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VORWÄRTS/724: Erlaubt ist, wer nicht stört!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 17/18/2011 vom 13. Mai 2011

Erlaubt ist, wer nicht stört!

Von Johannes Supe


Um den Zürcher 1. Mai wurden mehr als 540 Personen verhaftet. Während das Bürgertum den erzwungenen "friedlichen" 1. Mai feiert, bleibt es die Aufgabe der Linken, die Geschehnisse aufzuarbeiten.


542 verhaftete Personen, 479 Wegweisungen, 45 Verzeigte. So sieht die Polizeibilanz des 1. Mai in Zürich aus. In der Presse, von 20minuten, der NZZ bis Blick am Abend wurde dies als grosser Erfolg gefeiert. Mit Überschriften wie "Chaoten fliehen vor Polizei" wurde die richtige Sichtweise auf den 1. Mai eingepeitscht: Mit harter Hand hat die Polizei für Ruhe zu sorgen, egal wie viele Menschen dafür festgenommen werden müssen. Dazu passend beglückwünschte man sich für das Ergebnis, dem angestrebten "friedlichen" 1. Mai. Wir schauen hinter die Fassade dieser medialen Eintracht.


Polizeitendenzen

Ein Blick auf die Fakten lässt rasch Tendenzen erkennen: Während im letzten Jahr rund 350 Personen festgenommen wurden, waren es dieses Jahr bereits 542, was einer Steigerung der Verhaftungen um gut 50 Prozent entspricht. Polizei, Presse und Parteien jubeln, denn in diesen Massenverhaftungen sehen sie den Grund für den ruhigen 1. Mai und die sehr geringen Sachbeschädigungen. Wie hinkend diese Argumentation ist, wird beim Blick auf Berlin klar. Berlin als Hauptstadt Deutschlands hat über Jahre ähnliche Demonstrationszüge und Auseinandersetzungen zum 1. Mai gesehen, wie Zürich. Doch auch in Berlin blieb es dieses Jahr ruhig. Wegen einem Mehr an Verhaftungen? Oh nein: Tatsächlich nahm die Polizei über das 1. Mai-Wochenende nur rund 161 Personen fest, weitaus weniger als im Vorjahr und insgesamt auf einem eher niedrigen Niveau. All das, obwohl die "revolutionäre 1.-Mai-Demonstration" gut 9.000 Teilnehmende zählte und man im Vorfeld bekannt gab, dass rund 1.000 "Gewaltbereite" anwesend seien. In Berlin lobt man sich für das Konzept der Polizei - das auf grosser Zurückhaltung beruht. Der Kontrast zwischen Zürich und Berlin könnte kaum grösser sein; der Erfolg in Berlin diskreditiert das Polizeivorgehen in Zürich.


Über die Verhältnismässigkeit

An der Langstrasse kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Genau jene Auseinandersetzungen, mit der man der Öffentlichkeit seit Jahren das massive Polizeiaufgebot erklärt. Jedoch bekommt man von diesen Kleinkriegen ein ganz anderes Bild, wenn man mit den Passanten spricht, die sahen, wie Polizei und Demonstranten sich bekämpften. 20 bis 30 Demonstranten sollen es nach Aussage mehrerer Anwesender gewesen sein. Das heisst, zwei Dutzend Personen legitimieren den Polizeieinsatz von Hunderten und mehr, legitimieren den massiven Einsatz von Tränengas, legitimieren das Ballern mit Gummigeschossen. Die Frage nach dem Sinn: Von der bürgerlichen Presse wurde sie nicht gestellt. Wohl aber vom 1. Mai-Komitee. Dort heisst es, wenn auch defensiv, dass "im Nachgang der über 500 Verhaftungen" geklärt werden muss, "ob diese alle verhältnismässig waren". Es sei zu vermuten, dass sie es nicht waren.


Wie man Hunderte verhaftet

Bei alledem nahmen die Verhaftungen bisweilen kuriose Züge an. Da gibt es jene, die an der Grossdemonstration am Morgen Flyer verteilten und eine Wegweisung erhielten; es gibt die Geschichte von einem Passanten mit Rucksack, der auf Verdacht verhaftet wurde und seinen Freund, der nach dem "Warum?" fragte und gleich mitgehen durfte. Überhaupt hielt sich die Polizei am 1. Mai nicht lange mit Warnungen oder begründeten Verdachtsmomenten auf: Helvetiaplatz und Kanzleiareal wurden ohne Vorwarnung dicht gemacht und alle, die sich dort befanden, nahm man fest. Eine der Grundlagen dieses Vorgehens dürfte die Mentalität der Polizei gewesen sein. Diese offenbarte sich in folgender Aussage eines Polizisten in Zivil: "Die wollen ja Krieg mit uns!" Im 20 Minuten liest sich das so: "Der unschöne Nebeneffekt dieser Nulltoleranz war, dass auch viele Gaffer hart angefasst wurden." Ein Meisterstück des Understatement.


Wunderliche Aussagen

Für einmal waren sich alle einig. Presse und linke wie rechte Parteien lobten das Vorgehen der Polizei und das Vorgehen des grünen Polizeivorstehers Leupi. Kritik an den Massenverhaftungen gab es nicht und von Seiten der SP durfte man hören, dass Leupi "seinen Job gut gemacht" hat. Der derart Gelobte zeigte sich denn auch zufrieden: "Der Einsatz ist gelungen. Der Preis für die Ruhe war das grosse Polizeiaufgebot - aber es hat sich gelohnt." Dem sollten wir eine zweite Aussage gegenüberstellen. Im Jahr 2004 schrieb ein Herr Glättli unter dem Titel "Erlaubt ist, wer nicht stört" folgendes über den Wegweisungsartikel: "Für die Grünen ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Stadt Zürich einen Wegweisungsartikel nach Berner Vorbild braucht (...)". Weiter heisst es da, dass "die Grünen der Stadt Zürich und des Kantons Zürich" sich "deshalb in aller Form gegen einen Wegweisungsartikel" aussprechen. Der Grüne Glättli kommt dann zu dem Schluss: "Sollte der Gemeinderat später einem Wegweisungsartikel zustimmen, werden wir uns mit den geeigneten Mitteln dagegen zur Wehr setzen." Während Herr Leupi also offenbar die Grundsätze seiner eigenen Partei vergessen hat, muss denen, die ihm gratulieren, gesagt werden, dass sie dem Polizeistaat das Wort reden.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 17/18/2011 - 67. Jahrgang - 13. Mai 2011, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2011