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VORWÄRTS/1221: Syriza lässt räumen und misshandeln


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 9. September 2016

Syriza lässt räumen und misshandeln

Von Ralf Dreis


Nach der Räumung dreier von AnarchistInnen und Flüchtlingen besetzter Häuser in Thessaloniki Ende Juli, erfolgte Anfang August der nächste Schlag. Kostas Sakkás und Mários Seisídis, zwei seit Jahren polizeilich gesuchte Anarchisten, wurden bei einer Verkehrskontrolle in Sparta verhaftet und schwer misshandelt.


Im Morgengrauen des 27. Juli 2016 liess die griechische Regierung drei besetzte Häuser in Thessaloníki räumen. Der Angriff erfolgte zwei Tage nach dem Ende des internationalen No-Border-Camps und galt explizit den Selbstverwaltungsstrukturen von Flüchtlingen. Die Projekte Orfanotrofío, Leofóros Níkis und Hurríya wurden gemeinsam von griechischen AktivistInnen und Flüchtlingen bewohnt. 116 Menschen wurden vorläufig festgenommen, gegen 74 von ihnen - GriechInnen und AusländerInnen - wurde Anklage wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Widerstand erhoben. Erste Urteile über vier Monate Haft, ausgesetzt auf drei Jahre zur Bewährung, ergingen Anfang August. Die Verurteilten legten Revision ein. Den angeklagten Flüchtlingen droht im Falle einer Verurteilung die Abschiebung. Das im Besitz der orthodoxen Kirche befindliche, seit 2006 dreimal geräumte und wiederbesetzte ehemalige Waisenhaus Orfanotrofío, wurde drei Stunden nach der Räumung von Bulldozern eingerissen.

Der Angriff auf Strukturen selbstverwalteter Flüchtlingssolidarität ist eine Reaktion der Syriza-Anel-Regierung auf die Aktionen des No-Border-Camps in der Woche zuvor. Über 1500 AktivistInnen hatten einen Teil des Campus der Universität von Thessaloníki besetzt und als Basis für Proteste gegen das europäische Grenzregime genutzt. Lautstarke Demonstrationen, die Besetzung einer Radiostation, einige militante Aktionen, Besuche bei Internierungslagern für Flüchtlinge, die Besetzung eines Hauses als selbstverwaltetes Flüchtlingsprojekt und die farbenfrohe Umgestaltung von Stadtbussen als fahrende Werbung für offene Grenzen, hatten die Regierung unter Druck gesetzt. Die Duldung solcher "gesetzeswidriger Schweinereien" hatten Oppositionsparteien, Universitätsleitung, orthodoxe Kirche und private Fernsehsender als Unfähigkeit der Regierung gegenüber "linkem Vandalismus" angeprangert. ParlamentarierInnen der konservativen Néa Dimokratía (ND) sahen gar den Staat in Gefahr. Zu unrecht, hatte Ministerpräsident Aléxis Tsípras doch schon im Herbst 2014, noch als Oppositionsführer, auf den Stufen des Verteidigungsministeriums den Generälen der Streitkräfte im Falle des Wahlsieges die "Kontinuität des Staates" garantiert und "Säuberungen" ausgeschlossen. Die "Sicherheit Griechenlands" habe absolute Priorität, so Tsípras damals.


"Partei der Bewegungen" kriminalisiert Solidaritätsprojekte

Bei den Räumungen geht es Syriza um die Bekämpfung des inneren Feindes und die innere Sicherheit des Landes. Nicht nur die anarchistische Bewegung soll in die Schranken gewiesen werden, darüber hinaus will man die vollständige Kontrolle über die Zehntausenden in Griechenland festsitzenden Flüchtlinge erzwingen. Parallel zu den Räumungen in Thessaloníki wurde von der Öffentlichkeit fast unbeachtet die No-Border-Kitchen auf der Insel Lésbos geräumt und die letzten 1000 im Hafen von Piräus verbliebenen Flüchtlinge in Sammellager verfrachtet. Die linken Reste in Syriza verurteilten die Räumungen. "Die Kriminalisierung von Solidaritätsprojekten ist eine Praxis, die keinerlei Beziehung zu den Werten der Linken aufweist", heisst es in einer Presseerklärung vom 28. Juli. Doch auf solche Befindlichkeiten wird die Regierung keine Rücksicht nehmen. Zu erwarten ist im Gegenteil, dass auch gegen Projekte in anderen Städten vorgegangen werden soll. Giórgos Kamínis, der Bürgermeister von Athen, gab am gleichen Tag bekannt, er habe Räumungsklage gegen drei besetzte Häuser eingereicht, darunter das international bekannte "Hotel City Plaza".

Um eine mögliche Fortsetzung der Räumungen im Keim zu ersticken, ging die Bewegung direkt zur Gegenwehr über. Nachmittags wurden in Thessaloníki und Lárisa die Parteibüros von Syriza besetzt; am nächsten Morgen das Büro von Regierungssprecherin Olga Gerovasíli in Ioánnina. In Thessaloníki erfolgte die Besetzung eines neuen Solidaritätsprojekts. "Wir werden nicht untätig bleiben, oder in Angststarre verfallen, sondern im Gegenteil, mit neuen und noch mehr Besetzungen antworten." Ebenfalls am 28. Juli fanden in Thessaloníki und Athen Demonstrationen mit 600 beziehungsweise 1000 Personen statt. Im Anschluss an die Demonstration in Thessaloníki wurde die Theaterfakultät als Aktionszentrum für die nächsten Tage besetzt. In der Nacht zum 1. August klirrten die Scheiben bei 12 Syriza- und zwei ND-Büros in verschiedenen Athener Stadtteilen. In Exárchia wurde ein Brandanschlag auf den Eingang der Ágios Nikoláos Kirche verübt, drei andere Kirchen wurden mit Farbbeuteln beworfen. Protestkundgebungen vor griechischen Konsulaten gab es in Ljubljana, Wien, Zürich, Frankfurt und Hamburg. In der Dresdener Neustadt wurde kurzzeitig das Büro der Linkspartei besetzt, um den Druck auf die griechische Schwesterpartei zu erhöhen. Angesichts der katastrophalen Situation der geflüchteten Menschen in den staatlichen Lagern in Griechenland, waren die geräumten Projekte als Wohnraum bitter nötig. Darüber hinaus dienten sie als Ort der Organisierung, um gemeinsame politische Perspektiven und Kämpfe zu entwickeln und MigrantInnen die Möglichkeit zu geben, sicht- und hörbar zu werden. Das Orfanotrofío diente zusätzlich als Sammel- und Verteilstelle für Kleidung und Medikamente.


Folter - noch eine Kontinuität

Eine Routineverkehrskontrolle in der Nähe von Spárta wurde den beiden untergetauchten Anarchisten Kostas Sakkás (32 Jahre) und Mários Seisídis (35 Jahre) zum Verhängnis. Bei ihrem Versuch zu flüchten wurden sie von Polizeibeamten unter Beschuss genommen. Obwohl sich die unbewaffneten Männer daraufhin widerstandslos festnehmen liessen, folgte das in Griechenland seit der Diktatur übliche Prozedere. Schwere Misshandlungen während der Verhaftung und Folter auf der Polizeiwache unter Beteiligung vieler Beamten unterschiedlicher Polizeieinheiten. Und abermals steht Syriza für die versprochene staatliche Kontinuität. Den Klagen misshandelter und gefolterter Gefangener wird wie von den Vorgängerregierungen gewohnt nicht nachgegangen. Im Gegenteil wurden Sakkás und Seisídis am 17. August im Schnellverfahren unter anderem wegen "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte" zu 32 beziehungsweise 33 Monaten Knast verurteilt.

Kostas Sakkás wird seit Jahren als angebliches Mitglied der nihilistischen Gruppe Verschwörung der Feuerzellen kriminalisiert. Sowohl er selbst als auch die bekennenden inhaftierten Mitglieder der Feuerzellen weisen dies von Anfang an zurück. Sakkás ist darüber hinaus der Gefangene Griechenlands, der mit 30 Monaten am längsten unrechtmässig in Untersuchungshaft sass. Die längstmögliche legale Dauer der U-Haft beträgt eigentlich 18 Monate. Erst durch einen Hungerstreik, der ihn 2013 bis an den Abgrund des Todes brachte, erkämpfte er seine Freiheit bis zum Prozess. Nach wiederholten schikanösen Festnahmen, die vor den HaftrichterInnen keinen Bestand hatten, und ständig neuen und erweiterten Anklagen entschied er sich im Februar 2014 in die Illegalität abzutauchen.

Mários Seisídis, auf den ein Kopfgeld von 600.000 Euro ausgesetzt war, lebt schon seit 2006 in der Illegalität und ist das einzige "Mitglied" der "Räuber in Schwarz". Einer laut Polizei zwischen 2002 und 2006 aktiven "Bande von Anarchisten", die bei mindestens 7 Banküberfällen etwa 700.000 Euro für "terroristische Zwecke" erbeutet haben soll. Die drei anderen damals Beschuldigten wurden in mehreren Prozessen vom Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung freigesprochen. Sie sassen inzwischen unterschiedliche Strafen wegen variierender Vergehen wie Waffenbesitz, Widerstand und Bankraub ab. Seisídis wurde in Abwesenheit zu 7 Jahren Haft wegen Beteiligung an einem Bankraub 2006 verurteilt. Die Polizei beschuldigt ihn jedoch nicht nur das einzige "Mitglied" der "Räuber in Schwarz" zu sein, sondern sich während der Illegalität als Mitglied anderer Banden an weiteren Banküberfällen beteiligt zu haben.

Der Grossteil der bürgerlichen Medien Griechenlands ergeht sich in absurden Szenarien und hetzt in grellen Tönen gegen die "gefassten Terroristen". Sakkás und Seisídis beschreiben dies in einer kurzen Erklärung so: "Verhaften sie jemanden der bewaffnet ist, so ist er (...) Terrorist. Verhaften sie zwei Unbewaffnete in Bermudashorts mit Schlafsäcken, so sind es (...) Terroristen als Touristen getarnt." Sie bedanken sich für die grosse Solidarität, die sie auf ihren "unterschiedlichen Reisen zur Freiheit die nun leider endet", erfahren haben.


Mord auf der Polizeiwache?

"Sie haben ihn gefoltert und dann umgebracht, sie haben ihn aus dem Fenster geworfen", so die Vorwürfe der Eltern des 29-jährigen Albaners Pellumb Marnikollaj gegen die griechische Polizei. Der ehemalige Häftling hatte am 3. August um 13.45 Uhr letztmalig mit seinem Bruder telefoniert, um sich danach bei der örtlichen Polizeiwache in der Athener Patisíon Strasse zu melden, wie es seine Bewährungsauflagen vorschreiben. Die Eltern fanden seinen Leichnam nach zwei Wochen, kurz bevor er in einem anonymen Grab beerdigt werden sollte. Wie die Athener Tageszeitung "Efimerída ton Syntaktón" am 19. August 2016 mit dem Titel "Sprang er oder wurde er hinuntergestürzt?" meldet, dauerte es 15 Tage bis die Polizei den "Vorfall" bekannt machte. In der Verlautbarung heisst es, Marnikollaj habe "versucht zu flüchten" und sei "aus dem Fenster der Wache im zweiten Stock gesprungen". Man habe ihn "lebend ins Krankenhaus gebracht". Da ihn "zehn Tage niemand vermisste", sollte er beerdigt werden. Warum in einem anonymen Grab, obwohl Name und Adresse bekannt waren, darüber schweigt sich die Polizei aus. Auch warum der Anwalt der Familie erst nach lautem Streit ans Krankenhaus verwiesen wurde und warum weder die Filme der Sicherheitskameras der Wache, noch die vorhandenen Tonbandaufnahmen der Öffentlichkeit präsentiert werden ist unklar. Die albanische Zeitung Panorama schreibt, bei der Gerichtsmedizinischen Untersuchung des Leichnams in Albanien habe man "Verbrennungen von Zigaretten auf der Haut Marnikollajs" gefunden. Indymedia Athen, die Familie und Gefangene griechischer Gefängnisse sprechen in Erklärungen von einem "Polizeimord, der vertuscht werden soll".

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32 - 72. Jahrgang - 9. September 2016, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2016

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