Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/957: Italien - Umbrüche in der Logistik


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 13. September 2013

Italien: Umbrüche in der Logistik

von Maurizio Coppola



ÄgypterInnen, MarokkanerInnen, TunesierInnen und Bengali: Sie sind die Arbeitskräfte, die in Italien täglich mehrere Tonnen Waren ein- und ausladen. Der italienische Logistiksektor konzentriert sich auf die Regionen Mittelitaliens. Das Wachstumspotential der Branche ist enorm. Damit erhöhen sich auch die ArbeiterInnenmacht und die Möglichkeit sozialer Auseinandersetzungen.


Für die Tage des 22. März, des 15. Mai und des 8. Juni riefen die LogistikerInnen, unterstützt von den Basisgewerkschaften (Si Cobas - Sindacato Intercategoriale Cobas - Lavoratori autorganizzati), zu Generalstreiks im Sektor auf. Diese Generalstreiks, die sich auf einen Tag beschränkten, bildeten die Basis einerseits einer Vernetzungsarbeit zwischen den Lagerhäusern der unterschiedlichen Logistikgenossenschaften in der Region Emilia Romagna, wo sich die Mehrheit der Lagerhäuser konzentrieren, andererseits der Politisierung dieser Menschen.


Eine Wachstumsbranche

Zurzeit beschäftigt der italienische Logistiksektor 460.000 vornehmlich prekarisierte ArbeitsmigrantInnen. Werden die vor- und nachgelagerten Bereiche der Logistik dazu gezählt, beziffert sich die Beschäftigtenzahl auf 1 Million ArbeiterInnen. Mit 200 Milliarden Euro Umsatz jährlich macht die Branche 13 Prozent des italienischen Bruttoinlandprodukts aus. 100.000 Unternehmen sind in der Branche tätig.

Anfang Januar 2012 wies der unter der technokratischen Regierung Monti agierende Infrastruktur- und Transportministier Corrado Passera darauf hin, dass Reformen in der Logistikbranche zur strategischen Priorität Italiens gehören. Ein "kompetitives System" könne bis zu 2 Millionen ArbeiterInnen aufsaugen. Ganz so einfach können diese Entwicklungen jedoch nicht angestossen werden. Zurzeit ist die Logistik auf den europäischen Konsum orientiert, der aufgrund der anhaltenden Krise kaum wachsen wird. Darum werden sich die Unternehmen am Export in die aufstrebenden Märkte orientieren müssen, auf denen die Nachfrage nach Gütern bedeutender ist.


Die "neue ArbeiterInnenklasse

Würden in absehbarer Zeit die Reformen in der Logistikbranche tatsächlich starten, bedeutete dies eine massive Proletarisierung. Prekarisierte ArbeiterInnen aus dem Maghreb und den arabischen Ländern bilden heute die überwältigende Mehrheit der Beschäftigten im Sektor. Doch auch die von der massiven Arbeitslosigkeit betroffenen süditalienischen ArbeiterInnen würden als industrielle Reservearmee fungieren, wie dies auch schon in den Tomatenplantagen Kalabriens der Fall ist. Gerade im sizilianischen Termini Imerese, wo die Schliessung eines Fiat-Werkes 1500 ArbeiterInnen arbeitslos gemacht hat, soll nun ein logistischer Pol entstehen, welcher von der EU subventioniert wird.


Die falschen Kooperativen

Heute werden die Profite über die Beschleunigung des Produktionsprozesses und die Ausbeutung der rationalisierten Arbeit generiert. Diese Prozesse basieren auf dem System der Genossenschaften, welches seine Ursprünge der gegenseitigen Hilfe vollständig verloren hat und nun zum Wegbereiter der Deregulierung der Arbeit geworden ist. Die Beteiligung als GenossenschafterIn ist eine regelrechte Farce: Die ArbeiterInnen sind gezwungen, einen bestimmten Betrag als "Beteiligung" an der eigenen Ausbeutung einzuzahlen. Genossenschaften sind zudem nicht gezwungen, tarifvertragliche Bestimmungen einzuhalten und für die LogistikerInnen hat die Bezeichnung "GenossenschafterIn" statt "ArbeiterIn" zur Folge, dass sie im Falle von Entlassungen das Recht auf vollständige Arbeitslosenentschädigung verlieren. Als GenossenschafterInnen tragen sie jedoch die ökonomischen Risiken mit, ohne in den Genossenschaftsversammlungen überhaupt eine Entscheidungsmacht zu haben. Die Genossenschaften stellen das letzte Glied der Produktionskette dar. Die Mechanismen gleichen denjenigen der Werkverträge: Die Auftraggeber, also die produzierenden Unternehmen, vergeben die logistischen Dienstleistungen an Zweite, die wiederum die Tätigkeiten in den Lagerhäusern an Dritte vergeben. Diese Dritten sind meist die Genossenschaften, die äusserst wettbewerbsfähige Dienste dank den tiefen Preisen der Arbeitskraft gewährleisten.


Widerstand formiert sich

Auf der Basis dieser materiellen Produktionsbedingungen haben sich im Frühjahr Widerstandbewegungen formiert, die in Streiks gemündet sind. Im April kündigten einige im Grossraum Bologna und Modena tätige Genossenschaften Lohnkürzungen von 35 Prozent aufgrund eines angeblichen "Krisenzustandes" an. 41 ArbeiterInnen haben daraufhin gestreikt und forderten neben dem Lohnerhalt die Anerkennung des nationalen Tarifvertrags. Die Genossenschaften reagierten mit Entlassungen und unbefristeter Freistellung. Der Konflikt spitzte sich zu, Blockaden und Streikposten wurden errichtet, Demonstrationen und Boykott-Initiativen organisiert. Nach 70 Tagen konnten die Streikenden erreichen, dass die Monate, während denen die ArbeiterInnen "entlassen" waren und dagegen gekämpft hatten, rückwirkend bezahlt wurden. Zudem sollte ein Teil der Entlassenen ab September wieder eingegliedert werden. Während der Mobilisierung wurde zu drei eintägigen Generalstreiks im ganzen Logistiksektor aufgerufen.


Und die Gewerkschaften?

Die Frage der gewerkschaftlichen Repräsentanz stellte sich auch in diesen Arbeitskämpfen. Die CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro) hat sich politisch schon lange zurückgezogen und akzeptiert die Entwicklungen in der Logistikbranche fast schon als "natürliche Gegebenheiten". Die UGL (Unione Generale del Lavoro), eine korporativistische Gewerkschaft, die aus den neofaschistischen Gruppen gewachsen ist, hat mit den Genossenschaften ein Abkommen zur Anerkennung des "Krisenzustandes" und somit der Lohnkürzungen unterzeichnet. Die Basisgewerkschaft Si Cobas hingegen hat von Anfang Fan, die kämpfenden LogistikerInnen unterstützt, schlussendlich aber auch ein Abkommen mit den Genossenschaften unterzeichnet. Der nationale Koordinator der Si Cobas argumentiert folgendermassen: "Wir haben unterschrieben, weil wir gezwungen waren. Wir hätten keine weiteren Streikposten mit über 50 ArbeiterInnen ohne Lohn unterstützen können. Unsere Streikkasse ermöglicht dies nicht. Darum haben wir dieses Abkommen unterzeichnet, das uns aber nicht zufrieden stellt. Die Blockaden und die Streiks werden ab September wieder aufgenommen, falls nicht alle Entlassenen wieder eingestellt werden."

Der nationale Koordinator fügt hinzu, dass die Tatsache, dass überhaupt Verhandlungen haben stattfinden können, die Gewerkschaft gestärkt habe. Durch Verhandlungen und Abkommen hat die Si Cobas somit erreicht, dass sie als Verhandlungspartnerin anerkannt wurde. Doch für die ArbeiterInnen ist das Ziel eines Streiks nicht die Verhandlung, sondern das zu erreichende Resultat. Die Si Cobas sieht sich in der heutigen Situation gezwungen, die Verhandlung als solche zu gewichten und als Gegenseite anerkannt zu werden. Ob die Logistik-ArbeiterInnen diese Form der gewerkschaftlichen Repräsentanz akzeptieren, hängt stark vom Verlauf der zukünftigen Kämpfe ab.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32/2013 - 69. Jahrgang - 13. September 2013, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2013