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VORWÄRTS/821: Der Evergreen "Lohnschere"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 19/20/2012 vom 11. Mai 2012

Der Evergreen «Lohnschere»



tho. Die Einkommens- und Lohnschere öffnet sich seit den 1990ern in der Schweiz zusehends. Dies belegt eine aktuelle Studie des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Um diese Entwicklung einordnen und über den blossen Befund hinausgehen zu können, muss man einen Blick auf die Entwicklungsgesetze des Kapitals werfen.


Eine Woche vor dem 1. Mai legte der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) eine aktualisierte Version seines Verteilungsberichtes vor. Dieser zeigt, dass die Einkommensungleichheiten in der Schweiz «dramatische Ausmasse» angenommen haben. Im hohen Einkommenssektor hat eine Familie mit zwei Kindern 2010 am Jahresende real 15.000 Franken mehr zur freien Verfügung als zehn Jahre zuvor. Die selbe Familienkonstellation mit einem tiefen Einkommen hat bloss 1.300 Franken zusätzlich. Ein alleinstehender Normalverdiener hat 2010 sogar 1.300 Franken weniger zum Leben als noch 2000. Dies vor allem wegen den steigenden Krankenkassenprämien und Wohnungsmieten. Zwar haben in der Krise die höchsten Einkommen - etwa wegen ausbleibender oder gekürzter Boni - etwas eingebüsst, aber der allgemeine Trend ist damit keineswegs umgekehrt. Die Lohn- und Einkommensschere spreizt sich zusehends. Bei den höchsten Löhnen sei jedes Mass verloren gegangen, so SGB-Präsident Paul Rechsteiner. Schuld sei aber auch die Steuerpolitik: So entlaste etwa die Unternehmenssteuerreform II, die Steuereinbussen bis zu 7,5 Milliarden Franken nach sich zieht, vor allem AktionärInnen, die dies gar nicht nötig hätten. Der SGB resümiert im Bericht: «Die Einkommens- und Lohnschere ist seit den 1990er-Jahren eines der grössten wirtschaftspolitischen Probleme in der Schweiz».


Klassenkampf von oben

Die goldene Zeit des Kapitalismus, die vom Ende des Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 70er Jahre andauerte und den proletarischen Massen eine zunehmende Anteilnahme am gesellschaftlichen Reichtum in Aussicht stellte, ist längst passé. Auch sie war näher betrachtet für den grössten Teil der ArbeiterInnen nicht viel mehr als das Versprechen auf ein Leben harter Arbeit mit Kühlschrank, Abwaschmaschine und Kleinwagen. Doch selbst dieser nicht sonderlich verführerische Traum sollte sich in den 70er Jahren aufzulösen beginnen. Mit den sinkenden Profitraten des Kapitals kam dieses in Zugzwang und versuchte, die Raten über einen generalisierten Angriff auf die Arbeitskräfte zu sanieren. Der sogenannte neoliberale Angriff ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen und nicht etwa einfach eine böse Idee niederträchtiger PolitikerInnen. Der SGB-Bericht spricht davon, dass sich diese Politik der Umverteilung in England und den USA unter Thatcher und Reagan in den 80ern verschärfte, und dass das kontinentale Europa ab den 90er Jahren zunehmend betroffen war. Die strukturelle Krise des Kapitalismus hat also in seinem offenen Ausbrechen die obersten Einkommensklassen kurzfristig etwas nach unten korrigiert, aber sie ist auch die Ursache dafür, dass die unteren und mittleren Einkommen zunehmend unter Druck kamen und kommen. Nur in diesem Zusammenhang versteht man, wie sich die Zwänge der kapitalistischen Akkumulation vermittelt durch WirtschaftsführerInnen und PolitikerInnen durchsetzen und die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen angegriffen werden. Und nur so erkennt man auch, wie stark die Kämpfe von unten sein müssen, um diese Tendenzen abbremsen oder kurzfristig gar umkehren zu können.


Kapital und Lohn

Die Studie spricht auch davon, dass 2008 etwa 2,6 Prozent der Bevölkerung 50 Prozent des gesamten Vermögens besassen und die Schweiz damit eines der ungleichsten Länder weltweit ist. Es ist jene Minderheit, die die Einkommensschere ins schier unermessliche aufspreizt. Das Vermögen dieser Menschen ist zum allergrössten Teil deckungsgleich mit dem Geld, das im Wirtschaftsprozess angelegt ist. Ihr Geld ist Kapital und als solches wirft es Gewinn ab, ob nun als Rente, Zins oder industrieller Profit. Die normalen ArbeiterInnen dagegen verbrauchen in der Regel den grössten Teil ihres Geldes für den Lebensunterhalt. Sie müssen tagtäglich ihre Arbeitskraft wieder für einen Lohn verkaufen. Sie sind es aber, die den ganzen Reichtum schaffen, auch wenn das an der Oberfläche der Gesellschaft verschleiert ist. Es kann nicht darum gehen, mittlere und tiefe Löhne abzugleichen oder innerhalb der Arbeiterklasse eine Lohnschere zu bedauern. Zwar kann man die Managersaläre skandalisieren - auch wenn damit niemandem geholfen ist -, aber letztlich muss man den Widerspruch zwischen den ArbeiterInnen und dem Kapital auf die Tagesordnung der Kämpfe setzen.


Anteile am gesamten Vermögen in der Schweiz 2008

Die Vermögensverteilung verschiebt sich auch in den letzten zehn Jahren zu Gunsten der Reichsten:

Reichsten (1 Prozent) - 39 %
Ärmste (90 Prozent) - 26 %
Restliche (9 Prozent) - 35 %

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 19/20/2012 - 68. Jahrgang - 11. Mai 2012, S. 3
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2012