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VORWÄRTS/853: Italien - "Der gewollte Krieg unter den Armen"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 31. August 2012

Italien: "Der gewollte Krieg unter den Armen"

von Siro Torresan



Im Gespräch mit den Menschen in Italien wird klar, wie schlecht es vielen geht und wie sich die Situation von Jahr zu Jahr verschlechtert. Oder wie kann der Zustand eines Landes bezeichnet werden, indem die Eltern den Schulkindern das WC-Papier und die Seife mitgeben müssen, weil es sich die Schule nicht mehr leisten kann?


Ich sitze gemütlich auf der Terrasse der Bar "8 Miles" an der Strandpromenade von Schiavonea in Kalabrien. "Willst du wissen, wie es um Italien steht", fragt mich mein Tischnachbar nachdem er erfahren hat, dass ich in der Schweiz lebe. Ohne meine Antwort abzuwarten, stellt sich der etwa 40jährige Mann als Roberto vor und sagt: "Die Sache ist ganz einfach: Nicht mal mehr die Zigeuner kommen zu uns!" Ich schaue ihn an und erwarte nun eine rassistische Hasstirade über ZigeunerInnen und AusländerInnen, über die ich mich dann den ganzen Tag ärgern werde - dabei hat der sonnige Tag so schön und friedlich begonnen. Doch zu meinem Erstaunen: "Schuld an der Misere sind die Politiker, und zwar alle. Glaub mir, hier in Italien sind sie alle gleich geworden, egal ob links, rechts oder von der Mitte. Sie alle sind eine Bande von Lügnern und Betrügern". Der gute Mann kommt in Fahrt: "Meine Frau und ich arbeiten beide. Wir sind daher privilegiert, darin besteht kein Zweifel. Gemeinsam kommen wir auf ein Einkommen von weniger als 1500 Euro (1800 Franken) netto im Monat. Damit können wir gerade mal die laufenden Kosten decken. Auswärts eine Pizza essen gehen mit unseren beiden Kindern liegt nicht mehr drin!" Er macht eine kurze Pause und fügt dann hinzu: "Das Problem bei vielen Familien ist, dass es trotz zwei Einkommen kaum bis zum Monatsende reicht". Roberto erklärt eine wichtige Ursache der Krise: "Bevor der Euro vor zehn Jahren eingeführt wurde, kostete eine Pizza Margherita maximal 4000 Lire, was damals knapp 2 Euro ausmachte. Heute kriegst du die gleiche Pizza nicht unter 4 Euro, also das Doppelte. Aber die Löhne, die sind gleich geblieben wie vor zehn Jahren." Und die Löhne sind oft mies, sehr mies: Maria-Antonia (34) arbeitet in einem Call-Center. Wie so viele auch sie schwarz, sprich ohne Vertrag. Sie kommt auf einen Stundenlohn von knapp 5 Euro. "Nach der Trennung von meinem Mann musste ich mit meiner Tochter wieder zu meinen Eltern ziehen. Ich kann mir unmöglich eine eigene Wohnung leisten." Gianni (29) hat einen Uni-Abschluss und ist Kellner in einer Bar in der Piazza. Natürlich auch er ohne Arbeitsvertrag. Er hat den Job für die drei Monate der Sommersaison bekommen und verdient 600 Euro netto im Monat. "Ich arbeite neun bis zehn Stunden am Tag ohne einen freien Tag bis Ende August. Immerhin habe ich für die drei Sommermonate einen Job gefunden", sagt er mir. Danach? "Keine Ahnung. Mal schauen was kommt."


Die Volksschule zu Tode gespart

Am Strand komme ich mit meiner Sonnenschirm-Nachbarin Rosa ins Gespräch. Sie ist die Mutter von Giovanna, die gerade mal einen Tag älter als meine Tochter ist. Die beiden neunjährigen Mädels vergnügen sich im Wasser. "Vor gut einem Jahr musste Giovanna zum Augenarzt. Da hatte ich zwei Möglichkeiten", erklärt mir Rosa und ihre Wut wird richtig spürbar dabei: "Entweder ich warte ein Jahr lang auf einen Termin, der über die staatliche Grundversicherung abgerechnet wird, die ich über einen monatlichen Lohnabzug mitfinanziere, oder ich bezahle 300 Euro in bar und kriege so den Termin innerhalb einer Woche. Selbstverständlich beim selben Augenarzt!" Kurz darauf kommt unser Gespräch auf das Thema Schule. "Die Volksschule haben sie komplett ruiniert, bewusst zu Tode gespart", sagt Rosa. "Stell dir vor, ich muss meiner Tochter am ersten Schultag 500 weisse Blätter für die Fotokopien, eine Seife, das WC-Papier und 15 Euros mitgeben". Sie verwirft genervt ihre Hände, schüttelt den Kopf und fügt an: "Nicht mal das Geld für das WC-Papier stellt der Staat zur Verfügung. Ist das nicht irre? Mit den 15 Euro der Kinder haben sie letztes Jahr die technische Anlage im Singsaal geflickt, die seit zwei Jahren kaputt war." Rosa macht eine kurze Pause und bringt dann die Sache auf den Punkt: "In Italien herrscht der gewollte Krieg unter den Armen. Das ist das Resultat von 20 Jahren Berlusconi und diesen Politikern, die eh alle eine Bande von Gauner und Betrüger sind."

LügnerIn und BetrügerIn sind die häufigsten Bezeichnungen über die PolitikerInnen. Sie sind für viele Menschen die Schuldigen an der Krise und nicht mehr die AusländerInnen, wie es noch bis vor einem Jahr so oft in den Gesprächen der Fall war - immerhin und vielleicht ein kleiner Hoffnungsschimmer in den schwer dunklen Zeiten in "bella" Italia.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32/2012 - 68. Jahrgang - 31. August 2012, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2012