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VORWÄRTS/922: Marx' Manifest


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 26. April 2013

Marx' Manifest

Von Peter Streckeisen



Vor 165 Jahren hat Marx das "Manifest der Kommunistischen Partei" geschrieben. Macht es heute noch Sinn, den Klassenkampf durch diese Brille zu betrachten? Mit dieser Frage setze ich mich im letzten Beitrag der Marx-Reihe auseinander.


Der erste Teil des "Manifests" ("Bourgeois und Proletarier") lässt die Geschichte vom Mittelalter bis zur "unvermeidlichen" proletarischen Revolution im Zeitraffer vor unseren Augen ablaufen wie ein genial geschriebenes Theaterstück. Da tritt die Bourgeoisie auf die Bühne, sie revolutioniert alle gesellschaftlichen Zustände und "schafft sich eine Welt nach ihrem eignen Bilde". Sie spielt eine "höchst revolutionäre Rolle", produziert aber mit der Zeit "vor allem ihren eignen Totengräber": das Proletariat. Dieses tritt als geknechtete Klasse auf die Bühne, bevor es Schritt für Schritt den Kampf ums nackte Überleben in einen politischen Klassenkampf verwandelt, der dem Kapitalismus das Ende bereitet.


Symptomale Lektüre

Marx gelingt es auf wenigen Seiten eindrücklich, den Gedanken greifbar zu machen, die Geschichte sei eine "Geschichte von Klassenkämpfen" und jede historisch neue Gesellschaftsformation gehe aus Widersprüchen und Kämpfen der vorigen Epoche hervor. Seine dichte und raffinierte Erzählung erzeugt allerdings den Eindruck einer politischen Gewissheit oder historischen Notwendigkeit, der sich bald schon als Illusion erweisen sollte. Marx lässt nämlich alle Aspekte bei Seite (oder spielt deren Bedeutung runter), die der Entwicklung eines revolutionären Klassenbewusstseins im Wege stehen oder den Ausgang des politischen Kampfs ungewiss machen. Wenn wir das "Manifest" lesen, ist es daher ratsam, im Sinne einer "symptomalen Lektüre" (L. Althusser) nach den Punkten zu fragen, zu denen Marx schweigt oder Antworten gibt, ohne die entsprechende Frage richtig gestellt zu haben.


Klassen-Bildung

Marx lässt die Klassen "wie ein Mann" auftreten, als ob es selbstverständlich wäre, dass sie als Einheiten handeln können. Er verweist auf die Notwendigkeit der "Bildung des Proletariats zur Klasse", wirft aber nicht ernsthaft die Frage auf, ob und/oder zu welchem Preis es zu einem solchen Subjekt überhaupt "gebildet" werden kann. Sicher ist nur, dass für ihn die KommunistInnen dabei eine zentrale Rolle spielen, denn "sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus". Marx beschreibt die KommunistInnen also wie Intellektuelle, ohne auf das Klassenverhältnis zwischen den Intellektuellen und dem Proletariat einzugehen. Zwischen den Zeilen wird klar, dass "Klassenbildung" nicht nur eine Frage der Organisierung, sondern auch der Erziehung ist. Aber das "Manifest" schweigt zum Problem des Avantgardismus, das heisst der politischen Herrschaft linker Intellektueller über weniger "gebildete" Fraktionen des Proletariats, die der Emanzipation zum Hindernis werden kann (siehe den letzten Beitrag dieser Reihe).


"Wirklich revolutionär"

Im "Manifest" ist das Proletariat die einzige "wirklich revolutionäre Klasse", etwa im Gegensatz zu den Handwerkern oder Bauern. Diese Gewissheit beruht für Marx auf der Einschätzung, es habe im Kapitalismus "nichts zu verlieren als seine Ketten". Doch bereits damals hatten die Proletarier Job und Einkommen zu verlieren. Heute kommt in den Zentrumsländern oft das Ersparte hinzu, ein Auto und ein Haus, sowie öffentliche Dienste und Sozialleistungen. Auf weltweiter Ebene ist die ArbeiterInnenklasse hingegen mehrheitlich ein "informelles Proletariat" geworden, das nicht auf dieselbe Weise im Lohnarbeitsverhältnis ans Kapital "gekettet" ist wie die FabrikarbeiterInnen des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus stellt sich grundsätzlich die Frage, ob einzelne Klassen revolutionär oder konservativ "sind", wie wenn eine politische Natur den Klassen-Menschen eingeschrieben wäre. Als Erich Fromm und sein Team vom Frankfurter Institut für Sozialforschung in der Zwischenkriegszeit begannen, das tatsächliche Bewusstsein der ArbeiterInnen und Angestellten empirisch zu erforschen, kam dies einem marxistischen Tabubruch gleich: Anstatt sich auf den Glauben an das "revolutionäre Subjekt" zu verlassen, warfen sie einen nüchternen Blick auf die Realität. Das Ergebnis war erschütternd und liess die kommende faschistische Gefahr realistischer einschätzen.


Von "Weibern" und Indern

Ganz selbstverständlich handelt es sich im "Manifest" bei den "Totengräbern der Bourgeoisie" um Männer. Frauen werden etwas ausführlicher nur im Abschnitt über Familie und Ehe thematisiert, in dem Marx andeutet, der Kommunismus könnte "an Stelle einer heuchlerisch versteckten eine offizielle, offenherzige Weibergemeinschaft einführen". Marx' Verschweigen der Frauen als politische Subjekte lässt sich nicht kompensieren, ohne die Geschlechterverhältnisse als Schlüsseldimension der kapitalistischen Gesellschaft und des Klassenkampfs systematisch in den Blick zu nehmen (das grosse I der ArbeiterInnenklasse reicht nicht). Sofern diese Dimension nicht auf die Frage der Lohnarbeit von Frauen verkürzt wird, lässt sie sich nicht in das marxsche Theaterstück aufnehmen, ohne dessen Dramaturgie durcheinander zu bringen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich zudem, dass im "Manifest" eine rein westliche Sicht zum Ausdruck kommt. Die Argumentation beruht auf einer Analyse der europäischen Geschichte, die sich nur um den Preis einer Komplizenschaft mit der westlichen Kolonialpolitik zum Modell für die ganze Welt machen lässt. So wie Marx 1853 in Zeitungsartikeln über Indien die britische Kolonialpolitik als historisch progressive Kraft beschrieb, konnten sich ein halbes Jahrhundert später die marxistischen ImperialismustheoretikerInnen (Lenin, Hilferding, Luxemburg u.a.) kaum vorstellen, andere Kräfte als das europäische Proletariat könnten der Menschheit den Weg in die Zukunft weisen.


Inspiration und Kritik

Das "Kommunistische Manifest" ist und bleibt ein höchst inspirierender Text. Wir kommen nur schon deswegen nicht an einer Diskussion darüber vorbei, weil es unsere eigene politische Geschichte so stark geprägt hat. Aber suchen wir im genialen Theaterstück nicht einfache Gewissheiten, sondern stellen wir Marx Fragen zu den Punkten, über die er schweigt oder zu rasch hinweg geht. So können wir die Lektüre des "Manifests" zum Anlass nehmen, um über die Geschichte der Linken ebenso kritisch nachzudenken wie über den Kapitalismus, in dem wir 165 Jahre nach Marx' Ankündigung der "unvermeidlichen Revolution" immer noch leben.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16 - 69. Jahrgang - 26. April 2013, S. 14
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2013