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VORWÄRTS/809: Demokratie à la genevoise


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.13/14 vom 23. März 2012

Demokratie à la genevoise

Von Siro Torresan und Alexander Eniline



Mit über 53 Prozent haben die StimmbürgerInnen im Kanton Genf einer Verschärfung des Demonstrationsrechts zugestimmt, das die Freiheitsrechte verletzt, zutiefst ungerecht und antidemokratisch ist. Doch das letzte Wort soll jetzt vom Bundesgericht gesprochen werden.

Die Schweiz: Die älteste, stabilste und am weitesten entwickelte Demokratie der Welt? Dieser nationale Mythos hat sich am 11. März im Kanton Genf durch die Annahme des neuen Demonstrationsgesetzes noch ein Stück weiter von der Realität entfernt.

In der offiziellen Abstimmungsbroschüre behauptet die Kantonsregierung, das neue Gesetz ziele nur darauf ab, "das Risiko von Ausschreitungen zu reduzieren, unter gleichzeitiger Gewährleistung der Versammlungsfreiheit, die im Artikel 22 der Bundesverfassung garantiert wird". Das ist schlichtweg gelogen. Denn diese Gesetzesverschärfung, die aus der Feder des Kantonsparlamentariers und zukünftigen Genfer Generalstaatsanwalts Olivier Jornot stammt, zielt in Tat und Wahrheit darauf ab, das Demonstrationsrecht so weit zu beschränken, dass es faktisch einem Demonstrationsverbot gleichkommt. Olivier Jornot war 1990 Pressesprecher der rechtsextremen Genfer Partei "Vigilance", die sich kurz danach auflöste. Dann wechselte er zu den Liberalen.


Tür und Tor offen für die Willkür

Die Rechte führte ihren Abstimmungskampf unter dem Slogan "wer kaputtmacht zahlt". Eine glatte Lüge. Denn unter dem Vorwand, Sachbeschädigungen vorzubeugen, enthält das neue Gesetz unverhältnismässige Massnahmen und Sanktionen, die der Willkür Tür und Tor öffnen und schliesslich nur die Organisatoren, nicht aber die Randalierer bestrafen. Die Organisatoren sollen unter Androhung strafrechtlicher Konsequenzen gezwungen werden, einen eigenen Ordnungsdienst zu stellen. Ausserdem sieht das Gesetz vor, dass das "Justiz-, Polizei- und Sicherheitsdepartement" (DPSE) eine Demonstrationsgenehmigung "verweigert", falls es das Risiko als "disproportional" einschätzt, dass es zu Ausschreitungen kommen könnte. Die Einschätzung solcher Risiken wird dabei dem Gutdünken und der Willkür der Polizei überlassen. Es gibt weder objektive Kriterien noch die Möglichkeit, den Entscheid anzufechten.

Im Falle einer nicht bewilligten Demonstration oder beim kleinsten Verstoss gegen die Auflagen können die Organisatoren zu einer Geldstrafe von bis zu 100.000 Franken (10.000 Franken im alten Gesetz) verurteilt werden. Weiter kann das DPSE den Organisatoren im Falle von schwerer Sachbeschädigung oder der Gefährdung von Personen für eine Zeitspanne von einem bis fünf Jahren jegliche weitere Demonstrationsgenehmigung verweigern. Dies selbst dann, wenn die Organisatoren nicht für die Sachbeschädigungen verantwortlich sind. Diese letzte Bestimmung ist besonders schwerwiegend. Insgesamt werden Bedingungen geschaffen, die so restriktiv sind, dass es so gut wie unmöglich ist, das Demonstrationsrecht in Anspruch zu nehmen.

Im Vorfeld der Abstimmung behauptete die Kantonsregierung, sie würde nur in "Extremfällen" Gebrauch vom neuen Gesetz machen und dabei stets die Verhältnismässigkeit wahren und die demokratischen Rechte respektieren. Doch die gängige Praxis des DPSE nach dem alten Gesetz zeigt ein komplett anderes Bild: Eine Versammlung von drei Personen im öffentlichen Raum galt und gilt weiterhin als "unbewilligte Demonstration" und kann gebüsst werden. So sind beispielsweise drei UNIA-Mitglieder zu einer Strafe von zehn Tagessätzen verurteilt worden, weil sie Flugblätter vor einem Restaurant verteilten. Die Gewerkschaft VPOD, die ihre Bewilligung anlässlich einer Demonstration von streikendem Spitalpersonal um 15 Minuten überzog, wurde zu einer Strafe von 230 Franken verdonnert. Auch dem Gewerkschafter Paolo Gilardi wurde eine Geldstrafe von voraussichtlich 230 Franken aufgebrummt, weil er sich auf der "Place de la Fusterie" mit Journalisten unterhielt, um die UBS anzuprangern. Es gibt daher allen Grund zur Annahme, dass die Anwendung des neuen die Kriminalisierung von sozialen Bewegungen verstärken wird.


Im Widerspruch zur Bundesverfassung

Die Bundesverfassung garantiert die Meinungs- und Redefreiheit und das Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen. Jegliche Einschränkung von Grundrechten muss durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt und verhältnismässig sein. Die Verfassung legt ausserdem fest, dass der Kerngehalt der Grundrechte unantastbar ist. Es ist offensichtlich, dass das neue Demonstrationsgesetz diese von der Bundesverfassung garantierten und für einen demokratischen Rechtsstaat grundlegenden Prinzipien und Rechte verletzt. Die SP Genf hat im Januar die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) um ein Gutachten zum Gesetzesentwurf gebeten. In der ersten Antwort der OSZE und des BDIMR (Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte) kam klar zum Ausdruck, dass das neue Demonstrationsrecht gegen drei von der "Europäischen Kommission für Demokratie" festgelegte Prinzipien verstösst. Erstens darf die Aufrechterhaltung der Sicherheit unter keinen Umständen den Organisatoren einer Demonstration obliegen, sondern ausschliesslich der Polizei. Zweitens dürfen die Organisatoren nicht für die Handlungen Dritter und für Sachbeschädigungen, an denen sie nicht beteiligt waren, zur Rechenschaft gezogen werden. Anderenfalls würden die Organisatoren zu einem einfachen Ziel für jene werden, die ihnen Schaden zufügen wollen. Und drittens wird die Möglichkeit, den Organisatoren eine Bewilligung für mehrere Jahre aufgrund von von Dritten begangenen Sachbeschädigungen zu verweigern, als unverhältnismässig bezeichnet. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich in diesem Sinne dazu geäussert.

Nach all diesen klaren Aussagen waren die GegnerInnen des neuen Demonstrationsrechts nach der Abstimmungsniederlage natürlich sehr enttäuscht, aber nicht entmutigt. Sie schreiben in ihrer Medienmitteilung: "Wir führen den Kampf weiter, auf der Strasse, in den Parlamenten und vor dem Bundesgericht." Man darf gespannt sein, wie dem Bundesgericht diese "démocratie à la genevoise" mundet.

Alexander Eniline ist Politischer Sekretär der Pda Genf

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 13/14/2012 - 68. Jahrgang - 23. März 2012, S. 4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2012