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VORWÄRTS/698: Armut in der Schweiz


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 39/40/2010 vom 22. Oktober 2010

Armut in der Schweiz

Von Alexandra Takhtarova


Am 17. Oktober ist der internationale Tag der Armut. Der Vorwärts sprach aus diesem Anlass mit Branka Goldstein, der Gründerin und Präsidentin der IG Sozialhilfe, über das Leben von Armutsbetroffenen und die Bekämpfung der Armut.


Armut

Arm ist, wer in einem Haushalt lebt, dessen Einkommen unter dem Existenzminimum liegt. Armut raubt den Menschen die Perspektive und das Selbstvertrauen und führt zu Rückzug und Vereinsamung. Armutsfallen sind Bildungsniveau, Anzahl Kinder, der Wohnort und die soziale Herkunft, und Armut wird sozial vererbt. Verursacht wird die Armut durch den wirtschaftlichen Strukturwandel und durch den sozialen Wandel. Zum wirtschaftlichen Wandel gehören die Konzentration auf kapital- und wissensintensive Tätigkeiten, der Abbau von Nischenarbeitsplätzen, das Verlagern von Arbeiten in Billiglohnländer und das Prosumer-Phänomen: Der Konsument macht alles selbst.
Den sozialen Wandel prägen die Scheidungsraten, die Vielfalt der Familienformen, die einseitige Regelung der Alimente, die Wertung der Familie als Privatsache mit ungenügendem Familienlastenausgleich. Rund 700.000 bis 900.000 Menschen leben unter dem Existenzminimum und hätten Anspruch auf sozialstaatliche Hilfe.
Armut müsste nicht sein. Sie könnte wirkungsvoll bekämpft werden mit einer sinnvollen Armutspolitik. Damit sie ficht vererbt wird, müssten im Lebenslauf frühzeitig Angebote gemacht und die Übergänge von einer Lebensphase zur andern gut gemanagt werden.


VORWÄRTS: Am 17. Oktober ist der internationale Tag der Armut. Welche Bedeutung hat dieser Tag?

BRANKA GOLDSTEIN: Dieser Tag ist leider wenig bekannt, weil Armut in der Schweiz - auch in linken Kreisen - kaum erkannt und wahrgenommen wird. Die meisten Armutsbetroffenen sind nicht oder kaum politisiert, sodass sie oft gar nicht wahrnehmen, dass sie selber von Armut betroffen sind. Sie sehen sich in ihrer Rolle als allein erziehende Mutter, DrogenabhängigeR oder SozialhilfebezügerIn als Mittellose. Der Ausdruck Armut wird von ihnen wenig gebraucht. Berichtet wird vom Überlebenskampf, von Not, was oft der einzige Lebensinhalt ist.

VORWÄRTS: Die Wohnungspreise steigen kontinuierlich, was Armutsbetroffene aus der Stadt verdrängt. Wie soll man dieses Problem bekämpfen?

BRANKA GOLDSTEIN: Wichtig ist einerseits, dass der Staat - der Bund, die Kantone und die Gemeinden - keine Objekte verkauft, wo preisgünstiger Wohnraum besteht oder geschaffen werden könnte. Im Gegenteil, er müsste eher zusätzliche Objekte erwerben, um günstigen Wohnraum zu schaffen. Zudem sollten wieder Wohnbeihilfen für Familien, IV-RentnerInnen und andere finanziell benachteiligte Menschen ausbezahlt werden. Und bei SozialhilfebezügerInnen darf das Sozialamt nicht auf sturen Mietpreislimiten beharren - wofür es gar keine Wohnungen gibt -, sondern Mieten bezahlen, die den realen Marktpreisen entsprechen.

VORWÄRTS: Der Verein IG-Sozialhilfe kämpft für die Verwirklichung der Menschenrechte von Armutsbetroffenen. Mit welchen Mitteln macht ihr das?

BRANKA GOLDSTEIN: Einerseits mit politischer Öffentlichkeitsarbeit wie Veranstaltungen und der Herausgabe unserer Zeitung, die jeden 1. Mai zu den verschiedenen Themen rund um das Thema Armut erscheint. Wir beziehen zu sozialen Ungerechtigkeiten Stellung, greifen Tabus auf, um einen Beitrag zur Verwirklichung der Menschenrechte für Armutsbetroffene in der Schweiz zu leisten. Andererseits unterstützen und betreuen wir Menschen, die in der Gesellschaft gar nicht wahrgenommen werden: Menschen, die seit Kindheit durch Armut und Ausgrenzung nie am gesellschaftlichen Leben teilgenommen haben, die chronisch und mehrfach physisch und psychisch schwer krank und schwer traumatisiert sind. Wir unterstützen konkret und tatkräftig die Opfer der Wohlstandsgesellschaft. Wir sind oft die einzigen Bezugspersonen über Jahre und begleiten sie auch oft bis zum Tod. Es sind vorwiegend einheimische Menschen, wie ehemalige Heimkinder, die in der Kindheit sexuell ausgebeutet und schwer misshandelt wurden. Auf Grund von fehlenden personellen und finanziellen Ressourcen können wir keine Neuen mehr aufnehmen, obwohl der Bedarf riesig ist. Es finden sich keine hoch qualifizierten Leute, die solche anspruchsvolle Begleitarbeit über Jahre bis Jahrzehnte verpflichtend als Bezugsperson auf sich nehmen wollen.

VORWÄRTS: Welche Themenbereiche hängen mit Armut zusammen und wie beeinflussen sie die steigende Armut?

BRANKA GOLDSTEIN: Der globale Raubtierkapitalismus ist gnadenlos: Menschen, die nicht ausbeutbar sind, weil sie gesundheitlich, bildungsmässig und sozial schwächer sind, werden der Profitmaximierung geopfert. Der Mensch wird auf seinen Ausbeutungsmarktwert reduziert. Schwindet dieser Marktwert, so sind die Menschen dazu verdammt, in Armut und Elend zu leben. Alles hängt mit Armut zusammen: Das ganze Leben, die Gesundheit, die Bildung, die Arbeitsfähigkeit, die Teilhabe am sozialen Leben und die Lebenserwartung. Der Neoliberalismus und die populistische Rechte haben ein Klima geschaffen, wo echte Solidarität kaum mehr gelebt wird. Dies bedeutet für Armutsbetroffene, dass sie sich einerseits nicht zu erkennen wagen, weil sie diese Diskriminierung nicht ertragen und die Verfremdung zu verletzend ist. Andererseits wird kaum mehr die Armut hier und jetzt bei uns wahrgenommen.
Die materielle Basis ist die Grundlage zum Überleben, alles hängt davon mehr oder weniger ab: Wer völlig entkräftet ist vom Überlebensalltagsstress und den ständig repressiver werdenden Sozialämtern, oder der Arbeit weit über die eigenen Kräfte, wird krank. Im Gesundheitswesen wird gespart, was natürlich in erster Linie die Armutsbetroffenen trifft. So werden vereinsamte Schwerkranke vorzeitig aus dem Spital entlassen, weil die soziale Indikation gestrichen ist. Ich habe sogar schon erlebt, dass ein todkranker Mensch im Spital abgewiesen wurde, weil er zu viel zu tun gab, obwohl sogar die Krankenkasse bezahlt war. "Mit solchen gebe ich mich nicht ab", sagte der Arzt. Studien belegen, dass die Lebenserwartung und die materielle Lebensbasis voneinander abhängen.

VORWÄRTS: Wie sieht es in der Bildung aus?

BRANKA GOLDSTEIN: Dasselbe gilt im Bildungsbereich. Kinder aus armutsbetroffenen Familien haben kaum eine Chance und werden bereits ganz jung ausgegrenzt und stigmatisiert. Je mehr gespart wird, desto weniger kann von einer "Volksbildung" gesprochen werden. So sind bei einigen SozialhilfebezügerInnen die Voraussetzungen gar nicht gegeben, um beispielsweise all die nötigen Formulare auszufüllen, was dann aber am Ende sanktioniert wird.
Je komplizierter die Gesellschaft ist, desto weniger Chancen haben Armutsbetroffene. Arbeitsplätze werden ausgelagert und abgebaut, einfachere Arbeiten werden vom "Zweiten und Dritten Arbeitsmarkt" in Billiglohn übernommen. In vielen Branchen werden keine existenzsichernde Löhne ausbezahlt, sodass trotz Erwerbstätigkeit die Existenz nicht gesichert ist.

VORWÄRTS: Findest du, dass die Gesellschaft genug auf das Thema Armut sensibilisiert ist? Oder werden arme Menschen im Alltag oder bei der politischen Planung oft "vergessen"?

BRANKA GOLDSTEIN: Die meisten politisch aktiven Leute in der Gesellschaft wissen gar nicht, was Armut ist. Sie wissen auch nicht, wie das Leben von Armutsbetroffenen sich gestaltet. Die Angst bereitet schlaflose Nächte und der Tag wird zum Albtraum: Worauf muss Verzicht geleistet werden? Wie oft muss Diskriminierung geschluckt werden? Darüber haben die Akteure der Gesellschaft keine Ahnung. Darum habe ich den Begriff Sozialapartheid kreiert. Dieser Begriff bedeutet, dass die Gesellschaft geteilt ist in Subjekte und Objekte: In Machtträger, die über die Armutsbetroffenen (Objekte) Macht ausüben und über sie verfügen. Zudem bedeutet Sozialapartheid auch, dass völlig anderes wahrgenommen, gefühlt, gesprochen und gedacht wird, so dass kaum ein Dialog oder soziale Kontakte zwischen Armutsbetroffenen und sozial Integrierten stattfinden können.
Die Menschen, mit denen wir arbeiten, werden überhaupt nicht wahrgenommen: Weder in der sogenannten Linken, noch in den nationalen Strategien zur Überwindung der Armut. So sehr ist das Mittelstands-Denken und -Handeln überall in der Schweiz verankert. Armutsbetroffene, welche gar nicht arbeitsfähig sind, möglicherweise Analphabeten sind, hungern in der Wohlstandsgesellschaft. Die Obdachlosen, die Kinderprostituierten, die Strassenkinder, die Bettler: Sie alle sind überall inexistent von rechts bis links! Vom "untersten" Arbeiter bis zur Regierung.

VORWÄRTS: Wie soll Armut in der Schweiz bekämpft werden? Wie sollten die Armutsbetroffene wieder reintegriert werden?

BRANKA GOLDSTEIN: Es fehlen in der Schweiz überall die Grundlagen zur Armutsbekämpfung, höchstens wird Symptombekämpfung betrieben. Wer Armut bekämpfen will, muss einerseits dafür über Jahrzehnte Millionen ausgeben wollen. Anstatt Abbau muss Ausbau im Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen durchgesetzt werden, was eine politische Machtfrage ist. Zudem müssen ehrliche Kontakte zu Armutsbetroffenen auf Augenhöhe erarbeitet, beziehungsweise geknüpft werden - was beinhaltet, seine eigenen privilegierten Selbstverständnisse in Frage zu stellen, lernen zu wollen, um zu begreifen, dass es sich "um eine andere Welt" handelt. Bewusst seine persönlichen Freiheiten zurück stellen zu wollen. Dies steht quer zum Zeitgeist!
Deine Frage zeigt, dass das Bewusstsein darüber nicht vorhanden ist, dass Armutsbetroffene nicht in eine Gesellschaft integriert werden können, in der sie nie waren, in der sie unerwünscht sind, von der sie verstossen wurden und kaum Bezug zur Soziokultur der Kerngesellschaft haben. Das Bewusstsein über die Unintegrierbarkeit ist die Basis, um überhaupt Armut in der ganzen Komplexität zu verstehen, Das will ich mit dem Begriff Sozialapartheid ausdrücken.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40/2010 - 66. Jahrgang - 22. Oktober 2010, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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Telefon: 0041-(0)44/241 66 77, Fax: 0041-(0)44/242 08 58
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2010