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VORWÄRTS/666: Große Chance auf der Kleinen Schanze


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 26/27/2010 vom 9. Juli 2010

INLAND
Grosse Chance auf der Kleinen Schanze

Vom Bleiberecht-Kollektive Schweiz


Am Samstag, 26 Juni haben rund 300 Menschen aus der ganzen Schweiz mit und ohne Aufenthaltsbewilligung für eine Woche die Kleine Schanze in Bern besetzt. Der Kampf für eine kollektive Regularisierung und ein menschenwürdiges Leben für Flüchtlinge geht auch nach dem Ende der Besetzung weiter.


Wir haben uns diesen öffentlichen Raum genommen, weil wir die unmenschliche Schweizer Asyl- und Migrationspolitik nicht widerstandslos hinnehmen wollen. Unsere Forderung: kollektive Regularisierung für alle. Die Aktion ist der Startschuss einer Reihe von Aktionen, mit dem Aufruf an alle, die sich einen Funken Menschlichkeit bewahrt haben, mit uns gemeinsam zu kämpfen.

Als abgewiesene Asylsuchende werden wir (um uns nicht spalten zu lassen, benutzen wir das "wir" für Aussagen, die uns alle auf unterschiedlichen Niveaus betreffen, je nach Aufenthaltsstatus) über Jahre in teils unterirdischen "Notunterkünften" eingepfercht, während uns mit dem Arbeitsverbot jede Perspektive genommen wird. Als Sans-Papiers verrichten wir - ohne rechtlichen Schutz und oft unter miserablen Bedingungen - unentbehrliche Arbeit in Schweizer Haushalten, Restaurants, Fabriken und Landwirtschaftsbetrieben. Jederzeit sind wir von Ausschaffung bedroht. Und viele unserer Freundinnen und sind in den Ausschaffungsgefängnissen eingesperrt, nur weil sie auf der Suche nach einem würdigen Leben in die Schweiz gekommen sind.


Die Forderungen

Migration ist in erster Linie die Folge eines globalen Wirtschaftssystems, das zu sozialer Ungleichheit, Armut, Abhängigkeit und Gewalt führt. Sie ist das Ergebnis einer profitorientierten und kurzsichtigen Politik von Regierungen und Unternehmen, die gerade auch von der Schweiz mitgetragen wird. Menschen, die aufgrund dieser Umstände fliehen, werden durch die menschenfeindliche "Asylpolitik" der Schweiz gleich doppelt bestraft. Die kollektive Regularisierung ist ein erster Schritt zur Entkriminalisierung von MigrantInnen.

Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf fordern wir auf, endlich konkrete Schritte zur Regularisierung der Hunderttausenden illegalisierten MigrantInnen in der Schweiz zu unternehmen, statt sie zu einem Leben in Angst und Prekarität zu zwingen. Am 30. Juni haben wir deshalb von der Kleinen Schanze aus mit insgesamt 500 TeilnehmerInnen eine kraftvolle und laute Demonstration zum Bundesamt für Migration und zum Justiz- und Polizeidepartement durchgeführt. In einem offenen Brief verurteilten wir die unmenschliche Asyl- und Migrationspolitik und verlangten von Bundesrätin Widmer-Schlumpf, zu unseren Forderungen Stellung zu nehmen. Es sind die kollektive Regularisierung von Sans-Papiers und abgewiesenen Flüchtlingen in der Schweiz, die sofortige Annahme aller Asylanträge, ein sofortiger Ausschaffungsstopp, die Abschaffung des Arbeitsverbots, die Abschaffung des Nothilferegimes, das Recht auf Heirat sowie das Recht auf Familienzusammenführung, das Recht auf Bildung, die Respektierung der Gewerkschaftsrechte und die Respektierung der übergeordneten und grundlegenden Menschenrechte.

Nach einer Woche Besetzung haben wir, wie mit der Stadt Bern vereinbart, unsere Zelte abgebrochen. Die Stimmung an der letzten Vollversammlung war kämpferisch. Flüchtlinge und Unterstützende aus allen Teilen der Schweiz hatten während der Aktion Gelegenheit, Erfahrungen auszutauschen, sich zu vernetzen und aus der Isolation auszutreten. Es war "eine grosse Chance auf der Kleinen Schanze", wie es Mohammed Moradi, ein Flüchtling aus Afghanistan, an der Pressekonferenz letzten Donnerstag formulierte.


Entwürdigendes Vorgehen der Polizei

Nach dem Abbau des Protestcamps haben drei Hungerstreikende und ein weiterer Flüchtling unabhängig von den Bleiberecht-Kollektiven ihren Protest auf der kleinen Schanze fortgesetzt. Trotz intensiver Bemühungen der Unterstützenden konnte für sie kein Kirchenasyl organisiert werden. Die Polizei schritt schliesslich zur Räumung. Zwei der Protestierenden wurden verhaftet, zwei ins Spital überführt.

Das Vorgehen der Polizei bei der Verhaftung des Wortführers der Protestierenden war entwürdigend. Zehn Polizisten trugen ihn mit Handgriff an Händen und Füssen über den ganzen Platz, anstatt mit dem Auto zum Zelt der Flüchtlinge heranzufahren. Zudem war der Einsatz grotesk unverhältnismässig. Vier Protestierende und etwa dreissig Unterstützende, die friedlich die Vorgänge beobachteten, vermittelten und sporadisch Parolen skandierten, befanden sich zum Zeitpunkt der Räumung auf dem Platz. Nur der Einsatzleiter der Polizei weiss, warum zur Kontrolle dieser "Menschenmassen" elf Kastenwagen notwendig waren.

Die Aktion auf der Kleinen Schanze ist beendet. Die Sans-Papiers sind wieder in ihre Notunterkünfte zurückgekehrt, wo sie der Alltag ohne Geld und Arbeit wieder hat. Vorläufig. Denn die Planung für die nächsten Schritte in dieser Kampagne hat schon begonnen, um würdige Lebensbedingungen für Sans-Papiers und Asylsuchende in der Schweiz zu erreichen. Der Kampf für eine kollektive Regularisierung und ein menschenwürdiges Leben für Flüchtlinge geht weiter.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 26/27/2010 - 66. Jahrgang - 9. Juli 2010, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2010