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VORWÄRTS/1133: Jung, proletarisch, arbeitslos


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 35/36 vom 9. Oktober 2015

Jung, proletarisch, arbeitslos

Von Thomas Schwendener


Eine aktuelle Studie konstatiert eine wachsende Arbeitslosigkeit unter jungen Proletarisierten in der Schweiz. Die WissenschaftlerInnen der ETH Zürich warnen vor langfristigen negativen Auswirkungen.


Vor ziemlich genau zehn Jahren war das Thema Jugendarbeitslosigkeit in aller Munde. Die SVP forderte, die Schulen sollten wieder mehr auf "Leistungsbereitschaft und Zielstrebigkeit" trimmen und die Lehrstellensuchenden sich "nicht an Wünschen" ausrichten. Die SozialdemokratInnen wollten Integrationsprojekte einführen und die Handelszeitung war sich nicht zu schade Gebühren für Lehrstellen zu fordern; von den potenziellen Lehrlingen versteht sich. Am 5. November 2005 schliesslich gab es in Zürich eine linke Demonstration gegen Jugendarbeitslosigkeit mit einigen hundert TeilnehmerInnen.

Laut Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) ist die Jugendarbeitslosigkeit von 2006 bis August 2015 um etwas über ein Prozent gestiegen. Eine aktuelle Studie der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) kommt gar zum Schluss, dass die Arbeitslosigkeit von 15- bis 24-Jährigen seit den 90er Jahren kontinuierlich steigt. Dennoch scheint sich das Thema nicht mehr allzu grosser Beliebtheit zu erfreuen, längst haben andere Themen die Traktandenliste der etablierten politischen Kräfte abgelöst.


Abweichende Zahlen

Die Studie des KOF beschäftigt sich mit der Frage, für wen sich das Risiko erhöht hat, arbeitslos zu werden. Die Untersuchung stützt sich auf Zahlen des BFS, welches seine Erwerbslosenstatistik nach Kriterien der International Labour Organisation (ILO) führt. Dieses fasst die Erwerbslosigkeit breiter als etwa das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), dessen offizielle Zahlen ausschliesslich auf den bei den RAV-Ämtern registrierten Arbeitslosen basieren. Die NZZ liess es sich natürlich in ihrer Besprechung der Studie nicht nehmen, einen Experten der Universität Basel aufmarschieren zu lassen, der auf Basis der Seco-Zahlen eine signifikant steigende Jugendarbeitslosigkeit bestritt. Die politische Couleur bestimmt das Zahlenmaterial, das der Statistik zugrunde gelegt wird; ein bekanntes Prinzip. Michael Siegenthaler, einer der Mitarbeiter der Studie, hat für die starke Abweichung eine plausible Erklärung: Da viele Jugendliche noch kein Arbeitslosengeld erhalten, ist der Anreiz sich bei den RAV-Ämtern zu registrieren gering. Daher fallen sie aus den Seco-Zahlen heraus, während sie das BFS erfasst.


Studienergebnisse

Auf Grundlage des ILO-konformen Zahlenmaterials kommt das KOF zum Schluss, dass die Jugendarbeitslosigkeit, die von 1991 bis 1993 unter 5 Prozent lag, im Jahr 2015 auf 7,5 Prozent angestiegen ist. Das habe zum einen Gründe in einer generellen Erhöhung der Arbeitslosigkeit. Diese sei vor allem struktureller Natur wie man anhand der Untersuchung vor allem für die Jahre 2003 bis 2005 und 2012 bis 2014 nachweisen könne. "Die Schweiz hat in den letzten zwanzig Jahren ein regelrechtes Jobwunder erlebt und die Arbeitslosenquote liegt im internationalen Vergleich auf tiefem Niveau. Dennoch hat sich auch hierzulande die Arbeitslosenquote erhöht", kann man im KOF-Papier nachlesen. Daneben gäbe es aber jugendspezifische Gründe, was sich daran zeige, dass auch in den "wirtschaftlich meist guten Phasen zwischen 1999 und 2008" die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen im Gegensatz zu den anderen Altersgruppen angestiegen sei. Den wichtigsten Grund dafür findet das KOF in der "erhöhten Nachfrage nach Fähigkeiten", die die jungen Menschen aufgrund mangelnder Berufserfahrung nicht nachweisen könnten. Die Arbeitsmarktsituation von Jugendlichen würde sich zunehmend verschlechtern, befürchten die ForscherInnen.


Europäischer Kontext

Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit hat sich in den letzten zwanzig Jahren in ganz Europa zugespitzt. Innerhalb der EU liegt die Erwerbslosigkeit von Jugendlichen bei durchschnittlich 20,6 Prozent. Angeführt wird die Liste von der krisengeschüttelten Peripherie: In Spanien und Griechenland hat sich seit dem Kriseneinbruch von 2008 die Jugendarbeitslosigkeit verdoppelt und liegt heute bei knapp 50 Prozent. Selbst die nicht gerade subversiver Umtriebe verdächtige "NZZ am Sonntag" sprach es vor einigen Jahren in einem offenherzigen Moment aus: "Nun werden erstmals die Konturen einer Generation sichtbar, die damit rechnen muss, nie eine richtige Stelle zu finden. Denn die Arbeitslosigkeit wird in diesen Ländern wegen der Sparprogramme der Regierungen hoch bleiben. (...) Das heisst: Wer jetzt keine Arbeit hat, wird keine mehr finden. Ein ganzes Leben in Armut zeichnet sich ab." Im Vergleich mit diesen Nationalökonomien schneidet die Schweiz mit ihren 7,5 Prozent Jugendarbeitslosigkeit gut ab, nur Deutschland hat mit 7,1 Prozent eine tiefere Quote. Doch eine zunehmende Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation würde auch hier langfristige Auswirkungen haben, warnen die ForscherInnen des KOF.

Dennoch ist das Thema neben ein paar lausigen Artikeln anders als noch 2005 kaum in der Öffentlichkeit präsent. Die politischen und publizistischen AkteurInnen sind zu sehr mit anderen drängenden Symptomen der globalen Misere beschäftigt. Bekanntlich hätten sie auch nicht allzu viel Fundiertes zu sagen. Für das Einzelkapital wiederum ist die Arbeitslosigkeit auch als Jugendphänomen ein Segen und kein Fluch: Als industrielle Reservearmee stehen die Arbeitslosen zur Ausbeutung zur Verfügung und drücken als KonkurrentInnen auf die Löhne jener, die einen Job ergattern konnten.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36 - 71. Jahrgang - 9. Oktober 2015, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2015

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