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VORWÄRTS/751: Das Volk will den Sturz des Marschalls


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.27/28/2011 vom 22. Juli 2011

Das Volk will den Sturz des Marschalls

Von Michi Stegmaier


In den letzten Tagen und Wochen haben sich die Proteste in Ägypten wieder ausgeweitet. Seit dem 8. Juli sind vielerorts Plätze besetzt, Strassen blockiert und es kommt immer mehr zum offenen Bruch mit dem Militär. Viele sprechen schon von der zweiten Revolution.


"Das Volk will den Sturz des Feldmarschalls", hallt es landauf und landab durch Ägypten. Der Feldmarschall, das ist General Tantawi, Chef des "Obersten Rates der Streitkräfte" (SCAF). Enttäuscht über den schleppenden Reformprozess und darüber, dass viele Vertreter des alten Regimes weiterhin an der Macht kleben, richtet sich die Wut immer offener gegen das Militär. Rund 30 Oppositionsgruppen riefen deshalb am Freitag, 8. Juli zum "Marsch der Millionen" und eine Woche später zum "Freitag der letzten Warnung" auf. Ob in Alexandria, Assuit, Port Said, Mansoura oder Ismailiya. Überall sind am 8. Juli wieder Millionen Menschen auf den Strassen. Und sie bleiben. Viele zentrale Plätze sind seither wieder besetzt. So auch der Tahrir-Platz in Kairo, einer von vielen Schauplätzen der ägyptischen Revolution.


Revolutionäres Volksfest

Trotz der unerträglichen Hitze von über 40 Grad im Schatten ist der Tahrir-Platz am 8. Juli schon gegen Mittag brechend voll. Grosse Sonnensegel werden gespannt, viele haben Regenschirme gegen die Bruthitze dabei und überall wird Wasser und Essen verteilt. Dieses Mal sind es keine spontanen Proteste, sondern eine gut durchorganisierte Aktion des zivilen Ungehorsams. Es gibt Zelte für Kinderbetreuung, mobile Krankenstationen, Konzertbühnen, ein Anti-Gerüchte-Zelt, Anlaufstellen für Frauen, die belästigt wurden. Ebenso werden zahlreiche Workshops in erster Hilfe, für Verhaftete oder in der Entscheidungsfindung angeboten. Gegen Abend, wenn es wieder etwas milder wird und der kochend heisse Asphalt sich abkühlt, strömen noch mehr Menschen auf den Tahrir, unter ihnen viele ältere Menschen und Familien mit Kindern. Man umarmt sich, es wird zu Revolutionsliedern geklatscht und gesungen, Sprechchöre der Ultras gegen die Polizei skandiert und immer wieder ziehen Spontandemos vom Platz los. Bis in die frühen Morgenstunden wird gelacht und diskutiert. Und es werden täglich mehr, die abends über den Tahrir flanieren und die entspannte Atmosphäre in sich aufsaugen. Eine Bloggerin schreibt, dass es fast so scheint, als ob alle nur darauf gewartet hätten, wieder dieses kribbelnde Gefühl der Ungezwungenheit und Gemeinsamkeit zu fühlen. Der gute Groove, er wird auch die nächsten Tage bleiben.

Völlig überrumpelt und schockiert über die Dynamik der neuen Proteste tut der SCAF vor allem eins, er hüllt sich in Schweigen. Während Tagen gibt es keinerlei Statements vom Obersten Militärrat zur neuen Protestwelle. Hilflos müssen die Generäle mit ansehen, wie sich die Wut nun immer mehr gegen sie selbst richtet und ihre Macht und ihre Rolle während der Revolution in Frage gestellt werden. Und das aus gutem Grund, rund 40 Prozent der ägyptischen Wirtschaft werden von den Generälen kontrolliert. Immobiliengeschäfte und der Tourismus haben in den vergangenen Jahren Milliarden in die Taschen der Generäle gespült. Schliesslich bricht der SCAF sein Schweigen und General Fangary tritt am 12. Juli vor die Kameras. Wütend verliest Fangary ein Communiqué des SCAF, gestikuliert wild mit seinem Zeigefinger, droht unverhohlen den Demonstrierenden und sagt, dass der Militärrat weder an die Verschiebung der Wahlen noch an die Abgabe der Macht denke. Im ersten Moment sind viele über die Ignoranz des SCAFs geschockt und fühlen sich in die Zeit Mubaraks zurückversetzt. Gerüchte über einen bevorstehenden Angriff der Armee auf den Tahrir-Platz machen die Runde. Doch es kommt anders und gegen Abend strömen noch viel mehr Menschen auf den Tahrir als die Tage zuvor. Ein paar Stunden später sieht sich der SCAF genötigt, zurück zu krebsen. Westliche Medien berichten, dass die Wahlen gemäss einem "ranghohen Militär" nun doch verschoben würden. Schon am nächsten Tag gibt der SCAF bei seiner ersten Pressekonferenz überhaupt bekannt, dass innert einer Woche das Kabinett umgebildet, 582 ranghohe Polizisten und zahlreiche Generäle, die für den Tod vieler Demonstrierender verantwortlich gemacht werden, entlassen würden. "Zu spät, zu spät", schallt es durch die Strassen.


Schwere Kämpfe in Suez

Der Suez-Kanal bringt Ägypten Milliarden ein. Alleine im ersten Halbjahr 2011 belaufen sich die Einnahmen für die Durchfahrt durch den Suez-Kanal auf 2,5 Milliarden Dollar. Und er ist eine wichtige Lebensader für den globalisierten Kapitalismus. Schon vor der ägyptischen Revolution war der Suez-Kanal eine militärische Hochsicherheits- und Sperrzone. Seit den Revolutionstagen Ende Januar kam Suez nie wirklich zur Ruhe. Nirgendwo waren die Proteste heftiger und gab es mehr Tote als in Suez. Auch jetzt wieder. Während es in den meisten Städten in den vergangenen Tagen relativ ruhig blieb, gab es in Suez schwere Kämpfe. Nachdem Suez von den RevolutionärInnen für unabhängig erklärt und streikende Hafen- und FabrikarbeiterInnen drohten, den Suez-Kanal dicht zu machen, räumte das Militär gewaltsam den zentral gelegenen Arbeen-Platz. Es kam die ganze Nacht hindurch zu schweren Kämpfen mit mindestens drei Toten. In den frühen Morgenstunden wurde der Arbeen-Platz erneut besetzt. Ein Sprecher des "SuezYouth Bloc" berichtet von schweren Misshandlungen von sechs Verhafteten durch die Militärpolizei. Als Reaktion auf die Streiks und Blockaden wurden zusätzlich mehrere tausend Soldaten nach Suez entsandt und Angehörige der 3. ägyptischen Armee sichern unterdessen den Kanal sowie Banken und Regierungsgebäude in Suez. Augenzeugen berichten von einer Geisterstadt, ausgebrannten Regierungs- und Polizeigebäuden. Aus dem arabischen Frühling wird ein heisser Sommer. Nicht nur in Ägypten. Die Demonstrierenden wollen die Camps erst wieder räumen, wenn ihre Forderungen erfüllt werden. Erste weitreichende Zugeständnisse hat der SCAF gemacht, ob die greisen Generäle damit ihre Ärsche retten, darf bezweifelt werden. Die Generäle und der SCAF, sie haben nicht begriffen, wie sehr die Revolution die Menschen verändert hat. Es sind nicht mehr die gleichen passiven Menschen, die sich einschüchtern lassen und jeden Quatsch, welcher das staatliche Fernsehen verzapft, einfach so schlucken. Die Angst, sie ist weg. Die Menschen, sie wissen, was sie erreicht haben und was sie erreichen können, wenn sie gemeinsam auf die Strasse gehen. Diese Erfahrung und dieses Wissen kann ihnen niemand nehmen. Das letzte Wort ist in Ägypten noch lange nicht gesprochen.


7 HAUPTFORDERUNGEN

Die Proteste in Ägypten sollen weitergehen bis folgende sieben Hauptforderungen erfüllt sind:

1.) Die sofortige Freilassung aller Zivilisten, die von einem Militärgericht verurteilt wurden sowie ein neues Verfahren vor einem Zivilgericht. Militärgerichte für Zivilisten müssen vollständig abgeschafft werden.

2.) Ein Sondergericht soll geschaffen werden, um die anzuklagen, die wegen der Morde an Protestierenden während der Revolution vom 25. Januar beschuldigt werden. Alle beschuldigten und verdächtigen Polizeioffiziere sollen umgehend suspendiert werden.

3.) Der jetzige Innenminister muss abgesetzt und durch einen Beauftragten der Zivilgesellschaft ersetzt werden. Danach müssen Plan und Zeitplan der Restrukturierung des Innenministeriums angekündigt und das Ministerium unter juristische Aufsicht gestellt werden.

4.) Die Absetzung des amtierenden Generalstaatsanwaltes und die Ernennung einer respektierten und unabhängigen Person an seiner Stelle.

5.) Hosni Mubarak und die Mitglieder seiner Clique müssen für die politischen Verbrechen, die sie gegen Ägypten und seine Bevölkerung begangen haben, vor Gericht gestellt werden.

6.) Das jetzige Budget muss zurückgewiesen und ein neuer Budgetvorschlag erstellt werden, der den Grundbedürfnissen der Armen Rechnung trägt. Der neu zu erstellende Vorschlag muss zur öffentlichen Debatte gestellt werden, bevor er angenommen wird.

7.) Die klare und offene Abgrenzung der Rechte und Vorrechte des Obersten Militärrates (SCAF) um sicherzustellen, dass seine Macht nicht mit der Macht und den Rechten und Vorrechten des Kabinetts kollidiert. Der Premierminister soll die alleinige Macht haben, Mitglieder des Kabinetts zu benennen, sobald das Kabinett von Anhängern des alten Regimes gesäubert ist.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28/2011 - 67. Jahrgang - 22. Juli 2011, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2011