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VORWÄRTS/783: Gorleben nach Mühleberg


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 45/46/2011 vom 23. Dezember 2011

Gorleben nach Mühleberg

von Michi Stegmaier


Zwar hat die Schweiz eine lange Tradition des Widerstandes gegen die Atomlobby und die Kernenergie, tatsächlich hat in den vergangenen Jahren die Anti-Atomkraftbewegung stark an Elan verloren. Erst der Super-Gau von Fukushima führte anfangs Jahr zu einer Wiederbelebung der Bewegung und temporärem Erwachen aus der Totenstarre.


Vor allem in der Region Bern formierte sich nach Fukushima breiter Widerstand gegen den Schrottmeiler Mühleberg und so erlebte die Anti-Atomkraftbewegung eine Renaissance: Das illegale AKW-Ade-Camp während 77 Tagen auf dem Berner Viktoriaplatz, der grösste Schülerstreik seit Jahren, Protest-Picknicks vor dem BKW-Hauptsitz, Mahnwachen, Spontandemos und lautstarke Proteste brachten die Betreiber des AKW Mühleberg in arge Bedrängnis und die Bewegung zurück auf die Strasse. Vor allem viele Jugendliche beteiligten sich an den Protesten, politisierten sich und gingen das erste Mal auf die Strasse. Aus den bewegten Berner Wochen ist der Dokumentarfilm "77 Tage sind nicht genug" entstanden, der anfangs Dezember das erste Mal einem breiteren Publikum vorgestellt wurde. Aber auch sonst wurden 2011 klare energiepolitische Akzente gesetzt. So nahmen über 20.000 AtomkraftgegnerInnen am 22. Mai am "Menschenstrom gegen Atom" teil und setzten ein klares Zeichen für einen sofortigen Atomausstieg.


Damals und heute

Vor allem zwischen 1975 und 1979 erreichte die Anti-Atomkraftbewegung in der Schweiz ihre goldene Zeit. Dies macht sich auch heute noch am Umstand bemerkbar, dass bei jeder bierseligen Diskussion die jüngeren GenossInnen mit Geschichten aus den guten alten Zeiten gefoltert werden. Ihren Höhepunkt erreichte die Bewegung am 1. April 1975 mit der Besetzung des Geländes, welches in Kaiseraugst für den Bau eines Kernkraftwerkes vorgesehen war. Damals gingen die politischen Forderungen weit über grüne Anliegen hinaus. Ob jetzt klassenkämpferische Töne, mehr Mitspracherecht für den Bürger bei Grossprojekten, Profitgier der Atomlobby oder ökologische Zivilisationskritik, unter dem Dach der Kernkraftgegner fanden die verschiedensten politischen Strömungen zusammen. Aber einmal mehr rächte sich der eigene Erfolg. Kurz nach Kaiseraugst kam es zum Bruch innerhalb der Anti-Atombewegung. Während der gemässigte Flügel vor allem auf den politischen Weg setzte und (erfolglos) mehrere Initiativen zum Atomausstieg lancierte, radikalisierte sich die ausserparlamentarische Linke und griff zu militanten Mitteln, um so den Atomausstieg zu erzwingen.


Kurzer Fukushima-Effekt

Gründe für die fehlende Kontinuität der Schweizer Anti-AKW-Bewegung mag es viele geben, wobei eine der Hauptursachen sicher beim verkürzten Demokratieverständnis vieler NGO's liegt. Spendengelder und Lobbying werden in der Schweiz weitaus höher bewertet als der Aufbau einer Basisbewegung oder des regionalen Widerstands. Desweitern gelang es in den letzten 30 Jahren der Anti-AKW-Bewegung nicht, anders als in Wendland, den Widerstand über die verschiedenen ideologischen Gräben hinweg, regional nachhaltig zu verankern. Gerade bei der lokalen Bevölkerung in der Schweiz fehlt es oft an der nötigen Sensibilität für die Risiken solcher Anlagen. Mag sein, dass da auch ein gutes Stück Verdrängung mitspielt. Es ist allzu verständlich, dass jemand, der ein Atomkraftwerk direkt vor seiner Nase hat, sich nicht tagtäglich mit dem Restrisiko beschäftigen mag, bestehen bleibt das Undenkbare trotzdem. Vom Fukushima-Effekt hingegen blieb schon bei den Nationalrats- und Ständeratswahlen diesen Herbst nur noch wenig übrig. Das bekamen auch die "Grünen" schmerzlich zu spüren. Der erhoffte Fukushima-Effekt blieb aus und aus dem einkalkulierten Erdrutschsieg und Träumereien von einem grünen Bundesrat wurde letztendlich nichts. Zwar hat die offizielle Schweiz den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen, aber mit den obligatorischen Hintertürchen, die jederzeit den Ausstieg aus dem Ausstieg erlauben. Gute Gründe, um auch weiterhin wachsam zu bleiben.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 45/46/2011 - 67. Jahrgang - 23. Dezember 2011, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2012