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VORWÄRTS/765: Die Empörten der Schweiz


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.37/38 vom 21. Oktober 2011

Die Empörten der Schweiz

von Siro Torresan


Am Samstag, 15. Oktober besetzten rund 1.200 Personen friedlich und stimmungsvoll das Symbol des Schweizer Kapitalismus: den Zürcher Paradeplatz. Es war ein tolles Event, doch von einer "Bewegung" kann nicht gesprochen werden, da kaum Direktbetroffene mobilisiert werden konnten. Auch fehlen eine Koordination und die (politischen) Perspektiven.


Eines steht fest: Wäre am weltweiten Protesttag gegen die Banken und das Finanzkapital der Zürcher Paradeplatz nicht besetzt worden, wäre es schlicht peinlich gewesen. Der "Piraten-Platz", wie er treffend von einem langjährigen Gewerkschafsaktivisten umgetauft wurde, ist das Herz und der Motor des Schweizer und somit auch des globalen Kapitalismus. Hier stehen die Hauptsitze zweier international tätigen, kriminellen Vereinigungen. In ihren Tresoren türmen sich Milliarden von Dollar, Franken und Euro, welche die Reichen noch reicher machen sollen. Hier muss der gute Bertolt Brecht gestanden haben, als er sinngemäss die Frage aufwarf: Was ist schlimmer, eine Bank auszurauben oder eine zu gründen?


Ein Event mit vielen Fragen

Die Besetzung verlief sehr friedlich, wie es zu erwarten war. Sie war bunt, stimmungsvoll, fröhlich und voller Lebensfreude. Die Zahl der TeilnehmerInnen hat zwar die Erwartungen nicht übertroffen, aber voll und ganz erfüllt. Die Tatsache, dass am Abend eine tolle Party stattfand und gut 50 Personen auf dem Platz übernachteten - trotz der bitteren Kälte - rundete die Besetzung wunderbar ab und beweist, dass der Event ein Erfolg war. So weit alles bestens.

Doch die Tatsache, dass die Besetzung ein Event war, führt direkt zur Frage: wie weiter? Die "Jungen Grünen" schreiben in ihrer Medienmitteilung: "Die heutige Besetzung war der Auftakt für längerfristige, politische Aktionen zum Stopp des Kasino-Bankings." Bei allem Respekt, doch hier scheint - getrieben vom Enthusiasmus des Moments - der Wunsch Vater des Gedankens zu sein. Von den gut 1.200 Menschen auf dem "Piraten-Platz", war sicher die Hälfte in Parteien, Jungparteien, politischen Gruppierungen und Gewerkschaften organisiert. Sie werden kaum viel Energie in eine "Bewegung" stecken, die als Aushängeschild ihre Abneigung zu Parteien hat und am liebsten keinerlei politische Symbole wie Fahnen von politischen Organisationen an der Besetzung gehabt hätte.

Dann fehlt der "Bewegung" jegliche Koordination, geschweige denn eine Struktur. Es ist zu bezweifeln, dass aus der Besetzung viele neue und engagierte AktivistInnen gewonnen werden können, welche die zwingend nötige aber äusserst schwierige Aufbauarbeit leisten. Dies aus zwei einfachen Gründen: Erstens ist die Zahl der TeilnehmerInnen an der Besetzung in Zürich innert 24 Stunden von 1.200 auf 50 geschrumpft. Kein Vergleich mit Madrid oder Washington, wo die Zahl der Protestierenden in den Anfangstagen praktisch stündlich wuchs. Zweitens ging die ganz grosse Mehrheit der Menschen, die am Samstag auf dem Paradeplatz waren, am Montag wieder ihrer mehr oder weniger geregelten und sicheren Arbeit nach, oder an die Uni. Sie sind alle zu recht empört über die Krise, aber lange nicht so betroffen wie die Empörten in Spanien, Griechenland oder den USA. Direktbetroffene wie Arbeitslose, IV-BezügerInnen, Woorking-Poors und Sans-Papiers gab es herzlich wenig auf dem Paradeplatz. Will die Bewegung eine Gefahr für die Banken und das Finanzsystem werden, muss sie zwingend die Betroffenen der Krise mobilisieren können. Oder anders gesagt: Während in anderen Ländern die Bewegung oft auch von Direktbetroffenen der so genannten Mittelschicht mitgetragen wird, ist diese in der Schweiz noch(?) zu wenig stark von der Wirtschaftskrise geschröpft. Die Empörung der Mittelschicht ist hier noch (?) nicht so gross, damit sie sich auf die Hinterbeine stellt und den Paradeplatz so besetzt, dass "die da oben" zitternde Knie kriegen. Eine Bewegung ohne Direktbetroffene ist schlicht ein anderes Wort für etwas Undefiniertes und Loses, das Stellvertreterpolitik betreibt. Und das Schlimme daran ist, dass die "Bewegung" dann nicht mal genau weiss, für wen sie Stellvertreterin spielen soll. Immerhin stehen Parteien, politische Gruppierungen und Gewerkschaften für gewisse Schichten und Klassen in der Gesellschaft ein.


Im engen Rahmen geblieben

Und die Linke und die "Bewegung"? Mit Verlaub seien jene in der Bewegung, die Parteien und politische Gruppierungen so "uncool" finden, daran erinnert, dass die marxistisch-revolutionäre und die autonome Linke spätestens seit dem Erscheinen des Büchleins mit dem Titel "Das Manifest der Kommunistischen Partei" sich für die Menschen und nicht für die Banken einsetzen. Trotzdem darf die "Bewegung" nicht gesnobt werden. Man muss sich als radikale Linke mit ihr auseinandersetzen und in Kontakt bleiben. Die Aufgabe ist es dabei, immer wieder die Systemfrage zu stellen und die Mechanismen des Grundübels, sprich des Kapitalismus, aufzuzeigen. Denn der "Bewegung" hier in der Schweiz - aber nicht nur - fehlt jede politische Analyse und Perspektive, die über die bestehende Finanzdiktatur und das kapitalistische Herrschaftssystem hinausgeht.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38/2011 - 67. Jahrgang - 21. Oktober 2011, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2011