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VORWÄRTS/697: Es trifft die Schwächsten der Schwachen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 5. November 2010

Es trifft die Schwächsten der Schwachen

Von Siro Torresan


Durch die 6. IV-Revision [*] sollen bestehenden Renten gekürzt oder gar gestrichen werden. Ein Tabubruch. Für die Betroffenen entsteht ein enormer Druck, während die Arbeitgeber geschont werden. Denn auch diese Revision sieht keine Quotenregelung vor. Ohne diese gesetzliche Pflicht ist die angestrebte Eingliederung der IV-BezügerInnen in den Arbeitsmarkt ein frommer Wunsch, der sich nie erfüllen wird.


Das Ziel der 6. IV-Revision liest sich wie folgt: 500 Millionen Franken sollen durch so genannte Eingliederung von rund 16.500 IV-BezügerInnen und 800 Millionen Franken durch die Kürzung oder Streichung von bestehenden Renten gespart werden. Dies ergibt ein Total von 1,3 Milliarden Franken, jährlich wohlverstanden. Das Sparpaket wird in "Päckli 6a" und "Päckli 6b" aufgeteilt. Das erste Paket (6a) soll ab dem 1. Januar 2012 in Kraft gesetzt werden und wird daher mit grösster Wahrscheinlichkeit bereits in der diesjährigen Wintersession im National- und Ständerat diskutiert, die am 29. November beginnt. Das zweite Massnahmepaket (6b) soll dann im Jahr 2013 in Kraft treten. Das Komitee "Zämestah - für eine solidarische Invalidenversicherung", das die Demo vom 30. Oktober in Bern organisiert hat, schreibt zur Revision: "Geht es nach den IV-Revisionsvorlagen 6a und 6b, werden künftig langjährige IV-Renten aufgehoben und rückwirkend ganze Krankheitsbilder von der Leistungspflicht der IV ausgeschlossen. Weiter sollen die IV-Renten massiv gekürzt werden, obwohl sie bereits heute nicht existenzsichernd sind. Am schlimmsten trifft diese Sparübung die Schwerbehinderten." Damit ist die Revision bestens auf den Punkt gebracht.


Die Logik der Revision

Politische Brisanz ist durch die 6. IV-Revision mehr vorhanden, als einem lieb sein kann. Es beginnt mit dem Ziel der Eingliederung von IV-BezügerInnen. Ein Ziel, das alles andere als neu ist. Vor der 5. Revision wurde an die Selbstverantwortung der Wirtschaft appelliert. Gleichzeitig wurde behauptet, dass die beschlossenen Eingliederungsmassnahmen ausreichen würden, um die betroffenen Menschen eher im Erwerbsleben verbleiben zu lassen oder sie wieder in die Arbeitswelt einzugliedern. Diese Prognosen haben sich erwartungsgemäss nicht bewahrheitet. Selbst im erläuternden Bericht zur IV-Revision 6b muss der Bundesrat zugeben, dass "die Eingliederungsbemühungen der Invalidenversicherung, die seit der 5. IV-Revision nochmals mit sehr viel Geld unterstützt wurden, zu bescheidenem Erfolg" führten. Der Grund dafür ist simpel: Warum sollte ein Arbeitgeber eine Person mit einem Handicap einstellen, die keine hundertprozentige Leistung erbringen kann? Aus Mitgefühl? Aus sozialen Überlegungen? Dies in einem Wirtschaftssystem, in dem ausschliesslich nur der Profit zählt? Die Eingliederungen von Menschen in die Arbeitswelt, die nicht zu hundert Prozent die Leistung erbringen können, kann nur durch einen Zwang erfolgen. Dies bedeutet eine klare, gesetzliche Regelung, welche die Arbeitgeber ab einer gewissen Betriebsgrösse verpflichtet einen gewissen Prozentsatz an behinderten Menschen zu beschäftigen. Eine solche Quotenregelung, die bereits in vielen europäischen Ländern eine Realität ist, fordern die Behindertenorganisationen schon seit Jahren. Eine Forderung, die jedoch auch in der 6. IV-Revision keinen Platz findet. Alleine diese Tatsache spricht Bände und beweist, in welcher Logik die Revision über die Bühne gehen soll.


In die Armut verbannt

Das "Päckli B" der IV-Revision bringt einem Tabubruch mit sich, denn es sollen bestehenden Renten entzogen werden können. Nach heutiger Rechtslage können rechtmässig zugesprochene Invalidenrenten nur dann aufgehoben werden, wenn sich der Gesundheitszustand verbessert hat. Mit der 6. IV-Revision sollen bestehende Renten von Schmerzpatienten und psychisch Kranken neu auch dann aufgehoben werden können, wenn keine gesundheitliche Besserung eingetreten ist. Die Folge ist, dass diese Menschen keine Stelle auf dem freien Arbeitsmarkt finden und zum grössten Teil von der Sozialhilfe abhängig werden. Aber auch für Rentnerinnen, denen die TV-Rente belassen wird, soll die IV-Rente generell gesenkt werden. So soll beispielsweise bei einer 50 prozentigen Invalidität künftig nur noch eine 37.5 Prozent-Rente ausgerichtet werden. Die Kinderrenten sollen um beinahe die Hälfte gesenkt werden und Anspruch auf eine volle Rente soll neu erst ab einer 80 prozentigen Erwerbsunfähigkeit bestehen. Das Bundesgericht hat sich im März 2009 nach der 5. IV-Revision ausdrücklich mit der Frage auseinandergesetzt, ob laufende Renten nachträglich abgeändert werden können. In einer ausführlichen Analyse ist das Bundesgericht zum Schluss gelangt, dass eine Abänderung laufender Renten rechtlich nicht vertretbar ist, weil das öffentliche Interesse an der neuen Praxis geringer zu werten ist als die Einzelinteressen der vielen Rentner, denen mit dem Wegfall ein Teil oder gar das ganze Existenzeinkommen wegbricht. Die 6. IV-Revision soll nun das Gesetz so zurechtbiegen, dass laufende Renten gekürzt werden können. "Diese Änderungen treffen ebenso wie die Ausgrenzung gewisser Krankheitsbilder die Schwächsten der Schwachen". schreibt das Komitee "Zämestah". Wer nebst der IV-Rente über eine Pensionskassenrente verfügt, kann die erwogenen Einschränkungen unter gewissen Umständen kompensieren. Zahlreiche Menschen leben aber bereits heute ausschliesslich von der IV-Rente und erhalten keine Rente der Pensionskasse. "Gerade für diese Menschen sind die geplanten Kürzungsmassnahmen ausserordentlich einschneidend", hält das Komitee fest.


Motor des Widerstands

Setzt man die 6. IV-Revision in den sozialpolitischen Kontext, ergibt dies folgendes Bild: Zuerst der Versuch die Rente der Pensionskasse zu kürzen durch die Senkung Umwandlungssatzes, dann der Abbau bei der Arbeitslosenversicherung. Es folgte der Versuch, die AHV-Leistungen massiv zu verschlechtern und nun der Angriff auf die IV-Versicherung. Dies alles in einer Zeitspanne von etwas mehr als einem Jahr. Und immer mit der bekannten, bürgerlichen Argumentation, dass man sparen und die "Sozialschmarotzer" bekämpfen müsse. So gesehen bringt die IV-Revision nichts Neues - und genau diese Tatsache sollte ein zusätzlicher Motor des Widerstands werden.


[*] Anmerkung der Schattenblick-Redaktion: IV = Invalidenversicherung


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42 - 66. Jahrgang - 5. November 2010, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2010