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VORWÄRTS/1046: Wohlstandsmodell Schweiz?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 33/34 vom 3. Oktober 2014

Wohlstandsmodell Schweiz?

Von Siro Torresan



Was ist das "helvetische Wohlstandsmodell" innerhalb Europas, das mitten in der Wirtschaftskrise steckt? Dies die provokative Frage an einer der beiden Diskussionen während des POP-Festivals in Le Locle vom 29. und 30. August zum 70. Geburtstag der Partei der Arbeit Schweiz. Eine Zusammenfassung der angeregten Debatte.


Folgendes sei vorweggenommen: Niemand der Referenten konnte sich für das "Wirtschaftsmodell Schweiz" erwärmen. "In den meisten Städten der Schweiz hat es nach der Revision der Arbeitslosenversicherung im 2011 eine Explosion der Sozialhilfefälle gegeben. Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung ist auf die Sozialhilfe angewiesen", hielt Denis de la Reussile fest. Der PdA-Genosse kennt als Stadtpräsident von Le Locle und Mitglied des Neuenburger Kantonsrats die Realitäten bestens. Er fügte hinzu: "Kann man überhaupt von einem Wohlstandsmodell sprechen? Würde man unser Konsummodell auf der ganzen Welt einführen, würde diese innerhalb von zwei Jahren eingehen."


Kein Anhängsel der SP werden

"Dieses helvetische Wohlstandsmodell ist für viele nur ein Mythos und hat mit der Realität überhaupt nichts zu tun. Vor allem für jene ArbeitnehmerInnen, die weniger als 4000 Franken im Monat verdienen", fügte Pierluigi Fedele an. Er ist Mitglied der Geschäftsleitung der Gewerkschaft Unia. Genosse Fedele spielte somit auf die verlorene Abstimmung betreffend der Einführung eines Mindestlohnes an. Aber nicht nur: "Damit ist auch gesagt, dass wir weiterhin für die Überwindung dieser kapitalistischen Gesellschaft kämpfen müssen."

Rolf Zbinden, PdA-Vertreter im Berner Stadtparlament, forderte seine Partei auf, neue Lösungsvorschläge für jene Menschen zu erarbeiten, die Opfer des Kapitalismus sind. Dabei sei auf "Moralismus gegenüber den WählerInnen" zu verzichten. Als schlechtes Beispiel dafür nannte er die Reaktion nach der Abstimmungsniederlage bei der SVP-Initiative zur Masseneinwanderung vom 9. Februar 2014. "Die Rolle des Staates muss neu definiert werden und die Vorherrschaft der Bürgerlichen auf seine Institutionen muss beendet werden", hielt der Berner Genosse weiter fest. "Es ist unhaltbar, dass zum Beispiel der Bau einer internationalen Privatschule für die Sprösslinge der Superreichen mit vier Millionen Franken unterstützt wird, aber keine bezahlbaren Sozialwohnungen gebaut werden." Und mit Nachdruck sagte er: "Wir müssen die Gefahr abwenden, ein Anhängsel der SP zu werden."

Für Denis de la Reussille bleibt die Teilnahme der PdA an der Exekutive unabdingbar. Er unterstrich dabei, dass seine Stadt eine der ganz wenigen in der Schweiz ist, die kommunale Zusatzleistungen "wie zum Beispiel im sozialen Wohnungsbau und im ausserschulischen Bereich anbietet, um nur zwei konkrete Beispiele zu nennen". Doch gleichzeitig hielt er ein Plädoyer für die "Vormachtstellung" der Legislative gegenüber der Exekutive. Er sprach sich sehr dezidiert gegen die Reduktion der Anzahl der Parlamentarier aus, die von vielen bürgerlichen Parteien immer stärker verlangt wird.


Gesellschaftliche Veränderungen sind möglich

Pierluigi Fedele, der auf eine langjährige, gewerkschaftliche Erfahrung zurückgreifen kann, rief dazu auf, mit der Hegemonie der Rechten in der Gesellschaft zu brechen. "Die Lohnabhängigen haben den Sinn für die kollektiven Kämpfe verloren. Jede und jeder schaut nur für sich, dies ist der heutige Zeitgeist. Um dies zu ändern, müssen die GewerkschafterInnen und die AktivistInnen 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche auf der Strasse und in den Fabriken sein." Kritisch äusserte er sich auch gegenüber der SP: "Wenn die Gewerkschaften in den letzten Jahren so viele Initiativen lanciert haben, hat es einen ganz einfachen Grund: Die SP, als grösste Partei im linken Politspektrum, hat schlicht ihre Hausaufgaben nicht gemacht." Und Fedele forderte deshalb zum Schluss: "Die PdA muss den Menschen weiterhin sagen, dass gesellschaftliche Veränderungen möglich sind, auch wenn dies viel Zeit brauchen wird."

Das Schlusswort von Genosse Fedele war gleichzeitig der Startschuss für eine lange und sehr angeregte Debatte unter den gut hundert ZuhörerInnen. Dabei gingen die Meinungen teilweise weit auseinander. Ein kleines Beispiel: Während einige im Saal der Ansicht waren, der Arbeitsfriede müsse begraben werden, fanden andere, so ein Vorschlag sei "schon fast linksextrem". So kontrovers die Debatte auch war, am Ende waren sich praktisch alle über eine Tatsache einig: Solche Diskussionen sind dringend notwendig, damit die radikale Linke wieder glaubhafte Antworten auf die Krise und die bürgerliche Hegemonie entwickeln kann.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 33/34 - 70. Jahrgang - 3. Oktober 2014, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2014