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VORWÄRTS/995: Wenig Raum für Frauenflüchtlinge in Kollektivunterkünften


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 7/8 vom 28. Februar 2014

Wenig Raum für Frauenflüchtlinge in Kollektivunterkünften

von Nicole Niedermüller und Milena Wegelin



Die Lebensrealität von asylsuchenden Frauen und Männern in Kollektivunterkünften ist massiv fremdbestimmt. Auch die Bedürfnisse von Frauenflüchtlingen bleiben dabei weitestgehend auf der Strecke.


Nicht erst seit der Diskussion um die Asylgesetzrevision vom Sommer 2013 ist die Schweizer Flüchtlingspolitik im Umbruch. Die permanenten politischen Vorstösse zur Asylpraxis erschweren eine aktuelle Momentaufnahme. Die Stossrichtung zielt jedoch klar Richtung sogenannte "kollektive Unterbringung". Diese ist durch ihre ausgrenzende und oftmals semiprisonale Kontrollstruktur als Unterbringung für Flüchtlinge grundsätzlich unhaltbar.

Etwa die Hälfte aller Geflüchteten weltweit sind Frauen und Kinder. Von ihnen schaffen nur wenige den langen und gefährlichen Weg über die militarisierten Aussengrenzen nach Europa. Flüchtlinge, denen die Flucht in europäische Länder gelingt, sind zu zwei Drittel Männer. Diese Umstände und die Tatsache, dass der Begriff "Flüchtling" bis heute männlich konnotiert ist, tragen dazu bei, dass Frauenflüchtlinge aus dem Blickfeld geraten. Geflüchtete Frauen stammen aus den unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen, Klassen und Schichten, Kulturen und Staaten. Es gibt nicht die "typische" Flüchtlingsfrau. Das soziale Geschlecht "Frau" determiniert aber wesentlich die Bedingungen, wie Flucht und Aufnahme in das Asylsystem verlaufen. In kollektiven Unterkünften für Flüchtlinge trägt die Infrastruktur sowie die reale Bewegungsfreiheit eine geschlechterspezifische Komponente. Das soziale Geschlecht bestimmt die Bewegungsmöglichkeiten und räumliche Entfaltung in Asylunterkünften. TERRE DES FEMMES (TDF) Schweiz hat in einem kürzlich veröffentlichten Bericht Bewohnerinnen neun verschiedener Kollektivunterkünfte in der Schweiz zu Wort kommen lassen. Fühlen sich die Frauen in den Zentren sicher? Ist die räumliche Aufteilung der Zentren nach Geschlechtern ausgestaltet? Inwiefern finden geschlechtsspezifische Überlegungen Eingang in die Unterbringungs- und Betreuungskonzepte? Der Bericht liefert somit erste Einblicke, was Kollektivunterkünfte für Frauen bedeuten. Eine vergleichbare Untersuchung, die die Unterbringung von LBGT und trans* Flüchtlingen zum Thema macht, bleibt ein grosses Desiderat.


Raum ist nach Geschlecht strukturiert

Gegenwärtig lässt sich die Tendenz ausmachen, migrierende und schutzsuchende Menschen während der Dauer ihres Asylverfahrens in grossen, vermehrt auch unterirdischen und zum Teil abgelegenen zentralisierten Kollektivunterkünften zu platzieren. Der Begriff Kollektivunterkunft bezeichnet die in der Schweizer Asylpraxis gängigen sogenannten kantonalen Durchgangszentren auf die die Asylsuchenden nach ihrem Aufenthalt in einem "Empfangs- und Verfahrenszentrum" des Bundes verteilt werden. Männer und Frauen leben in Kollektivunterkünften einen stark fremdbestimmten Alltag, der oft von Isolation, mangelnder Privatsphäre und Ausweglosigkeit geprägt ist.

Alle Asylsuchenden sind von den prekären Platzverhältnissen in den Unterbringungsstrukturen betroffen. Viele der befragten Frauen erleben die räumliche Enge und die männliche Dominanz in den Kollektivunterkünften als Belastung. In den meisten Zentren steht nur ein Gemeinschaftsraum zur Verfügung und keines der von TDF besuchten Zentren verfügt über einen separaten Gemeinschaftsraum für Frauen. Sie sind von der Unterbringung in Mehrbettzimmern und von den engen Zimmerverhältnissen stärker als Männer betroffen, weil sie, wie ein Zitat einer Bewohnerin zeigt, nicht auf gemeinschaftlich genutzten Räume ausweichen können, wenn diese von Männern in Beschlag genommen werden: "Ich habe nicht gross Interesse daran, da (im Aufenthaltsraum) nachschauen zu gehen. Denn die Mehrheit hier in diesem Zentrum sind Männer. Deshalb bleibt jede von uns in ihrem Zimmer, so haben wir unsere Ruhe."

Nur gerade in drei der neun besuchten Zentren fand TDF eine strikte Trennung der sanitären Anlagen nach Geschlecht vor. Für Frauen kann in gemischten Unterkünften jeder Gang auf die Toilette oder in die Dusche mit Unbehagen oder Angst verbunden sein: "Ich habe mir kürzlich ein Gefäss gekauft, um in der Nacht zu urinieren. Ich getrau mich nicht, um sechs oder fünf Uhr morgens rauszugehen und auf die Toiletten zu gehen", so eine Bewohnerin.

Viele der interviewten Frauen berichten von physischen Gewaltakten zwischen Männern in kollektiven Asylunterkünften. Dort prallen Frust aufgrund der verordneten Untätigkeit, Zukunftsängste und individuelle Fluchterfahrung verschiedener Menschen auf engstem Raum aufeinander. In dieser Situation bahnen sich zwangsläufig zwischenmenschliche Konflikte an, welche unterschiedlich ausgetragen werden, was wiederum mit den jeweiligen Genderrollen und der entsprechenden Sozialisation zusammen hängt. Solche Handgreiflichkeiten unter Männern oder auch nur entsprechender Lärm wirken sich negativ auf das Sicherheitsgefühl der Frauen aus. Es kommt erschwerend hinzu, dass viele von ihnen in ihrem Herkunftsland oder auch auf den langen Fluchtwegen mit geschlechtsspezifischer Gewalt konfrontiert waren.

Frauen, die in einem der wenigen Zentren leben, in denen es eigene Frauentrakte gibt, erleben dies als grosse Erleichterung in ihrem Alltag. Entsprechend ist es aus frauenrechtlicher Sicht eine absolute Priorität, die Raumverhältnisse in den Unterbringungen geschlechtersensibel zu gestalten. Nicht immer lassen sich in bestehenden Unterkünften eigene Frauentrakte ohne grosse Umbauten realisieren. Ein Schritt in die richtige Richtung, den einige Zentren bereits praktizieren, kann es aber sein, gemeinsam genutzte Räumen wie etwa den Fitnessraum, stundenweise nur für Frauen zu öffnen.


Fehlende Kinderbetreuung

Sprachkurse oder Aktivitäten für Asylsuchende lenken zumindest für ein paar Stunden von der tristen Warterei im ausgegrenzten Nichtstun ab und wirken sich positiv auf das Selbstwertgefühl aus. Neben der räumlichen Infrastruktur ist auch der Zugang zu diesen Angeboten vom Geschlecht abhängig. Halten die limitierten Budgets im Asylbereich diese Angebote bereits gänzlich auf Sparflamme, so haben Frauenflüchtlinge auch hier mit einer zweifachen Hürde zu kämpfen, wenn keine Kinderbetreuung während entsprechender Kurse angeboten wird und sich Mütter entsprechend alleine organisieren müssen, was für sie nicht immer einfach ist: "Ich verlasse den Unterricht nach der Hälfte, weil es niemanden gibt, der sich um den Kleinen kümmert. Das heisst, er ist immer dabei. Ich würde gerne bleiben, um zu lernen", so eine Bewohnerin.

Auch im Asylbereich setzt sich zunehmend neoliberale Logik durch. Nicht zuletzt, weil Leistungsvereinbarungen der Kantone mit den ZentrumsbetreiberInnen nicht öffentlich einsehbar sind und gesetzliche Leitlinien fehlen, die geschlechtergerechte Unterbringung verbindlich festschreiben, werden die Unterbringungsmandate allzu häufig an diejenigen Institutionen vergeben, die die Flüchtlinge "kostengünstig" unterbringen. Sparpakete drücken die Ausgaben im Asylbereich zusätzlich, aktuell gerade im Kanton Bern, wo sich die Betreiberorganisationen Ende 2013 gezwungen sahen, die Stellenprozente der MitarbeiterInnen in den Kollektivunterkünften zu verringern. Einige Mitarbeitende haben in den Gesprächen zum Bericht darauf hingewiesen, dass nicht mehr viel Zeit für anderes als die administrative Arbeit und die blosse Verwaltung von Flüchtlingen bleibt. Geschlechtergerechte Ansätze für Betreuungskonzepte und Verhaltenscodes für MitarbeiterInnen haben unter solchen Bedingungen einen schlechten Stand und es erstaunt nicht, dass diese Prinzipien als erste über den Haufen geworfen werden - wenn sie denn jemals überhaupt in Betreuungskonzepte Eingang fanden. Frauenflüchtlinge brauchen Ansprechpersonen in Zentren, die Zusammensetzung des Teams der MitarbeiterInnen und der Einsatzplan müssen garantieren, dass ihnen jederzeit eine weibliche Betreuungsperson zur Verfügung steht. Nur so können beispielsweise gerade schwierige und tabubehaftete Themen wie geschlechtsspezifische Gewalt angesprochen werden und entsprechende Unterstützungsangebote vermittelt werden.


Gesetzlicher Rahmen

Der Bericht macht deutlich, dass geschlechterspezifische Überlegungen bei der Ausgestaltung der Unterbringung und Betreuung von asylsuchenden Frauen kaum berücksichtigt werden und verbindliche Vorgaben, wie geschlechtergerechte Unterbringung von Flüchtlingen aussehen muss, weitestgehend fehlen. Einige Zentren haben vereinzelt Massnahmen ergriffen, doch die vorgefundene Sensibilität in den besuchten Zentren variiert stark. Die Schweiz agiert hinsichtlich der Unterbringung von Asylsuchenden nicht im rechtsfreien Raum und hat sich an Grundrechte und Verpflichtungen aus internationalen Menschenrechtskonventionen zu halten, wie beispielsweise die UNHCR-Leitlinien zu geschlechterspezifische Unterbringung. Das Uno-Flüchtlingshilfswerk weist insbesondere darauf hin, dass aufgrund von engen Platzverhältnissen in den oftmals temporär eröffneten Zentren und Camps Frauen und Mädchen einem höheren Risiko ausgesetzt sind, von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen zu werden. Die daraus erfolgenden Richtlinien und entsprechende Massnahmen müssen global umgesetzt werden und auch in der Schweiz ihre Anwendung finden.


Keine faire Unterbringung von Frauenflüchtlingen

Die aktuelle Unterbringungspolitik mit der Tendenz zu grossen, eingegrenzten Unterkünften ist auch aus feministischer Sicht klar zu verurteilen. Ihr ist die Alternativen einer dezentralen und integrierenden Unterbringung in kleinen Wohneinheiten gegenüberzustellen. Dass solche alternativen Unterbringungen machbar und möglich sind, hat beispielsweise ein Bericht des "Komitee Fremdenhetze und Asylbusiness stoppen" für den Kanton Bern aufgezeigt. Nebst grundlegenden Forderungen nach einer menschenwürdigen Unterbringung, ist es unerlässlich, aktuelle Missstände in den Kollektivzentren zu benennen und Verbesserungen für Frauenflüchtlinge in bestehenden Strukturen zu erwirken. Bedürfnisse der verschiedener Bewohnerinnengruppen in Kollektivunterkünften dürfen dabei nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Es bleibt an zivilgesellschaftlichen AkteurInnen, die Einhaltung von Grund- und Menschenrechte für Flüchtlinge einzufordern. TDF Schweiz knüpft mit dem kürzlich erschienenen Bericht an all diejenigen Interventionen an, die sich für eine dezentralisierte und menschenwürdige Unterbringung von Asylsuchenden stark machen und erweitert die Debatte um die geschlechtsspezifische Perspektive.



BERICHT AUF WWW.TERRE-DES-FEMMES.CH

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 7/8/2014 - 70. Jahrgang - 28. Februar 2014, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2014