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VORWÄRTS/1063: Kritik des "ständigen Ausnahmezustandes"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 28. November 2014

Kritik des "ständigen Ausnahmezustandes"

Von Thomas Schwendener



Kürzlich ist im Schmetterlingverlag das schmale Elnführungs-Büchlein "Kritik des Rechts" erschienen. Darin wird in erster Linie die systematische Abweichung von der Rechtsnorm einer kritischen Untersuchung unterzogen.


Im Vorwort stellt der in Berlin lebende Jurist Stefan Krauth die Frage, was man eigentlich kritisieren muss, wenn man das Recht als Mittel gesellschaftlicher Herrschaft kritisieren will. Geht es dabei um die "Herrschaft des Rechts in ihrem 'idealen Durchschnitt' oder aber [um] die 'wirkliche Bewegung' des Rechts in ihren bunten Zufälligkeiten (...)"? Gilt es also eine Kritik am abstrakten Recht zu formulieren, das mit seinem universalistischen Anspruch erklärtermassen für alle gültig ist, oder muss man die Abweichungen davon systematisch erfassen? Für den Autoren steht fest: "rechtlich vermittelte Herrschaft kann nur dann angemessen kritisiert werden, wenn die Ausnahme, der Exzess und die Nichtanwendung von geltendem Recht noch als Ausübung rechtlich vermittelter gesellschaftlicher Herrschaft verstanden (...) wird." Es geht Krauth also darum, den Zusammenhang von Recht und Ausnahme zu entwickeln. Leider bleibt die Analyse und Herleitung der Rechtsform etwas unterbelichtet. Diese Kritik wird erst in den letzten Kapiteln dargestellt, der allergrösste Teil des Buches befasst sich mit den Abweichungen vom Recht.


Die Abweichung als Norm

Juristische Arbeit, insbesondere die Urteilsfindung, gibt vor, ausschliesslich zu subsumieren. Das heisst, es wird geprüft, ob ein konkreter Fall unter einen allgemeinen Fall - einen abstrakten, festgeschriebenen Tatbestand - fällt. Ist dem so, tritt eine vom Gesetz vorgesehene Folge, die Rechtsfolge, ein. Ein tatsächlicher Modus der Herrschaft des Rechts ist nun aber, "das Gesetz zu umgehen, ohne die Geltung des Rechts (...) zu berühren". Am Beispiel des verbrieften Rechts auf Asyl zeigt Stefan Krauth, dass das Recht gegen das behördliche und gerichtliche Bollwerk nichts wert ist. Der Autor legt dar, wie hier systematisch das Recht umgangen wird und das Asylrecht zu einer "Lotterie" wird. Ein Flüchtling kann "gerade nicht absehen, wie die staatliche Gewalt auf sein Verhalten (sein Schutzgesuch) reagieren wird. Es hängt vom Zufall ab, ob er inhaftiert wird oder nicht, es hängt vom Zufall ab, ob sein Begehren durchdringt oder nicht." Für diese Nichtgeltung des Rechts ist nun kein konkreter Schuldiger auszumachen, "die Nichtgeltung entspringt der Summe kleiner und grösserer individueller Bösartigkeiten, undurchsichtiger Verfahrensvorgaben, dem Diskurs über Asylmissbrauch und die Asylantenflut, einem institutionalisierten Misstrauen und der darin mündenden Abwehr der Verwaltungsgerichte. Das Resultat ist aber kein Bruch mit dem Recht, sondern zehrt noch "von den Überresten des Formalismus der Rechtsform, jener blinden und zwingenden Geltung des Konditionalprogramms".


Löcher im Recht

Diese systematische Abweichung vom Recht findet sich nicht nur im Asylbereich, sondern zieht sich in unterschiedlicher Prägnanz durch verschiedene Bereiche des Rechts. Die Möglichkeit für diese Abweichungen liegen laut Stefan Krauth in unbestimmten Rechtsbegriffen wie "öffentliches Interesse" oder "charakterliche Eignung", aber vor allem in der "objektiven Auslegung" von Gesetzen. Das heisst, "Gesetze gelten nicht gemäss ihres Wortlauts, so wie sie erlassen wurden, sondern so, wie der Gesetzgeber es 'eigentlich' wollte"; wie das zuständige Gericht es auslegt. Um diese permanente Abweichung vom Recht zu fassen, benutzt der Autor den Begriff des "ständigen Ausnahmezustandes". Dieser muss nicht mit grosser Geste vom Staat ausgerufen werden, sondern vollzieht sich anhand "zahlreicher ungeschriebener Regeln von Justiz, Polizei und Behörden, den so genannten second codes oder informellen Programmen, den Vorgaben, was und wie man etwas zu machen habe und was nicht".

In den folgenden Kapiteln bleibt der Autor diesen Einsichten treu und zeigt auf, wie Kriminalität konstruiert wird, warum vor allem die untersten sozialen Schichten im Fokus der Polizei stehen und warum Gerichte faktisch selektiv verfahren.


Kritik der Rechtsform

Im zweitletzten Kapitel versucht sich der Autor an einer Kritik der Rechtsform und folgt darin vor allem dem sowjetischen Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis. Warenform und Rechtsform sind nach Paschukanis "die beiden Grundformen, die sich prinzipiell voneinander unterscheiden, aber sich zugleich gegenseitig bedingen und miteinander aufs engste zusammenhängen" (Paschukanis). Die Rechtsform wird dabei analog zur Warenform entwickelt.

Waren können nun nicht selber zu Markte gehen, sondern benötigen die MarktteilnehmerInnen - und zwar als Rechtssubjekte. Denn erst wenn eine "neutrale Gewalt" (der Staat) rechtlich den Tausch und den damit verbundenen Willensakt beider Tauschparteien garantiert, ist der freie Warenverkehr möglich. Und dieser ist Bedingung des Kapitalismus, denn "der Tauschwert hört auf, Tauschwert zu sein, die Ware hört auf, Ware zu sein, wenn die Tauschproportionen von einer ausserhalb der immanenten Gesetze des Marktes stehenden Autorität bestimmt werden" (Paschukanis); wenn sich also etwa ein partikularer Wille gegen (die Universalität von) Wert und Recht geltend macht. Doch es ist gerade diese rechtliche Gleichheit, die die soziale Ungleichheit garantiert. "Es bedarf des neutralen Staates und seiner Einrichtungen (Vertragsfreiheit, Gewaltmonopol, Justiz), um die Bedingungen der sich im freien Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft vollziehenden Ausbeutung aufrecht zu erhalten." Gerade durch die rechtliche Gleichheit vollziehen sich im Kapitalismus also Ausbeutung und (ökonomische) Klassenherrschaft. Der Staat muss darum Rechtsstaat sein, aber er muss gleichzeitig - und das ist wieder der eigentliche Gegenstand der vorliegenden Einführung - in der Staatsraison immer wieder über die rechtlichen Normen hinweggehen.


Fazit

Im vorliegenden Buch werden gut verständlich und überzeugend die systematischen Abweichungen vom Recht entwickelt und in ihrer Notwendigkeit für die bürgerliche Gesellschaft dargelegt. Das hat seinen Wert für jene, die ob der Rechtsformkritik den praktischen Vollzug des Rechts aus dem Blick verloren haben. Aber es ist letztlich keine Kritik am Recht selbst, auch wenn die notwendige Verschränkung von Recht und "Exzess" aufgezeigt wird. Angesichts des Titels "Kritik des Rechts" hätte man sich wohl eine etwas klarere Entwicklung der Rechtsform und des "idealen Durchschnittes" erhoffen dürfen.

Krauth, Stefan: Kritik des Rechts.
Schmetterlingverlag. Stuttgart 2014.
180 Seiten. ca. 12 Franken.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42 - 70. Jahrgang - 28. November 2014, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2014


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