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VORWÄRTS/1099: Québec vor dem Generalstreik?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 24. April 2015

Québec vor dem Generalstreik?

Von Jonas Komposch


Nach dem erfolgreichen Massenaufstand im Jahr 2012 gehen in der kanadischen Provinz Québec wieder Zehntausende Studierende auf die Strasse. Im Kampf gegen Sparpläne formiert sich die radikalisierte Bewegung gerade neu. Dass es aber in Kürze zum anvisierten Generalstreik kommt, ist nicht nur wegen der massiven Repression unwahrscheinlich.


An den Universitäten der ostkanadischen Provinz Québec proben die Studierenden erneut den Aufstand. Seit Ende März finden besonders in Montréal und Québec City wöchentlich direkte Aktionen, Universitätsbesetzungen und Demonstrationen statt. Zurzeit wird für jeden Samstag auf die Strassen mobilisiert. Immer lauter wird der Ruf nach dem Generalstreik, der von einigen bereits auf den 1. Mai angesetzt wird. Grund für die studentische Unrast ist ein rigoroser Sparplan der liberalen Provinzialregierung. Dem Gesundheitswesen, den Sozialwerken sowie der Bildung drohen Kürzungen in der Höhe von 729 Millionen kanadischen Dollar. Im Bewusstsein der Folgen einer solchen Politik demonstrierten Studierendenverbände schon im Vorjahr gegen die Regierung. In diesem Frühling starteten die Mobilisierungen allerdings weitaus stärker. Nicht ohne Grund: Falls die Regierung ihre Pläne durchbringt, wäre das nicht nur ein tiefer Einschnitt in die soziale Grundversorgung. Für die Studierendenbewegung käme der Sparplan auch einer herben Niederlage gleich. Erst vor drei Jahren schickten sie nach einem harten und langen Kampf eine Gebührenverdoppelung bachab. Diese droht mit dem Regierungsvorhaben über Umwege zurückzukehren.


Ein Erbe des "Maple Spring" 2012

Dass die Studierenden heute zu Tausenden durch die Strassen ziehen und die Universitäten nicht nur bestreiken, sondern teils auch gegen StreikbrecherInnen blockieren, dass bei Polizeiangriffen auf Demonstrationen nur noch selten zurückgewichen, sondern oft der Gegenangriff lanciert wird, dies ist die Folge des grössten Aufstandes der jüngeren kanadischen Geschichte. Der "Maple Spring" von 2012, in Anlehnung an den "Arabischen Frühling", startete in kleinen Protestnoten der Studierendengewerkschaft "Association pour une solidarité syndicale étudiante" (ASSÉ) gegen eine massive Erhöhung der Studiengebühren. Die kanadischen Studierenden, die seit den 60er Jahren auf eine verbreitete gewerkschaftliche Tradition zählen können, weiteten damals ihre Proteste und Streiks aber derart aus, dass sie für den Staat bedrohliche Ausmasse erreichten. Deshalb setzte die Regierung das Demonstrationsrecht faktisch ausser Kraft und liess die Proteste niederknüppeln. Diese Repression aber trieb die Leute in noch grösseren Massen auf die Strassen, sodass nicht mehr nur von einem Studierenden-, sondern von einem veritablen Volksaufstand gesprochen wurde. Die Bildungsministerin dankte ab, die Knebelgesetze wurden zurückgenommen und die Gebührenerhöhung war vom Tisch. Dass damit der Geist der Revolte beiseitegelegt würde, war aber lediglich ein bürgerlicher Traum.


"Kämpfen wagen, heisst siegen wagen!"

Während die Protestwelle von 2012 hauptsächlich von den Studierendengewerkschaften angestossen wurde, scheint die aktuelle Bewegung auch entlang neuer Strukturen zu verlaufen. Die linken Studierendengewerkschaften sind beteiligt, doch ist das organisierende Kollektiv nun umfassender und weniger von den traditionellen Organisationen bestimmt. Feministinnen, Indigene, ÖkoaktivistInnen im Kampf gegen den Abbau fossiler Energieträger und Linksradikale sind neben den Studierendengewerkschaften wesentlicher Bestandteil der Bewegung, die sich "Printemps 2015" nennt. Auf der gleichnamigen Homepage erschien jüngst sogar eine scharfe Kritik an GewerkschaftsexponentInnen und an deren Apparaten. "ASSÉ" wird den Frühling nicht bringen", lautete der Vorwurf gegen ausgerechnet jene antikapitalistische Studierendengewerkschaft, die 50.000 Mitglieder zählt und vor drei Jahren noch an vorderster Front kämpfte. Der Grund hierfür liegt in der zögerlichen Haltung von einigen FunktionärInnen. Diese wollten erst im Herbst streiken, da sie auf einen gleichzeitigen Streik mit den ArbeiterInnen des öffentlichen Dienstes spekulierten. Denn ohne Unterstützung der ArbeiterInnen sei die Bewegung zum Scheitern verdammt. Für "Printemps 2015" ist das hingegen eine "paternalistische Haltung", die gegen mehr als die Hälfte der organisierten und kampfwilligen Studierenden gerichtet sei. Das "blinde Vertrauen" in jene ArbeiterInnengewerkschaften, die auch während der Erhebung von 2012 nicht in Streik traten, scheint die bereits zu Tausenden mobilisierten Mitglieder des ASSÉ nachhaltig zu enttäuschen. An einem Kongress des ASSÉ verurteilte die Versammlung deshalb "die Handlungen des Exekutivrats, die den direktdemokratischen Strukturen widersprechen". Mittlerweile stellt sich die Organisation wieder hinter die Mobilisierungen und ruft zu weiteren Aktionen auf.

Die neue Bewegung mit dem Slogan "Kämpfen wagen, heisst siegen wagen!" und dem Logo eines zähnefletschenden Wolfes ist schlicht nicht mehr zu ignorieren. Doch die taktischen Differenzen innerhalb der Studierendenschaft sowie die noch mangelnde Beteiligung anderer gesellschaftlicher Sektoren erschweren bislang eine Intensivierung des Kampfes, besonders aber einen Generalstreik. Die Medien führen derweil eine dumpfe Hetzkampagne gegen die "anarchistische" Bewegung, "die weder Führer noch klare Ziele hat". Dass die Mobilisierungen nicht mehr (oder noch nicht) so viele Menschen auf die Strasse brachten wie vor drei Jahren, ist für die Herrschenden der Beweis, dass sie nicht legitim seien. Deshalb wird jede öffentliche Aktion von einer militarisierten und äusserst brutal agierenden Polizei begleitet. Berühmt ist etwa das Youtube-Video, indem zu sehen ist, wie ein Polizist gänzlich ohne Not mit einem Tränengas-Gewehr in das Gesicht einer vor ihm stehenden Studentin ballert. Aber ein sichtlich schockierter TV-Kommentator brachte den wesentlichen Unterschied zu den Protesten von 2012 auf den Punkt: "Die Leute haben die Angst verloren, sie weichen nicht mehr zurück!"

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16 - 71. Jahrgang - 24. April 2015, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2015

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