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VORWÄRTS/942: Taksim ist überall


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 vom 21. Juni 2013

Taksim ist überall

von Maurizio Coppola



Die am 27. Mai begonnenen Mobilisierungen gegen ein Raumplanungsprojekt in Istanbul haben sich zu einer landesweiten Bewegung gegen die Regierung Erdogan ausgeweitet. Die Proteste wurzeln tief in der Gesellschaftsstruktur der Türkei. Vom "Modell" für die arabischen Länder hat sich das Land nun selbst zum Brennpunkt einer emanzipatorischen Bewegung gewandelt.


Der Gezi-Park auf dem Taksim-Platz, dem wohl wichtigsten Platz Istanbuls, sollte einem Kaufhaus weichen. Diese Umnutzung gehört zu einem breiteren Raumplanungsprojekt von Erdogans Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), das die Stadt modernisieren und erdbebensicher machen soll. Seit 2003 an der Macht, ist Erdogan bekannt dafür, seine Politik mit "eiserner Faust" und ohne Rücksicht auf Gegenstimmen durchzusetzen. Die koloniale Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung ist das bekannteste Beispiel dafür. Auch die aktuellen Verhandlungen für eine "friedliche Lösung" ändern nichts daran.

Bei den Ende Mai ausgebrochenen Protesten handelt es sich um die wichtigste Bewegung seit der Machtergreifung Erdogans. Es war die Polizeigewalt (Wasserwerfer, Tränengas, Tod von mindestens vier Personen) als Reaktion auf den Protest gegen das Raumplanungsprojekt, die zu einer Ausweitung der Bewegung gegen die autoritäre Politik der Regierung auch auf andere Städte geführt hat. Zudem zeigt die Beteiligung kämpferischer Gewerkschaften, dass es hier - wie beim arabischen Frühling - um mehr als nur um einen Park geht.


Für ein Recht auf Stadt

Das Raumplanungsprojekt der Regierungspartei AKP beinhaltet wichtige Bauprojekte, die unter dem Deckmantel der "Erdbebensicherheit" die Stadt Istanbul im internationalen Wettbewerb Standortvorteile verschaffen soll. Dazu gehört die allgemeine Ausrichtung der Stadt an den Bedürfnissen des Autoverkehrs, des Tourismus und der "Sicherheit". Der neue Taksim-Platz wird zahlreiche Fussgängerzonen in Autotunnels verwandeln, so dass der Platz im Herzen Istanbuls sich kaum mehr für öffentliche Versammlungen oder Demonstrationen eignen wird. Er wird zu einem Ort, an dem Touristen Fotos schiessen, um anschliessend in den grossen Kaufhäusern shoppen zu gehen.

Ende Mai hat auch der Bau der dritten Brücke über den Bosporus begonnen. Wird der Bau der Brücke tatsächlich vollendet, wird die Entwaldung der Stadt und somit die Urbanisierung weitergeführt. Vor allem der Norden der Stadt wird von weiteren grossen Bauprojekten betroffen sein, was zu einer Verdrängung von Menschen aus bezahlbaren Gebieten führt. Zahlreiche Vereine und Organisationen bekämpfen für ein "Recht auf Stadt" seit Jahren diese Projekte.


Ökonomische Entwicklung und Arbeitskämpfe

Die Bewegung fordert aber nicht nur ein "Recht auf Stadt", der Bezug auf die ArbeiterInnenbewegung ist ebenso zentral. Die ökonomische Entwicklung der Türkei orientiert sich stark an Zentralasien. Im Osten des Landes baut die Regierungspartei AKP Sonderwirtschaftszonen (Logistik, Kommunikation, Textil) auf, um für das Kapital die besten Investitionsbedingungen zu garantieren: Niedrige Löhne, keine gewerkschaftlichen und sozialen Rechte und massive Steuerbegünstigungen für die Unternehmen. Der Südwesten des Landes hingegen zieht grosse westliche Unternehmen an, welche die Produktion aus Europa auslagern. So besitzen beispielsweise FIAT und Pirelli in Bursa wichtige Produktionsstätten.

Die Tatsache, dass der gewerkschaftliche Block DISK (Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei) ihre Mitglieder nun dazu aufgerufen hat, die Besetzung des Taksim-Platzes zu unterstützen, weist nicht nur auf die Bedeutung des Platzes für die jährlichen 1. Mai-Demonstrationen hin. Die Gründung von DISK 1967 ist selbst das Resultat der Mobilisierungen durch ArbeiterInnen in den 60er und 70er Jahren. Die Basis dieser Klassengewerkschaft stammt aus der Minen-, Ernährungs- und Metallindustrie. DISK stellt einen wichtigen Bruch mit den offiziellen Gewerkschaftsstrukturen dar, die stark korporatistisch mit den Regierungen zusammenhängen. Am 15. und 16. Juni 1970 (DISK zählte damals bereits 500.000 Mitglieder) wurde ein Massenstreik ausgerufen, Strassen besetzt und Brücken und Häfen blockiert. Die Bewegung konnte nur mittels einer Militärintervention gestoppt werden. 1977 setzte die Polizei an der 1. Mai Demonstration auf dem Taksim-Platz 14 Tonnen Wasser gemischt mit Tränengas ein, um die DemonstrantInnen und ihre Forderungen in die Schranken zu weisen. Einige ArbeiterInnen starben, hunderte wurden verletzt.

Die Vereinigung der Gewerkschaften des Personals öffentlicher Dienste - bestehend aus elf Gewerkschaften und 240 000 ArbeiterInnen - hat auf Anfang Juni zu einem zweitägigen Streik im öffentlichen Dienst ausgerufen, um damit die regierungskritischen Demonstrationen zu unterstützen. Er hat den "Staatsterror gegen die Massendemonstrationen" verurteilt.

Die Verbindung von Arbeitskämpfen und den Forderungen der Gezi-Park BesetzerInnen wurde auch bei einer Aktion der 1300 ArbeiterInnen der Turkish Airlines, die sich seit dem 15. Mai 2013 im Streik befinden, ersichtlich. Sie fordern die Wiedereinstellung entlassener ArbeiterInnen und bessere Arbeitsbedingungen. Dies beweist, dass die Bedeutung der Solidarität kämpferischer Gewerkschaften über einen symbolischen Charakter hinausgeht. Sie reiht sich in eine längere Mobilisierung gegen Ausbeutung und Unterdrückung sowie gegen eine arbeiterInnenfeindliche Praxis der Regierungen ein.


Vom "Arabischen Frühling" zum "Türkischen Sommer"

Als 2011 in den arabischen Ländern der "arabische Frühling" ausbrach, haben unter anderen auch "linke" KommentatorInnen auf die Türkei als "Modell" für die arabischen Länder hingewiesen. Auf der Basis einer laizistischen Verfassung und mit einem moderaten "islamischen" Präsidenten könne die Wirtschaft unter Respekt traditioneller Normen und Bräuche in Richtung Beschäftigung und Prosperität gesteuert werden. Der Ausbruch des "Türkischen Sommers" hat nun zentrale Forderungen zusammengebracht, die soziale Bewegungen seit langem auf den Taksim-Platz bringen: die Gleichheit von Mann und Frau, die Rechte der Homosexuellen, die Anerkennung des Genozids an den ArmenierInnen 1915, das Ende des kurdischen Konflikts, die Abschaffung der Wehrpflicht und die Rechte der ArbeiterInnen.

In Tunesien hat die Selbstverbrennung eines jungen Strassenhändlers zu einer breiten Bewegung für Brot, Gerechtigkeit und Unabhängigkeit und zum Sturz von Ben Ali geführt. In Ägypten wurden auf dem Tahrir-Platz selbstermächtigte Strukturen erprobt und Mubarak musste dem Druck der Strassen weichen. Es bleibt abzuwarten, ob sich die "erdbebensicheren" Raumplanungsprojekte der Regierung Erdogan halten können oder ob die emanzipatorischen Proteste des Taksim-Platzes zu einer revolutionären Bewegung anwachsen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24/2013 - 69. Jahrgang - 21. Juni 2013, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2013