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VORWÄRTS/968: Die Geburtsstunde einer neuen Landwirtschaft


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.37/38 vom 25. Oktober 2013

Die Geburtsstunde einer neuen Landwirtschaft

Von Mathias Stalder



Das Netzwerk Solidarische Landwirtschaft (SoLawi) bereitet den Boden für eine neue Agrikultur jenseits der Marktwirtschaft vor. Bereits vierzig Höfe zählen in Deutschland dazu.


Die Grundidee in knappen Worten: Ein Hof versorgt die Menschen in seinem Umfeld mit Lebensmitteln. Die Menschen stellen die nötigen finanziellen Mittel durch die Vorfinanzierung der Betriebskosten und der Abnahmegarantie für ein Jahr. Du bezahlst also nicht die eigentlichen Produkte vom Hof, sondern die tatsächlichen Kosten des Betriebes inklusive einem sicheren Einkommen der ProduzentInnen. In der Regel werden in sogenannten Bieterrunden die Beiträge festgesetzt, so kann auch die finanzielle Lage jedes Einzelnen berücksichtigt werden. Im Gegenzug teilt sich die Gemeinschaft die Ernte: Gesunde frische Lebensmittel aus ökologischer und regionaler Produktion. Veikko Heintz vom Netzwerk Solidarische Landwirtschaft schreibt in einem Beitrag für die Seite "Plan B" der LINKEN in Deutschland: "Solidarische Landwirtschaft greift schon jetzt voraus, wie eine landwirtschaftliche Produktion in einer herrschafts- und ausbeutungsfreien utopischen Gesellschaft umgesetzt werden wird."


Landwirtschaft für Menschen, nicht für Märkte

Wie der Markt funktioniert hat mir Tex Tschurtschenthaler vom Vertragslandwirtschaftsprojekt Ortoloco in Zürich so erklärt: "Stell dir vor, du stehst in der Küche und bäckst ein Brot. Nun willst du es noch mit Sonnenblumenkernen bestreuen und du streust diese grosszügig im ganzen Raum in der Hoffnung, dass einige Kerne auf das Brot fallen." Wie absurd dieser Markt ist, verdeutlicht die eigentliche Wegwerfwirtschaft: Coop und Migros entsorgen alleine 5000 Tonnen Brot pro Jahr. Ein Drittel der Lebensmittel weltweit geht verloren oder landet auf dem Abfall. Der Markt führt zu immer billigeren Preisen, zur Ausbeutung des Bodens, der Tiere und der Menschen. Der Boden selber wird zum Spekulationsobjekt. "Die Herstellung von Grundnahrungsmitteln ist an das Vorhandensein der Ressource Boden gebunden. Boden kann man zwar zerstören, aber nicht wegtragen und in menschlichen Lebenszeiträumen nicht wieder herstellen. Das ist der grundlegende Unterschied zu Produktionsgütern, für die die Marktwirtschaft eigentlich erfunden wurde", sagt Stephanie Wild, Mitinitiantin des Netzwerkes SoLawi.

Im Zentrum steht also nicht nur die ökologische und gesunde Ernährung, sondern zugleich eine gerechte wirtschaftliche Basis für die Produktion von Lebensmitteln. Die solidarische Landwirtschaft schafft eine basisdemokratische Form von Produktion und Verteilung, eine Bedarfswirtschaft von unten. Genauso wie Fragen des kollektiven Eigentums aufgeworfen und gelebt werden, wird praktisches Wissen auf den Höfen kollektiviert, mit beiden Füssen auf dem Boden und den Händen in der Erde.


Zur Geschichte

Die ersten Partnerschaftshöfe, sogenannte Teikei, entstanden in den 60er Jahren in Japan. In den 80er Jahren breitete sich das Konzept unter dem Begriff "Community-supported agriculture" in den USA aus, wo inzwischen rund 2500 Höfe bestehen. In der Schweiz begann die Kooperative "Les jardins de Cocagne" erstmals 1978, mittlerweile gibt es rund vierzig Projekte in der Schweiz, die allerdings mehrheitlich den Begriff Vertragslandwirtschaft für sich verwenden. Inzwischen gibt es Gemeinschaftshöfe in Italien, Portugal, Frankreich, Belgien und Spanien. In Frankreich versorgen rund 750 Kooperativen an die 90.000 Menschen. In Deutschland sind es aktuell 40 Solidargemeinschaften, Tendenz steigend.

Im Rahmen des Frühlings-Netzwerktreffens Anfang März 2013 auf dem Schloss Tempelhof in Deutschland konnte ich viele engagierte Menschen und Diskussionen erleben. Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen: LandwirtInnen, biodynamische GärtnerInnen und AktivistInnen aus den verschiedenen SoLawi-Initiativen. Hier geht es um den Schutz des Saatgutes, Landbefreiung und nicht-kapitalistische Landwirtschaft. Die Solidarische Landwirtschaft entstand unter den Bedingungen der industriellen Massengesellschaft und der Zerstörung der bäuerlichen Landwirtschaft. Sie ist Ausgangspunkt einer gemeinschaftlichen Strategie einer wachsenden Autonomie von der Agroindustrie und des Bedürfnisses, die Ernährungsfrage in die eigene Hand zu nehmen.


Mehr infos zur "Solidarischen Landwirtschaft" (SoLawi) siehe: www.solidarische-landwirtschaft.org

Brotoloco bäckt jeden Freitag im Lehmofen auf der Stadionbrache Brot. Ab 15 uhr kann das Pfünderli zum Selbstkostenrpeis im Kraftwerk 1 in Zürich abgeholt werden oder man kann gleich ein Brotabo lösen unter: www.brotolo-co.ch. Das passende Gemüseabo gibt's bei: www.ortoloco.ch

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38 - 69. Jahrgang - 25. Oktober 2013, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2013