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VORWÄRTS/700: Wie die Briten, so die Merkel


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 5. November 2010

Wie die Briten, so die Merkel

Von Tristan P. Dzikowski


Die britische Regierung hat die stärksten Kürzungen der Staatsausgaben seit fast einem Jahrhundert angekündigt. Ein Viertel der Einsparungen von über 120 Milliarden Franken betreffen das Sozialbudget. Das bisherige Verständnis von Staat wird abgewickelt. Wird in Grossbritannien jetzt vorexerziert, was allen Ländern Europas blühen wird?


Die für die nächsten Jahre geplanten Einsparungen der Briten belaufen sich auf noch nie da gewesene Dimensionen. Knapp eine halbe Million Jobs im öffentlichen Dienst sollen verloren gehen. Und jene, die dort noch arbeiten werden gezwungen, höhere Rentenbeiträge zu bezahlen. Dies ist nur eine von vielen geplanten, unsozialen Sparmassnahmen auf Kosten der Arbeiterklasse. Die Begründung des konservativen Schatzkanzlers George Osborne liest sich indes wie die altbekannten Floskeln einer Angela Merkel oder eines Nicolas Sarkozy: der Staat habe kein Geld mehr. Mit diesem Argument soll für den radikalsten Sozialkahlschlag unserer Zeit Verständnis geweckt werden. Läutete einst der Thatcherismus das neoliberale Zeitalter für ganz Europa ein, scheint es nun schon wieder die aktuelle Tory-Regierung zu sein, die im Kleinen vorexerzieren lässt, was später in ganz Europa Schule machen wird. Jetzt droht der endgültige Abschied eines historisch gewachsenen Verständnisses, was ein Staat sein soll und was er zu leisten habe. Rigoros bauen die Torys das Gemeinwesen um. Geplant sind ein noch schlankerer Staat, noch mehr Marktfundamentalismus, die weitere Herausbildung einer Bildungs- und Wissenselite, noch radikalere Sozialkürzungen und damit eine weitere Verarmung immer breiterer Bevölkerungsschichten. Die Kreditwürdigkeit stünde auf dem Spiel. Der horrenden Verschuldung müsse entgegengewirkt werden.


Kaufkraft wird geschwächt

In das gleiche Horn blies auch Angela Merkel. Gemeinsam mit Frankreich will diese neue Schuldenregeln für das EU-Europa vorschlagen. Mitgliedsstaaten, die diese nicht einhalten, sollen mit Strafen belegt werden. Dabei verhalten sich die Deutschen so, als hätten sie haushaltspolitisch keine Probleme. Doch das deutsche Vorgehen kennt seine Vorläufer. Schon einmal mahnten die Deutschen unter dem damaligen, konservativen Finanzminister Theo Waigel mehr Haushalts- und Währungsdisziplin in Europa ein. Das war Anfang der 90er Jahre. Damals setzte sich die deutsche Position mit dem so genannten Wachstums- und Stabilitätspakt im Vertrag von Maastricht durch. Bis auch Deutschland wenige Jahre später die zuvor geforderten Kriterien nicht mehr erfüllen konnte. Indes suchen die Briten unbeirrt ihren Weg. Denn nach dem "Desaster" Griechenlands läuten die Alarmglocken. Staatsbankrotte müssen vermieden werden. Oder soll den Briten wie den Griechen China helfen? Das liegt nicht im Interesse des engen Verbündeten der USA, die ihrerseits vor einem Währungskrieg mit dem Reich der Mitte stehen. Da der Kapitalismus immer tiefer in die Krise rutscht, müssen immer mehr Menschen bluten. Noch nie wurde deutlicher, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht den Bedürfnissen der Menschen dient, sondern ganz umgekehrt, diese Form der Produktion den Interessen der Lohnabhängigen komplett widerspricht. Der Wirtschaft soll die Chance auf Wachstum gegeben werden, so die Torys. Wie soll das gehen, wenn über Sparprogramme die Kaufkraft der Massen stranguliert wird? Wer seinen Job verliert und weniger Arbeitslosengeld als bisher bezieht, wer einen Job hat, aber höhere Abgaben leisten muss, der wird den Binnenmarkt weniger bedienen als bisher. Was die Briten am nötigsten haben, wird geschwächt: die Kaufkraft. Was bleibt ist der Export. Doch bei Ausfuhren sind die Briten nie nennenswert aufgefallen. Perfiderweise trifft das Kernstück der Kürzungen ausgerechnet jene Menschen, die im Besonderen auf die Unterstützung einer solidarischen Gesellschaft angewiesen wären. Geplant sind komplexe Einsparungen beim Sozialbudget. Hier werden vor allem die sozial schwächsten zehn Prozent der Bevölkerung getroffen.


Sozialraub

Der soziale Wohnungsbau wird radikal eingeschränkt, Kindergeld spärlicher zugeteilt, Zuwendungen für chronisch Kranke und Arbeitslose kräftig reduziert. Dies deutet jene soziale Grausamkeit an, die immer mehr Menschen von der Gemeinschaft ausschliessen wird. Ohne organisierten Widerstand der Massen wird diese Politik weiter Einzug in europäische Parlamente halten. Denn eine übergrosse Staatsverschuldung ist nicht die Erfindung Grossbritanniens. Griechenland, Spanien und Irland werden ähnlich sparen. Denkt man zudem an die horrende Verschuldung Deutschlands, Frankreichs oder Italiens, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die radikalste Rotstift-Politik auch hier vollzogen wird. Arbeitslosen wird über die Tory-Politik die Wiedereingliederung in den bezahlten Arbeitsprozess weiter erschwert. Wer der Profitmaximierung nicht dienlich sein kann oder will, wird immer mehr sich selbst überlassen. Ist dies die Gesellschaftskonzeption des 21. Jahrhunderts?

Das Renteneintrittsalter von 66 statt 65 Jahren soll sechs Jahre früher als geplant in Kraft treten. Ausserdem steigt die Mehrwertsteuer von 17,5 auf 20 Prozent. Das trifft untere Einkommen besonders hart. Studiengebühren werden auf durchschnittlich 11000 Franken pro Jahr erhöht. Der Zugang zu Bildung wird eine Frage des Geldes. Büchereien und Sportzentren wird bald selbiges ausgehen. Sparpolitik ist Ausschlusspolitik. Schliesslich werden die Gemeinden ein Viertel weniger vom Staat erhalten als bisher. Einsparungen, Arbeitsplatzvernichtung und weitere Privatisierungen bisheriger kommunaler Dienste sind die Folgen. Dem Innenministerium werden 23 Prozent aller Ausgaben gestrichen. 40000 Polizisten droht die Entlassung. Gefängnisse sollen geleert und Gratis-Bewährungshelfer aus karitativen Verbänden rekrutiert werden. 20 Prozent Einsparung auch beim Energieministerium. Vom Budget des Kultusministeriums bleibt nur ein Bruchteil übrig. Das heisst: der Staat zieht sich immer stärker zurück. Wer auf der Strecke bleibt, sind die Menschen. Einschnitte im Militärbereich wird es geben. Dies dürfte mit den USA abgesprochen sein. Wie der Staat, so wird die Armee umgebaut. Grosse Kapitalinvestitionen im Verkehrsbereich und auch Schulen bleiben vorerst vom Rotstift verschont. Universitäten allerdings verlieren 80 Prozent ihres Budgets. Auch das Gesundheitswesen bleibt zunächst unangetastet. Trotzdem bleibt pro Patient weniger Geld. Denn die Gesellschaft der Insulaner altert. Der Kommentator des Tages-Anzeigers, Peter Nonnenmacher, wundert sich: was würden die Franzosen dazu sagen, die jüngst in Massen wegen zwei Jahren Rentenerhöhung demonstriert hatten? Die Antwort ist simpel: warten wir es ab.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42/2010 - 66. Jahrgang - 5. November 2010, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2011