vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 27/28 vom 17. Juli 2015
Offensichtliche und subtile Unterdrückung
Gespräch mit Hanna Bay von Sabine Hunziker
Die neue Kampagne der JungsozialistInnen (JUSO) analysiert den Feminismus aus sozialistischer Perspektive. Ein Gespräch mit Hanna Bay, Vizepräsidentin der JUSO Schweiz.
Die grossen Medienkonzerne und bürgerlichen PolitikerInnen
predigen uns heute oft, dass alle Geschlechter schon längst
gleichgestellt seien - Frauen könnten doch schon längst alles
erreichen, wobei unter "alles" primär Karriere und Familie gemeint
sind. Als Beispiel dient dann eine Elite von einigen Frauen, die heute
hohe Ämter in Wirtschaft und Politik innehaben. Tatsache ist, dass
diese die Zwänge unserer kapitalistischen, patriarchalen Gesellschaft
nicht durchbrochen haben, sondern lediglich deren Hürden an "niedrig
gestellte" Frauen ausgelagert haben, denen viel weniger ökonomische
Möglichkeiten offenstehen. Betroffen sind oft Frauen mit einem
Migrationshintergrund.
Die Nanny, die zu einem Hungerlohn für die scheinbar gleichgestellte, befreite Firmenchefin arbeitet, kann von der eigenen Freiheit nur träumen. Die Folgen einer patriarchalen kapitalistischen Unterdrückung haben heute wie in der Vergangenheit eine grosse materielle Auswirkung für fast alle Menschen, welche das kapitalistische Ideal des heterosexuellen, weissen Mannes nicht erfüllen. Ein Beispiel dieser Diskriminierung sind die Löhne von Frauen: In der Schweiz verdienen Frauen 800 Franken weniger im Monat als ihre Kollegen - davon sind 600 Franken direkt auf eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zurückzuführen. Ein Zeichen von vielen dafür, dass Sexismus heute noch immer alltäglich und profitabel ist. Auch bei der Berufswahl sind Geschlechterstereotypen spürbar; während Männer selten in den tiefer bezahlten Pflegeberufen arbeiten, gibt es kaum Frauen in den besser bezahlten technischen Berufen. Dies wiederum bewirkt eine ungleiche Verteilung von Geld und Status in unserer Gesellschaft. Wie der Feminismus schon seit Jahrzehnten hervorhebt: Frauen besetzen häufiger Stellen, welche in der bürgerlichen Gesellschaft marginalisiert, unterbezahlt, übersehen werden oder einfach als weniger fachkundig dargestellt.
Sabine Hunziker: Gratulation zu dieser spannenden
Kampagne; doch warum hat die JUSO Schweiz gerade diesen Zeitpunkt
dafür gewählt, wenn es noch andere Brennpunkte gibt?
Hanna Bay: Es gibt immer andere Themen, die auch wichtig sind - leider kann man nie das ganze Spektrum abdecken. Wir haben den jetzigen Zeitpunkt gewählt, weil wir uns in Sachen Gleichstellung und Befreiung der Geschlechter in einer entscheidenden Phase befinden. Die selbsternannten Vertreter der Wirtschaft bringen immer neue und abstrusere Gründe hervor, warum sich unsere Gesellschaft die Gleichstellung von Mann und Frau nicht leisten kann. Momentan sei der starke Franken der Grund, warum die Lohngleichheit von Frau und Mann nicht durchgesetzt werden könne. Zudem ist auch ein gewisser Backlash in unserer Gesellschaft zu beobachten: Veraltete Rollenbilder gewinnen wieder an Bedeutung - dagegen müssen wir ankämpfen.
Sabine Hunziker: Viele junge Frauen heute haben das
Gefühl, dass es nicht nötig ist, sich für (Frauen-)Rechte einzusetzen
und sind zufrieden mit ihrer Situation. Warum ist das so?
Hanna Bay: Durch einige Siege der Frauenbewegung, ich denke an das Frauenstimmrecht oder den Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung, konnte der Irrglaube, dass der Feminismus all seine Ziele erreicht habe, schnell verbreitet werden. Oftmals wird vergessen, dass zwischen geschriebenem Recht und gelebter Realität eine teils grosse Diskrepanz herrscht. Daher ist es für mich unverständlich, dass einige Frauen in meinem Alter das Gefühl haben, sie können frei von den Fesseln des Patriachats leben. Noch immer leisten vor allem Frauen die Reproduktionsarbeit, noch immer verdient eine Frau im Schnitt 20 Prozent weniger als ihr männlicher Mitarbeiter. Die Behauptung, dass der feministische Kampf obsolet geworden sei, ist eine Lüge. Ein weiterer Grund, wieso diese Lüge geglaubt wird, findet man im Wirtschaftssystem. Frei nach dem Motto "There is no such thing as society" werden gesellschaftliche Probleme individualisiert. Oftmals führen Frauen Kämpfe, die sie als persönlich verursachtes Problem betrachten, ohne den Systemcharakter zu erkennen.
Sabine Hunziker: Die JUSO-Kampagne umfasst viel mehr als
die klassischen "Frauenthemen" - welche Aspekte der kapitalistischen
Unterdrückung sind noch Teil eurer Arbeit?
Hanna Bay: Der Unterschied zwischen dem bürgerlichen Feminismus und dem sozialistischen Feminismus besteht darin, dass wir den Sexismus nicht als Nebeneffekt des Systems ansehen, sondern als integralen Bestandteil des Kapitalismus. Beispielsweise leisten Frauen jährlich rund 1,5 Milliarden Stunden unbezahlte Care-Arbeit. Würden für diese Arbeit marktübliche Löhne bezahlt, entstünden Lohnkosten von insgesamt circa 53 Milliarden Franken. Das System würde nicht funktionieren, wenn diese Summen bezahlt würden. Daher ist Sexismus für den Kapitalismus äusserst profitabel, wenn nicht gar überlebensnotwendig. Ein weiterer Punkt ist der Queerfeminismus. Die Vorstellung von "Mann" und "Frau" ist nicht mehr zeitgemäss. Die Binärität von biologischem und sozialem Geschlecht sind nicht naturgegeben, sondern Produkte eines gesellschaftlichen Prozesses. Eine Überwindung des zweigeschlechtlichen, heterosexuellen Dogmas würde zu einer Machtprobe des Kapitalismus, der von der Unterdrückung und Ausbeutung eines Geschlechtes profitiert.
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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 71. Jahrgang - 17. Juli 2015, S. 6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2015
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