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VORWÄRTS/1053: Stress mit System


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38 vom 31. Oktober 2014

Stress mit System

Von Thomas Schwendener



Um die psychische Gesundheit der ArbeiterInnen in der Schweiz ist es nicht besonders gut bestellt. Das legt zumindest eine kürzlich erschienene Studie nahe, die den Stress am Arbeitsplatz untersucht - und sich dabei den Kopf für die Wirtschaft zerbricht.


Die repräsentative Studie, die die Universität Bern und die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften im Auftrag der Gesundheitsförderung Schweiz veröffentlicht hat, fördert zutage, dass weit über eine Million der 4,9 Millionen ArbeiterInnen in der Schweiz im Job übermässig gestresst sind. Etwa sechs Prozent oder rund 300.000 seien so stark belastet, dass sie nach wissenschaftlichen Kriterien am Rande eines Burnouts stehen. In der entsprechenden Broschüre der Gesundheitsförderung Schweiz kann man nachlesen: "Innerhalb von nur zehn Jahren hat der Stress bei Erwerbstätigen in der Schweiz um 30 Prozent zugenommen". Die Zahlen sind erschreckend, wenn auch für die meisten wohl nicht sonderlich überraschend. So liegen die Betroffenen vermutlich auch mit ihrer Einschätzung der künftigen Entwicklung richtig: 80 Prozent der ArbeiterInnen in der Schweiz sind der Überzeugung, dass der arbeitsbedingte Stress in den nächsten Jahren zunehmen wird.


Objektivierung von Stress?

In der aktuellen Studie wurden die ArbeiterInnen nicht gefragt, ob sie sich gestresst fühlen, sondern wie sie die Bedingungen am Arbeitsplatz bezüglich Stress einschätzen. Die vorliegende Untersuchung wiegt "Belastungsfaktoren" wie Zeitdruck, Unsicherheit bei Arbeitsaufgaben oder qualitative Überforderung gegen "Ressourcenfaktoren" wie Unterstützung durch Vorgesetzte, Wertschätzung oder angemessenen Freiraum gegeneinander ab. Diese Faktoren werden quantifiziert und so wird in einem sogenannten Job-Stress-Index gewissermassen ein objektiver Stresspegel gefunden. Man kann sich fragen ob das hinhaut, Stress wird von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich wahrgenommen und für einen Stresspegel müsste man wohl den gefühlten Stress erfragen. Dennoch liegen die Zahlen der aktuellen Studie im Vergleich etwa im Durchschnitt. Zwar liegen sie unter den Resultaten, die in einer Stress-Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) 2010 publiziert wurden. Die damaligen Befragungen kamen zum Resultat, dass sich mehr als 30 Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz häufig oder sehr häufig gestresst fühlen. Aber die aktuellen Zahlen liegen über dem Wert der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2014 nach der 18 Prozent der Erwerbstätigen oft oder immer Stress am Arbeitsplatz erleben.

Die bestimmte Objektivierung von Stress in der vorliegenden Studie hat System, wie man in der Broschüre der Gesundheitsförderung Schweiz - die per Gesetzesauftrag um das leibliche und psychische Wohl der Schweizer Bevölkerung besorgt sein soll - nachlesen kann: "Mit dem Job-Stress-Index und weiteren Kennzahlen zur Entwicklung von Stressbelastung in Unternehmen bauen wir hier eine Brücke zwischen Wissenschaft und Unternehmen." Den Unternehmen sollen mit den sogenannten "Ressourcen" Möglichkeiten zur Stressreduktion an die Hand gegeben werden. Das Ziel dieser Massnahmen ist es, den Umsatz zu erhöhen.


Wirtschaftlicher Schaden

Das ist keine böswillige Unterstellung eines verbitterten Kommunisten, das stellen die WissenschafterInnen gleich selber klar. Neben dem Job-Stress-Index und einer Erschöpfungsrate ist der dritte wichtige Parameter das ökonomische Potenzial. Dieses "erfasst die Kosten von arbeitsbedingtem Stress und zeigt mögliche Produktivitätsgewinne für die Wirtschaft in Zusammenhang mit Verbesserungen des Job-Stress-Index auf". 5,58 Milliarden Franken würden der Wirtschaft jährlich flöten gehen, weil die ArbeiterInnen unter Stress leiden. Etwa 25 Prozent des "ökonomischen Potenzials" mache eine mögliche Reduktion von Absenzzeiten aus, aber der weit grössere Anteil von 75 Prozent würde durch "eine verbesserte Arbeitsleistung" generiert. Eine schönere Brücke zwischen "Wissenschaft und Unternehmen" könnte man kaum bauen und das ganz ohne dass ein Privatunternehmen in die wissenschaftliche Tätigkeit gepfuscht hätte.


Stress hat systematische Gründe

Die Studie verkennt die systematischen Ursachen von Stress und entpuppt sich darum in ihren Schlussfolgerungen als ideologisch. Neben sozialen Faktoren wie Problemen mit Vorgesetzten und Mitarbeitern und Faktoren wie arbeitsorganisatorischen Problemen - die man wiederum auf den Inhalt der Tätigkeit beziehen muss - gibt es einen zentralen Stressor, den die Studie erwähnt und der gerade Inbegriff kapitalistischer Produktivität oder "verbesserter Arbeitsleistung" ist: Zeitdruck. Ein kapitalistisches Unternehmen versucht in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Mehrwert aus den ArbeiterInnen herauszuholen und dementsprechend die Intensität hoch zu halten. "Der Ausbeutungsgrad der Arbeit, die Aneignung von Mehrarbeit und Mehrwert wird erhöht namentlich durch Verlängerung des Arbeitstags und Intensivierung der Arbeit." (Karl Marx, MEW 25, S. 431). Ist der Arbeitstag beschränkt, dann bleibt - neben der Ausdehnung des relativen Mehrwerts - nur noch die Intensivierung der Arbeit. Dieser Stressor hat also einen systematischen Grund und ist nicht etwa Zufall. Ausserdem liegt es auf der Hand, dass in der Krise in Zeiten der verschärften Konkurrenz die einzelnen Unternehmen die Intensität als Konkurrenzmittel ans Limit hoch schrauben. Dieser entscheidende Faktor lässt sich im Kapitalismus kaum reduzieren, weil er fundamental der Funktionsweise des Kapitals entspricht.

Man müsste sich eben über den Charakter kapitalistischer Produktivität im Klaren sein. Da geht es nicht darum, möglichst gute Gebrauchswerte herzustellen oder gar eine gesunde und ungestresste Arbeiterschaft zum Resultat zu haben. Eine "verbesserte Arbeitsleistung" misst sich fUr die Unternehmen rein quantitativ in der Produktion von Mehrwert. Kapitalistische Produktivität bedeutet einzig und allein eine möglichst grosse Menge abstrakter Arbeit als Substanz des Wertes in möglichst kurzer Zeit den produktiven ArbeiterInnen abzupressen; mit allen verheerenden Folgen. Dass man sich dabei von Gesundheitsproblemen der Proletarisierten nicht stören lassen will, erklärte kürzlich Jürg Zellweger vom Arbeitgeberverband offenherzig. Die vorliegende Studie befördere eine "Wohlfühl-Hysterie" und übertriebene Sensibilität, gab er zu Protokoll.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38 - 70. Jahrgang - 31. Oktober 2014, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2014