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VORWÄRTS/1191: Mexiko - Recherchen auf heissem Pflaster, eine Journalistin bricht das Schweigen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 17/18 vom 6. Mai 2016

Recherchen auf heissem Pflaster - Eine Journalistin bricht das Schweigen

Von Andreas Boueke


Seit 1994 findet jedes Jahr am 3. Mai der "Internationale Tag der Pressefreiheit" statt, an dem auf Verletzungen der Pressefreiheit sowie auf die Bedeutung unabhängiger Berichterstattung für gesellschaftliche Entwicklungen aufmerksam gemacht wird.


"Jeden Tag verschwinden Kinder, jeden Tag werden Frauen ermordet," klagt die mexikanische Reporterin Yohali Reséndiz. Sie ist wütend. "Bei meinen Recherchen treffe ich immer wieder auf unsensible, brutale Männer. In diesem Land ist es noch immer alltäglich, dass Frauen erniedrigt und entwürdigt werden."

Trotz Morddrohungen, trotz frauenfeindlicher Strukturen in den Medien, trotz ständiger Anfeindungen durch mächtige Gegner aus Politik, Wirtschaft und dunklen Kreisen der Gesellschaft bezieht die 38jährige Journalistin eindeutig Stellung für die Opfer: Jahrelang hat sie zur besten Sendezeit im Fernsehen mit engagierter Berichterstattung für Aufmerksamkeit gesorgt. "In unserem Land leiden viele Menschen unter Korruption und Gewalt. Ich habe gelernt, dass der Journalismus ein Schlüssel sein kann, der Türen öffnet, um Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Aber er ist auch ein Schlüssel, der mir viele Probleme gemacht hat."


Geschichten über Gewalt

Frauen haben einen schweren Stand in Mexikos Medienwelt. Yohali Reséndiz hat sich durchgesetzt, mit Geschichten über alltägliche Gewalt. Ihr hartnäckiges Engagement wird auch von männlichen Kollegen anerkannt. "Sie ist eine Kriegerin", meint der Kameramann Miguel Angel Andrade. "Es gibt viele Reporter, aber keiner ist wie sie. Sie wühlt sich hinein in die Nachricht. Sie verbindet die journalistische Arbeit mit der Unterstützung der Opfer. Für sie geht die Recherche so lange weiter, bis eine Lösung gefunden ist."

Der Weg in eine erfolgreiche Journalistenkarriere führt in Mexiko häufig über gute Beziehungen zu den mächtigen Entscheidungsträgern in der Medienwelt. Für Yohali war das ein sehr langer Weg. Sie ist in einem ärmlichen Viertel im Süden von Mexiko-Stadt aufgewachsen, gleich neben dem Markt Benito Júarez. "Als meine Familie in diese Siedlung zog, wusste ich sofort, dass ich nicht mein Leben lang hier bleiben würde. Ich will die Siedlung nicht schlecht reden oder die Leute, die hier leben, aber schon als Kind wollte ich andere Orte kennen lernen."

Als Kind war Yohali selbst Opfer von Gewalt und Armut. Auch deshalb kann sie heute nicht wegschauen, wenn Frauen oder Kinder misshandelt werden. "Als ich dreizehn Jahre alt war, beschloss meine Mutter, mit uns in die USA zu gehen. Wir hatten keine Dokumente und sind illegal eingereist. Es ist uns schlecht ergangen. Wir mussten in einer Art Rohr schlafen, ausserhalb von L.A. Das Ding war so kurz, dass ich mich nicht mal richtig ausstrecken konnte. Anfangs haben wir für einen chinesischen Textilfabrikanten gearbeitet, meine Mutter, meine beiden Schwestern und ich. Die Mittelamerikaner, die dort angestellt waren, haben uns gedemütigt. Sie sagten immer, dass sie auf ihrem Weg in die USA von Mexikanern geschlagen und bestohlen worden seien. Dafür mussten wir die Rechnung zahlen." Nach neun Monaten in den USA gingen Yohali, ihre Schwester und ihre Mutter zurück nach Mexikoohne einen einzigen gesparten Dollar. "Ich nahm mir vor, etwas aus meinem Leben zu machen. Nie wieder wollte ich eine solche Situation erleben. Niemand sollte mich je wieder verachten oder misshandeln." Fortan konzentrierte sich Yohali auf ihre Schulbildung: "Ich wusste, dass ich ohne Bildung ein Niemand bleiben würde. Deshalb habe ich mich an den Unterricht geklammert. Gerne wäre ich auf eine Privatschule gegangen, doch das Geld reichte nur für eine öffentliche Schule. Abends habe ich auf der Strasse Käse verkauft und auf dem Markt Unterwäsche. So lernte ich das Leben der Leute kennen, die Ungerechtigkeiten, die sie ertragen müssen, weil sie kein Geld haben, keine Kontakte und keinen Anwalt."

Heute berichtet Yohali von Opfern, deren Not hinter den Verbrechensstatistiken verborgen bleibt. Einer ihrer Fernsehbeiträge handelt von einem 13jährigen Mädchen, das von einem Kongressabgeordneten misshandelt wurde. "Der Politiker hat sie vergewaltigt. Aufgrund meines Berichts verlor er sein Amt. Jetzt hat er keine politische Zukunft mehr." Yohali weiss, dass solche Fälle gefährlich werden können. "Er wird den Namen Yohali Reséndiz nicht vergessen".


Mächtige Männer in den Medien

Seit dem Jahr 2000 wurden in Mexiko 89 ReporterInnen, FotografInnen und KorrespondentInnen ermordet, viele erschossen, andere erwürgt, gefoltert, zerstückelt und in Müllbeuteln weggeworfen. Angst liegt in der Luft. Journalistinnen wissen nicht, ob sie durch die Veröffentlichung ihrer Artikel in Gefahr geraten könnten. Früher galten die Drogenkartelle als die grösste Gefahr für die Pressefreiheit in Mexiko. Heute ist bekannt, dass über die Hälfte der Angriffe auf JournalistInnen oder Presseeinrichtungen von Polizisten und Soldaten durchgeführt werden. Der Jurist Victor Ruiz vom mexikanischen Journalistenverband meint: "Jedes dieser Verbrechen ist ein Angriff auf die Presse- und Redefreiheit. Die Journalisten sollen eingeschüchtert werden, damit sie nicht weiter über Themen schreiben, die einigen einflussreichen Leuten Probleme bereiten. Jeder Übergriff verstärkt die Atmosphäre der Angst. So erreichen die Aggressoren ihr Ziel, die Stimme der JournalistInnen zum Schweigen zu bringen. Die Presse wird stumm geschaltet."

Diesem Druck will sich Yohali Reséndiz nicht unterwerfen. "Ich versuche, meine Geschichten so zu erzählen, wie sie passiert sind. Doch während der Redaktionssitzung sagt plötzlich jemand von der Geschäftsführung: 'Dieser Abschnitt muss raus.' Wenn der Artikel durch die Kürzung an Wert verlieren würde, antworte ich: 'Unter diesen Umständen bekommst Du meine Geschichte nicht.' Dann kommt wieder die alte Leier, ich würde mich nicht unterordnen und keine Regeln einhalten. In diesem Geschäft musst du dich Tag für Tag gegen mächtige Männer durchsetzen."

Yohali fühlt sich allein gelassen. "Wenn du bedroht wirst, interessiert sich dein Sender nicht dafür. Ich bekomme Videos von Vergewaltigungen zugeschickt, grässliches, sexistisches Zeug. Da werden Frauen gefoltert und getötet. Und dann schreiben sie: Dasselbe wird mit dir geschehen, du Tochter einer Hure". Von ihren Redaktionen bekommen bedrohte Reporterinnen meist nur wenig Unterstützung, denn die Medienunternehmen sind von Werbeeinnahmen abhängig. "Einmal habe ich über ein Regierungsmitglied und über einen Gouverneur berichtet," erzählt Yohali. "Die beiden hatten einen Kindermörder beschützt. Nachdem mein Bericht ausgestrahlt worden war, rief der Gouverneur den Sender an und beschwerte sich über meine Arbeit. Daraufhin wurde mir der Sendeplatz weggenommen, obwohl ich die Wahrheit gesagt hatte. Es ging um das Schicksal eines Kindes, das von seinem Stiefvater ermordet worden war. Der zuständige Richter hatte zu Presseleuten gesagt, er würde den Täter laufen lassen, obwohl der das zweijährige Kind an den Füssen gegriffen und zweimal auf den Boden geschlagen hatte. Der kleine Schädel war zerborsten. Niemand hörte auf die Mutter. Der Richter schützte den Täter, weil seine Anwälte Freunde des Gouverneurs waren."


Journalismus ohne Bremse

Yohali verlor den Kampf. "Sie haben mir meine Sendung weggenommen. Es gab Tage, an denen ich nicht aus dem Bett kam, weil ich dachte: 'Was soll ich machen? Ich habe ja keine Kamera mehr. Wie soll ich jetzt meine Geschichten erzählen?' Aber dann habe ich mich mit den sozialen Netzwerken beschäftigt, Twitter und Facebook. Ich habe meinen eigenen Blog eröffnet. Er heisst "periodismo a toda prueba", was in etwa "Journalismus ohne Bremse" bedeutet.

Die wachsende Unzufriedenheit mit den traditionellen Medien und die Verbreitung des Internets haben in Mexiko dazu geführt, dass immer mehr alternative Informationskanäle entstehen. Wer solche Plattformen bedient, muss nicht nur lernen, mit Drohungen umzugehen, sondern läuft auch Gefahr, von den Behörden kriminalisiert zu werden. Yohali Reséndiz erwartet keine Hilfe vom Staat. "Vor drei Monaten haben die Drohungen gegen meine Familie begonnen, kurz nachdem ich über einen kleinen Jungen geschrieben hatte, der misshandelt worden war. Meine Recherchen haben zu der Verhaftung von vier Scheisskerlen geführt. Daraufhin haben sie persönliche Daten wie meine Kreditkartennummer und meine Adresse veröffentlicht und mir Fotos von meiner Wohnung geschickt. Sie wissen genau, wo ich wohne".

Eine der Organisationen, die sich darum bemühen, den JournalistInnen ein wenig Sicherheit zu bieten, ist der mexikanische Ableger von "Artikel Neunzehn". Der Name bezieht sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deren 19. Artikel die Meinungsfreiheit garantiert. Francisco Sandoval, Journalist und Mitarbeiter von "Artikel Neunzehn", dokumentiert Drohungen gegen seine KollegInnen. "Ich habe Yohali im vergangenen Jahr kennengelernt, nachdem ich schon länger ihren Blog in den sozialen Netzwerken verfolgt hatte. Zuerst erfuhr ich von den Problemen in ihrem Fernsehsender. Später begannen die systematischen Drohungen mit Fotografien und Videos von zerstückelten Frauenkörpern. Man wollte sie einschüchtern."

Seit Yohali sich auf Themen wie Kinderpornografie und Misshandlungen von Minderjährigen eingelassen hat, konfrontiert sie manchmal sogar die Täter mit ihren Opfern. Francisco Sandoval hält das für sehr mutig, aber auch für ein bisschen verrückt: "Mexiko ist ein Land, in dem mehr als achtzig JournalistInnen ermordet wurden, ohne dass es einen Krieg gegeben hätte. Das ist eine alarmierende Situation, auch weil die Fälle nicht untersucht werden. Die Straflosigkeit liegt bei über 90 Prozent. Ein Beispiel ist der Fall des Mädchens von Laredo, eine Journalistin, die in den sozialen Netzwerken unter dem Namen 'la nena de Laredo' berichtet hat. Sie wurde ermordet und gevierteilt. Ihr Kopf wurde abgetrennt. Neben den Leichenteilen lag ein Zettel mit den Worten: "Das ist dir passiert, weil du über die Gewalt berichtet hast. Diese Botschaft ist an alle Journalistinnen gerichtet, die so arbeiten wie 'la nena de Laredo' oder Yohali Reséndiz."

Yohali Reséndiz hat es sich zur Aufgabe gemacht, die ProtagonistInnen ihrer Geschichten in ihrem Kampf um Gerechtigkeit zu unterstützen. Sie ist sich bewusst, wie gefährlich das ist. "Wenn ich sterben muss", sagt sie "dann weiss ich zumindest, dass ich im Leben auf der richtigen Seite gestanden habe."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 17/18 - 72. Jahrgang - 6. Mai 2016, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2016

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