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VORWÄRTS/737: Arabischer Frühling in Europa?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.21/22/2011 vom 10. Juni 2011

Arabischer Frühling in Europa?

Von der Redaktion


Am Sonntag, den 15. Mai 2011, eine Woche vor den Regional- und Kommunalwahlen in Spanien, begann eine "kleine Revolution". Sie ging von der Bewegung "Democracia Real Ya" ("Echte Demokratie Jetzt") aus und wird seitdem auch "Movimiento 15M" ("Bewegung 15. Mai") genannt. Sie hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Doch wie sieht die Zukunft aus?


Was passiert in Spanien seit dem 15. Mai 2011 und insbesondere auf der "Puerta del Sol" in Madrid? Menschen kommen zusammen - jung und auch alt -, demonstrieren, campen, kommen ins Gespräch miteinander und organisieren sich auf eine ihnen selbst neue Art und Weise. Sie haben Protestcamps aufgebaut und ihre Forderungen in einem Manifest vorgestellt. Sie nennen sich die "Empörten" und stellen sich die Frage, in welcher Gesellschaft sie leben möchten - und wollen selbst etwas dafür tun und nicht länger auf Politik und Wirtschaft warten. Können wir durch die Ereignissen in Spanien etwas Neues über gewaltfreie und kreative gesellschaftliche Bewegungen lernen, uns inspirieren lassen von dem Geist, der in Spanien über die Plätze weht? Ist diese "spanishrevolution" vielleicht auch Ausdruck einer neuen gesellschaftlichen "Versammlung", ein Experiment darin, ein neues WIR zu entwickeln?


Vieles erinnert an den "Tahrirplatz"

Initiator war Fabio Gadera, ein 26-jähriger arbeitsloser Anwalt, der Mitte Februar eine Gruppe im sozialen Netzwerk Facebook startete, auf deren Internetseite bis Ende Mai über 360.000 mal der "gefällt mir"-Button gedrückt wurde. Ende März hat er dann gemeinsam mit 15 jungen Menschen formell ein Kollektiv gegründet, von denen inzwischen auch der 23-jährige Student Pablo Padilla, der als Sprecher auftritt, und der Webdesigner Manuel Jesús Román bekannt geworden sind. Auch für die Initiatoren überraschend fanden sich am Demonstrationssonntag des 12. Mai in 50 Orten Spaniens rund 130.000 vor allem Jugendliche und Studenten zusammen. Sie riefen "Wähle sie nicht!" und "Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankern". Etwa 100 Menschen haben dann spontan in Madrid auf dem Platz "Puerta del Sol" übernachtet, der in der Nacht von der Polizei geräumt wurde. Ab dem nächsten Tag kamen mehr Menschen auf den Platz und eröffneten unter dem Motto "Nehmt Euch den Platz" ein Zeltlager und sagten "Yes we camp!". Die Bilder und die Atmosphäre auf diesem Platz, die dann in den nächsten Tagen entstanden, erinnerten uns sehr an das, was einige Monate vorher in Kairo auf dem "Tahrirplatz" geschehen war. Ist also der arabische Frühling in Europa angekommen? Die Wut sitzt tief bei den Jugendlichen, sie sehen ihre Anliegen im Zweiparteiensystem Spaniens nicht repräsentiert und beklagen Arbeitslosigkeit, Korruption und das Wahlsystem.

Die Zeltstadt und die Massendemonstrationen sollten zuerst bis zum Wahlsonntag am 22. Mai 2011 weitergehen, aber die Wahlbehörde hat am Freitag vorher sämtliche für das Wochenende angekündigten Demonstrationen verboten, weil sie den Ablauf der Wahlen gefährden und Wähler beeinflussen könnten. Aber die Menschen wollten bleiben, im Notfall passiven Widerstand leisten. Und tatsächlich haben sich in Madrid 20.000 Menschen dem Verbot widersetzt und haben den beginnenden "Tag des Nachdenkens", den das spanische Wahlgesetz vorsieht, in Madrid um punkt Mitternacht mit einem "stummen Schrei" begonnen. Und sie blieben am Wahltag, welche der im Land regierenden Sozialistischen Partei ein Wahldebakel brachte. Sie blieben auch darüber hinaus, denn sie beschlossen am Wahltag ihre Demonstrationen im ganzen Land fortzusetzen. Und obwohl die Behörden die Räumung der Zeltlager angekündigt hatten, gingen die "acampadas", die Protestcamps in mehr als einem Dutzend Städten weiter. "Wenn ihr uns nicht mehr träumen lässt, hören wir einfach auf zu schlafen!", stand auf Plakaten und auch über Spanien hinaus gingen Jugendliche auf die Strassen. In Madrid wuchs und organisierte sich eine "ganz normale Stadt" auf dem "Puerta del Sol" und an 60 weiteren Orten gab es solche Camps. Beobachter waren in diesem "historischen Moment" fasziniert von der Ernsthaftigkeit und dem "unmöglichen Realismus" der Menschen auf den Plätzen.


Yes we camp!

Am Freitag 27. Mai wurde dann in Barcelona ein Protestcamp, das 200 Menschen 12 Tage lang auf dem zentralen Platz "Plaza de Cataluña" aufgeschlagen hatten, durch die Polizei unter Einsatz von Schlagstöcken und Gummigeschossen gewaltsam geräumt. Als Begründung wurde angegeben, das der Platz gereinigt und gefährliche Gegenstände entfernt werden sollten, weil der Platz am Samstag eventuell für eine Siegesfeier nach einem Fussballspiel des FC Barcelona gegen Manchester United benötigt würde. Bei dieser Räumung wurden mehr als 120 Personen verletzt. Umgehend gab es auch viele Videos der schweren Zusammenstösse auf youtube zu sehen. Nachdem der Platz geräumt war, strömten die Empörten zurück und wurden unterstützt von vielen tausend Bewohnern. Demonstranten stellten sich Reinigungsfahrzeugen in den Weg und riefen "Wir haben keine Angst" und verteidigten ihre Zeltlager. "No nos vamos" ("Wir gehen hier nicht weg"). Yes we camp! Sie sind geblieben in vielen Städten des Landes, und Beobachter der Ereignisse staunen über das, was sich da an neuer politischer Kraft mit "sanfter Wut" bildet und sprechen von der schönsten Generation Spaniens.


Neue Struktur?

In Spanien stellt sich jetzt die Frage, wie lange die Protest-Camps an den verschiedenen Orten noch weitergehen (können), insbesondere angesichts wohl zunehmender Klagen von Händlern und Räumungsdrohungen von staatlicher Seite. So diskutieren die Protestierenden an vielen Orten in Spanien in Stadtteilversammlungen, wie es weiter gehen soll und suchen nach Wegen, die Versammlungen durchzuführen. In Madrid wurde etwa am Sonntagabend (29. Mai) auf einer Vollversammlung von mehreren tausend Menschen entschieden, weiter zu campieren, bis sich die "Stadtteilversammlungen als neue Struktur-Bewegung" etabliert hätten...

(Quelle: www.echt-demokratie-jetzt.de)


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 21/22/2011 - 67. Jahrgang - 10. Juni 2011,
Extrabeilage der Empörten, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2011