daraus?

• Das AMS muss sich mit fiktiven Stellen behelfen, um
Vermittlungsaktivitäten zu simulieren.

• Bloß potentiell existierende Stellen reichen völlig für AMS-Zwecke. Sie sind ja nur Anlass für zweierlei: die Sanktionswut der AMS-Priester und -Messner und die Demonstration einer zwar real folgenlosen, dafür aber "richtigen Gesinnung" des Arbeitslosen, sprich Arbeitswilligkeit.

• Das Rechtssystem ist noch nicht soweit auf virtuellen Bekenntniszwang arbeitsgesellschaftlicher Rechtgläubigkeit umgestellt, dass das AMS sich auf etwas anderes als Einschüchterung durch "vorsorgliche" Existenzvernichtung verlassen kann, aber das kann ja noch kommen.

• Sofern die Arbeitslosendisziplinierung sich nicht ganz im virtuellen Binnenraum der AMS-Parallelwelt abspielt, ist auf dem realen Arbeitsmarkt die Automatisierung immer schneller.


Literatur

Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit (Hirzel, Leipzig 1933).

Julie Froud, Sukhdev Johal, Adam Leaver, Karel Williams: Apple Business Model, Financialization across the Pacific (= CRESC Working Paper Series, Working Paper No.111, April 2012).

Roland Atzmüller: Die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in Österreich. Dimensionen von Workfare in der österreichischen Sozialpolitik, in: Kurswechsel 4/2009: 24-34.

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Wertvolle Wissenschaft: Das Fortwesen von Marienthal

von Peter Oberdammer

Mit der Schiksalsfrage des modernen Warensubjekts in der Überschrift ("If you are overqualified for your role, are you causing more trouble for your firm than you are worth?") informiert uns die BBC über ein aufsteigendes Forschungsfeld der Wirtschaftswissenschaften ("perceived overqualification") allgemein, und eine aktuelle Studie im Besonderen. Mit allerhand scheint sich die Verwertungswissenschaft allerdings nicht zu befassen:

• Es fällt zwar auf, dass "many employers now use degrees as a standard entry requirement for roles that were traditionally done by non-graduates" (BBC); dass dies logisch auf dem krisenbedingten Arbeitskräfteüberschuss und Qualifizierungswettlauf (Long live LLL!) beruht, scheint weniger zu interessieren. Auch nicht, dass die unternehmerische Idiotie, Uniabsolventen in allen möglichen Bereichen zu beschäftigen, wo keine gebraucht werden, nur eine Folge des Denkens in abstrakten Wertkategorien sein kann. Es ist eben value for money, einen "wertvollen" Akademiker zu unakademischen Löhnen einkaufen zu können.

• Nicht einmal die Aussage ihres Testimonials, "It was boring, it wasn't challenging, and I wasn't doing any meaningful work" (BBC), lesen die Jünger der Verwertungswissenschaft zu Ende. Dass die Jagd nach dem abstrakten Wert, jede Arbeitskraftverausgabung letztlich "meaningless", weil einem fetischistischen Zweck unterworfen, machen muss, gilt nicht nur für Akademiker, auch wenn letzteren die Schuppen besonders dröhnend von den Augen fallen mögen, wenn ihre ideologischen Schleier krisenbedingt zerschleißen. "Man arbeitet heute nicht mehr für eine Idee oder ein Produkt, sondern nur noch für die zahlenmäßigen Effekte, die sich daraus ergeben", werden Manager in einer Untersuchung zu Burn-out (Broßmann) zitiert. Dies war natürlich immer so, kann nur immer weniger geleugnet werden, wenn die Jagd nach dem abstrakten Wert in ökologischen, sozialen und psychischen Ruinenlandschaften immer weniger Kollateralnutzen vorweisen kann.

Aber nein, ausgerechnet auf den Spuren von Marienthal wandeln sechs Unileute aus fünf Universitäten auf drei Kontinenten, wenn sie konstatieren, was die Überqualifizierten so unglücklich macht: die "underutilization of abilities and skills", die als "deprivation, injustice and misfit" empfunden würden, nicht etwa Entlohnungs- oder Statusunterschiede oder die kognitiven Dissonanzen infolge des Diensts am Warenfetisch. Entzugserscheinungen für Verwertungssüchtige bei Unterverwertung? Welch Unglück, seine "surplus job capacity" beim Müßiggang vertrödeln zu müssen?

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"Den Wert der Stunde erleben"
Notizen zu einer überfälligen Abrechnung mit der Marienthal-Studie

von Franz Schandl

Eine 29-jährige Frau aus Marienthal sagt, und ähnliche Aussagen aus Heidenreichstein und Schrems dürfen angenommen werden: "Wenn ich wieder in die Fabrik zurück könnte, wäre das mein schönster Tag. Es ist nicht nur wegen dem Geld, aber hier in seinen vier Wänden, so allein, da lebt man ja gar nicht." (Marie Jahoda/Paul Lazarsfeld/Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch (1933), Frankfurt am Main 1975, S. 91. Alle folgenden Seitenanzahlen beziehen sich, sofern nicht anders angemerkt, auf diesen Band.)

Der Zustand von früher wird von den aktuell Betroffenen geradewegs verherrlicht. Indes ist diese retrospektive Sicht doch sehr verzerrt durch die damals aktuellen Probleme, sodass das Vergangene in einem günstigen Licht erscheint. Die Depression färbt alles, was vorher gewesen ist, geradezu rosig ein, steht es nur im Gegensatz zur "abgestumpften Gleichmäßigkeit" (S. 55). Stets wird die Frage so gestellt: Wie kann den Objekten geholfen werden? Nicht: Wie gelangen wir zu einem Zustand, wo die Menschen nicht mehr Objekte ihrer selbst verschuldeten Zusammenhänge sind?

Sozietät soll nur noch als Arbeit und von ihr abhängiger Freizeit (worunter auch dezidiert die ganzen Einkäufe fallen) vorgestellt werden können. Von einer Kritik solcher Zwangszustände ist die Marienthal-Studie meilenweit entfernt. Insgesamt ist der kritische Gehalt des Projekts dürftig. Die "bahnbrechende Studie" fährt in ihren ganzen vorausgesetzten wissenschaftlichen Apriori auf den affirmativen Geleisen von Industrie und Arbeit. Die spezifischen Umstände, die die zitierte Frau dazu verleiten, ihre Perspektive so und nicht anders zu projizieren, werden nicht einmal thematisiert, eben weil sie gar nicht als spezifisch gesellschaftliche, sondern als allgemein menschliche wahrgenommen werden. Gerade hier müsste Analyse ansetzen. Indes wird von Lazarsfeld, Jahoda & Co. die allgemeine Bescheidenheit innerhalb der vorgegebenen Muster und Formen zu denken auch noch geadelt. Wissenschaft und Alltagsbewusstsein bekennen sich dann unisono zum gesunden Menschenverstand. Statt Kritik zu üben, erhöhen die Forscher die synthetischen Vorurteile der Beforschten durch ihre empirische Wissenschaft.

Die Studie erlaubt sich somit nicht einmal in Akzenten einen emanzipatorischen Anflug. Sie ist dem Universum der Arbeit fest verhaftet. Ein System, das die Arbeiter auf brutale Weise ausgespuckt hat, soll sie abermals in Gnaden aufnehmen. Gegen die Misere der Arbeit hat Paul Lazarsfeld wiederum nur die Arbeit anzubieten: "Die einzige wirksame Hilfsquelle wäre natürlich die Arbeit" (S. 43), heißt es mehr lapidar als apodiktisch. Diese Kernaussage zeigt freilich die begrenzte Perspektive des Vorhabens. Karl Reitters Einschätzung der Studie ist wohl zuzustimmen: "Ich halte sie für ein Musterbeispiel an ideologischer Zurichtung auf die Lohnarbeit und zudem als akademische Einübung in die elitäre Distanz. Die Studie wurde 1933 in einem kleinen Industrieort in Niederösterreich durchgeführt. Die Arbeitslosen treten uns in dieser Untersuchung als passives, stummes Objekt entgegen. Sie artikulieren sich nicht, sie bedürfen der Wissenschaftler aus dem fernen Wien, die uns sagen, wie es ihnen ergeht und was sie benötigen: Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit." (Karl Reitter, Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens, Münster 2011, S. 244)

Es wird ganz so getan, als wären die Probleme der Welt in der Abwesenheit und nicht der Anwesenheit von Lohnarbeit und Kapital begründet. Was meint, dass alle Menschen, insbesondere aber die Lohnarbeiter sich den Verwertungsbedingungen des Kapitals unterwerfen müssen. Arbeit ist nur von Übel, wenn es zu wenig gibt, Waren sind nur von Übel, wenn es zu wenig gibt, Geld ist nur von übel, wenn jemand zu wenig hat. Gefordert wird dann nichts anderes als Gerechtigkeit, was meint: Wir wollen mehr von alledem. So endet alles in einem Verteilungskampf, der gar nicht mehr fragt, was denn überhaupt diesem Realszenario von Arbeit und Geld, Markt und Staat, zugrunde liegt und warum wir es wollen sollen.

Arbeit als Freizeit

In allen Passagen des Werks kommt das deutlich zum Ausdruck. Am Beispiel der Freizeit sei das noch einmal illustriert. "Aber bei näherem Zusehen erweist sich diese Freizeit als tragisches Geschenk" (S. 83), schreiben sie. Doch auch diese Sicht ist beschränkt. Leute, die Arbeit verloren haben, haben keine Freizeit gewonnen. Keine freie Zeit wird ihnen geschenkt, sie werden vielmehr in eine lose Zeit gestoßen. Lose meint, dass eins seiner gesellschaftlichen Funktionen entledigt wurde. Hier versagt die Analyse weitgehend, und zwar aus dem banalen Grund, dass soziale Perspektive nur vom Standpunkt der Arbeit gedacht wird. Tatsächlich ist sie die hohe Braut, der man sich anvertraut. Das Lied der Arbeit ist immer mitzuhören. Es verstummt nie, gibt Melodie und Rhythmus vor. Freizeit ist jedoch eine rhythmische Erscheinung der Arbeit selbst. Sie ist die Coda der Arbeit. Geht die Arbeit verloren, dann geht auch die durch sie dimensionierte Freizeit verloren. Auch sie wird entwertet.

Maria Hintersteiner wendet wohl zu Recht ein: "Der Schwerpunkt könnte aber auch etwas anders gelegen sein, als die ForscherInnen vermuteten. Vielleicht lag die Ursache für diese psychische Lähmung nicht so sehr im Verlust externer Zeitfixierung und der Spannung, die der Wechsel Arbeit-Freizeit aufrechtzuerhalten vermag, als in der Aussichtslosigkeit, dass irgendetwas, was man unternehmen könnte, zur Besserung der persönlichen Umstände führen würde." (Erfahrungshorizonte bei Tätigkeiten Erwerbsarbeitsloser unter Einschluss der Muße, Diplomarbeit, Wien 2008, S. 36)

Depressiv und krank macht ja auch nicht die Arbeitslosigkeit als solche, sondern eine gesellschaftliche Konstellation, die die Arbeitslosen als minderwertig und deklassiert begreift und sie das durch ihr schmales Einkommen und diverse repressive Maßnahmen auch spüren lässt. Arbeitslosen geht es also nicht schlecht, weil sie die Arbeit los sind, sondern weil man sie als gesellschaftliche Mitglieder ächtet, sie nicht mehr als vollwertig anerkennt. Gelingt es Einzelnen, sich diesen Zumutungen zu entziehen, dann kann Arbeitslosigkeit sogar eine befreiende Komponente entfalten, weil man unmittelbar nicht der Zwangslohnarbeit und der Zwangsverdingung ausgesetzt ist. Für diese Freiräume wird stets gekämpft, abseits aller Arbeitsbekenntnisse.

"Dass übrigens die unmittelbare Arbeitszeit selbst nicht in dem abstrakten Gegensatz zu der freien Zeit bleiben kann - wie sie vom Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie aus erscheint -, versteht sich von selbst", schreibt Marx (MEW 42, S. 607). Und Andrea Komlosy meint: "Freizeit entspringt der Vorstellungswelt, in der Arbeit als Erwerbsarbeit begriffen wird, die innerhalb eines bestimmten festgelegten Zeitrahmens stattfindet und zumindest im Idealfall die Geldmittel bereitstellt, mit denen die zum Leben notwendigen Waren beschafft werden können." (Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, Wien 2014, S. 71)

Freizeit ist eine durch und durch moderne industrielle und kapitalistische Größe: Freizeit ist durch Arbeit bestimmte Nichtarbeitszeit. Leute, die die Arbeit verloren haben, haben keine Freizeit gewonnen. Freizeit ist eine Funktion der Arbeit, genauso wie Arbeitszeit. Fällt die Arbeit weg, ist die übrig gebliebene Zeit primär eine tote. Und tatsächlich, Arbeitslose sind sozial tot oder zumindest schwer verletzt. Heute sind sie den Reinkarnationsmaschinen von AMS und Politik ausgeliefert. Von der Verachtung, die immer mitschwingt, ganz zu schweigen.

Arbeit als Leben

Wo Arbeit und Leben als objektive Identität und subjektive Identifizierung auftreten, kann der Verlust der Arbeit nur als Verlust des Lebens empfunden werden und nicht als Zeitgewinn. Genau das ist der Fall, in Marienthal ebenso wie im Oberen Waldviertel heute. Wenn man sich mit etwas identifiziert, was man hat, dann ist, unabhängig von aller Problematik, doch in gewisser Weise Synchronität und Harmonie möglich; identifiziert man sich allerdings mit etwas, was man nicht hat resp. was einem soeben genommen wurde, dann ist das Leben dieser Subjekte an sich infrage gestellt und würdelos geworden. Der Wert, den man zu haben hat, wurde einem geraubt. Der Wert der Menschen besteht ja schließlich darin, sich verwerten zu können, ja zu müssen. Diesen Zusammenhang gilt es zu untersuchen, anstatt stupide Bekenntnisse à la "Arbeit gut, Arbeitslosigkeit schlecht" abzuliefern.

Menschen, deren ganze Perspektive sich auf die Arbeit kaprizieren und versteifen musste, wissen nun, da diese weg ist, zweifelsfrei nichts mehr anzufangen. Außerdem bestimmt fortan Geldknappheit ihre Bedürfnisse, oder besser, minimiert sie. Tatsächlich ist man in einer Situation, wo man sehr wenig Geld hat, noch mehr Geldwesen als in einer, wo man flüssig ist. Eben weil man in der tristen Situation jede Handlung ganz explizit und präzise auf die Möglichkeiten der eigenen Börse einzuschätzen hat und somit auch der relativen Autonomie des Kaufens verlustig geht. "Ich bin ganz knapp", sagt dann das Subjekt. Man kann am normalen bürgerlichen Leben nicht mehr so recht teilnehmen, da man schwer behindert ist, ein sozialer Krüppel sozusagen, auf Hilfe angewiesen.

Ist Freizeit von Lohnarbeit bestimmt, so ist die arbeitslose Zeit von der Abwesenheit der Erwerbsarbeit und somit vom Wunsch getragen, diese zurückzugewinnen. Alleine sie sichert das Leben, so das gemeine Vorurteil. Der Arbeitslose fühlt sich also nicht als Opfer der Arbeit, die ihn als überflüssig ausgespuckt hat, sondern als Opfer der Nichtarbeit. Wenn ein Arbeitsloser mit dem Satz "Ich habe früher weniger Zeit für mich gehabt, aber mehr für mich getan" (S. 86) zitiert wird, dann wäre dies weniger als eine Frage der Zeit als eine Frage des Gelds zu dechiffrieren. Die disponible Zeit ist demnach auch nicht auf der Ebene überflüssiger Stunden zu diskutieren, sondern wesentlich geprägt von der Konstellation, in der die Personen sich befinden.

Disposition ist keine formale Frage der Zeit, sondern in der Marktwirtschaft eine inhaltliche Frage der durch das Geld bestimmten Möglichkeiten, kurzum der Funktionserfüllung als Geldsubjekt. Arbeitslose können nicht mehr in ausreichendem Sinn das sein, was gesellschaftlich von Käufern und Verkäufern verlangt wird. Sie können sich nicht mehr verkaufen und können daher auch nur noch sehr beschränkt kaufen. Ginge es rein nach den Gesetzen des Marktes, müsste man sie verhungern lassen, weil sie ihre gesellschaftliche Pflicht als aktive Marktteilnehmer nicht zu erfüllen verstehen.

Der oben zitierte Arbeiter konnte früher mehr für sich tun, weil er erstens gesellschaftlich akzeptiert (= Arbeiter als erfolgreicher Verkäufer der Arbeitskraft) und zweitens, weil er dadurch ein (wenn auch vielleicht bescheidener) Geldbesitzer und somit Käufer gewesen ist, der über ein regelmäßiges Einkommen verfügte. Sein Status war anerkannt und gesichert. Nunmehr als Arbeitsloser ist sein Status weder anerkannt noch gesichert. Vor allem auch auf der emotionalen Ebene ist das ein großes Manko, mit dem eins da zurechtzukommen hat. Die Freizeit der Arbeitslosen ist eine der leeren Dauer, aber nicht, weil sie keine Arbeit besitzen, sondern weil sie gesellschaftlich nicht satisfaktionsfähig sind. Unter der Herrschaft von Markt und Kapital sind jene gescheiterte Existenzen. Sie vermögen sich eben nicht in Wert zu setzen, ihren potenziellen Gebrauchswert in einen tatsächlichen Tauschwert zu versetzen. Ihre Arbeitskraft ist unsubstanziell, weil unverkäuflich geworden.

Arbeit als Sinn der Zeit

Unsere empirischen Forscher beschreiben die ehemaligen Arbeiter (vor allem die Männer) als nicht mehr funktionierende Gesellschaftsmitglieder. Das ist, betreibt man Wissenschaft als Agentur von Lohnarbeit und Kapital, durchaus logisch. Aber darf man solch eine Position beziehen, die noch die bürgerliche Normalität (Arbeit) gegen die angebliche Ausnahmesituation (Arbeitslosigkeit) abfeiert und somit verteidigt? Arbeit und Arbeitslosigkeit, das scheint den Forschern wirklich eine fundamentale Diskrepanz zu sein. Letztere gilt es abzuwehren und Erstere zu verwirklichen. Arbeitsfähigkeit ist demnach unbedingt zu erhalten. Wenn Studienverfasser sich über Studienobjekte äußern, liest sich das mitunter so: "Wo der Wert der Stunde nicht mehr erlebt wird, lässt sich auch nicht stufenweise abgrenzen und verrechnen." (S. 87) Es gilt also den Wert der Stunde zu erleben, das tayloristische Universum der Verrechnung und Abgrenzung, es bleibt unwidersprochen, ja unhinterfragt. Schlimm ist es nicht selbst, sondern nur, wenn es nicht mehr funktioniert.

Der Sinn der Zeit scheint in der Arbeit zu liegen. Arbeit sollte daher zumindest simuliert werden. Derweil kann der Charakter des Nichtstuns völlig unterschiedlich sein: Es kann als apathisch, ja verzweifelt empfunden werden, es kann jedoch auch von produktivem Müßiggang und sinnlicher Kreativität bestimmt sein. Nichtstun sagt also vorerst einmal nichts aus. Nichtstun ist nicht einfach "der völlige Mangel einer sinnvollen Zeitauffüllung" (S. 86). Die Forscher wollen die Beforschten, selbst wenn sie arbeitslos sind, unbedingt zu einer Beschäftigung anhalten. Die Reservearmee sollte im Training bleiben. Solch Vorstellungen sind heute in der Arbeitslosenverfolgung ja schon Realität geworden. Insofern ist die Studie wegweisend.

Bei Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel fließt das Arbeitscredo aus allen Zeilen der Studie. Die Affirmation der Arbeit durch die (ehemaligen) Arbeiter wird nicht nur nicht hinterfragt, sie wird noch verstärkt. Und dieser blinde Fleck kann auch nicht einfach entschuldigt werden, weil der integrierte Mainstream der Arbeiterbewegung nicht anders tickte. Man verweise auf Friedrich Engels' Studie der englischen Arbeiterklasse (MEW 2), an viele Aussagen Karl Marx' oder Paul Lafargues Schrift "Das Recht auf Faulheit". Und auch nicht jeder Sozialwissenschaftler und austromarxistische Zeitgenosse war ein Arbeitsanbeter, man verweise auf Max Adler. Dieser schreibt:

"Es soll mehr als es bisher geschieht, im Bewusstsein des Proletariats der Gedanke herausgearbeitet werden, dass mit der Befreiung von der Knechtschaftsform der Arbeit, die durch die Jahrtausende gegangen ist, auch die Ideologie der Arbeit fallen wird, die nur einer Klassengesellschaft entspricht, wonach die Arbeit ein an sich Wertvolles, eine Tugend, ein heiliger Beruf sei. Dieses nach Philistertum schalster Art schmeckende Trugwort, mit welchem die arbeitslose Muße der Herrschenden die Arbeitsqual der Besitzlosen geistig versöhnen möchte, muss radikal ausgerottet werden. Die Arbeit, nicht als Funktionsbedürfnis oder schöpferische Aktion, sondern als Bestreitung der Notwendigkeiten und Annehmlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens (...) ist eine Last, eine Notdurft, welche die Gesellschaft verrichten muss, nicht mehr oder weniger. Sie auf jenes Maß einzuschränken und so zu organisieren, dass ohne Beeinträchtigung der Anforderungen der Gesellschaft endlich jeder einzelne von ihrem Joch befreit werde und nun statt ein Leben der Arbeit ein menschliches Leben führen könne, ist ja der große neue Kulturgedanke des modernen Sozialismus." (Max Adler, Wegweiser. Studien zur Ideengeschichte des Sozialismus (1914), Wien 1965, S. 202-203)

Überlegungen wie jene von Max Adler, der zweifellos für eine kleine Minderheit in der SDAP stand, sind dem Forscherteam fremd, real wie mental. Nicht einmal ein Gedanke wird daran verschwendet.

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Die Vermessungen von Marienthal

von Karl Reitter

Was wurde in dieser Studie tatsächlich gemessen? Vorgeblich die Niedergeschlagenheit angesichts des Verlustes des Arbeitsplatzes. Aber war es nicht auch, oder sogar primär, der Verlust des Einkommens? Damals wurde die Arbeitslosenhilfe ja nur für ein Jahr (oder so) ausbezahlt, dann wurde sie nach und nach auf Null gesenkt; "ausgesteuert" hieß das damals. Diese Ausgesteuerten konnten nur mit Hilfe von Verwandten oder Bekannten überleben. Was war also der Grund für die festgestellten psychischen Probleme, war es der Verlust der Arbeit oder das Wissen, in einigen Monaten schlichtweg keinerlei Einkommen zu haben. Wenn ich wüsste, dass meine Pension in einem Jahr auf Null gesenkt wird, wäre ich auch fix und fertig.

Was würden wir von einer Studie halten, die sich "Die unverheirateten Mütter und das tragische Schicksal unehelicher Kinder von Marienthal" nennt und in der dokumentiert wird, dass diese Mütter unter Schuldgefühlen und Niedergeschlagenheit leiden, und dass es den Kindern alles andere als gut geht. Das Faktum würden wir wohl kaum bezweifeln. Wie sollte es in einer katholischen Kleinstadt bei all dem bösen Gerede auch anders sein? Die Gefühle und Empfindungen der Frauen würden wir als echt akzeptieren. Aber wir würden sehr wohl darauf verweisen, dass diese psychischen Auswirkungen unehelicher Schwangerschaften kulturell und moralisch durch die Verhältnisse bestimmt sind. Wir würden sicher nicht dafür plädieren, dass Kinder nur in der Ehe geboren werden sollten, was diese Studie ja "beweisen" würde. Aber genau das macht diese Studie, nur statt Ehe heißt es eben Lohnarbeit. Dieser Punkt zeigt auch die Gesinnung der AutorInnen.

Alle sozialgeschichtlichen Untersuchungen zeigen, dass die Menschen erst mühsam mit einer Mischung aus Ideologie und Gewalt an die Lohnarbeit gewöhnt werden mussten - ein Prozess der über Jahrhunderte ging. Davon steht kein Wort. Zwischen den Subjekten der Studie (den untersuchenden WissenschaftlerInnen) und den Objekten (den Erwerbsarbeitslosen - dieses Wort wird selbstverständlich NICHT verwendet, als ob Erwerbsarbeitslose nichts arbeiten würden), ist eine unüberwindliche Demarkationslinie gezogen, als ob es Wesen aus verschiedenen Welten wären - was ja wiederum de facto stimmte.

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Arbeit, was sonst?

von Tilman Wendelin Alder

Marie Jahoda, (Wie viel Arbeit braucht der Mensch? Arbeit und Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert. Weinheim Basel: Beltz Verlag 1983) benennt sechs Funktionen der Erwerbsarbeit. Die manifeste Funktion zum einen ist der Gelderwerb; diese sei jedoch für das Leid in der Situation der Arbeitslosigkeit nicht besonders ausschlaggebend. Sie schreibt, "dass Menschen selbst dann arbeiten wollen, wenn keine ökonomische Notwendigkeit besteht". Die fünf latenten Funktionen zum anderen sind psychische: Zeitstruktur, soziale Kontakte, kollektive Ziele, Status/Identität und regelmäßige Beschäftigung. Sie alle repräsentieren Bedürfnisse. Für Jahoda bedeutet das im Umkehrschluss, dass Bedürfnisse bei Arbeitslosigkeit unbefriedigt bleiben und deswegen Menschen darunter leiden bzw. dass sich Erwerbslose in allen fünf Aspekten "psychisch verarmt" fühlen. Deshalb nennt sie ihre Theorie die der psychischen Deprivation.

Nun könnte ja angenommen werden, dass eine Person die fünf latenten Funktionen beispielsweise im ehrenamtlichen Engagement befriedigen könnte. Nein, glaubt Jahoda, es muss mit der Arbeit der Lebensunterhalt verdient werden. Dies sei der "Zwangsaspekt der Erwerbstätigkeit".

Ohne Zwang komme es nicht zu diesen fünf "notwendigen Erfahrungen". Selbst wenn Personen "zu den Glücklichen gehören, die über private Mittel verfügen", oder "es sich leisten können, von den öffentlichen Unterstützungsleistungen zu leben" oder wenn bspw. Frauen arbeiten "ohne damit den Lebensunterhalt verdienen zu wollen" - ihnen allen geht es nach Jahodas Beobachtungen psychisch schlecht. Die latenten Funktionen können als angenehm oder als unangenehm erfahren werden, erklärt Jahoda, die Hauptsache ist, dass sie vorhanden sind. "Was die Erwerbslosen am meisten wollen, ist ein Arbeitsplatz, nicht jedoch eine Revolution", schreibt die Autorin. Sie sieht zwar, dass Bedürfnisse auch ohne die Institution Erwerbsarbeit befriedigt werden könnten, kann sich dies jedoch nur als rückschrittliche, "primitivere" Vergesellschaftung vorstellen. So blieb die Reformerin Jahoda dem alten kapitalistischen Grundsatz treu: "Jeder muss von seiner Arbeit leben können. Das Lebenkönnen ist sonach durch die Arbeit bedingt" (Johann Gottlieb Fichte, 1797).

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Dead Men Working

Multi-Encephalonversagen

von Maria Wölflingseder

"Sanfter Terror vernichtet nicht weniger als harter Terror." - Diese Worte von Friedrich Heer prangen auf den Kulturplakatflächen der Stadt Wien. Für den Kultur- und Medienstadtrat Andreas Mailath-Pokorny sind die literarischen und philosophischen Zitate "wesentliche Literatur- und Leseförderung. Auf leise, subtile und ungemein wirkungsmächtige Weise." Das Motiv der Serie, zu der der Satz von Heer gehört, lautet: "Menschenwürde, Aufruf zur Mündigkeit und die bedrohte Freiheit des Individuums."

Leider ist diese ungemeine Wirkungsmächtigkeit an den staatlichen Behandlungsmethoden von Arbeitslosen spurlos vorüber gegangen. Seit über 20 Jahren wird Menschen, denen die Möglichkeit zur Lohnarbeit verwehrt ist, auf subtile bis vehemente Weise vorgehalten, sie wären an diesem Umstand selber schuld. Entweder hätten sie etwas falsch gemacht oder sie wären zu faul zum Arbeiten. Der Bezug von Versicherungsleistung aus der Arbeitslosenversicherung wird als Sich-in-der-sozialen-Hängematte-bequem-machen verunglimpft. Daran hat auch die rapide Abnahme von verfügbaren Arbeitsplätzen nichts geändert. In einer Gesellschaft, deren unumwundene Dogmen Markt und Kapital lauten, sind nur jene, die ihre Arbeitskraft verkaufen können, also jene, die sich in Wert setzen können, vollwertige (sic!) Mitglieder. Dagegen hilft auch keine noch so notwendige ehrenamtliche Tätigkeit oder die Betreuung von Kindern und die Pflege von Alten.

"Wieder mehr für die Fleißigen tun." So lautete einer der Slogans, mit denen die Neue ÖVP eben die Nationalratswahl gewonnen hat. Und: "Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein." - Diese Verhöhnung von Arbeitslosen heißt nichts anderes, als einen Keil zwischen die Vollwertigen und die Minderwertigen zu treiben. Eine Auflösung der Grenzen könnte ja gar in Richtung Auflösung des Dogmas von Markt und Kapital führen. Dies gilt es zu verhindern, da sonst die Machtmechanismen zur Aufrechterhaltung dieses Systems unwirksam würden.

Politiker beteuern zwar, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen oder gar Vollbeschäftigung wieder erreichen zu wollen. Dies als historische Unsinnig- und Unmöglichkeit zu erkennen, reicht ihr Denkvermögen genauso wenig wie zur Veranschaulichung der Lebenssituation von Arbeitslosen, die immer tiefer in die Armut gedrängt werden und zusätzlich Schikanen ausgesetzt sind. Letztere reichen vom Zwang zur Teilnahme an meist sinnlosen Kursen bis zur strafweisen Sperre der Versicherungsleistung - immer öfter aus völlig bei den Haaren herbeigezogenen Gründen. Dies führt nicht selten zur akuten Existenzgefährdung. - Aber auch den Medien sind die Notlagen der Arbeitslosen kaum der Rede wert. - Die Gängelung passiert weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dies ist ein charakteristisches Merkmal von sogenannten "Totalen Institutionen". Diesen Begriff prägte der in den USA tätige Soziologe Erving Goffman (1922-1982) mit seinem Werk: "Asyle - Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen" (1961, deutsch 1973). Die erniedrigende Behandlung bewirkt nach Goffman "eine Beschränkung des Selbst". Seine zentrale Frage ist: Wie kann das Individuum seine verletzliche Autonomie bewahren? - Goffman löste damit die Bemühungen aus, große, rigide geführte Einrichtungen wie Kinder- und Altenheime, Internate, Psychiatrien und Gefängnisse zu "entinstitutionalisieren".

Arbeitslose sind zwar noch nicht einkaserniert, aber ihre Autonomie, ihre Bewegungsfreiheit wird dennoch stark beschränkt: durch die Kursbesuche, oder mitunter auch durch die Überwachung ihres Privatlebens. Arbeitslose haben dem Arbeitsmarkt, ersatzweise dem Arbeitsamt ständig zur Verfügung zu stehen. Deshalb dürfen sie den Wohnort nur unter Auflagen verlassen. Die Staatsgrenze zu überschreiten ist jedoch verboten. In Österreich gibt es auch keinerlei Urlaubsanspruch für Arbeitslose wie etwa in Deutschland.

Während in den letzten Jahren begonnen wurde, die ehemaligen Verbrechen in staatlichen und kirchlichen Kinderheimen und Internaten aufzuarbeiten und Wiedergutmachung anzubieten, hat die entwürdigende Behandlung von Arbeitslosen und Armen erst begonnen. Insbesondere auch gegenüber Bettlern. Alle, die nicht produktiv sind und nicht konsumieren können, sind in unserer Gesellschaft nur geduldet, aber keine anerkannten Subjekte. (Siehe "Nicht-Subjekte" in: Maria Wölflingseder "Die Maßnahmen des AMS", www.streifzuege.org) Letztlich ist es gleichgültig, ob es sich dabei um eine rumänische Bettlerin handelt oder eine österreichische in Konkurs geratene, ehemals erfolgreiche Ich-AG.

Genau das ist der Grund, warum Arbeitslose und Arme ihre Situation so gut es nur geht verheimlichen. Warum sie mit allen Mitteln das "business as usual" aufrecht zu erhalten versuchen. Keine Artikulation, kein Aufschrei. Dafür aber haben Heerscharen von Psychotherapeuten, Coachs, Mentaltrainer und Diplom Selfnesstrainer Hochsaison. Der Tenor lautet: Nicht den Grund für sein Leid außerhalb des Selbst suchen, sondern sich selbst Wohl zu wollen. Die "veralteten Glaubenssätze" des Individuums (!) sind stets das Hinderliche! Die aktuellen Bestseller lauten: "Freunde fürs Leben - Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein" (Melanie Wolfers, 2016), "Das Aschenputtel-Prinzip - Von Selbstkritik und Strenge zu mehr Selbstliebe und Lebensfreude" (Saam Faradji, 2017), "Mit mir sein - Selbstliebe als Basis für Begegnung und Beziehung" (Michael Lehofer, 2017). - Manche "gestehen" einem vielleicht noch "Schicksalsschläge" zu, wie den Tod eines Angehörigen oder eine Krankheit, aber krankmachende gesellschaftliche Verhältnisse sind tabu!

Auch das inbrünstige Beteuern von "Empowerment" und "Selbstermächtigung", wozu der geschundenen Kreatur verholfen werden muss, entpuppt sich als alles andere als emanzipativ. Genauso wie "Resilienz" sind es nur wirkungslose Zauberwörtchen aus der psychosoziologischen Trickkiste. Der Irrationalismus wird nämlich trotzdem allseits als Normalität anerkannt: Die Tatsache der immer geringer werdenden Möglichkeit, durch den Verkauf seiner Arbeitskraft das Auslangen zu finden, wird seit Jahrzehnten geleugnet. Dieser kollektive Realitätsverlust führte zu einer weiteren Dimension von Individualisierung: Je weniger Arbeit es gibt, desto mehr verinnerlichte der Einzelne den Arbeitswahn und den Zwang zu noch größerer Anstrengung bei der Arbeitssuche, anstatt die gesellschaftliche Unmöglichkeit der Daseinsfom Lohnarbeit zu erkennen und zu hinterfragen.

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Critical employment studies
Gedanken zur Abwertung Arbeitsloser

von Martin Schroeder

"Arbeitslose erleiden mit dem Lohnausfall zugleich die Sanktion des Marktes: dass eine unverkäufliche Arbeitskraft, wie jede brachliegende Ware, ihre Bestimmung verfehlt. Durch noch so gutes Zureden kann man ihnen das Gefühl ihrer Minderwertigkeit nicht ganz nehmen. Sie wissen, dass der Markt kein Gott ist - und empfinden doch anders." So konstatierte der Philosoph und Theologe Christoph Türcke die Situation von Arbeitslosen. Schwer ist es, Empfindungen nachzuvollziehen, doch sind diese in Bezug auf den Arbeitsmarkt keine bloß individuellen und persönlichen, wie es nicht nur Amtsberaterinnen Arbeitslosen gern einreden möchten. Ein wesentlicher Teil gesellschaftlicher Beziehungen konstituiert sich über den Markt, die Ware, die Arbeitskraft, die Ware, den Markt - den teuflischen Zirkel. Aus diesem Verwertungskreislauf als Produzent herauszufallen, hat nicht nur Konsequenzen auf die Wahl der Wohnung und anderer Produkte. Es wäre eine Persönlichkeitsspaltung nötig, um diese, durch die Arbeitslosigkeit erlittene, Unwertigkeit der Ware Arbeitskraft nicht auf die eigene Person zu beziehen. Ist doch jedes Produkt, selbst eine Massenware, authentisch und einzigartig. Das Individuum bestimmt sich auf dem Markt zu bestimmtem Gebrauch - der Kellner kellnert, die Managerin managt und Arbeitslose sind arbeitsuchend. Sie suchen ihre Bestimmung.

Das Abstraktum Arbeitsmarkt tritt spätestens mit der Arbeitssuche so unmittelbar und doch so unfassbar in den Alltag, dass der Markt als schicksalhaft erscheint. Aber auch die, die einen guten Job hat, sagt: Ich habe Glück gehabt. Es hatten sich über hundert beworben. Viel Glück bei der Jobsuche, wünscht uns die Verwandtschaft nach einem Studium. Eigentlich haben wir uns schon während des Studiums gekümmert, um einen Job. Am besten unbefristet und in einer sicheren Branche. Ein sicherer Job eben, sicher vor den uneinschätzbaren Kapriolen des Marktes. Ob er gut ist, ist erst einmal drittrangig.

Denn arbeitslos werden heißt zumeist minderwertig werden. Langzeitarbeitslosigkeit heißt: In den Müll geworfen werden, unbrauchbar für die große Marktgesellschaft. Was für ein Haltbarkeitsdatum hat eine ungenutzte Arbeitskraft? Wie fühlt es sich an, nicht oder nur schlecht verkäuflich zu sein; aussortiert zu werden, an den Stadt- oder den Rand der ernstzunehmenden, heißt hoch kapitalisierten, Welt verbannt zu sein; als unbrauchbar, unnütz und überflüssig? Die Soziologen Zygmunt Bauman oder Loïc Wacquandt haben diesen Prozess drastisch beschrieben. Klassismus wütet, gern in Verbindung mit Rassismus, Kriminalisierung, Grenzen und Gefängnissen, um die Norm der arbeitsamen, vermeintlich sicheren Leben aufrechtzuerhalten. Wer was leistet, soll sich auch was leisten können, riefen Parteien 2017 zur (Wahl-)Urne. Dies heißt auch: Wer nichts leistet, zumindest nichts, was entlohnt wird, soll sich auch nichts leisten.

Eins ging einst auf den Arbeitsmarkt

Sicher, ich bin nicht reduziert auf die Arbeitslosigkeit. Sicher kann ich es verschweigen, verbergen oder mich selbst in einen Auf- oder Umwertungsprozess, in eine weitere Weiterbildung stecken. Vielleicht kann ich in Arbeit kommen und etwas werden. Doch ohne die Arbeitskraft zu verkaufen, sind wir ausgeschlossen vom Markt der Produzenten. Vielleicht sorgen wir für eine Familie oder einen arbeitenden Ehepartner oder beides. Wenn wir jedoch erwachsen sind, gar schon "Berufserfahrung", also eine Bestimmung haben, können wir nicht nicht arbeiten, ohne die ganze Gewalt dieses Ausschlusses zu erfahren.

Was als Übergang zwischen zwei Jobs noch erstrebte Freizeit sein kann, ist mit der Unverkäuflichkeit der Arbeitskraft keine Wahl mehr. Die Arbeitslosigkeit beraubt uns der Möglichkeit, vor der falschen Notwendigkeit der Ökonomie zu fliehen und uns einen gesellschaftlichen Wert beizumessen. Denn die Möglichkeit der Arbeitenden, in ihre Verwertung fliehen zu können, ist - neben dem Konsum - die Macht und die Freiheit, die den Individuen in einer Arbeitsgesellschaft bleibt. Arbeitslose haben diese Macht und diese Freiheit verloren.

Frei wirst du nur mit und durch andere. Freiheit ist relativ und verweist immer auf Gesellschaft. Die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft, sagt der Materialist, ist die Freiheit, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, so du keine Produktionsmittel hast. Die Lohnarbeit ist also die Instanz, die dich freisetzt. Arbeit wird damit zur Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Ein eigentümlicher Widerspruch. Die Arbeit als etwas Vermitteltes, selbst in der Freiberuflichkeit Aufgezwungenes, soll uns Freiheit geben?

Die Arbeit als Lohnarbeit folgt nicht nur einer ökonomischen Logik. Sie löst auch die Religion ab. Und obwohl wir wissen, dass der Markt kein Gott, kein Schicksal ist, fühlen wir uns überflüssig, wenn wir nicht mehr als Produzenten am Marktgeschehen teilhaben. Es ist dies unseren eigenen Wertmaßstäben zuzurechnen. Eine Ware, die wir kaufen, schätzen wir aufgrund ihres Gebrauchswertes: Das Essen schmeckt, der Bohrer funktioniert, die Frisur sieht gut aus. Wenn unsere Arbeitskraft nicht nachgefragt wird, wissen wir: Sie ist unbrauchbar. Leider sind damit wir selbst unbrauchbar in einer Arbeitsgesellschaft. Die Wertmaßstäbe, die wir an Produkte anlegen, legen wir an uns selbst an. Die Wahrheit der Ware wird im Kapitalismus zu unserer.

Keine noch so feine Erzählung des glücklichen Arbeitslosen wird uns retten, solange der Wert unserer Arbeitskraft analog dem Warenwert gemessen wird. Dass dieser Wert zum Gutteil ein metaphysischer ist, wie die Marx'sche Dialektik auseinanderlegt, rettet nicht, da dieser Wert eben zum anderen Teil einer ist, der den Gebrauch bestimmt - die Schönheit, die Funktionalität, den Geschmack oder unsere Bestimmung als Arbeitskraft. Auseinanderdividieren lässt sich der Wertmaßstab real nicht: Tausch- und Gebrauchswert sind in der Ware vereint, zu der das Individuum als Arbeitskraft reduziert ist. Die Anrufung der Unverletzlichkeit des Menschen mit dem Hinweis auf seine Schönheit und Nützlichkeit, also die Anrufung seines Gebrauchswertes, hilft nicht, wenn dieser Wert nicht in Wert gesetzt, also auf dem Arbeitsmarkt getauscht werden kann.

Die sogenannte Reservearmee der Industrie ist ein Müllhaufen, aus dem hin und wieder jemand recycelt wird. Ein Müllhaufen, mit dem sich niemand gern auseinandersetzen will. Die Mülltrennung passiert polizeistaatlich geographisch an der Grenze im Mittelmeer und klassistisch biopolitisch in der Gesellschaft. Dagegen eine politische Organisation gegen die Zumutungen der Sozialleistungsgesetzgebung anzusetzen, ist verdienstvoll, jedoch zum Scheitern verurteilt. Während Flüchtende immer noch auf ihre potentielle Arbeitskraft verweisen und sich unter dem Kriterium der Teilhabe organisieren können, ist die Teilhabe von Langzeitarbeitslosen als solche von vornherein ein Widerspruch in sich. Müll lässt sich nur in Abfallcontainern organisieren. Nötig wäre, die Abfallproduktion zu vermeiden. Doch wie soll dies gelingen, ohne das Wertesystem, das auf der produktiven, Wert schaffenden Arbeit beruht, zu stürzen?

Die wesentlich übergreifende Anerkennungsstruktur der Gegenwart ist die der Arbeitenden, um die herum sich Verschiedenes gruppieren darf. Die arbeitende Gegenwart ist die Grundlage für Freiheit und Leben. Diese scheint nicht mehr von der Hegemonie, von der Macht der Zustimmung einer Mehrheit abhängig, sondern ist schlicht übliche herrschende Praxis. Ich geh was Gutes kaufen, nicht was Schlechtes. Das ist nicht der politischen Mehrheit, sondern einer Selbstverständlichkeit geschuldet. Der Ausschluss unbrauchbarer Arbeitskräfte ist die Norm.

Versuche, aus den Arbeitsmarktbezügen auszubrechen, gelingen nur teilweise: sogenannte Parallelgesellschaften, Kommunen, Groß- und Kleinprojekte, Container- oder Klaugemeinschaften versuchen, der Verschwörung der Marktgläubigen zu entfliehen. Und werden als kollektive Marke wieder vom Verwertungszwang eingeholt. Wenn sich Individuen in anders wertende Kollektive begeben, muss sich in Folge dann das Kollektiv auf dem Markt rechtfertigen. There's no way out. Sympathisch ist es zweifellos, wenn antikapitalistisch eingestellte Kollektive ihre Existenz begründen - gesellschaftlich werden sie aber als ein weiteres Angebot begriffen, das seinen Wert rechtfertigen muss. Was individuell als Ausweg erscheint, verschiebt den Zwang zur Arbeit ins Kollektive und lässt diese Kollektive daran zu oft zugrunde gehen. Wie findest du Bündnis Y oder Projekt X? So oder so: Hauptsache, es scheint uns nützlich, brauchbar, gut und schön.

Arbeitslager, unverortbar

Jede noch so sinnlose Arbeit ist sinnvoller als keine Arbeit. Weil sie vergesellschaftet. Weil sie uns, wie nichts anderes, einen Status und Wert zuerkennen kann. Uns dem Müllhaufen enthebt, der täglich neu von der arbeitswütigen Gesellschaft aufgehäuft wird. Nur wenige Statusmeldungen können es mit der einer Lohnarbeit aufnehmen - nämlich die, welche unmittelbar mit ihr verknüpft sind. Dazu gehören: (a) Kinder, in deren Ausbildung investiert wird, damit sie später rechnen bzw. sich rechnen können; (b) Studierende, aus den gleichen Motiven wie (a); (c) Hausmänner und -frauen, die für die Kinder und den - oft geehelichten - Teil arbeiten, der arbeitet; und (d) Rentner, weil sie gearbeitet haben und für die Kinder sorgen.

Arbeitslose, und tun sie noch so wertvolle Dinge für die Gesellschaft, können im Gegensatz zu (a) bis (d) und den Lohnarbeitenden nicht in diese integriert werden. Sie können an der Freiheit, die angeblich für alle gilt, nicht teilhaben. Denn diese Freiheit ist nur die Freiheit, die Arbeit hinzuwerfen. Arbeitslose sind vom Schicksal, das die Arbeit den Arbeitenden bereitet, ausgeschlossen. Sie dienen keinem. Wir dienen Deutschland, unserem Chef oder dem Kontostand - sie dienen niemandem. Im doppelten Sinne. Niemandem etwas geben, niemandem sich unterwerfen, löst Arbeitslose los - los aus den realen und gefühlten Sozialbezügen. Die Rationalisierung der Welt vor ein paar Jahrhunderten hat diese Welt nicht vom Glauben an eine höhere Macht befreit. Nein, diese Macht - nenn sie Markt oder Schicksal, nenn sie, wie immer du willst - ist sehr präsent. Wir dienen ihr gern, denn sie gibt uns die Macht, unser Leben zu verarbeiten.

Diejenigen, deren Wirken die Arbeit nicht bestimmt, sind Ungläubige. Kein noch so starkes Mühen um Arbeit kann sie in den seligen Kreis derer holen, die praktizieren, die der Arbeit dienen. Langzeitarbeitslose sind Aussätzige, an deren Krankheit niemand sich anstecken möchte. Sie können zwar wollen, doch sie können nicht können. Sie können nicht zur Gemeinschaft derer gehören, die dem Marktgott dienen - denn dies geht nur praktisch, auf die bestimmte produktive Weise, durch Geld anerkannte Wertschaffung. Das Selbst, das nur sich selber dient, verschwindet unintegrierbar im Müll.

Von den Rändern lässt sich auf die Normalität schließen. Der Einschluss in die Arbeitslosigkeit ist der Ausschluss aus der schaffenden Gesellschaft. Die Unentrinnbarkeit des Ausschlusses zeigt, wie wesentlich die belohnte Arbeit Gesellschaft herstellt. Weil mit der Arbeitslosigkeit der Selbstwert bis hin zum Unwert absinken kann. Weil erst mit der Arbeit sich das Individuum einen Wert zuzuerkennen in der Lage ist. Dies ist der Druck, der auf allen Arbeitenden lastet - morgen schon könntet ihr unnütz sein. Morgen könntet ihr eure Arbeit verlieren und damit das, was euch die Freiheit gibt zu sagen: Ich werfe meine Arbeit hin! Ich kündige! Ich mach da nicht mehr mit! Genau dies können aber nur die sagen, die arbeiten. Es ist wesentlicher Teil ihrer Freiheit, so etwas zu sagen und zu denken - es jedoch nie zu vollziehen.

Bei der Selbstentwertung von Arbeitslosen handelt es sich nicht einfach um ein Minderwertigkeitsgefühl oder einen Minderwertigkeitskomplex. Natürlich leidet das arbeitslose Individuum, die Ursache des Leids liegt aber außerhalb seiner, da es keine Möglichkeit hat, allein der Wertlosigkeit zu entrinnen.

Empfinden denn nicht die meisten einen Trennungsschmerz, wenn sie sich von geschätztem oder lieb gewonnenem Besitz endgültig verabschieden? Die ausgesonderte, auf den Müll geworfene Ware fühlt nichts, denken wir. Schmerz zeigt die entstandenen empathischen Beziehungen zwischen dem Nutzer und dem warenförmigen Objekt. Eine Beziehung, die wenig warenförmig und ersetzbar scheint, wenn wir sie in unser Herz oder in unser Bett lassen - wie etwa einen Plüschbären. Wenig verwunderlich, da wir uns selbst in unserer Umwelt spiegeln und in den Dingen einen Teil von uns zu erkennen glauben. Beziehungen zu Menschen wie zu Dingen sind nicht einseitig. Was empfinden also die aus dem Arbeitsmarkt Geworfenen?

Der moderne Mensch will gebraucht werden. Dies resultiert schließlich in einer uneinholbaren Erfahrung eines Verlustes, einer durch nichts aufzuwiegenden Abwesenheit, die wir empfinden, wenn unsere Arbeitskraft als unbrauchbar gilt. Sie trifft tiefer und materieller, als die vielen psychologischen Hilfsangebote der sozialen Träger zu bearbeiten es in der Lage wären. Der Arbeitslose ist nicht zu heilen, außer durch Arbeit. Selbst eine schlechte Arbeit scheint so weit besser, als sich wieder auf dem Markt zu bewerben und übrig zu bleiben und gezeigt zu bekommen, dass du mit all deinen Fähigkeiten dafür, dafür und auch dafür nicht gebraucht wirst.

Nenn es Klassismus

Betrachten wir ähnlich gelagerte Formen von Diskriminierung: Wenn gesellschaftliche Gruppen bspw. aus rassistischen Gründen strukturell ausgegrenzt werden, entstehen Verletzungen. Verletzungen durch Diskriminierungen schlagen sich über die Zeit materiell und real nieder: Unter anderem im Verhalten und dem Wissen der Diskriminierten. Manche Gruppen werden erst durch Ausgrenzung erschaffen - historisch und sozial legen gesellschaftliche Ausschlüsse Handlungs- und Denkweisen fest. Es entstehen bestimmte Verhaltensweisen der Ausgegrenzten oder stereotyp Eingeordneten im Umgang mit der Diskriminierung. Irgendwann, schrieb der Autor Rafael Chirbes, ist einem Marokkaner in Spanien nicht mehr klar, ob Leute auf der Straße ihn wegen seiner Hautfarbe scheel ansehen oder ob er sich nur vorstellt, dass Leute auf der Straße ihn wegen seiner Hautfarbe scheel ansehen. Der Effekt des Gefühls der Unzugehörigkeit, der eines Makels, ist in beiden Fällen derselbe. Ähnlich ergeht es Arbeitslosen. Durch das Wissen um ihren Makel, ihre Arbeitskraft nicht verkauft zu haben, fühlen sie sich minderwertig, egal ob sie als faul beschimpft werden oder ihnen gut zugeredet wird. Keine Politik und keine Lobby verteidigt Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil wird die Zugehörigkeit zu Lohnarbeit von Medien, Politik oder Verwandtschaft stets wiederholt oder als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Niemand verteidigt Entlassungen als etwas Gelingendes oder Befreiendes. Wer nicht arbeitet oder arbeiten kann, wird zum Problem gemacht. Dabei kann es unter dem Stand technischer Entwicklung nicht nur keine planetarische Vollbeschäftigung geben. Tatsächliche Vollbeschäftigung wäre auch eine ökologische und soziale Katastrophe. Trotzdem darf nur faul und müßig sein, wer sich zuvor ordentlich verwertet hat.

Bei den meisten Formen der Diskriminierung ist der Forschung inzwischen bewusst, dass das Problem bei denen liegt, die diskriminieren, und nicht bei denen, die diskriminiert werden. Warum scheint es in Bezug auf Klassismus und Arbeitslosigkeit selbst progressiven Geistern fern, die Arbeitstätigkeit und Normerfüllung als solches als Problem zu begreifen? Verwunderlich, dass engagierte Wissenschaften unter diesem vielseitig diskriminatorischen Regime noch keine "critical employment studies" begründet haben. Warum bewerben sich Menschen um einen Arbeitsplatz? Wieso verachten Arbeitende Nicht-Arbeitende? Wie kommt es, das Menschen lieber für wenig Lohn und fremdbestimmt überflüssige Arbeiten erledigen, als sich fröhlich streitend effektiv zu organisieren? Wieso wird gearbeitet, damit andere arbeiten können? Die bewusstlose Selbstverständlichkeit von Arbeit als ein ausschließendes, zerstörerisches und verblendetes Privileg infrage zu stellen, ist bitter nötig. Ein Markt, der Arbeitskräfte für wert oder unwert befindet, muss abgeschafft werden. Und gerade Arbeitende sollten daran arbeiten, denn sie verursachen dieses Problem.

Ob Arbeitslose ein solches Ansinnen unterstützen können, ist zweifelhaft. Zwar haben sie das spezialisierte Wissen von Betroffenen, viel Erfahrung und meist Strategien im Umgang mit der alltäglichen und strukturellen Diskriminierung. Andererseits sind sie als unverkäufliche Waren oft sehr mit ihrem eigenen Selbstwert befasst. Sei es, dass sie deswegen noch andere ab- und sich selbst aufwerten, sei es, dass sie mit Depressionen und Selbsthass ringen, sei es, dass sie damit beschäftigt sind, Arbeit zu suchen oder von ihr zu träumen. Von all der Zeit, sich mit dem Einsatz für gesellschaftliche Belange nützlich zu machen, um die Diskriminierung der Arbeitenden zu kompensieren, ist da noch gar keine Rede.

Einkommen heißt nicht Rauskommen

Dass Arbeitslosigkeit eine, wenn auch prekäre, positive Identität hervorbringt; dass Betroffene sich vernetzen, statt sich pathologisieren zu lassen; dass Arbeitslosigkeit das Selbstbewusstsein stärkt - würde den Beginn eines Kampfes gegen die Plage Lohnarbeit anzeigen. Die "Glücklichen Arbeitslosen" hatten es mit einer Kampagne und einem Manifest versucht. Daraus hatte sich 2012 schließlich nur ein Buch ergeben - kein Kollektiv, kein Widerstand, keine Antidiskrimierungsstellen. Es kommen nur einige Rufe nach einem Grundeinkommen mit dem Zusatz bedingungslos.

Sicher, es gibt bessere und schlechtere Sozialleistungen. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) wäre möglicherweise eine bessere. Doch die Diskussion darum geht an den wesentlichen Punkten vorbei. An allen nämlich, die oben genannt wurden. Keine Arbeitslose wird nicht abgewertet, nur weil die repressiven Maßnahmen der Arbeitslosenverwaltung eingestellt werden und es ein paar Euro mehr aufs Konto gibt. Wobei Letzteres nicht einmal sicher und die berechenbare Repression der Arbeitslosenverwaltung für manche nichts gegen die moralische Repression der Arbeitenden ist. Der Klassismus gegen Arbeitslose könnte sich mit einem BGE sogar verschärfen, da er dann eines der wenigen Instrumente wäre, Menschen in Arbeit zu zwingen. Aus diesem Grund gehen entsprechende Studien auch davon aus, dass mit einem BGE nicht weniger Menschen arbeiten gehen würden - und verkaufen dies noch als ein Argument für das Grundeinkommen.

Als Problem bleibt die in Wert setzende Arbeit, an der der gesellschaftliche Wert der Individuen bemessen wird. Der Graben zwischen denen, die lohnarbeiten, und denen, die dies nicht tun und keinen gesellschaftlich anerkannten Grund dafür haben, ist groß. Geld mag den Diskriminierten helfen, kann jedoch nur teilweise Diskriminierung abbauen. Wenn wir uns die antiziganistische Hetze der rechten Partei gegen Bettler im reichen Norwegen anschauen, die auf einem Klassismus gegen die nicht-wertschaffende Bevölkerung beruht, wird klar, dass die Vorurteile der "Leistungsträger" tiefer sitzen.

Statistische Untersuchungen zum Klassismus, zur Abwertung aufgrund von sozialer Herkunft und sozialer Position werden wenn, dann oft nur am Rand von Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sichtbar. Nach der Mitte-Studie 2014 werden langzeitarbeitslose Menschen von über der Hälfte der Bevölkerung in der BRD abgewertet - sogar den als Muslime oder Juden Identifizierten wird weniger Feindschaft entgegengebracht. Solange das Problem in der Art verharmlost wird, dass selbst sich radikal sozial dünkende Initiativen den Arbeitslosen nur die Repression des Staates ersparen und ihnen ein paar Euro mehr zugestehen wollen, wird sich daran auch wenig ändern.

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In der Drangsalierung hängen
Beobachtungen und Notizen zu einem Arbeitslosen-Experiment

von Franz Schandl

Heidenreichstein ist eine verletzte Stadt. Vor allem nach dem Zusammenbruch der Industrie Ende der Siebziger-/Anfang der Achtzigerjahre hat sich der Ort im Oberen Waldviertel nie mehr richtig erholt. Dieser Wechsel von Aufstieg und Abstieg erfolgte als schroffer Bruch, der mental nur durch Jammern oder Verdrängen bearbeitet werden konnte. Überalterung und Bevölkerungsschwund sind deutlich sichtbar. Hoch hingegen ist die Arbeitslosenrate.

Sinnvoll tätig sein

Seit April 2017 läuft hier nun das Projekt "Sinnvoll tätig sein" (STS)*, das jenseits gängiger Disziplinierungsmuster versucht, über 40 Langzeitarbeitslosen Perspektiven zu eröffnen, die sich doch von obligaten Anforderungen und Erwartungshaltungen unterscheiden. Geleitet wird dieses Projekt (siehe: www.bsowv.at/sites/default/files/sts_folder.pdf), das offiziell als AMS-Kurs firmiert, von Karl Immervoll und der Betriebsseelsorge Oberes Waldviertel, die mit ähnlichen (wenn auch kleineren) Initiativen schon einschlägige Erfahrungen gemacht haben. Arbeitslose sollen nicht als Fälle oder gar Problemfalle wahrgenommenen werden, sondern als Menschen. Natürlich geht es auch um Arbeit und Arbeitsplatz, aber konzentriert geht es um die Personen selbst. Nicht Was sollen wir? ist die entscheidende Frage, sondern Was wollen wir? Was will ich?

In einem ersten Zwischenbericht schreibt Immervoll: "Die Befreiung von Ängsten und Druck ist ein Prozess. Trotzdem: 18 Monate von den Vorgängen rund um die Arbeitssuche befreit zu sein, Zeit zu haben, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Für manche bedeutet das, zum ersten Mal in ihrem Leben sich die Frage zu stellen: Was ist mein Weg? Generell ist das für alle eine neue Lebenssituation. Die Frage, was denn jetzt wirklich zu tun ist, verunsichert. Denn es stellt den Arbeitsbegriff auf den Kopf: Arbeit war bisher etwas, was jemand aus einem ökonomischen Interesse heraus von mir verlangt, und ich, indem ich es tue, dafür entlohnt werde. Nun heißt es: Entwickle deine Fähigkeiten und teile sie mit anderen, indem du sie in die Gesellschaft einbringst!" Und Immervoll weiter: "Hier brauchst du dich nicht zu rechtfertigen. Es ist in Ordnung, so wie du bist. Dein Bemühen, dein Tun wird von uns keiner Wertung unterzogen. Hier bist du als Mensch geschätzt, und wir haben die Zeit zu schauen, was du brauchst, und machen uns gemeinsam auf den Weg. Wir nehmen uns Zeit und hören zu. Unser Gegenüber spürt und schätzt, dass sie/er für uns keine Nummer ist."

So fungiert der Arbeitslosenbezug tatsächlich für eineinhalb Jahre ähnlich einem garantierten Grundeinkommen. An den finanziellen Begrenzungen für die Betroffenen ändert sich zwar nichts, was sich aber fundamental ändert, ist das restriktive Rundherum. Der Charme besteht darin, nicht ständig Angst haben zu müssen, dass die soziale Absicherung auszufallen droht. Das ist auch der Punkt, der von den Teilnehmern am meisten geschätzt wird. Verbindlich erwartet werden lediglich Tagebücher über die Zeitverwendung, die wissenschaftlich ausgewertet werden sollen.

Ziemlich unterschiedliche Typen frequentieren diesen Kurs. Die Truppe ist bunt, da tummeln sich Frauen und Männer im Alter von 20 bis 60, Personen, die einen akademischen Abschluss haben, bis hin zu solchen, die kaum lesen können. Manche haben 40 Jahre Lohnarbeit hinter sich, andere sind aus diversen Gründen zwischenzeitlich ausgestiegen. Da finden sich jugendliche, die noch nie so richtig in einem Arbeitsverhältnis angekommen sind, oder Menschen, die aufgrund schwerer körperlicher Beeinträchtigungen (z.B. Unfällen, chronischen Erkrankungen) keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Physisch und psychisch geschwächt sind freilich die meisten.

Wichtig ist zudem die Begleitgruppe, die deshalb installiert wurde, damit die Assoziationen in der Bevölkerung von dem, was in diesem Experiment getrieben wird, nicht einer brodelnden Gerüchteküche überlassen bleiben. Vierteljährlich treffen sich potenzielle Mentoren aus der Gemeinde mit dem Betreuungsteam, um über das Projekt, seine Entwicklung und seine Hemmnisse zu sprechen. Jene sollen vor allem auf dem neuesten Stand gehalten werden, auch via Netz. Sie sind Empfänger und Sender in einem. Wer will, kann mitmachen. Hier geht es zweifellos um Hegemonie, das Projekt soll ja nicht neben oder gar gegen die ansässige Bevölkerung laufen, es möchte vielmehr Verständnis oder zumindest Toleranz wecken. Vorurteile sollen aufbereitet und auf ein erträgliches Minimum reduziert werden. Insgesamt sind das ungefähr 40 Vertrauenspersonen, also wiederum ein Prozent der kleinstädtischen Einwohnerschaft. Samt den Arbeitslosen sind also schon satte 2 Prozent der Bevölkerung direkt oder indirekt im Experiment veranschlagt. Das Projekt ist überschaubar, bezogen auf die Gemeindegröße von 4000 Einwohnern indes alles andere als klein.

Drangsaliert und ...

Im Zwischenbericht des Projekts heißt es: "Arbeitslosigkeit erzeugt Druck, am größten seitens der Gesellschaft. Die obligate Frage bei Begegnungen, was man denn jetzt beruflich mache, drängt in die Isolation. Niemand will als Versager dastehen, vor allem wenn der Zustand der Arbeitslosigkeit schon länger andauert. Dazu kommen die Termine beim AMS. Allzu oft erleben wir, dass Menschen schon Tage zuvor in 'alle Umstände' verfallen, wenn sie die Notstandshilfe verlängern müssen, aber auch jeder Kontrolltermin verunsichert: Werde ich wo angewiesen, muss ich in eine Schulung ...? Vorstellungsgespräche sind in der Regel mühsam, weil die meisten Betriebe niemand brauchen. Man geht halt hin, weil man muss, weil man Bewerbungen vorweisen soll."

Ein Widerspruch ist offensichtlich. Arbeit wird eingefordert, kann aber nicht ausreichend angeboten werden. Ist man erwerbslos und auf soziale Unterstützung angewiesen, dann wird man unter Kuratel gestellt und verwaltet. Die Vormundschaft durch das AMS (Arbeitsmarktservice) ist anstrengend und. demütigend, man darf dies und jenes nicht, vor allem hat man Arbeitsbereitschaft zu demonstrieren und zu vorgegebenen Zeitpunkten (Vorstellungsgespräche, AMS-Kontrolltermine) zur Verfügung zu stehen. Widrigenfalls drohen Sanktionen. Eins disponiert nicht mehr, eins wird disponiert. Man hat sich nicht mehr selbst, ist angewiesen und aufgrund der Abhängigkeit von Zahlungen (Arbeitslose, Notstand, Mindestsicherung) auch entsprechend erbötig. Das prägt.

"Gleichzeitig ist die Verweigerung von Erwerbsarbeit und langanhaltende Arbeitslosigkeit ein Ausschluss aus der Gesellschaft und damit Verweigerung von Anerkennung." (Immervoll) Was Anerkennung betrifft, sind Arbeitslose Mangelwesen. Arbeitslose werden ausgesondert. Sie müssen daher einer Sonderbehandlung zugeführt werden. Von den Betroffenen wird dies als Deklassierung erlebt, als Entwertung und Entwürdigung. Arbeitslose spielen beim Wettbewerb fortan in der untersten Liga. Sie gelten als abgestiegen und unbrauchbar. Das spüren sie auch, und man lässt es sie spüren. Konsequenz ist ein Prozess permanenter Drangsalierung.

Die psychische Tortur ist das Ergebnis einer Struktur, nicht einer Attacke. Im Prinzip agiert das AMS-Personal hinter dem Schalter nicht mutwillig oder gar böswillig, sondern funktional. Es erfüllt seine Aufgaben. Vor dem Pult und hinter dem Pult, das ist zwar eine Situation, aber je nachdem, wo man steht, sind das zwei unterschiedliche Welten. Es ist keine Schikane im eigentlichen Sinn, auch wenn die Behandelten es dezidiert als solche empfinden können und es auch Willkür gibt. Feindseligkeit mag sich entwickeln, sie ist aber nicht Ursprung einer ungleichen Kommunikation, sondern ihrerseits Ausdruck sozialer Schräglagen. Keineswegs wird auf Augenhöhe kommuniziert. Dass Arbeitslose Kunden sind, ist eine unkundige Behauptung. Ideologie pur.

Man wird vorgeladen oder hat seinen Kopf ganz voll mit dem, was dort mit einem geschehen wird oder schon geschehen ist oder vielleicht auch bloß geschehen könnte. Jene Stunden sind auf jeden Fall besetztes Terrain, auch wenn man unmittelbar gar nichts zu tun hat. In der drangsalierten Zeit ist man indisponiert. Gedanken und Gefühle sind gefesselt. Es ist ein In-Not-Versetzen, ergibt sich als implizite Folge von Handlungen, es resultiert im Regelfall nicht explizit aus Aktionen. Es steht im Passiv, nicht im Aktiv: man wird drangsaliert. Synonyme wie quälen oder peinigen, sekkieren oder traktieren treffen nur teilweise das, was drangsalieren meint.

... lädiert

Lädiertes Leben meint, dass einen diese Zumutungen nicht bloß nerven, sondern merklich und regelmäßig beschädigen und verletzen. Nicht nur mental. Nicht einmal die Freizeit bleibt "frei", da die Gedanken anderswo kreisen, in der Drangsalierung hängen, sich nicht von ihr lösen können. Man ist unter Druck, selbst wenn da niemand direkten Druck ausübt. Die Lage ist hochgradig amorph: gestaltlos, unbegreifbar, weil ungreifbar, unfassbar und daher irgendwie bedrohlich. Drangsalierung ist etwas, das man nicht einfach abschütteln kann, da sie sich in einem festgesetzt hat. Sie produziert Stress und Ohnmacht. Leute, die in einer Notlage sind, werden zusätzlich belastet. Vor allem Bewerbungen trainieren zumeist einen Leerlauf mit frustrierendem Ausgang.

In drangsalierten Zeiten ist Selbstbestimmung aufgrund der psychischen Konstellation sistiert. Man fühlt sich geknechtet, geplagt, gepeinigt, da muss unmittelbar gar nichts geschehen. Da reicht oft ein Blick, eine Geste, eine Handbewegung, ein Wort, eine Ladung, ein Bescheid, ein Gerücht. Drangsalierung erscheint nicht als Konfrontation oder Kampf, sondern als ein Verhältnis, wo man apathisch wird, aber nicht aussteigen kann. Drangsalierung ist eine chronische Belastung, nicht bloß eine akute Herausforderung. Stets wird am Selbstbewusstsein gekratzt.

Drangsalierte Zeit ist allerdings schwer zu messen. Fragen wie: Wie lange hast du gekocht? Wie lange hast du geschlafen? Wie lange warst du einkaufen? Wie lange hast du gelesen, getrunken, gefaulenzt?, sind halbwegs zu terminieren Man kann ihnen also eine bestimmte Dauer zuordnen. Wie lange wurdest du drangsaliert?, ist hingegen eine seltsame Frage. Bei Bedrängung und Beklemmung, noch dazu unterschiedlicher Intensität, da weiß man selten, wann sie begonnen und wann sie aufgehört haben. Mitunter fallen sie einem gar nicht mehr auf, da sie Alltag geworden sind.

Für Arbeitslose ist dieser Zustand, selbst wenn er sich nicht unmittelbar manifestiert, latent, d.h., er ist immer da, manchmal aber gut verborgen, weil verdrängt. In solchen Lagen hat man den Kopf nicht frei. Drangsalierte Zeit ist also schwer zu ermitteln, und es ist auch schwierig, derlei anderen zu vermitteln. Sie ist keine abgrenzbare Erscheinung, sondern eine übergreifende. Man kann nie genau sagen, wann und wie lange man unter welchem Druck steht. Aber es lässt sich darüber reden. In etwa: Wie oft denke ich an unangenehme Situationen die Arbeitslosigkeit betreffend? Wie oft trübt sich meine Stimmung? Häufig - gelegentlich - selten - nie? Steht dieses Denken mit Terminen und Anforderungen in unmittelbarer Verbindung? Wie sehr werden meine Zeit und mein Gefühl von solchen unangenehmen Stimmungen beschlagnahmt? Wie weit verfolgen sie mich? Träume ich davon? Wie gehe ich damit um? Und zuletzt: Wie kommen wir da raus? Dieser Zustand ist doch kein Zustand!

Hängematten für alle!

Das Wechselspiel des Ausschlusses besagt: Wer isoliert wird, isoliert sich. So gesehen leistet das Heidenreichsteiner Experiment auch Dienste an alternativer Vergemeinschaftung. Bekanntschaften werden geschlossen, Freundschaften entstehen. Sogar gemeinsame Ausflüge Wurden bereits getätigt. Menschen lernen sich kennen, die sich sonst nie kennengelernt hätten. Da geht es auch um eine Rückholung in die Kommune, ohne Muster aufzuerlegen.

Eine Menge von zusätzlichen Kursangeboten steht den Arbeitslosen parallel zur Verfügung: Gesundes Essen, Erste Hilfe, Männerseminar, Schönheitsseminar, Rückenfit, Suchtprävention, Tanzen, Move your ass etc. - Die Leute sollen fitter werden. Geistig und körperlich. In erster Linie handelt es sich dabei nicht um die Erfüllung eines äußeren Anspruchs. Aktiviert werden ist zweifellos wichtig, aber es ist wichtig als Selbstzweck, nicht als Zweck. Ob es dazu führt, sich selbständig zu machen oder einen Job zu finden, ist nicht vernachlässigbar, aber sekundär. Primär geht es um Selbstermächtigung: Power to the people!

Fördern statt Fordern steht an: Statt Multiplizierung des Drucks Multiplizierung der Möglichkeiten. Was das Fordern betrifft, haben die Arbeitslosen keineswegs zu wenig abgekriegt, meist kommen zu den eigenen Anforderungen noch informelle wie formelle Erwartungshaltungen der Umgebung dazu. Gerade dieses ständige Überfordern kann in Resignation und Depression münden. Viele Betroffene sind "unvermittelbar" und werden es wohl auch auf absehbare Zeit bleiben, da ihre Handicaps zu groß sind, um am Arbeitsmarkt absorbiert zu werden. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass selbst nach konventionellen Kriterien die "Erfolgsquote" ansehnlich ist und es einigen gelingt, den aktuellen Status zu überwinden.

Die befreiende Potenz im STS ist auf jeden Fall größer als die Begebenheit, von der die Arbeitslosen unmittelbar befreit wurden. Schalterkonfrontationen und Vorstellungsgespräche, Zuweisungen und Abweisungen, ihnen wird entgangen. Das hat was, und jede und jeder, der je in einer solchen Situation gewesen ist, kann das nachvollziehen. Daraus folgt, dass die umliegenden Felder (Zeiten und Räume) psychisch entlastet werden. Die STS-Kursteilnehmer fühlen sich diesbezüglich alle erleichtert, und fast alle geben an, dass ihr gesundheitliches Wohlbefinden in den letzten Monaten gestiegen ist. In der Drangsalierung nicht hängenzubleiben, das wäre ein großer Schritt, wenngleich die Befreiung aktuell nur eine partielle sein kann. Schon das so zu empfinden, baut auf. Es ist jedenfalls ein Versuch, der in Ansätzen herrschaftsfreie Kommunikation durch bedingungslose Anerkennung probt.

Die Arbeitslosen sind natürlich nicht aus der Kritik ausgenommen. Feststellbar ist einerseits der Hang zu Abschottung und Distanz, zum Abtauchen, zum Noch-kleiner-Machen, zur Schicksalsergebenheit. Auffällig sind andererseits aber auch notorisch positives Denken oder explizit esoterische Muster, allesamt dazu da, persönliche und gesellschaftliche Krisen umzudeuten, ihnen Sinn zu verordnen, anstatt Kritik angedeihen zu lassen. Gelegentlich hindern einige Mehrredner die Schweigsamen an der Artikulation. Nicht vorsätzlich, aber doch effektiv. Der Politik insgesamt begegnet man mit Misstrauen, Abwehr und Verdruss. Traditionelle Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, Kammern, Kirchen) erscheinen kaum als Partner, geschweige denn als Unterstützer eigener Anliegen. Da erwartet man wenig. Unterschiedliche intellektuelle Niveaus sind hingegen kaum ein Problem. Persönliche Konflikte in der zusammengewürfelten Gruppe sind bisher selten aufgetreten, im Gegenteil, man lernt sich kennen und schätzen. Neue soziale Kontakte entwickeln sich. Durch die Laufzeit des Projekts sind die Chancen groß, dass sie sich auch festigen.

Niemand hegt den Wunsch, Langzeitarbeitsloser zu sein oder zu werden. Dass Arbeitslose Schmarotzer sind und es sich auf unsere Kosten gut gehen lassen, was weiters bedeutet, dass es allen Arbeitslosen gefälligst schlecht zu gehen habe, sind als gemeine Volksvorurteile schlicht eine Zumutung. Die Abgehängten hängen weniger in den Hängematten als in den Seilen. Nicht nur vor diesem Hintergrund stellt sich heute tatsächlich die Frage, ob es nicht gesamtgesellschaftlich sinnvoller wäre, statt dem illusorischen "Arbeit für alle!" das machbare "Hängematten für alle!" zu fordern. Etwas mehr abhängen würde den Leuten sowieso nicht schaden, kämen sie doch dann auf Gedanken, die ihnen in ihrem Alltagstrott nie einfielen. Mehr Muße würde allen guttun. Den am Markt Erfolgreichen wie den Erfolglosen, wobei die Scheidung oft eine ganz zufällige ist. Eine Sichtung der Klischees und eine Erweiterung des Horizonts wären von Vorteil.

Von Arbeitslosen soll gesprochen werden, nicht über sie. Arbeitslosigkeit ist als gesellschaftliches Problem zu denken, nicht als individuelles Manko. Sorge und Hilfe und Verständnis prägen jedenfalls das Heidenreichsteiner Experiment, es ist somit keine Variante eines alternativen Zucht- und Ordnungsprogramms. Auch nicht durch die Hintertür, selbst wenn man sich möglicherweise nur zwischenzeitlich in eine Nische gerettet hat. Druck soll genommen, nicht entfacht werden. Insofern gebührt auch der Leitung des AMS Niederösterreich Respekt und Anerkennung, da es Wider seine engen Daseinsverpflichtungen dieses Projekt ermöglichte. Arbeitskritik, bisher ein Feld von Theoretikern und sonstigen Phantasten, gewinnt an Statur und Terrain. Kreativität setzt Zwang nicht voraus. Der Schritt vom Müssen zum Können wäre ein großer emanzipatorischer Schritt. Und es gibt keinen Ort, an dem nicht begonnen werden könnte.


(*) Franz Schandl ist Teil des wissenschaftlichen Begleitprogramms von "Sinnvoll tätig sein" (STS). Von 1985-1995 war er zudem Gemeinderat der Alternativen Liste in Heidenreichstein.

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Rückkopplungen

Ein produktiver Arbeiter

von Roger Behrens

Die Illusion der freien, schöpferischen Tätigkeit der Kunst übernimmt die Kulturindustrie als Ideologie der Arbeit - und verkoppelt die ästhetischen Werte unverhohlen mit den ökonomischen des Profits, erklärt den Tauschwert nachgerade zum Gebrauchswert. Auch der Künstler "verkauft seine Arbeitskraft. Er ist privilegiert nur insofern, als er scheinbar freier als die meisten anderen über seine Arbeitskraft verfügt. Doch auch das ist sehr optimistisch. Denn er muss seine Arbeitskraft meist in einer ihm aufgezwungenen Weise einsetzen. Er ist auf Erfolg angewiesen. Denn erst Erfolg bestätigt 'Qualität' und 'Originalität', zumindest ökonomisch", schreibt Urs Jaeggi (Literatur und Politik, Ffm. 1972) und zitiert dazu Adorno: "Solange Kunst überhaupt nach Brot geht, bedarf sie derjenigen ökonomischen Formen, die den Produktionsverhältnissen einer Epoche angemessen sind, und als erste konformieren die, welche über Managertum und Profitinteresse am lautesten sich entrüsten, der Nachfrage auf dem Markt."

"Es kann die Befreiung der Arbeiterklasse nur die Sache der Arbeiter sein ..." Diese Befreiung ist praktisch, ist "revolutionäre Tätigkeit" (Marx), verlangt Körpereinsatz: "Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will!" - Was passiert, wenn die Arbeiterklasse nun nicht mehr kraft ihres starken Armes die Produktion anhält, sondern - ganz im Gegenteil - mit einem Hüftschwung die Produktion überhaupt erst in Bewegung setzt? Ist dann die Befreiung der Arbeiterklasse immer noch Sache der Arbeiter? - "The nickname Elvis the Pelvis derived from his notoriously suggestive hip-waggling performing style, which he had copied from Black performers he had seen." (Aus einem Musiklexikon)

Nach der Schule war es zunächst ein einfacher Job, eine Gelegenheitsarbeit, mit der der gerade Siebzehnjährige sein erstes Geld machte. Er fuhr geradewegs zu Sam Philips' Memphis Recording Service, um dort für ein paar Dollar eine Schallplatte aufzunehmen - als Geschenk für seine Mutter, zwei Balladen, nämlich "My Happiness" und "That's When Your Heartache Begins": "Evening shadows make me blue / When each weary day is through / How I long to be with you / My happiness", lauten die ersten Zeilen der ersten Aufnahme. Das war 1953. "Evening shadows make me blue / When each weary day is through" - "Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug", heißt es prominent bei Hegel in der Vorrede zur Rechtsphilosophie. Der junge Elvis, ein Proletarierkind (die Mutter Textilarbeiterin, der Vater Landarbeiter), das sich schon früh für die Gospelmusik begeistert und immer wieder Gottesdienste der afroamerikanischen Gemeinde besucht, der junge Elvis also, dem das Gesangstalent zugute kommt, um nicht als Tagelöhner zu enden, versucht und findet sein Glück in der Kulturindustrie, die sich im - damals noch recht losen - Medienverbund von Radiostationen, Tonstudios und Presswerken gerade vom Filmgeschäft auf das Musikgeschäft ausweitet und verlagert. Elvis, der zunächst noch wie alle, die bei Sam Philips eine Platte aufnehmen wollen, Kunde ist, macht weitere Schallplatten, die dann berühmt über Philips' Label Sun Records vermarktet werden; Elvis, der zwischenzeitlich als Lastwagenfahrer im Baugewerbe unterwegs ist, hat nun mit Sun Records einen Vertrag, ist jetzt Künstler. 1955 verkauft Philips den Vertrag mit dem damals zwanzigjährigen Elvis Presley an RCA Records. Die ersten Veröffentlichungen bei RCA Records - u. a. der Song "Heartbreak Hotel" - machen Elvis Presley berühmt; er ist jetzt der King of Rock 'n' Roll, ein Mega-Star und die in seinem Namen produzierten Waren sind bestseller.

Karl Marx notiert in seinen Theorien über den Mehrwert: "Dieselbe Sorte Arbeit kann produktiv oder unproduktiv sein. Z.B. Milton, who did the 'Paradise Lost' for 5 Pounds Sterling war ein unproduktiver Arbeiter. Der Schriftsteller dagegen, der Fabrikarbeit für seinen Buchhändler liefert, ist ein produktiver Arbeiter. Milton produzierte das 'Paradise Lost' aus demselben Grund, aus dem ein Seidenwurm Seide produziert. Es war eine Betätigung seiner Natur. Er verkaufte später das Produkt für 5 Pfund." Der popideologischen Stilisierung folgend, ist ein "Künstler" wie Elvis Presley nicht sehr von Milton oder dem Seidenwurm unterschieden: hier singt einer, der nicht nur singen kann, sondern singen muss; und allein, ihn in der Branche als "Künstler" zu führen, reproduziert das Star-Image, wonach der King eben König ist, nämlich eine eigentlich in seiner gesellschaftlichen Zeit und vor allem in seiner gesellschaftlichen Lage anachronistische Figur. Indes: ein echter König wäre der Popstar, wenn er sein Leben genießen könnte, wenn sein Reich, über das er herrscht (der Rock 'n' Roll), ein Reich der Freiheit wäre, das ihn von jeder Mühsal und Last befreit, wenn er also im guten, echten kommunistischen Sinne arbeitslos wäre. Allerdings gibt es dieses Reich der Freiheit nur als Schein, als billig zu habende Imitation menschlicher Würde, bestenfalls für kleine Momente realisiert in der Dreifaltigkeit von Sex & Drugs & Rock 'n' Roll.

Tatsächlich war das Reich, über das der King of Rock 'n' Roll herrschte, das immer noch und bis heute bestehende Reich der Notwendigkeit; der König trug nicht einmal eine Krone, sondern verzierte lediglich seine Arbeitskleidung mit etwas Glanz und Glitzer. "50.000.000 Elvis Fans Can't Be Wrong" heißt das neunte Studioalbum von Presley, das 1959 bei RCA erschien (der Titel, so ist bei Wikipedia nachzulesen, kam erst 1962 auf die Plattenhülle); Elvis trägt die Hausuniform des gewöhnlichen Angestellten, einen Anzug - jedoch: der Schnitt macht ihn zur Freizeitgarderobe eines Partygängers, und der Anzug ist aus goldenem Samt geschneidert. 50 Millionen Fans, also Käufer und Konsumenten können sich nicht irren! Elvis ist dann doch, anders als der Seidenwurm, ein produktiver Arbeiter. Noch einmal Marx: "Eine Sängerin, die auf ihre eigene Faust ihren Gesang verkauft, ist ein unproduktiver Arbeiter. Aber dieselbe Sängerin, von einem entrepreneur engagiert, der sie singen lässt, um Geld zu machen, ist ein produktiver Arbeiter; denn sie produziert Kapital."

Elvis Aaron Presley (1935-1977) "remains the quintessential pop star. He was also the best-selling solo artist of all time, with sales of some 150 million records in all, including over 94 gold singles and some 40 gold albums."

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Unwiederbringlich
Zu Heines Gedicht "Die Lore-Ley"

von Hermann Engster

Im Jahr 1848 beschreiben Marx und Engels in ihrem Manifest der Kommunistischen Partei die grundstürzenden Veränderungen, die in Deutschland und Westeuropa mit dem Siegeszug des Kapitalismus und der Herrschaft der Bourgeoisie einhergegangen sind. (In: Die Frühschriften, ed. Landshut, 1971.)

In ihrer kaum hundertjährigen Herrschaft hat die Bourgeoisie, so konstatieren die Autoren, "massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen - welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten".

Ihre politisch-ökonomische Analyse und die darauf aufbauende geschichtsphilosophische Deutung sind geprägt von einem fortschrittsoptimistischen Elan. Mit der Entfesselung der Produktivkräfte durch Wissenschaft und Industrie, so stellen sie fest, sind auch zugleich die alten Feudalbande, welche die Menschen in Unfreiheit und Unterdrückung hielten, zerrissen. Alle Ausbeutung, die bislang von politischem und religiösem Nebel verhüllt war, tritt nun offen zutage und zeigt unmaskiert, was tatsächlich die Verhältnisse unter den Menschen bestimmt: "das nackte Interesse". Hinter dem "rührend-sentimentalen Schleier", mit dem die Menschen sich einhüllten, tritt nun das "reine Geldverhältnis" hervor: "Alle bisher ehrwürdigen Tätigkeiten" sind "ihres Heiligenscheins entkleidet", die Bourgeoisie als Trägerin der neuen Ökonomie hat "den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt". Diese Desillusionierung, so schmerzlich sie sich anfühlen mag, ist aber, so die Hoffnung der Autoren, die Voraussetzung dafür, dass die Ausgebeuteten und Entrechteten ihre Sache in die eigenen Hände nähmen und ihre Geschichte selbst bestimmten.

Irritationen

Uns Heutigen, da der Kapitalismus sich aller Fesseln entledigt hat und wir eingesperrt sind ins "stählerne Gehäuse der Rationalität" (Max Weber) - nota: einer instrumentell verkürzten Rationalität - wird nunmehr die Gegenrechnung der von Marx und Engels konstatierten "Unterjochung der Natur", der äußeren und inneren, präsentiert. Gewinn und Verlust stehen da einander gegenüber. Dichter haben, mit der ihnen eigenen Sensibilität, schon früh ihrer Verstörung über das andrängende ungewohnte Neue, über die "Entzauberung der Welt" (Weber) und den Verlust der alten Welt samt ihren sinnlichen und emotionalen Dimensionen Ausdruck verliehen.

Einer von ihnen ist Goethe. Er besucht nach zwei Jahrzehnten Abwesenheit seine Vaterstadt Frankfurt wieder und reagiert irritiert über das, was ihm dort begegnet. Er findet das Haus seiner Großeltern Textor durch das französische Bombardement von 1796 zerstört vor. Nicht weniger als dieser Verlust befremdet ihn jedoch ein anderes, das er in Briefen aus Frankfurt vom August 1797 (an Friedrich Schiller und Karl August Böttiger) sowie in den Notizen seiner Reise in die Schweiz zur Sprache bringt: woher es denn komme, so wundert er sich, dass der vom Haus übriggebliebene "Schutthaufen (...) noch immer das Doppelt dessen wert (sei), was vor elf Jahren von den gegenwärtigen Besitzern an die Meinigen bezahlt worden" (ist). (Dieses Beispiel und die folgenden zitiert nach: Goethe, Artemis-Gedenkausgabe, Reisenotizen in Bd. 12, Brief an Böttiger vom 17.8. 1997 in Bd. 19, an Schiller vom 16./17.8. in Bd. 20, an Zelter in Bd. 21.)

Obwohl als Finanzminister von Sachsen-Weimar ökonomisch versiert, sind ihm die abstrakten Marktgesetze noch fremd. Doch ahnt er, dass diese Wertsteigerung darin begründet ist, dass Frankfurt "aus dem beschränktesten, patriarchalischen Zustande (...) durch klug unternehmende Menschen zum nützlichsten Waren- und Marktplatz verändert wurde", das heißt: zu einer Handelsmetropole in der sich entwickelnden Warenwirtschaft aufgestiegen ist. Was sich hier vollzieht, ist die Ablösung der alteuropäischen Ökonomie durch das moderne Marktprinzip.

Goethe ist ein sehr genauer Beobachter, nicht nur der Natur, sondern auch der sozialen Verhältnisse. So sei ihm "sehr merkwürdig aufgefallen", wie er Schiller weiters mitteilt, "wie es eigentlich mit dem Publiko einer großen Stadt beschaffen ist. Es lebt in einem beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren, und das, was wir Stimmung nennen, läßt sich weder hervorbringen noch mitteilen. (...) Ich glaube sogar eine Art von Scheu gegen poetische Produktionen, oder wenigstens insofern sie poetisch sind, bemerkt zu haben, die mir aus eben diesen Ursachen ganz natürlich vorkommt."

Was er suchend umschreibt als "Scheu gegen poetische Produktionen", das meint die allgemeine Nüchternheit, bewirkt durch die um sich greifende Rechenhaftigkeit. Es ist der nüchterne Geist des kühlen rationalen Kalkulierens, der "Geist des modernen Kapitalismus", wie ihn Marx (kritisch) und nach ihm auch Max Weber (affirmativ) beschrieben haben. Es dominieren, so stellt Goethe im Brief an Schiller fest, die Interessen der "Frankfurter Bankiers, Handelsleute, Agioteurs (d.h. Börsenspekulanten), Juden, Spieler und Unternehmer". (Nebenbei: Goethe war kein Antisemit.) Resigniert stellt er in den (zur selben Zeit verfassten) Notizen seiner Reise in die Schweiz fest: "Der Frankfurter, bei dem alles Ware ist, sollte sein Haus niemals anders als als Ware betrachten." (Bd. 12, S. 99)

Ein Jahrzehnt später wird er weiter blicken, denn dann studiert er gründlich, wie man aus seinem Bibliotheksexemplar ersehen kann, Adam Smiths epochales Werk zur modernen Nationalökonomie An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations von 1776, das 1806 in deutscher Übersetzung erscheint.

In seinem Alterswerk Wilhelm Meisters Wanderjahre (erste Fassung 1821, letzte Fassung 1829) zieht er ein pessimistisches Resümee:

"Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt, muss ich halten, dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt (...) Haben wir doch schon Blätter (d.h. Zeitungen) für sämtliche Tageszeiten! (...) Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt's von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich, zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch." (Neuschöpfung von Goethe, zusammengesetzt aus lat. velocitas - Geschwindigkeit und Luzifer.)

Und weiter: "So wenig die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen (d.h. im gesellschaftlichen Leben) möglich; die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist." (Bd. 8, S. 312 f.)

Und schließlich in einem Brief an Zelter vom 6.6.1825: "Alles aber (...) ist jetzt ultra, alles transzendiert (d.h. durchdringt, übersteigt) unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt (d.h. tätig ist), niemand den Stoff, den er bearbeitet. (...) Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten (d.h. Einrichtungen, Bereitstellungen) der Kommunikation (...). Wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt." (Bd. 21, S. 634)

Heine - Deserteur und Totengräber

Um 1824, also just zu der Zeit, in der Goethe sein pessimistisches Resümee der Gegenwart zieht, schreibt Heinrich Heine sein Gedicht von der sagenhaften Lore-Ley. Dieses Gedicht ist nicht zuletzt deshalb zu einem seiner populärsten geworden, weil Friedrich Silcher bald darauf eine Schmonzette für Männerchöre komponiert hat, die seither die erregende Geschichte von der lasziven und männermordenden femme fatale aus vollem Brustton zu beschwören pflegen. Jedoch liegt hier ein Missverständnis vor.

Heine, geboren 1797, zu einer Zeit, als die Romantik in der Hochblüte steht, schreibt zunächst wundervolle romantische Gedichte wie z.B. das geheimnisvolle Der Tod, das ist die kühle Nacht (googeln!), wendet sich dann aber von der Romantik ab, weil sie ihm als poetisch abgenutzt gilt - Ein Bild! ein Bild! mein Pferd für'n gutes Bild! variiert er in komischer Verzweiflung Shakespeares Richard III. - und weil er sie überhaupt als eskapistisch verwirft, so in einem Gedicht, das den vielsagenden Titel Wahrhaftig trägt: Lieder und Sterne und Blümelein, / Und Äuglein und Mondglanz und Sonnenschein, / Wie sehr das Zeug auch gefällt, / So macht's doch noch lang keine Welt. Er nennt sich selbst ironisch einen "entlaufenen Romantiker", Eichendorff, der wohl bedeutendste Lyriker seiner Epoche, schmäht ihn gar als "Totengräber der Romantik".

1831 flüchtet Heine vor Zensur und Verfolgung aus dem reaktionären Deutschland ins freiere Paris. Er wendet sich sozialen Problemen zu, lernt Marx, Engels, Lassalle, den Kreis der Frühsozialisten um Saint-Simon kennen, arbeitet an Marxens Zeitschriften "Vorwärts!" und den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" mit. In Paris lebt er zwölf Jahre, und was er dort im Exil vermisst, wie er in seinem Gedicht Nachtgedanken bekennt (Denk ich an Deutschland in der Nacht, / So bin ich um den Schlaf gebracht), das ist nicht das "Vaterland", sondern seine alte Mutter - Die alte Frau hat mich so lieb, / Und in den Briefen, die sie schrieb / Seh ich, wie ihre Hand gezittert, / Wie tief das Mutterherz erschüttert.

Mythos reloaded

Aus alten Märchen winkt es / Hervor mit weißer Hand, so beginnt eines seiner Gedichte. Diese Hand weist ihn auf eine alte Geschichte, die Sage von der Lore-Ley am Rhein. Um einen schroffen Felsen, heute Loreley-Felsen genannt, macht der Rhein eine scharfe Biegung. Er ist an dieser Stelle nur 200 m breit, und es gibt dort Riffe, Untiefen, Strudel, die immer wieder Schiffen zum Verhängnis wurden. Bald bildeten sich Sagen, die von Elfen und Nixen erzählten, die den Schiffern Unglück brächten.

Die eigentliche Sage von der Lore-Ley entstand erst um 1800, als Clemens Brentano die Geschichte von der Lore Lay (so Brentanos Schreibung) erfindet und sie in eine Ballade kleidet, in die er Motive der antiken Mythen von den Sirenen und von Narcissus und Echo einarbeitet.

Die Geschichte geht so: Eine junge und außergewöhnlich schöne Frau in Bacharach am Rhein liebt einen Ritter, der sie jedoch verlässt. Viele Männer werben um sie, doch in ihrer Trauer um den verlorenen Geliebten weist sie alle ab, und das stürzt die Männer ins Unglück. Sie gerät in den Verruf, eine Zauberin zu sein, welche die Männer verhext. Sie selbst ist unglücklich darüber und übergibt sich verzweifelt dem Urteil des Bischofs. Dieser jedoch verfällt selber ihrer Schönheit. Er verurteilt sie nicht als Hexe, sondern weist sie um ihres Seelenfriedens willen in ein Kloster ein, wohin drei Ritter sie begleiten sollen. Auf dem Weg dorthin will sie noch einmal den Felsen ersteigen, um von dort ein letztes Mal das Schloss ihres Geliebten zu sehen. Sie erklimmt die Felswand, und als sie oben steht, erblickt sie unten einen Kahn, in dem sie ihren Liebsten zu erkennen glaubt. Sie stürzt sich sehnsüchtig hinunter und ertrinkt. Die drei Ritter, die ihr in die Felswand gefolgt sind, stürzen gleichfalls zu Tode.

Das ist die Geschichte, die Heinrich Heine um das Jahr 1824 zu seinem Gedicht von der Lore-Ley inspiriert hat. Es steht im Buch der Lieder, erschienen in der ersten Auflage bei Campe in Hamburg 1827 (hier zitiert nach der Düsseldorfer Heine-Ausgabe, Bd. 1/1, S. 206, Rechtschreibung modernisiert). Später haben Herausgeber dem Gedicht den Titel Die Lore-Ley gegeben. Ob Heine die Sage als alt auffasste und ihm nicht bekannt war, dass es sich um eine erst von Brentano geschaffene Kunstsage handelt, verschlägt hier nichts: Der Text suggeriert dem Leser ein Märchen aus alten Zeiten.

Die Lore-Ley

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar;
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.

Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh'.

Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Ley getan.

Viermal gibt sich in dem Gedicht ein Ich zu erkennen: dreimal (inkl. des Dativs mir) in der ersten Strophe, dann erst wieder in der letzten. Das Ich des Sprechers setzt in der ersten Strophe zögerlich und stockend ein, so wie jemand, der nach Worten sucht, um etwas schwer Fassbares auszudrücken: Es ist eine Erinnerung aus ferner Vergangenheit, die in ihm hochsteigt. Er ist traurig, aber das ist nicht eine momentane Anwandlung, sondern es ist eine Trauer, die tiefer verborgen ist; er weiß nicht, woher sie rührt und was sie bedeuten mag, und er versucht ihre Ursache zu ergründen. Eine Geschichte bedrängt ihn, kommt ihm nicht aus dem Sinn; es ist ein Märchen aus alten Zeiten, aber nicht ein Kindermärchen, sondern hier schwingt noch das mittelhochdeutsche Wort moere mit, wie es zum Beginn des Nibelungenlieds heißt: Uns ist in alten moeren / wunders vil geseit - Geschichten aus verflossener Zeit.

"Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"

Er fasst sich, verdrängt das Gefühl der Trauer, und er beginnt die Geschichte, die ihm im Kopf herumgeht, zu erzählen - vielleicht ist sie der geheime Grund seiner Trauer ...

Sprechhaltung und Tonfall ändern sich, die anfangs unsichere Stimme wird fest, das suchende Tasten der Worte weicht dem Duktus einer berichtenden Erzählung, die in dreihebigen Versen mit sich abwechselnden Jamben und Daktylen im lockeren Balladenton vorgetragen wird. In zwei Versen wird durch den Eindruck von Kühle und beginnender Dunkelheit - Die Luft ist kühl und es dunkelt - eine Abendstimmung erzeugt, Ruhe und Frieden breiten sich aus: Und ruhig fließt der Rhein. Die Nacht steigt die Berghänge hinauf, doch ein letztes einsames Leuchten lenkt den Blick in die Höhe: Der Gipfel des Berges funkelt / Im Abendsonnenschein.

Diese Metaphorik von Licht und Glanz beherrscht die folgenden Strophen und lässt die Stimme des Erzählers mit zunehmender Erregtheit anschwellen. Denn eine Erscheinung - wunderbar - schlägt ihn in Bann: Dort auf dem Gipfel erblickt er die schönste Jungfrau - das Attribut schön hier nicht als Superlativ, sondern als Elativ gebraucht im Sinne von "unübertrefflicher Schönheit". Licht und Glanz werden in dieser Strophe gleich vierfach metaphorisch beschworen: golden - Geschmeide - blitzet - goldenes Haar.

Es ist eine Beschwörung, die ein verschwindendes Licht, das von der Höhe des Berges noch herüberscheint, festzuhalten sucht. Die Magie des leuchtenden Goldes verschmilzt mit der Magie der Sagenfigur, beides steigert sich in der nächsten Strophe: Sie kämmt ihr goldenes Haar mit goldenem Kamme, und zur Magie der Bilder kommt als drittes zauberisches Element die Musik hinzu: Sie singt ein Lied dabei, und dieses hat - wie die Lieder der antiken Sirenen - eine wundersame, gewaltige Melodei. Gewaltig bedeutet hier "überwältigend", wie es von den Gesängen der Sirenen überliefert wird, die den Seefahrern zum Verhängnis werden und denen Odysseus durch seine List mit knapper Not entrinnt. Das Wort Melodei hat nicht des Reimes willen seine altertümliche Gestalt, sondern evoziert in ihr das Archaische, Dämonisch-Bannende dieser Musik.

Den Schiffer im kleinen Schiffe / Ergreift es mit wildem Weh: Es ist der Schmerz des Liebesbegehrens, das den von der Frauenschönheit, dem Goldglanz und der Musik betörten Schiffer nicht auf die Felsenriffe achten, sondern gebannt in die Höh' schauen lässt.

Sein Verhängnis wird in der letzten Strophe, in der das Ich wieder unmittelbar hervortritt, mit knappen, nüchternen Worten erzählt. Doch wie sollte man diese Verse sprechen?

Das Ende vom Lied

Es gibt zwei Möglichkeiten zum Verständnis der Schlussstrophe, die von der Deutung der einleitenden Worte Ich glaube abhängen.

Man kann sie im Tonfall überzeugter Gewissheit sprechen, gleichsam wie ein Credo in unum Deum. Das folgende deiktische und durch Hebung herausgehobene das im Vers Und das hat mit ihrem Singen wäre folgerichtig als Bekräftigung einer Tatsache zu verstehen: So war es.

Schlüssiger erscheint aber eine andere Möglichkeit, die sich ergibt, wenn man die letzte Strophe mit der ersten zusammenschließt. Deren unsicher tastendes Ich weiß nicht wird von dem Ich glaube der Schlussstrophe wieder aufgenommen. Dieses ich glaube konnotiert ein "vielleicht", "möglicherweise", "kann sein". Das deiktische das wäre dann eher fragend, zweifelnd zu sprechen, und die beiden Schlussverse müssten dann in einem schwebenden Tonfall und mit einem verborgenen Fragezeichen ausklingen. Die Musik könnte es wohl ertönen lassen. Einem Friedrich Silcher war solches zu komponieren nicht gegeben, einem Robert Schumann sehr wohl, der kongenial die Doppelbödigkeit Heine'scher (und Eichendorff'scher) Verse in Töne zu setzen verstand.

Die Trauer der ersten Strophe mischt sich mit dem Abgesang der Schlussstrophe. Der Erzähler weiß nun, was es bedeuten soll, dass er so traurig ist: Das Märchen aus alten Zeiten hallt nur noch aus der Ferne zu ihm herüber. Die "Unterjochung der Natur" durch den Menschen und dessen Einzug in das "stählerne Gehäuse der Rationalität" künden von einer neuen Zeit. Die alten Zeiten sind vorbei, und mit ihnen eine universale Weltauffassung, eine - fern aller theologischen Dogmatik - mythisch-religiöse Haltung zur Welt: unwiederbringlich vergangen. Das Gedicht endet in Wehmut, einer Wehmut, wie sie 1825 - fast zur selben Zeit, als Heine seine Lore-Ley dichtet - in Goethes Brief an Zelter erklingt: "Wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt."

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Immaterial World

Freiwilligkeit und Utopie

von Stefan Meretz

Freiwilligkeit ist nicht die Norm. Etwas freiwillig zu tun, schließt ungesagt mit ein, dass es normalerweise eine Gegenleistung oder gar ein Zwang ist, welche zur Tat anhalten. Es ist die Tauschlogik, die dahinter hervorlugt, und das setzt, was als normal gilt. Im Kapitalismus ist Freiwilligkeit die geadelte Ausnahme. Sie erscheint als Ehrenamt, als gute Tat, als Altruismus in einer Welt, in der Lohnarbeit, Profitstreben und Egozentrismus als selbstverständlich gelten.

Jede gesellschaftliche Utopie enthält Freiwilligkeit mindestens als Moment, wenn nicht gar als konstitutiven Baustein. Die bisherigen Utopien lassen sich in drei Gruppen einteilen: kollektivistische, individualistische und ethisch-moralische.

In kollektivistischen Utopien, wie sie vor allem in der historischen Arbeiter*innenbewegung verbreitet waren, ist das freiwillige Engagement Ausdruck der Einsicht in übergeordnete Notwendigkeiten. Die individuelle Besonderheit ist im kollektiven Ganzen aufgehoben. Freiwillig im Sinne der Notwendigkeiten des Ganzen zu handeln, bedeutet, die eigene Individualität zu leben. Dieser Zusammenhang liegt nicht auf der Hand, sondern muss erst erkannt werden. Erziehung und positiv verstandene Ideologie erhalten hier ihre zentrale Funktion.

Individualistische Utopien vor allem anarchistischer Strömungen vertreten in gewisser Weise genau das Gegenteil. Freiwilligkeit kann hier nur auf individueller Entfaltung jenseits übergeordneter Notwendigkeiten basieren. Das kollektive Ganze ist den Individualitäten nicht vorausgesetzt, sondern entsteht erst aus der freien Entfaltung der individuellen Besonderheiten.

Vielleicht ist durch die Art der von mir gewählten Beschreibung schon deutlich geworden, dass sich kollektivistische und individualistische Utopien nicht so gravierend unterscheiden, wie es ihre reale historische Feindschaft nahelegen mag (exemplarisch: Konfrontation von Anarchist*innen und Kommunist*innen während des Spanischen Bürgerkriegs). Beide thematisieren das Verhältnis von Individualität und gesellschaftlicher Ganzheit, von Freiwilligkeit und Notwendigkeit - nur jeweils von unterschiedlichen Polen aus. Die Unvereinbarkeit kommt erst ins Spiel, wenn die Notwendigkeiten im ersten Fall als herrschaftsförmig strukturierter Staat (oder Partei als Proto-Staat) und im zweiten Fall als dem Anspruch nach möglichst herrschaftsfreie Versammlung oder Räte-Struktur ihre konkrete Form finden.

Der Bezug auf ein gesellschaftliches Ganzes ist hingegen in ethisch-moralischen Utopien unterbelichtet oder völlig abwesend. Stillschweigend wird hier die gegenwärtige gesellschaftliche Formierung über Markt und Staat hingenommen. Was allein zählt ist das individuelle Handeln. Dieses soll sich an zu vereinbarenden Werten oder ethisch fundierten moralischen Normen ausrichten. Beredtes Beispiel für solche Ansätze sind die verbreiteten Varianten der Konsumkritik. Freiwillig soll auf bestimmte Formen des Konsums verzichtet werden, um die Welt zu einem "better place" zu machen. Erziehung und Ideologie, gepaart mit schlechtem Gewissen, sind ihre Begleiter.

So klar abgegrenzt wie hier überzeichnet dargestellt, sind die drei utopischen Ansätze in Wirklichkeit nicht. Tatsächlich gibt es nahezu beliebige Mischformen, die es meist jedoch nicht besser machen. Dennoch enthalten sie alle berechtigte Aspekte, die in einer zu begründenden commonistischen Utopie aufgehoben werden müssten.

Ausgangspunkt einer solchen Utopie ist die Frage nach der Gestaltung des Verhältnisses von Freiwilligkeit und Notwendigkeit. Die Antwort kann nicht in einer einseitigen Unterordnung des Individuums unter die Gesellschaft oder umgekehrt bestehen. Solche Vereinseitigungen entstehen, wenn der Fokus auf die Personen oder Institutionen der Herrschaft gerichtet wird anstatt auf die zugrunde liegende Handlungsmatrix. Eine Handlungsmatrix ist die Bedingungsstruktur, die gesellschaftlich wie individuell nahelegt, gemäß ihrer Logik zu handeln, weil es funktional ist und die eigene Existenz sichert. Ist diese (wie bisher immer) exklusionslogisch formiert - die Bedürfnisbefriedigung der einen geht zu Lasten der von anderen - dann ist es zweitrangig, welche Formen die Herrschaft annimmt (Kapital, Partei, Staat, Räte etc.). Der kollektivistische Ansatz versucht Herrschaft bewusst für den guten Zweck zu instrumentalisieren, während der individualistische Ansatz Herrschaft abstrakt bekämpft - sich aber durch die Hintertür wieder rein holt.

Nehmen wir nun an, die gesellschaftlich-individuelle Handlungsmatrix ist inklusionslogisch strukturiert, dann stellt sich das Verhältnis von Freiwilligkeit und Notwendigkeit völlig anders dar. Die Inklusionslogik basiert auf der Abwesenheit von Eigentum, also der andere exkludierenden Verfügung über Ressourcen. Damit gibt es keine Machtmittel, um Menschen zu einer Tätigkeit zu bringen, die sie nicht wollen. Kooperation ist weiterhin notwendig, aber immer freiwillig. Niemand kann gezwungen, sondern nur noch gewonnen werden. Der Fokus richtet sich auf die Bedingungen, die so einladend sein müssen, dass sich Menschen gerne beteiligen. Freiwilligkeit und Inklusion erzeugen sich gegenseitig. Es ist nun "nur noch" eine Frage der Organisation, wie die freiwilligen Tätigkeiten die gesellschaftlichen Notwendigkeiten abdecken. Für einen Rest unabgedeckter Notwendigkeiten findet sich dann auch eine Lösung.

Doch im Kapitalismus ist die allgegenwärtige Handlungsmatrix exklusionslogisch strukturiert. Wir leben und reproduzieren sie, nahezu täglich. Freiwilligkeit braucht hier geschützte Räume, in denen die Wirkungen der Exklusionslogik abgemildert oder gar neutralisiert werden. Dazu gehört ganz zentral die Neutralisierung der exkludierenden Wirkung des Eigentums. Aber auch die von uns verinnerlichten "normalen" exkludierenden Handlungsweisen müssen entlernt werden. Freiwilligkeit ist kein bloß individueller Willensakt, sondern kollektiv zu erlernende Handlungsweise, die bewusst zu schaffende Ermöglichungsstrukturen braucht. Das ist der Sinn der Commons. Es sind Räume des Erlernens von Freiwilligkeit und Inklusion, Räume des Commoning.

So verstanden ist Freiwilligkeit der Kern radikaler Utopie.

*

Aus Ratlosigkeit weitermachen?

von Lorenz Glatz

"Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten", ob das nun von Rosa Luxemburg, Kurt Tucholsky, Emma Goldman oder sonstwem stammt, so falsch ist der Spruch nicht, und in kritischen Kreisen ist er auch ganz geläufig. Dass es dann aber wenig Sinn macht, Wahlen allzu große Bedeutung beizumessen und sich an ihnen selbst zu beteiligen, ist in den letzten Jahren dort eher wieder ein no go geworden. Überhaupt seit die Welt Trump statt Clinton bekommen hat. An die Wurzeln gehende Gesellschaftskritik scheint etwas zu sein, was auch für viele kritische Menschen im Getöse der Wahlkämpfe und der politischen Auseinandersetzungen nicht formulierbar und praktikabel ist. Vielmehr erfasst sie das Gefühl: Es soll wenigstens gerade so bleiben, wie es ist. Und wenn es schon bergab geht, dann bitte ein wenig langsamer! Nach einer Perspektive klingt das nicht gerade.

Das Schimpfen auf die "depperten Wähler" und das Warten auf die nächsten Wahlen verdeckt die Ratlosigkeit auch nicht mehr wirklich. Hier ein paar Betrachtungen dazu.

1.

Die Parteienlandschaft teilt sich nicht bloß in Links, Mitte, Rechts, sondern sie bewegt sich als Ganzes seit Jahrzehnten nach rechts. Die Bedeutung des Worts "Reform" ist dafür ein aufschlussreiches Beispiel. - War es bis in die 70iger Jahre noch die Ankündigung von mehr Geld, Freizeit, individueller Freiheit usw., so weiß eins nunmehr schon bei der Erwähnung des Wortes, dass es um Einsparung, Kürzung, Privatisierung, Intensivierung von Arbeit, Überwachung und ähnliche Notwendigkeiten der Systemlogik und des staatlichen Zugriffs geht. In Österreich war die Sozialdemokratie in 61 von 72 Jahren seit dem letzten Weltkrieg in der Regierung und hat den Großteil dieser Maßnahmen entweder selbst gesetzt oder mitgetragen. Und in Deutschland war es die Partei Bebels und Liebknechts, deren "Hartz 4"-Arbeitsgesetze mit Entrechtung und Zwangsmaßnahmen den größten Billiglohn-Sektor Europas geschaffen haben, der die "deutsche Wirtschaft" bis jetzt noch am Welken der anderen florieren lässt. Und wenn tatsächlich wie in Griechenland ein "Block der radikalen Linken" an die Regierung kommen konnte und den Kapitalismus einmal "anders" verwalten wollte, dann haben diese nach ihrem Wahlsieg binnen ein paar Wochen nachgelernt. Das kleinere Übel wächst von Wahl zu Wahl.

2.

Die Rechtsdrift aller Parteien hat mit dem Zustand von Politik und Wirtschaft zu tun. Für den Staat und seine Parteien ist der Kapitalismus alternativlos. Sie sind zwei Seiten einer Münze. Wer sich auf die eine einlässt, hat auch die andere. Auch keine revolutionäre Partei ist dieser Logik entgangen. Der moderne Staat erzwingt, verwaltet, ordnet und schützt die Grundlagen der Wirtschaftsweise, d.h. die Arbeitskraft und das Kapital sowie den Zugang zur Verwertung der Ressourcen dieser Erde. Und die kapitalistische Wirtschaft erhält den Staat mit Steuern auf Lohn, Profit und Konsum und bei Bedarf das politische Personal mit Extragaben. Das Duo setzt sich leichtfüßig und Zugeständnissen ans arbeitende Volk nicht abgeneigt über jeden auch grundsätzlichen Widerstand hinweg, solange der Kapitalismus (mit welchen Folgen für Mensch und sonstige Natur auch immer) rentabel produzieren, d.h. investiertes Geld durch Arbeit und Produktverkauf vermehren kann. Und solange der Staat dafür mit Politik, Diplomatie und ihrer Fortsetzung mit den Mitteln der Gewalt dafür im Inneren und nach außen geeignete Bedingungen herstellen kann. Beide Voraussetzungen schwinden seit Jahrzehnten dahin. Und die Rettung, die steht immer "rechts", beim selben, aber schärfer. Da mag eins wählen, was er/sie will.

3.

Seit dem Ende des Nachkriegsbooms stockt das Wachstum, schmilzt die Vermehrung des Gelds durch Vermarktung, d.h. der Lebenszweck von Marktwirtschaft, unlösbar verschärft durch den Umstand, dass die neue technische Revolution der Mikroelektronik mehr Arbeit einspart, als sie neue Plackerei erschafft. Der Kapitalismus muss also von natürlichen und menschlichen "Schlacken" gereinigt werden, um noch irgendwie seinem Zweck zu entsprechen: Globalisierung und Liberalisierung von Arbeit und Produktion, Handel und Finanzmärkten - die ganze Welt muss "verwirtschaftet", der Mensch möglichst restlos ein homo oeconomicus werden, dessen Leben in Arbeit und Konsum aufgeht.

Die "guten alten Zeiten" der florierenden Kapitalverwertung kehren trotzdem nicht und nicht wieder. Betriebsgewinne werden daher oft nicht mehr in die Produktion investiert, sondern "sicherheitshalber" in "krisensicheren" Realien geparkt oder zwecks höherer Renditen spekulativ in Aktien und "in Veranlagungen, denen nichts Reales gegenübersteht", investiert. Das Tagesgeschäft hängt inzwischen am Tropf der Staatsverschuldung zur Finanzierung von Wirtschaftsförderungen, Investitionen, Staatsaufträgen und an den Käufen von Anleihen und Aktien durch die Notenbanken mit aus dem Nichts geschöpftem Geld. Dieses deficit spending bleibt jedoch - anders als noch in den Fünfzigern und Sechzigern - eine Finanzblase, die jederzeit platzen kann.

Nach 40 Jahren Neoliberalismus hat die entfesselte Konkurrenz weltweit die Einkommensschere aufgerissen, Millionenmassen überflüssig gemacht und verarmen lassen. Selbst auf der einstigen "Insel der Seligen" haben laut Rechnungshof die noch verwertbaren ArbeiterInnen in 15 Jahren real mehr als ein Siebtel ihres Lohns verloren, im Wirtschaftswunderland wiederum ist z.B. in Dortmund jeder 7. Mensch auf "Hartz 4" angewiesen (RuhrNachrichten 18.11.17), aber die acht reichsten Menschen der Welt haben so viel Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit zusammen (Oxfam laut Spiegel online 16.1.17). Am Weltmarkt gescheitert zerbrechen Staaten, toben Bürgerkriege, herrschen Warlords, werden Genozide verübt und zig Millionen Menschen vertrieben. Und der im Süden begonnene Niedergang frisst sich nordwärts weiter.

Wer in dieser Welt mehr oder weniger unter die Räder kommt und trotzdem bzw. gerade deshalb über Staat und Wirtschaft als Lebensform nicht hinaussieht und -will, dem bleibt wenig anderes als die Gefolgschaft der schreienden, buntscheckigen, liberal strahlenden oder wüst hetzenden, ziemlich irren oder wie Sternschnuppen verglühenden "neuen Staatsmänner". Und sei es nur, um voll Wut deren Vorgänger "abzustrafen" und angesichts der eigenen sinkenden Löhne diejenigen auf Hungerdiät zu setzen, die noch schlechter dran sind.

4.

Die unendliche Verwertung (und Vermüllung) der Natur durch den Lebenszweck Arbeit scheitert inzwischen aber auch an der Begrenztheit und am empfindlichen Zusammenhang der Ressourcen der Erde. Z.B. gibt es in den Meeren schon sechsmal mehr Plastik als Plankton und in absehbarer Zeit mehr Plastikmüll als Fisch (Wiener Zeitung 12.9.17). Auf dem Festland werden allein in der EU täglich 275 ha Land versiegelt (People4Soil), in Österreich würde es in 200 Jahren bei diesem Tempo keinen Meter Ackerland mehr geben (IHS). Und der CO2-Gehalt der Luft steigt auch nach der x-ten Klimakonferenz. Alle ökologischen Übel vermehren sich unvermeidlich weiter, wenn "hart" und "ehrlich" gearbeitet wird, die Wirtschaft floriert, der Konsum zunimmt und der Staat auf Ordnung schaut.

Die Biosphäre des Planeten reagiert auf die Ausbeutung und Verwüstung durch den auf Arbeit und Konsum getuneten Menschen mit Artensterben und Klimawandel, was weite Teile der Kontinente für Menschen und viele andere Tiere unbewohnbar machen wird. Aber wirksame Gegenmaßnahmen vermindern unweigerlich das laufende Geschäft, machen Leute arbeitslos und kosten vor allem Wählerstimmen. In dieser Kombination ein Greuel für Politik und Wirtschaft. Das Ökologischste, das Ökonomie und Politik für möglich halten, ist grüne Marktwirtschaft: Geschäft mit "Öko", "Bio" und "Regional" (selbstverständlich mit gehöriger Rücksicht auf Auto-, Atom-, Öl- und Kohlekonzerne). Aber wenn sich das Geschäft rentieren soll, muss der Konsum weiter wachsen und mit ihm Verschwendung und Verwüstung. Um die menschliche Zivilisation auszulöschen, braucht es keinen Meteor oder Kometen, es reicht die Marktwirtschaft, ob demokratisch oder autoritär.

5.

Aber was kann eins da noch tun für eine lebbare und lebenswerte Welt für unsereinen und die anderen Tiere? Jenseits der vergeblichen Hoffnung auf Staat und Wirtschaft und jenseits der Vorstellung, wir könnten aus dem Stoff der alten Lebensweise eine neue formen. Das geht im Guten nicht und nicht im Schlechten, mit Reform nicht, nicht mit Revolution. Jeder Umbau stünde auf dem erodierten Fundament des Alten, und noch jeder Umsturz brachte neue Herrschaft, weil das der Inhalt von Gewalt ist.

Es muss wohl ein Abwickeln sein, ein Auflösen, Abtragen von Strukturen jedweder Herrschaft, nicht nur der Wertverwertung, auch des Rassismus, des Sexismus und was sonst in uns herangewachsen ist an Denken, Fühlen, Praxis der Selbstunterwerfung und der Unterdrückung der jeweils anderen. Der Hobbsche Wolf, der Patriarch, die Sklavin, es sind nicht bloß aufgezwungene, es sind in Resignation entfaltete und aus- und umgestaltete Gewohnheiten seit Jahrtausenden.

Zugleich aber würde die Lust des freien Tätigseins wachsen, der Freude an einander, des Sorgens für einander und die Mitwelt. Nicht in der Logik des Nutzens und des Tauschs, sondern indem ich für die mir gegenüber und nebenan sorge und ebenso dann für jedes Wesen - Mensch, anderes Tier, die ganze Welt - auch für mich. Wenn wir so zu einander stünden, brauchten wir für ein gutes Leben nur einen Bruchteil der Surrogate des "Konsums". Solange wir eine Ahnung von alledem noch haben, von der Praxis grundlegender Verbundenheit aller Wesen, von Verlässlichkeit, Freundschaft, Liebe, haben wir die Möglichkeit, Herrschaft hinter uns zu lassen. Solch animistisch angehauchte Ahnungen und Stimuli können in der Seele auftauchen, wenn wir uns einen Fußbreit raus stellen aus den Zumutungen der heute herrschenden Lebensweise.

Zurück auf den so genannten Boden der Realität! In Lateinamerika sind die Peripherien der großen Städte voll von Menschen, die der Kapitalismus als unverwertbar ausgespien hat und der Staat folgerichtig vor allem als Sicherheitsproblem wahrnimmt. Es sind zu einem großen Teil Indigenas, die noch Erfahrung haben mit nicht- kapitalistischer, gemeinschaftlicher Lebensweise. Wenn wir unsere metropolitane Ansicht der Verhältnisse zu "dekolonisieren" bereit sind, zeigt sich uns dort nicht einfach perspektivloser "Überlebenskampf", sondern es erscheinen vielfältige, asymmetrische Kämpfe um Ressourcen der Subsistenz, Praktiken kooperativen Zusammenlebens in frei gebildeten "Familien" und Vierteln, in Selbstorganisation und in Distanz zu Staat und Politik. Sie bilden heute "Territorien des Widerstands" (Raul Zibechi), formieren stellenweise sogar große Verbände der Versorgung vom Gesundheitswesen über Lebensmittel bis zur Bestattung in für unsereinen kaum vorstellbaren Kooperativen ohne Hierarchien und Leitung (Cecosesola). Ihre Ordnung und Lebensweise folgt in vielem nicht mehr der Logik, den Vorstellungen und Gefühlen von Herrschaft und Verwertung. Die geistige und materielle Dominanz des Kapitalismus wird dort brüchig.

Für Europa freilich sieht Zibechi keine Hoffnung auf ein anderes Leben. Tatsächlich ist hier ja der Durchgriff der "Biopolitik" des Sicherheits- und Sozialstaats ungebrochen, ja er wird angesichts der politischen und sozialen Verwerfungen von einer Mehrheit in seiner miesesten Form der Diskriminierung, Schikanierung und Ausbeutung "der anderen", der Minderleister, der Migranten, der "Ausländer" und überhaupt aller Armen dieser Welt gewünscht, ja zum Teil stürmisch verlangt, während Menschen, die diese Brutalitäten von Herzen verabscheuen, oft genau den Verfall dieses (in seinen "Gaben" schon reichlich dezimierten und in seinen Kontrollen immer schärfer repressiven) Sozialstaats beklagen und nach seiner "Rettung" rufen.

Die Regel des last in first out stimmt wohl für den Kapitalismus auch. Sie bedeutet aber nicht, dass es nicht auch im "Herzen der Bestie", in den Hochburgen der mittlerweile meist fiktiven Wertverwertung, Menschen gibt, die den Daseinsinhalt Arbeit und Konsum, die Jagd nach Geld und Status satt haben, sich für dieses fake von Leben nicht mehr kaputt machen wollen. Sie suchen an den Haarrissen des Monoliths nach Gleichgesinnten. Mit allen Illusionen und Verkennungen und hoffentlich einer Menge Frustrationstoleranz. Was da als "Solidarische Ökonomie" (z.B. www.ochsenherz.at/wofuer-steht-solidarische-landwirtschaft/) umgeht in Europa, mag so ein Hoffnungsschimmer sein, zumindest einer werden. Er kann reichen für die oben angedeutete Fantasie. Und dafür, die Möglichkeit eines anderen, besseren Lebens auch hier wach zu halten. Und auch die Parole: Seien wir realistisch! Versuchen wir das Unmögliche!

*

Auslauf

Hart arbeiten?

von Franz Schandl

Völlig unbeeindruckt herrscht in der politischen Arena der Jargon der Arbeit. Ob das der ehemalige niederösterreichische Landeshauptmann Erwin Pröll ist, der in der ihm eigenen Penetranz stets "Hart arbeiten" plakatieren ließ, oder Kurzzeitkanzler Christian Kern, der im abgelaufenen Wahlkampf nicht müde wurde, euphorisch von den "hart arbeitenden Menschen" zu schwadronieren. Wir haben nicht nur zu arbeiten, wir haben hart zu arbeiten.

Die Figur des hart arbeitenden Menschen ist restriktiv, weil sie die edle Sorte der hart Arbeitenden gegen jene ausspielt, denen unterstellt wird nichts zu tun. Diese Figur und ihre Figuren treten nach unten und spucken nach oben. Wobei Spucken in diese Richtung schon das höchste der Gefühle darstellt, meist buckeln sie und lassen sich dann die Wintermärchen der Mehrwertigen reindrücken. Leistung muss sich lohnen, schreien auch die Minderwertigen. Die, die gar viel haben, sind tüchtig, denn sonst hätten sie nicht gar so viel.

Die permanente Verdächtigung, dass wir zu wenig leisten und uns rechtfertigen müssen, wo wir doch insbesondere durch Produktion und Produkte den Planeten gefährden, Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge ruinieren, ist absurd, ja debil. So denken Konformisten im Koma. Arbeiten meint schuften. Hart arbeiten meint sich blöd zu schuften. Hart arbeiten ist keine Tugend, sondern gemeingefährlicher Unsinn. Ein Fluch.

Hart ist die Arbeit. Hart ist das Leben. Hart. Hart. Hart. Was wie triviale Lyrik klingt, ist allerdings grausame Realität. Die Folge diverser Härtungen sind verhärtete Subjekte, die wenig bis nichts mehr spüren. Das Ziel der hart Arbeitenden ist ja nicht, dass es allen, also auch den anderen, besser geht - wo kämen wir da hin? -, nein, den anderen hat es gefälligst so zu ergehen wie einem selbst. Besser geht es einem nur, wenn es dem anderen noch schlechter ergeht, behauptet die dümmste aller Logiken. Doch sie regiert. Missgunst, Neid und Gier zeichnen die bürgerlichen Subjekte.

Hart Arbeiten ist eine Zumutung. Arbeit und Leistung, Karriere und Konkurrenz sind schwere Infektionskrankheiten des Kapitalismus. Ihnen zu entkommen ist schwierig. Wenn ich von mir sagen könnte, ich hätte mein Leben lang nie hart gearbeitet, dann wäre das durchaus fein. Leider ist dem nicht so. Zwar habe ich mich vor der Arbeit so oft wie möglich gedrückt, aber meine Möglichkeiten waren zu begrenzt, um mich dem schöpferischen Müßiggang, der emanzipatorischen Tätigkeit und sonstigen Leidenschaften und Lüsten hinzugeben. Es ist mir viel entgangen und viel weniger gelungen als für ein gelingendes Leben notwendig wäre. Derweil bin ich noch gut dran.

Wir leben in finsteren Zeiten: Die Angst vor dem Sozialmissbrauch ist größer als die Angst vor dem Sozialabbau. Dass der Sozialmissbrauch, was die finanzielle Dimension betrifft, absolut vernachlässigbar ist, resp. andersrum viel weniger Sozialleistungen abgeholt werden als abholbar wären, interessiert diese Neidgenossenschaft nicht. Bluten sollen die andern. Über die Einschränkung sozialer Leistungen für Asylwerber besteht jedenfalls Konsens der eingeborenen Ausgeburten weit über die Wählerschaft von FPÖ und ÖVP hinaus. Bedrohte Menschen verhalten sich zueinander keineswegs solidarisch, sondern feindselig.

So ist der Weg Richtung Hartz IV auch hierzulande nicht ausgeschlossen, befeuert und begrüßt auch von jenen, die am meisten gefährdet sind, aber es partout nicht schnallen wollen. Wenn es Asylwerbern schlechter geht, geht es Arbeitslosen nicht besser und wenn Arbeitslose schlechter gestellt werden, werden die schlecht bezahlten Arbeiter nicht besser gestellt. Die Vorletzten treten auf die Letzten so gerne hin wie die Vorvorletzten auf die Vorletzten.

"Unser Leben ist der Mord durch Arbeit, wir hängen 40 Jahre lang am Strick und zappeln, aber wir werden uns losschneiden", schreibt Georg Büchner in Dantons Tod. Befreiung besteht darin, sich nur anzustrengen, wenn man sich anstrengen will. Kreativität und Muße haben Arbeit zu ersetzen. Dass wir dann nichts mehr tun, ist Humbug. Die Arbeit ist das Irrlicht der Moderne. Schalten wir es ab.

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AutorInnen

Tilman Wendelin Alder, 1988. Aufgewachsen in Potsdam. Studium in Göttingen, Leipzig, Abschluss des Psychologiestudiums an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Roger Behrens, Streifzüge-Kolumnist.

Nikolaus Dimmel, 1959. Studierte Rechtswissenschaften, Politikwissenschaften, Soziologie. Lehrtätigkeit u.a. an der Univ. Salzburg. Schwerpunkte: Armut/Reichtum/Ungleichheit, Sozialwirtschaft, Sozial- und Migrationsmanagement sowie Arbeits-, Kriminal- und Rechtssoziologie.

Hermann Engster, 1942. Lebt in Göttingen, Studium der Nordistik und Germanistik. Z.zt. Dozent an der Universität des dritten Lebensalters Göttingen, Seminare zu Literatur und Opern; bei der Krisis und im Trafoclub der Streifzüge.

Martin Gohlke, 1960. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Oldenburg. Politischer Bildner an der Volkshochschule Norden und selbstständig als Ausbilder von Betriebsräten und in der gewerkschaftspolitischen Bildung unterwegs. www.martin-gohlke.de

Tomasz Konicz, 1973. Studierte u.a. Geschichte, Soziologie, Philosophie. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa. Zuletzt erschienen: Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft (2016).

Stefan Meretz, Streifzüge-Kolumnist.

Peter Oberdammer, 1961 im Boom der fordistischen Konsumidiotisierung geboren, immer noch distanzierter Betrachter ihrer Spektakel in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfallsprozessen. Studium der Geographie und Geschichte. Die Auseinandersetzung mit der Welt verwertete sich in sozialwissenschaftlicher Forschung zu ethnischen Minderheiten, Nationalismus und Rassismus und deren polit-ökonomischen Verortung, kurz auch an den "Bildungsstätten der Jugend" in der der Sekundarstufe bis zum Erreichen der Unverwertbarkeit. Sucht derzeit als "sozialschmarotzender" Eigenbrötler noch die geeignete Nische, um bei letzterer mit Hand anzulegen.

Karl Reitter, 1953. Lebt in Wien. Redakteur der Zeitschrift grundrisse (bis zu deren Einstellung Ende 2014) und Lektor am Institut für Philosophie in Wien und Klagenfurt. Div. Buchveröffentlichungen, darunter: Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und Bedingungen eines freien Gemeinwesens (2011)

Martin Schroeder, 1978. Studium der Soziologie und Philosophie in Dresden. Schwerpunktmäßig interessiert er sich für Dekonstruktionen hegemonialer Machtbeziehungen. Meist unbezahlte Tätigkeit als Radiomoderator, Buchhändler, Zweiradmechaniker, Sozialrechtsratgeber, Autor und Bildungsveranstalter, Gründungsmitglied des Clubs der Verschwender*innen.

Sowie: Lorenz Glatz, Franz Schandl, Maria Wölflingseder

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Transformationskunde,
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DRUCK
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REDAKTION
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Martin Scheuringer, Ricky Trang,
Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

Covergestaltung: Isalie Witt
Layout: Françoise Guiguet

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ABONNEMENTS
Aborichtpreise für 3 Hefte pro Jahr.
1 Jahr 21 Euro, 2 Jahre 39 Euro, 3 Jahre 54 Euro.
Probenummer gratis

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Quelle:
Streifzüge Nr. 71, Herbst 2017
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
Margaretenstraße 71-73, A-1050 Wien
E-Mail: redaktion@streifzuege.org
http://www.streifzuege.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2018

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