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VORWÄRTS/665: Im Schnüffelstaat der Eidgenossen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 26/27/2010 vom 9. Juli 2010

Im Schnüffelstaat der Eidgenossen


sit. Die geheimen Hüterinnen des Guten scheinen faul geworden zu sein: Nur gerade mal 200.000 Menschen wurden fichiert. Weit weg von den 900.000, die es noch im Jahre 1989 waren. Und dies obwohl heute modernste Computer anstelle der alten, klapprigen Schreibmaschinen zur Verfügung stehen. Damit ist auch das "Neue" am "neuen" Fichenskandal erklärt.


Die Empörung in den bürgerlichen Medien über den so genannten "neuen Fichenskandal" ist ziemlich verlogen. Es ist in etwa so, als würde man in die Metzgerei gehen, um sich ein saftiges, feines Schweinefilet zu kaufen, und sich dabei darüber aufregen, dass der Metzger zuvor das arme Schweinchen geschlachtet hat. Hat in diesem Land wirklich jemand geglaubt, dass der Geheimdienst keine unrechtmässige Daten über unbequeme, kritische BürgerInnen sammelt? Wie naiv. Was soll der Geheimdienst denn sonst tun? Daten über die braven Mitglieder der SVP sammeln? Womöglich weil sie für fremdenfeindliche Volksbegehren Unterschriften sammeln?


Die Sensoren des Guten

"Neues" wird im Staate der Eidgenosse eh kritisch, da unbekannt und daher als unschweizerisch betrachtet. So ist es doch beruhigend, dass Sinn und Zweck der Erfassung der Bösen gleich geblieben ist. Der ehemalige Geheimdienstchef Peter Regli erklärt es im Tagi so: "Staatsschutz ist Bürgerschutz. Staatsschützer sind Schweizer Bürgerinnen und Bürger, die in Polizeikorps und beim Nachrichtendienst des Bundes arbeiten. Sie haben die Aufgabe, als Sensoren zu wirken, um zum Beispiel rechtzeitig terroristische Anschläge oder Spionage, gewalttätigen Links- oder Rechtsextremismus oder die organisierte Kriminalität in unserem Land zu erkennen." Dann beklagt sich Herr Regli über jene Undankbaren, nie Zufriedenen, die immer motzen: "Diese Staatsschützer, die eine Leistung zugunsten der Bürgerinnen und Bürger erbringen, werden jetzt unter dem Titel 'Skandal' undifferenziert kritisiert". Es versteht sich von selbst, dass sich diese undifferenziert kritisierten HeldInnen der Eidgenossenschaft an keine geltende Gesetze halten müssen und können, da sie sonst ihren Job für die Regierenden und Mächtigen nicht zufriedenstellend leisten könnten.

Präzis, gewissenhaft und gründlich (alles altbekannte Schweizer Tugenden) sind auch die Einträge geblieben. So steht laut Tagi auf der Fiche des Kollegen Dinu Gautier, Inlandredaktor der "Wochenzeitung": "Versuchter Tortenwurf gegen eine Magistratsperson. Nach der Wahl der Bundesräte Merz und Blocher kopierte Gautier internationale Dada-Aktivisten: Am 3. Mai 2004 versuchte er, Hans-Rudolf Merz mit einer Torte zu bewerfen". Schade, blieb es nur beim Versuch. Lieber Dinu, ziel das nächste Mal bitte etwas genauer und wir ehren dich dafür mit grosser Freude auf der Frontseite des vorwärts!


20 Jahre lang gepennt

Sicher, der "neue" Fichenskandal ist für uns Linke der Beweis, dass wir keine Klugscheisser sind. Wir haben ja immer gesagt, dass Papa Staat mit dem Schnüffeln nicht aufgehört hat. Doch: Was haben wir in den beiden letzten Jahrzehnten gemacht, damit es eben nicht zu diesem "neuen" Skandal kommt. Die Antwort ist so einfach wie beschämend: Praktisch nichts und das Wenige hat wenig bis nichts bewirkt. Wie kommt es, dass Jugendliche über den "alten" Fichenskandal nichts, aber auch gar nichts wissen. Sie machen grosse, kugelrunde, erstaunte Augen, wenn man darüber berichtet. Dies geschieht jedes Mal wieder, wenn ich den Jugendlichen bei einem Interview für eine Schularbeit über die Partei der Arbeit erzähle, dass alle Parteimitglieder sowie hunderttausend andere Menschen als Staatsfeinde fichiert waren. Nein, die Jugendlichen haben im Geschichts- oder Staatskundeunterricht nicht geschlafen. Der Fichenskandal gehört logischerweise nicht zum Schulstoff, der unterrichtet wird. Gepennt haben wir, wir die behaupten, für eine bessere Welt, für Recht und Freiheit zu kämpfen. Wir haben es nicht geschafft, dass der "alte" Fichenskandal als Mahnmal gegen die Einschränkung und Beschneidung demokratischen Rechte ins geschichtliche Bewusstsein der Eidgenossenschaft eingeht. Haben wir etwa darauf gewartet und gehofft, dass die Bürgerlichen freundlicherweise diesen Job für uns übernehmen?


Was tun?

Der Verein "Grundrechte.ch" ruft alle auf, die möglicherweise von einer Fichierung betroffen sind, sich umgehend ihre Akteneinsicht zu sicher, sprich die Vernichtung der Fichen zu verhindern. "Gestützt auf Art. 18 Absatz 6 sind die Staatsschützer verpflichtet, denjenigen registrierten Personen, die ein Auskunftsgesuch gestellt haben, vor der Löschung beziehungsweise bei Ablauf der Aufbewahrungsdauer Auskunft zu erteilen", erklärt "Grundrechte.ch" in seiner Medienmitteilung. Damit kann ein wichtiger Beitrag geleistet werden, um "mehr Licht ins Dunkel der Geheimdienstkeller zu bringen. Auf der Homepage von Grundrechte.ch gibt es einen Musterbrief, der per Knopfdruck runtergeladen werden kann.

Und was können wir politisch gegen diesen "neuen" Fichenskandal tun? Eine Volksinitiative lancieren, welche die Abschaffung des Geheimdiensts fordert? Die Erfolgschancen sind klein. Selbst die direkte Demokratie stösst an ihre Grenzen, wenn es um grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft geht. Auf die Strasse gehen und demonstrieren? Nicht auszuschliessen, doch im Facebook-Zeitalter, in dem sich X-Tausende im Internet freiwillig fichieren, müssen wir uns auch noch was Besseres einfallen lassen. Aber was? Beginnen wir mit der Suche nach einer Antwort: Was sagen wir jenen die behaupten, dass Sicherheit nur mit der Einschränkung der persönlichen Freiheit und der Grundrechte garantiert werden kann?


Positionen

Die Partei der Arbeit Schweiz verurteilt die Aktivitäten des Schweizer Staatsschutzes, die neulich ans Tageslicht gekommen sind. Die Fichierung von über 200.000 Personen ist inakzeptabel.

Bei vielen Menschen weckt der neuerliche Skandal böse Erinnerungen an den Fichenskandal Ende der 80er Jahre. Es scheint, als hätte der Staatsschutz nichts aus diesem Skandal gelernt. Doch leider sind solche Überwachungsskandale und nachrichtendienstliche Aktivitäten gegen Bürgerinnen und Bürger überhaupt nichts Neues. Der 6. August dieses Jahrs markiert den 70. Jahrestag des Verbots kommunistischer Aktivitäten, worauf kurze Zeit später ein Verbot der Kommunistischen Partei der Schweiz folgte. Verschiedene andere linke Parteien und Organisationen wurden ebenfalls verboten. Viele Funktionäre der Kommunistischen Partei wurden inhaftiert und die demokratisch gewählten Repräsentanten der Partei verloren ihre Mandate.

Auch als die Partei der Arbeit der Schweiz gegründet wurde, sah es der Staatsschutz als seine Aufgabe an, Informationen über unsere Mitglieder und Aktivitäten zu sammeln. Die Konsequenz waren die Verhaftungen vieler GenossInnen und die Ausweisungen von Mitgliedern der Partei, die keinen Schweizer Pass besassen.

Das Kommunistenverbot von 1940, der Fichenskandal von 1989 sowie der neuste Skandal sind massive Eingriffe in die Privatsphäre der Schweizer Bevölkerung und gleichzeitig grundsätzliche Angriffe auf die Demokratie selbst. Wir fordern ein Ende des willkürlichen Sammelns von Informationen über die Schweizer Bevölkerung und ein Ende des Einsatzes des Staatsschutzes gegen die BürgerInnen.

PARTEILEITUNG DER PARTEI DER ARBEIT SCHWEIZ


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 26/27/2010 - 66. Jahrgang - 9. Juli 2010, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2010