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VORWÄRTS/1096: Der gefährliche Anarchist Luigi Bertoni


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 13/14 vom 10. April 2015

Der gefährliche Anarchist Luigi Bertoni

Von Jonas Komposch


Er war die vielleicht herausragendste Figur der antiautoritären ArbeiterInnenbewegung in der Schweiz der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war der von der Polizei am meisten verfolgte Subversive. Heute ist er quasi vergessen. Ein Buch bringt dem italienisch-schweizerischen Anarchisten Luigi Bertoni (1872-1947) nun endlich die Aufmerksamkeit, die ihm gebührt.


Auch wenn die Bedeutung von einzelnen Persönlichkeiten oft masslos überschätzt wird, sind es trotzdem auch Individuen, die mit ihrem Handeln den Lauf der Geschichte prägen. Die auffälligsten Akteure finden jeweils Eingang in die Geschichtsbücher, doch gehen dabei manche Figuren gerne vergessen. Das sind jene, die den Herrschenden nicht in den Kram passten und die in der Gegenwart keine starke Interessenvertretung haben. Luigi Bertoni fällt eindeutig in diese Kategorie. In der Schweiz der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte kaum jemand derart starken Einfluss nicht nur auf die ArbeiterInnen der Westschweizer Fabriken und Baustellen, sondern auch auf die gesamte dortige Gewerkschaftsbewegung sowie auf die Debatten des internationalen Anarchismus. In der Geschichte der schweizerischen ArbeiterInnenbewegung müsste er seinem Wirken nach eigentlich prominent gewürdigt werden. Doch wie Werner Portmann im Vorwort des Buches festhält, ist Bertoni im Tessin und in der Westschweiz "noch nicht ganz aus der Erinnerung verschwunden", in der Deutschschweiz dagegen "nicht nur ein Vergessener, sondern ein Unbekannter". Im Bewusstsein, eine Verantwortung für die eigene Geschichte zu haben, publizierte der libertäre Verlag La Baronata aus Lugano 1997 die von Gianpiero Bottinelli verfasste Biografie Bertonis. Die Genfer éditions entremonde gab 2012 eine französische Übersetzung heraus und auf Initiative einiger Zürcher AnarchistInnen schloss der Berner a propos Verlag 2013 die deutschsprachige Lücke. Die hervorragende deutsche Übersetzung von Andreas Löhrer liest sich leicht, das Buch ist ansprechend, wenn auch nicht fehlerfrei, gestaltet und die Brisanz der Geschichten um den umtriebigen Revolutionär Bertoni verleiten geradezu zum krimimässigen Verschlingen der Biografie.


Putschist im Tessin, Anarchist in Genf

Schon mit 18 Jahren beteiligt sich Luigi Bertoni an einer bewaffneten Erhebung, bei der ein Tessiner Staatsrat von den Aufständischen erschossen wird. Die liberale Bewegung putschte 1890 gegen die katholisch-konservative Herrschaft und ersetzte diese an der Macht. Der Schriftsetzerlehrling Bertoni ist mit Euphorie dabei. Doch schon bald kritisiert der junge Rebell, der auch in der Gewerkschaft aktiv ist und für fortschrittliche Zeitungen schreibt, dass die "Tessiner Revolution" kaum soziale Verbesserungen brachte. Nur die HerrscherInnen hätten gewechselt. Die autoritätsfeindliche Tendenz Bertonis nimmt mit der Machtergreifung der Liberalen und besonders mit dem Kontakt zu AnarchistInnen der ehemaligen Jura-Föderation immer klarere Konturen an.

In Genf, wo Bertoni in Druckereien arbeitet, involviert er sich in die dortige ArbeiterInnenbewegung, welche stark von italienischen ImmigrantInnen geprägt ist. Seine revolutionäre Publizistik birgt aber Gefahren. Nicht nur die 1898 zwecks der Überwachung von AnarchistInnen gegründete Bundesanwaltschaft spürt den Revolutionären nach. Besonders der italienische Staat interveniert wiederholt bei den Schweizer Behörden und drängt diese, gegen die italienischen AnarchistInnen vorzugehen. So wird Bertoni 1900 erstmals vor Gericht gestellt, weil er in Genf den italienischsprachigen "Almanaco anarchico-socialista" herausgab, in dem Errico Malatesta die italienische Monarchie angreift. Selben Jahres gründet er mit anderen die anarchistische Zeitung "Le Réveil" sowie deren italienischsprachiges Pendant "Il Risveglio". Bertoni macht das Blatt zum wichtigsten Organ des Schweizer Anarchismus, aber auch international wird es zu einem Leuchtturm der libertären Debatten. Von 1903 bis 1907 erscheint in Zürich "Der Weckruf" auch auf deutsch. Unzählige Ausgaben werden aber beschlagnahmt, Bertoni und andere wegen Artikeln verfolgt, während dem zweiten Weltkrieg erscheint "Le Réveil" illegal.


Bertonis "Arbeiteranarchismus"

Neben seiner regen publizistischen Tätigkeit, tourt Bertoni ständig durch die Schweiz und spricht an Streiks und Versammlungen. Manchmal hält er über hundert Vorträge pro Jahr. Dabei ist der Agitator und Organisator immer Arbeiter geblieben und hat für keine politische Funktion je Geld genommen, schlägt hochdotierte Posten sogar aus. Vielmehr unterstützt er aus eigenem Sack etwa die "kommunistische Küche" während eines Genfer Streiks, indem er einen Spezialhandel mit einem Bäcker eingeht, dessen privater Schuldner er nun ist. Bertonis Rückhalt in der ArbeiterInnenschaft ist deshalb immens. Während einem Bauarbeiterstreik wird er von der Menge zum ehrenamtlichen Sekretär der "Fédération des Syndicats ouvriers" gewählt. Im Genfer Generalstreik von 1902 ist er Mitglied des Streikkomitees und wird verurteilt als "Verursacher von Unruhen". Aber die Solidarität der ArbeiterInnen und der gesamten Linken stellt dem politischen Racheakt des Staates ein Bein. Die Proteste nehmen ein solches Mass an, dass Bertoni freigelassen werden muss. Ständig gerät er in die Fänge der Justiz. So auch 1918, als er mit hundert weiteren AnarchistInnen wegen angeblichem Sprengstoffschmuggel nach Italien verhaftet wird. Bertoni wird aber eher entführt als verhaftet. Dreizehn Monate sitzt er in Zürich in U-Haft, die ersten acht ohne jeglichen Kontakt mit der Aussenwelt. Derweil erzittert die Bourgeoisie ob dem schweizweiten Generalstreik. Als Bertoni freigesprochen wird und nach Genf heimkehrt, empfangen ihn am Bahnhof 15.000 Menschen, tragen ihn jubelnd auf Schultern. Doch dem bescheidenen Bertoni war das Spektakel nicht recht geheuer.

Für die sozialdemokratischen Führer ist Bertoni ein radikaler "Streikanstifter", für die Polizei ein "gefährlicher Anarchist. Beide halten internationale Konferenzen zur Bekämpfung des Anarchismus ab. Nichtsdestotrotz ist die Westschweizer ArbeiterInnenbewegung bis in die 30er Jahre syndikalistisch und anarchistisch geprägt. Bertoni bleibt seinem Ideal zeitlebens treu. So warnt er bereits zwei Wochen nach dem Oktoberumsturz vor der bolschewistischen Gefahr für die revolutionären Sowjets, nach dem "Marsch auf Rom" organisiert er sofort Hilfe für die AntifaschistInnen, und auch im Spanischen Bürgerkrieg vermittelt er Freiwillige und Geldspenden, kritisiert aber die Regierungsbeteiligung der AnarchosyndikalistInnen. Als Bertoni 1947 stirbt und in einem Gedenkumzug Tausende durch Genf ziehen, würdigt ihn die SP als "noblen Kämpfer" und "vorbildlichen Aktivisten", die PdA als "unbestechlichen Feind der sozialen Ungerechtigkeit". Bei so viel Proletkult war es bestimmt im Sinne des Verstorbenen, dass die Genfer anarchistische Gruppe die Lobeshymnen und Verherrlichungen etwas relativierte. "Ni Dieu, ni maître", stand auf ihrer schwarzen Fahne!

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 13/14 - 71. Jahrgang - 10. April 2015, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2015

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