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VORWÄRTS/803: Die ägyptischen Ultras


vorwärts - die sozialistische Zeitung, Nr.07/08 vom 24. Februar 2012

Die ägyptischen Ultras

Von Michi Stegmaier


Sie nennen sich "White Knights, "Red Devils", "Hawks" oder "Green Magic. Obwohl noch sehr jung - die meisten Ultras-Gruppen existieren erst seit 2007 - sind sie heute aus den Stadien und dem den gesellschaftlichen Leben in Ägypten nicht mehr wegzudenken. Und sie zählten und zählen zu den wichtigsten Akteuren der ägyptischen Revolution.


Nach dem Massaker von Port Said vom 1. Februar 2012 wurden die Ultras und ihre Rolle während der ägyptischen Revolution wieder in den Fokus weltweiter Aufmerksamkeit gerückt. Wie die gesamte arabische Region, ist auch Ägypten ein fussballverrücktes Land. König Fussball geniesst gesellschaftlich einen extrem hohen Stellenwert. In den vergangenen Jahren hat sich eine lebendige Fankultur in Ägyptens Stadien etabliert, wo es wohl derzeit wenige Kurven auf der Welt gibt, die da mithalten können. Für den westlichen Betrachter durchaus ein Phänomen, das erstaunt und überrascht. Gerade in einer Gesellschaft, die allgemein als sehr wertkonservativ und rückständig gilt. Und doch haben es die Ultras geschafft, sich in wenigen Jahren zu etablieren. Sie sind wohl die einzig existierende Subkultur Ägyptens. Selbst die in der arabischen Welt verbreitete Rap-Szene fristet im Nilland ein Mauerblümchendasein. Anders die Ultras. Nebst den Moscheen waren die Stadien einige der wenigen Orte, bei denen es dem Mubarak-Regime nie gelang, sie unter Kontrolle zu bringen. "Die Ultras haben eine Wichtigere Rolle gespielt als alle politischen Parteien", meinte etwa der bekannte ägyptische Blogger und Aktivist Alaa Abd El Fattah gegenüber "Al Jazeera" vor einem guten Jahr. Und ergänzte damals scherzhaft: "Vielleicht sollten die Ultras das Land regieren." Damit spielte El Fattah vor allem auf die organisierten Fans der beiden Kairoer Traditionsclubs "Al Ahly SC" und "Zamalek SC" an. Sie gehören zu den zivilgesellschaftlichen Akteuren, die schon seit Jahren mit dem Mubarak-Regime auf Kriegsfuss standen. Ihr couragiertes Auftreten während den ersten Revolutionstage Ende Januar 2011 ermutigte viele ÄgypterInnen, sich den Protesten auf der Strasse anzuschliessen und die beklemmende Mauer der Angst zu durchbrechen.


Stadion als Freiraum

Die bekannteste ägyptische Fangruppe sind die Zamaleker "Ultras White Knights". Sie gehören zu den Vorreitern der ägyptischen Fankultur, inspirieren mit ihren Choreografien und Slogans andere Fanclubs und gelten als die bestorganisierte Kurve am Nil. Auf ihren weissen Kapuzenpullis steht der Slogan "kämpfe, arbeite, lerne". Die ägyptischen Ultras orientieren sich stark an der italienischen Tifosi-Fankultur und saugen alles, was irgendwie mit Fussball und Fankultur zu tun hat, gierig auf. James Dorsey, bekannter Sportjournalist und Autor des Blogs "The Turbulent World of Middle East Soccer", wertet den Fussball und die damit verbundenen Subkulturen als "neben dem Islam und den Moscheen, [einzigen] Ort, wo sich die Menschen organisieren und ihren Ärger und Frust abbauen konnten". Gerade für viele junge Ägypter sind die Stadien ein Freiraum, wo sie sich austoben, kollektiv organisieren und für ein paar Stunden dem grauen Alltag und der Armut entfliehen können. Längst ist der Fussball in Ägypten keine blosse Männerdomäne mehr. So haben eine Handvoll Frauen schon vor der Revolution die "Ultras Girls Zamalek" gegründet. Obwohl die ägyptische Ultras-Szene selbst noch sehr jung ist, blickt die ägyptische Fussballfankultur auf eine lange Geschichte von Strassenkämpfen mit der Polizei sowie Rivalität mit anderen Clubs zurück.


Die "Roten" und die "Weissen"

Legendär und berüchtigt sind die Kairoer Derby zwischen den beiden populärsten Vereinen der ägyptischen Premierleague: Den Roten und Weissen, wie sie wegen der Vereinsfarben genannt werden. Die Rivalität zwischen Al Ahly und Zamalek ist so gross, dass das Derby jeweils in einem neutralen Stadion ausgetragen und von einem ausländischen Schiedsrichter geleitet werden muss. Beide gehören zu den erfolgreichsten Vereinen des afrikanischen Klubfussballs. Al Ahly wurde 34-mal ägyptischer Meister und gewann sechsmal die afrikanische Champions League. Zamalek gewann den nationalen Titel 14-mal sowie fünfmal den Pokal der Meister. Die Rivalität zwischen den beiden Vereinen reicht zurück bis in die britische Kolonialzeit, und beide Clubs haben eine interessante Entstehungsgeschichte. Al Ahly, was soviel wie "national" bedeutet, wurde 1907 von Studenten gegründet und hatte eine starke antikolonialistische Ausrichtung. So galt schon damals Al Ahly als Verein der Ägypter und des einfachen Mannes, wo der Widerstand gegen das britische Empire koordiniert wurde. Die Mitgliedschaft war ausschliesslich Ägyptern vorbehalten und die rote Vereinsfarbe erinnert an die alte ägyptische Flagge. Vier Jahre darauf wurde von britischen Offizieren der Verein Zamalek gegründet. Rasch erfreute sich der Club bei vielen in Ägypten lebenden Ausländern grosser Beliebtheit und wurde von Qasr al-Nil (der Nilpalast) in Al-Mohtalet (das Gemisch) umbenannt, eine Anspielung auf die verschiedenen Nationalitäten, welche sich mit dem Zamalek SC verbunden sahen. 18 Jahre nach der Unabhängigkeit von Grossbritannien wurde der Club zu Ehren Königs Farouk erneut umbenannt. Seinen heutigen Namen erhielt der Verein erst 1952: Er ist nach dem Kairoer Viertel benannt, wo der Verein beheimatet ist. Bis heute haftet Zamalek zwar das Image des Clubs der Reichen, der Monarchisten und Kolonialherren an, inwiefern das aber noch zutrifft, ist sehr fraglich.


Sammelbecken der Unzufriedenen

So waren es vor allem die Zamalek Ultras, welche am 25. Januar letzten Jahres zuvorderst in Richtung Tahrir marschierten und sich in den Kampf stürzten. Auch viele der eingefleischten Aktivistinnen sind glühende Anhänger von Zamalek. Ein Widerspruch? Nicht wirklich. Die Verhältnisse haben sich ins Gegenteil gekehrt und viele Supporter von Zamalek sagen, dass Al Ahly der Verein des Establishments sei und man als Supporter der "Weissen" eine besondere Sensibilität für Ungerechtigkeit und korrupte Verbandsfunktionäre entwickeln würde. Für die Regierung und den ägyptischen Fussballverband war der Club stets ein Feind. Eine der vielen Anekdoten um die beiden Vereine erzählt, dass immer, wenn der Schiedsrichter auf Biegen und Brechen einen Sieg von Al Ahly herbeipfiff, man in ganz Ägypten wusste, dass es am nächsten Tag eine Benzin- und Lebensmittelpreiserhöhung geben wird. Während Al Ahly als Verein des einfachen Mannes und der Religiösen verstanden wird, gilt Zamalek mittlerweile vor allem als Sammelbecken für die, welche ihren Unmut mit der Regierung zum Ausdruck bringen. Wie schon vor einem Jahr, begruben die beiden verfeindeten Gruppen nach Port Said ihr Kriegsbeil und stehen wieder gemeinsam, Seite an Seite, und rufen zum Sturz des Militärregimes auf.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische Zeitung.
Nr. 07/08/2012 - 68. Jahrgang - 24. Februar 2012, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2012